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Man hätte meinen sollen, dass die Bewohner Londons nach den Opfern des großen Kriegs, in welchem das Deutsche Kaiserreich niedergerungen wurde, ein wenig Ruhe und Frieden verdient gehabt hätten. Gewiss, es geschahen weiterhin allerlei Verbrechen in der Hauptstadt des Empires, war sie doch stets auch ein Elysium der Glücksritter, Gauner, Abenteurer und überhaupt aller Menschen von leichtfertiger Art gewesen. Jedoch sorgten zwei unabhängige Institutionen dafür, dass Recht und Gesetz letztlich in aller Regel den Sieg davon trugen, so dass sich die Bürger im Großen und Ganzen sicher fühlen konnten.

Da war zum einen der tüchtige Metropolitan Police Service, besser bekannt als Scotland Yard, dessen Beamte vom schlichten Constable bis hinauf zum Commissioner einen ausgezeichneten Ruf in der Londoner Bürgerschaft genossen. Zum anderen waren da die Privatdetektive, welchen allerdings jegliche polizeilichen Befugnisse fehlten, was sie jedoch mit Klugheit und Witz mehr als wettmachten. Ihr berühmtester, oder besser ihr berüchtigster Vertreter zu jener Zeit war Nigel Sorrowby. Dieser Mann konnte auf eine erkleckliche Zahl spektakulärer Fälle zurückblicken, welche er erfolgreich aufgeklärt hatte. Er genoss einen derart guten Ruf, dass ihn Scotland Yard konsultierte, wenn man in einem Falle selbst nicht weiterkam und man ließ sogar den eigenen Nachwuchs bei ihm hospitieren, damit die angehenden Inspectors von seinem Wissen und seiner Erfahrung lernen mögen. Dies war dann auch sein Untergang.

Er hätte sich – so war jedenfalls die allgemeine Meinung – mit jenen Einkünften zufrieden gegeben sollen, welche ihm dankbare Kunden zukommen ließen. Doch ausgerechnet bei seinem größten Fall, den Hunckley-Morden, wurde ihm nachgewiesen, dass er einen kostbaren Ring hatte mitgehen lassen. Sorrowby wurde für einige Zeit ins Gefängnis gesteckt und war danach trotz seiner wohlbekannten angenehmen Umgangsformen und der unbestrittenen detektivischen Fähigkeiten diskreditiert. Man munkelte, dass er sich, wenn er denn noch lebte, mit Gelegenheitsarbeiten durchs Leben schlagen musste. Viele sahen in seinem Schicksal den Beweis dafür, dass man die Verbrecherjagd doch lieber den staatlichen Behörden überlassen sollte. Sie verwiesen mit Vorliebe auf den äußerst fähigen Chief Inspector Reclimess, welcher seinerzeit nicht nur den diebischen Detektiv überführt hatte, obwohl er dessen Lehrling gewesen war und die beiden freundschaftliche Beziehungen gepflegt hatten. Nein, Reclimess konnte unmittelbar darauf auch noch Hunckley dessen abscheuliche Verbrechen nachweisen, für die jener schließlich auch am Galgen endete . So wurde, was man mit Fug und Recht den Untergang des Einen nennen konnte, des Anderen Aufstieg, denn in Anbetracht seiner Verdienste wurde Reclimess zum Superintendent befördert und man tuschelte, er habe vielleicht sogar das Zeug zum Commissioner, wenngleich ein solcher Rang wegen seiner Herkunft aus einfachsten Verhältnissen eigentlich unmöglich war.

Doch gleich welcher Auffassung man hinsichtlich der Privatdetektive zuneigte, an den Tagebuchmorden, welche die Bewohner des Stadtteils St. Pancras in Schrecken versetzte, biss sich Scotland Yard die Zähne aus. Diese Verbrechen schienen das Werk eines Wahnsinnigen zu sein, der ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht und ohne jeglichen erkennbaren Zusammenhang Menschen umbrachte. Es begann mit einer gewissen Molly Trips. Die Köchin im Dienst der Harlingtons war trotz erkennbarer heftiger Gegenwehr in einem recht kleinen Kessel mit siedendem Wasser ertränkt worden. Seltsam war aber auch, dass man ihr das Heft gestohlen hatte, in welchem sie sich Einkaufslisten, Menüabläufe und dergleichen zu notieren pflegte. Danach traf es ein Mädchen, das als Bedienung in einem recht zweifelhaften Pub arbeitete und der man einen lockeren Lebenswandel nachsagte. Man vermutete, dass einer ihrer Verehrer dies getan hatte, um die Liaison zu vertuschen, da ihr Tagebuch unauffindbar war, das die Namen all jener Herren enthalten hatte. Man begann Verbindungen zwischen den Taten zu befürchten, obwohl sich die Frauen nicht gekannt hatten. Der Zustand des Barmädchens wies Parallelen zu den noch in guter Erinnerung stehenden Rippermorden auf, weshalb die Öffentlichkeit erschrocken den Atem anhielt. Man mag es daher den angesehenen Bürgern nachsehen, dass sie insgeheim erleichtert waren, als kurz darauf Major Jonathan Popsky von den Welsh Guards mit einem Fleischermesser in der Stirn aufgefunden wurde. Allerdings wurde das Unbehagen rasch wieder größer, als bekannt wurde, dass sein Notizbuch gestohlen war. Popsky, ein großartiger Spieler, hatte dort akribisch die Schulden jener Kameraden vermerkt, welche den Fehler begangen hatten, sich mit ihm an den Kartentisch zu setzen. Seine Erben waren über den Verlust untröstlich, ging ihnen hierdurch doch ein nicht unerheblicher Betrag verloren. Ermittlungen unter Popskys Offizierskollegen verliefen im Sande.

Man zog schließlich Scotland Yards besten Mann hinzu. Superintendent Harvey Reclimess, war ein Mensch, dem zum Gentleman zwar die Herkunft, nicht aber dessen vollendete Umgangsformen fehlten, seinem Mentor Sorrowby darin nicht unähnlich. Doch auch er konnte nicht verhindern, dass Mrs Poole dahinschied, indem sie mit der Gardinenschnur in ihrem Schlafzimmers erdrosselt wurde. Ein frecher Reporter des Evening Standard fragte ihn angesichts des beklagenswerten Opfers, ob er nach all diesen Jahren im Polizeidienst und bei all den Leichen, die er gesehen habe, diese für ihn doch wohl nur noch „Nummern oder Gegenstände“ sein müssten. Reclimess blieb ganz ruhig und verwies lediglich darauf, dass jeder Mensch, ob arm oder reich, eine Persönlichkeit mit Wünschen und Zielen sei und man sich im übrigen nur vor Augen halten müsste, dass dort auch einer seiner Lieben liegen könnte. Einige behaupteten, er habe Tränen in den Augen gehabt, als er dies sagte.

Sein gütiges Herz hielt den Superintendent nicht davon ab, den Fall mit allem Eifer zu verfolgen. Innerhalb kürzester Frist gelang es ihm, den Gatten der Dame des Verbrechens zu überführen, da er bei ihm das Tagebuch seiner Frau fand. Aus diesem ging eindeutig hervor, dass Bernadette Poole bereits seit Längerem eine heftige Affäre mit einem jungen Gentleman hatte, welcher bei Hofe beschäftigt war. Mister Poole schwor unter Tränen, dass er weder etwas von dieser Affäre gewusst, noch Hand an seine geliebte Frau gelegt habe, jedoch wurden die Indizien des Falles von Reclimess so überzeugend bei Gericht vorgetragen, dass dieses keine Bedenken hatte, auf schuldig zu entscheiden und Poole dem Henker zu überantworten. In der Öffentlichkeit wurde heftig diskutiert, ob dieser Mord der Verbrechensserie zugerechnet werden sollte oder nicht. feststellte, dass es sich um eine Beziehungstat handelte, passte es nicht von den Umständen her? Immerhin war die Tatwaffe ungewöhnlich. Und wie war das mit dem Tagebuch? War Poole auch der Urheber der anderen Morde gewesen, nunmehr entlarvt durch seine Eifersucht? War es vorbei?

Doch schon bald erschütterte ein weiterer Mord St. Pancras und entwendete der Täter dem Opfer das Tagebuch. Allmählich wurde die Situation unhaltbar. Ängstliche Gemüter hörten auf, Aufzeichnungen anzufertigen oder verbrannten diese sogar und leugneten rundweg, je welche besessen zu haben.

Reclimess sah sich täglich mit Fragen konfrontiert, während die Schlagzeilen der Zeitungen immer unfreundlicher wurden. Die Wandlung vom hochgerühmten Helden zum nutzlosen Narren behagte ihm ebenso wenig, wie die immer lauter werdenden Rufe, er möge doch externen Sachverstand mit einbeziehen. Sogar im Parlament fiel sein Name und dann begann die Presse begann zum äußersten Missfallen Scotland Yards im Allgemeinen und Reclimess' im Besonderen auch noch, sich an die außergewöhnlichen Fähigkeiten eines Nigel Sorrowby zu erinnern. Insbesondere der Guardian, aber auch besonders lautstarke Vertreter der Gossenblätter begannen eine regelrechte Kampagne, die christliche Vergebung für Sorrowbys Fehltritt verlangte, um so seine Künste wieder für die ehrenwerte Gesellschaft nutzbar zu machen.

Wie dem auch sei, selbst Reclimess kam mit den Ermittlungen nicht voran und als schließlich selbst Westminster ultimativ nach konkreten Fortschritten verlangte und sogar das Büro des Premierministers in einem vertraulichen Gespräch zu verstehen gab, dass man lieber einen geläuterten Sünder in den Dienst der Krone stellen würde, anstatt weitere Tote auf den Titelseite der Morgenblätter zu sehen, blieb Reclimess keine andere Wahl. Er rief seinen Assistenten zu sich., einen jungen Mann namens McClaren, dessen Hauptvorzug darin bestand, dass sein Name zu Scotland Yard passte. Darüber hinaus war er ein ausgezeichneter Befehlsempfänger. Mit genauen Instruktionen machte sich der Chief Constable auf den Weg.

McClaren begab sich zu einem Haus im Eastend, wobei er sich bemühte, möglichst große Bögen um schmuddelige Arbeiterkinder, bettelnde Veteranen und tratschende Weiber zu machen. Er stieg die ausgetretenen Treppen empor, wobei er den allgegenwärtigen Kohlgeruch eisern ignorierte. Endlich klopfte er an eine unscheinbare Tür.
Nach einer freundlichen Aufforderung nahm er den Bowler ab und trat ein. Ein Mann erhob sich zu seiner Begrüßung, den er wegen des schwachen Lichts erst allmählich näher betrachen konnte. Sorrowby wirkte raumfüllend, obwohl er eigentlich klein zu nennen war. Sein schütter werdendes Haar mochte früher blond gewesen sein und war sorgfältig gekämmt, wie auch das ganze Auftreten des Mannes nicht zu seiner abgetragenen Kleidung passte.

„McLaren, Sir. Chief Constable. Sie haben von den Morden in St. Pancras gehört?“, eröffnete er das Gespräch. Sorrowby nickte. „Der Superintendent bittet ..., nun, Sir Reclimess ersucht Sie, sich die Fälle doch einmal anzusehen.“ Als Sorrowby die Augenbrauen hob, fügte er eilig hinzu, „selbstverständlich wird Scotland Yard den Fall auch selbst aufklären, doch, Sie verstehen ... das Wohl der Allgemeinheit und wenn wir durch zügige Fortschritte weitere Verbrechen vermeiden könnten ... wäre es vielleicht von Nutzen, wenn Sie die Akten einmal lesen. Oder die Tatorte besuchen, natürlich nur, wenn Sie das für angezeigt halten.“ McClaren betupfte sich mit seinem Taschentuch die Stirn und stopfte es wieder in seine Hosentasche.

Als der Detektiv immer noch nichts erwiederte, fügte er hinzu, „Wir wären Ihnen sehr verbunden.“ Sorrowby lächelte schwach und sagte: „Schreiben Sie's auf meine Liste.“ Da erst war sich McClaren sicher, wirklich dem berühmten Ermittler gegenüber zu stehen. Dieser Satz war Sorrowbys Markenzeichen gewesen, ganz gleich, ob es sich um eine Antwort auf Lobhudeleien, Forderungen, Dankesbezeigungen, Kritik oder Hilferufe gehandelt hatte.

„Eine Frage möche Sir Reclimess vorab noch geklärt wissen.“ McClaren begann den Hut in den Händen zu drehen. „Er möchte wissen, ob die Vergangenheit ruhen kann.“ Er ließ den Bowler noch schneller durch die Finger gleiten, als sich Sorrowbys Gesicht verschloss. Fast fiel der ihm aus den Händen, als er eine linkische Geste der Entschuldigung machte. „Sir Reclimess gab mir ausdrücklich auf, dies mit Ihnen zu regeln“, sagte er. Sorrowby wandte sich ab und blickte aus dem kleinen Fenster, welches trotz einiger Sprünge tadellos geputzt war. Dann dreht er sich abrupt um. „Sagen Sie ihm, ich werde dieses Thema nicht ansprechen, wenn er es auch nicht tut. Ich werde ihn morgen am Vormittag aufsuchen.“ McClaren hörte auf, den Hut zu drehen, setzte ihn auf, ohne zu merken, dass er es verkehrt herum tat und griff nach der Türklinke. Eine Frage Sorrowbys ließ ihn verharren.

„Sagen Sie... wann wurde Reclimess eigentlich geadelt?“
McClaren glotzte ihn an und wurde dann allmählich rot.
„Schon gut“, Sorrowby lächelte wieder. „Bis morgen dann.“

***

Die folgenden Tage bestanden für McClaren aus einer Kette von Unmöglichkeiten. Unmöglich, dass jemand am nächsten Morgen die ausgestreckte Hand des Superintendents übersah und ihn stattdessen mit einem knappen und äußerst eisigen Senken des Hauptes begrüßte. Unmöglich, dass dieser Sorrowby, immerhin ein verurteilter Verbrecher, die leutselige Frage nach seinem Befinden überhörte und im Befehlston nach den Akten fragte. Und vor allem unmöglich, dass sich Superintendent Harvey Reclimess dies alles ohne Widerwort gefallen ließ und dem Detektiv im Gegenteil jegliche Unterstützung zusagte und sich nach seinen weiteren Wünschen erkundigte. Und schließlich, um allem die Krone des Unmöglichen aufzusetzen, die Anweisung des Superintendents an ihn, Chief Constable McClaren, sich dem ehrenwerten Mr. Sorrowby, immerhin Zivilist, beizufügen und ihm in allen Dingen behilflich zu sein.

Was für eine Degradierung! Und es wurde nicht besser. Sorrowby zog sich anfangs in den Aktenraum zurück, machte es sich an einem der dort für die Ermittler bereitgestellten Arbeitsplätze bequem und blätterte in Berichten und Protokollen, las hier eine halbe Seite, legte dort ein Blatt Papier zerstreut beiseite und das zwei ganze Tage lang. Er machte sich keinerlei Notizen, obwohl jedem Ermittler, egal ob privat oder beamtet, sein Notizbuch ein unverzichtbares Hilfsmittel zur Gedankenstütze war! Am dritten Tag erhob er sich zur Mittagszeit und verkündete, dass er sich jetzt die Tatorte ansehen wolle. Das Ganze gestaltete sich als ausgedehnter Spaziergang in gemächlichem Tempo, zuerst in Richtung Parlament, dann weiter durch die Innenstadt, bis er schließlich bei Anbruch der Dämmerung in St. Pancras anlangte. Dort schien Sorrowby mehr an der Londoner Fauna und Flora interessiert zu sein schein, denn an Spuren. Er besah sich genüsslich die gepflegten Vorgärten, bewunderte hier und da besonders gelungene Rosenzüchtungen, insbesondere in der Border Street, und streichelte Hunde und Katzen, welche nicht die geringste Scheu vor dem Fremden hatten. Die Opfer schien er nicht zu bedauern, jedenfalls sprach er von ihnen wie von Möbelstücken oder Börsenkursen. Er ließ sich nicht einmal dazu herab, sie beim Namen zu nennen, sondern bezeichnete sie lediglich als „der mit dem Messer“ oder „die Schlafzimmergardine“.

McClaren hatte Mühe, seine Gallensäfte im Zaume zu halten. Als er es endlich wagte, den Detektiv auf dessen trägen Ermittlungen anzusprechen, erntete er nur dessen Spruch: „Schreiben Sie's auf meine Liste.“ McClaren begann, diesen Spruch zu hassen. Sorrowbys Lächeln erschien ihm nun zynisch, aber er wagte keine Erwiederung. Was für ein anderer Mensch war dagegen Superintendend Reclimess! Der untersuchte jeden Inch eines Tatortes, befragte peinlich jedermann, der etwas wahrgenommen haben könnte und nicht selten hatte McClaren ihn mit feuchten Augen vor der sterblichen Hülle eines gewaltsam Dahingeschiedenen stehen sehen. Sorrowby dagegen war ... nun ja, ihm war befohlen worden, diese Person zu unterstützen, wo es nur ginge. Doch es schien, als wünsche Sorrowby überhaupt keine Hilfe.

Als er gegen Abend dieses Tages in den Feierabend entlassen wurde, verfügte sich McClaren unverzüglich in das Büro des Superintenden, fest entschlossen, dieses nicht eher zu verlassen, als bis er von diesem Fall entbunden worden sei und wenn man ihn dafür in die Provinz versetzen musste. Reclimess ließ ihn seine Klagen vortragen, bevor er selbst das Wort ergriff.

„Hat er einen Verdacht geäußert?“

McClaren schüttelte verärgert den Kopf. „Er hat lediglich gesagt, dass die Morde mit Aufzeichnungen zusammenhängen.“

Erstaunlicherweise erregte sich Reclimess nicht über diese Selbstverständlichkeit, sondern sackte sogar ein wenig in sich zusammen.

„Sir, Wir haben das doch bereits ganz am Anfang unserer Ermittlungen festgestellt. Sogar die örtliche Polizei war sich dessen schon sicher.“

Reclimess winkte ab. „Haben Sie sonst noch etwas bemerkt, McClaren?“

„Nun, Sir, Mr. Sorrowby verharrte ohne erkennbaren Grund für längere Zeit in der Border Street.“

Reclimess richtete sich auf. „Was wollte er denn dort?“

„Das weiß ich nicht, Sir. Dort ist kein Tatort. Nicht einmal in der Nähe.“

„Und was tat er?“

„Er hat sich eines der Häuser angeschaut. Stein für Stein, wie mir schien.“ McClaren begann sich unwohl zu fühlen. Dieses 'Verhör' gefiel ihm ganz und gar nicht. Sein Vorgesetzter schien mehr und mehr unter Spannung zu geraten, ein Tiger vor dem Sprung. Der Chief Constable hatte das dumpfe Gefühl, etwas Wichtiges übersehen zu haben. Die Stimme des Superintendents riss ihn aus seinen Überlegungen.
„Welches Haus?“

„Wie bitte, Sir?“

„Mann! Welches Haus hat er sich angesehen?“

Eingeschüchtert erwiederte der Chief Constable, „Ich ... weiß nicht mehr genau, Sir. Irgendwo in der Mitte der Straße.“ Er zuckte zusammen, als der Superintendent mit beiden Händen flach auf den Schreibtisch schlug und beinahe aus dem Sessel fuhr. „Sie haben die ganze Zeit neben ihm gestanden und wissen nicht, um welches Haus es sich handelt?“

„Nun, Sir.“ In Wirklichkeit hatte McClaren sich entsetzlich gelangweilt. Das Gebaren Sorrowbys war ihm so dilettantisch erschienen, dass er ihm überhaupt keine Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Er erschrak, als sein Vorgesetzter abrupt aufsprang und den Arm ausstreckte.

„Haben Sie denn nichts aufgeschrieben? Ihr Notizbuch, McClaren. Her damit!“

„Sir!“ Der Chief Constable war sich nicht sicher, ob Entsetzen oder eisiger Zorn in seiner Stimme überwog. „Niemand hat das Recht, einem Ermittler die Notizen …“

Reclimess sah ihn erschrocken an und zog die Hand zurück, als hätte er sich verbrannt. Er wirbelte herum, stürmte aus dem Büro und rannte den Gang hinunter zu der Tür, hinter der die Akten aufbewahrt wurden. McClaren sah ihm verdattert nach. Hastig stürzte er hinterher, als der Superintendent seinen Namen brüllte.

„Wo, McClaren?“

„Wo was? Sir?“

„Wo hat er gesessen?“

„Wer denn, Sir?“

Unwillkürlich wich er einen Schritt zurück, als Reclimess Anstalten traf, ihm an die Gurgel zu fahren.
„Wo. Hat. Sorrowby. Gesessen. Sie Holzkopf!“

„Sir, ich muss doch bitten“, erwiederte McClaren zutiefst verletzt. Reclimess' Zeigefinger stach vor.
„Wenn Sie mir jetzt nicht sofort sagen, wo er gesessen hat, schieben Sie für den Rest Ihres Lebens wieder Streifendienst!“

Zitternd fuchtelte McClaren in Richtung eines der Arbeitsplätze. Reclimess drängte sich an seinem Assistenten vorbei und begann eilig die Akten zu durchwühlen. Der Chief Constable konnte nur den Kopf schütteln. Wie sollte man denn auch nur den leichtesten Fall aufklären, wenn der Bürodienst es nicht nötig zu haben schien, die Ordner sofort wieder an ihren korrekten Platz zu bringen? Er hätte seine Beobachtung gerne Superintendent Reclimess mitgeteilt, doch der war in die Akten vertieft. Die, welche er überflogen hatte, warf er achtlos auf den Boden. McClaren begann zögerlich sie wieder aufzuheben, immerhin handelte es sich um offizielle Dokumente, aber wagte es nicht, sie auf den Tisch zu legen. Der Aktenstapel auf seinen Armen begann schwer zu werden, als Reclimess innehielt. Aus einem Tatortprotokoll flatterte ihm ein kleiner Notizzettel entgegen. Er fing ihn aus der Luft und starrte ihn an.
McClaren legte die Akten behutsam ab und schlich sich an die Seite des Superintendenten. Er erhaschte einen Blick auf den Zettel, auf dem nur drei Buchstaben standen:

Die beiden Männer blickten sich an. Reclimess begann auf und ab zu laufen, wobei er mit den Zettel leicht an seiner Unterlippe rieb.

„PVA. Was soll das bedeuten?“, fragte er mehr zu sich selbst.

„Und wenn es Initialen sind, Sir?“ McClaren war stolz, dass ihm das einfiel. „Dann wären das vermutlich zwei Vornamen und das 'A' steht für den Nachnahmen.

„Der Name des Mörders? Oder eines wichtigen Zeugen?“ Reclimess sah seinen Assistenten durchdringend an. „Oder der Name des nächsten Opfers.“

„Auf jeden Fall hat sich dieser Sorrowby der Behinderung der Justiz schuldig gemacht“, sagte McClaren entschieden. Der Superintendendt warf ihm daraufhin einen Blick zu, welchen er nicht verstand. Dann sagte Reclimess wieder einen seiner rätselhaften Sätze, die er in letzter Zeit zu bevorzugen schien. „Wenn es nur das ist, will ich zufrieden sein.“ Er blieb stehen. „Wie dem auch sei. McClaren, sie besorgen jetzt zwei Automobile und vier oder fünf Beamte von der Wache. Wir rücken aus.“ Der Assistent war überrascht.

„Wohin wollen Sie denn zu so später Stunde, Sir?“

Sein Chef eilte schon zur Tür hinaus und rief über die Schulter zurück: „Das Haus finden, an das Sie sich nicht mehr erinnern können. Zur Border Street.“

***

Es dauerte eine gewisse Zeit, bis alles arrangiert war, doch dann ging es los. Als sie in die Border Street einbogen, befahl Reclimess dem Fahrer, langsamer zu werden. Die schweren Wagen glitten an den gediegenen Villen entlang. McClaren stierte aus dem kleinen Seitenfenster der Rückbank. War es hier gewesen? Oder das Haus dort? Endlich war er sich sicher. „Da. Das ist es!“ Sofort stoppte der Fahrer und sie stiegen aus.

Reclimess eilte zu einer steinernen Säule an der Grundstücksgrenze und las die Inschrift darauf laut vor. „Meredith House. Percival Vincent Adelaight.“ Er drehte sich zu seinen Leuten. „PVA!“

McClaren wusste, wenn der Superindendent diesen Klang in der Stimme hatte, dann konnte der Verbrecher die Handschellen an seinen Gelenken schon spüren. Nur das Heulen von Schweißhunden war bedrohlicher. Jedenfalls gelegentlich.

„Hier wohnt der Täter?“, fragte er.

„Nein, das Oper““, antwortete Reclimess, Gebe Gott, dass wir noch rechtzeitig kommen.“
„Und wer ist nun dieser PVA?“, fragte McClaren. Doch der Superintendent eilte bereits über die gepflasterte Auffahrt. Der Chief Constable hastete mit den uniformierten Polizeibeamten hinterher.

Das Haus schien zu schlafen, jedoch schimmerte hinter den geschlossenen Übergardinen Licht aus einem der Erdgeschoßfenster hervor.

Mit schweren Schlägen hämmerte Reclimess gegen die massive Eichentür. Nach einer Weile öffnete sie sich einen Spalt weit und eine verschlafene, aber trotzdem routinierte Stimme fragte: „Sie wünschen?“
„Scotland Yard! Öffnen Sie sofort.“

Als der Butler zögerte, drückte Reclimess ohne weitere Umstände die Tür auf und stürmte ohne auf dessen erregte Fragen zu achten, nach rechts, dorthin, wo er das Licht gesehen hatte.

Doch er kam zu spät. Lord Adelaight, Vetter dritten Grades des Königs, lag mit zertrümmetem Schädel in der Bibliothek. Erschüttert nahmen die Polizisten ihre Helme ab und erwiesen dem Toten stumm die letzte Ehre. McClaren drehte wieder seinen Bowler. in den Händen.

„Mein Gott, was soll ich Mylady sagen?“ Der Butler war neben Reclimess getreten. Der Superintendent wandte sich ihm zu. „Wer ist noch im Haus?“ Der Bedienstete sah ihn verständnislos an. „Außer der Familie nur noch der andere Sir.“ Aus dem Schatten des Fensters löste sich eine kleine Gestalt. McClaren erkannte ihn als erster. „Mr. Sorrowby!“

„Ja, McClaren. Leider bin ich auch zu spät gekommen.“ Sorrowby gesellte sich zu ihnen, wobei er seine linken Hand in die Manteltasche steckte, herausnahm und erneut im Mantel versenkte.

„Nein, Nigel“, die Stimme von Reclimess war sehr müde, „Ich bin zu spät gekommen.“ Er wies mit einer schwachen Geste auf Sorrowby. „McClaren, verhaften Sie diesen Mann.“

McClaren war einen langen Augenblick lang vollkommen verblüfft. Dann fasste er sich, trat zu Sorrowby und legte ihm schwer die Hand auf die Schulter. „Nigel Sorrowby, ich verhafte Sie wegen Behinderung der Justiz. Sie haben Informtationen zurückgehalten, mit deren Hilfe dieses Verbrechen hätte verhindert werden können. Sie haben ...“

Reclimess unterbrach ihn. „Nein, McClaren. Verhaften Sie ihn wegen Mordes!“

Die Polizeibeamten, einschließlich seines persönlichen Assistenten sahen ihn entgeistert an. Der Superintendent schaute zornig zurück. „Glauben Sie wirklich, dass einem Sorrowby, dem besten Detektiv, den das Empire gesehen hat, dass ausgerechnet ihm ein Täter während der Tat entkommt?“

Als sie immer noch wie versteinert dastanden, wandte er sich erneut an Sorrowby.

„Seine Sie mir nicht böse, aber Sie haben schlampig gearbeitet.“ Er ging zu dem Detektiv hinüber und wies auf dessen Mantel. „Blutspritzer. Hier, hier und hier.“

McClaren kam die Situation vollkommen irreal vor. Ein Verteidiger des Rechtes, auch, wenn er einmal gefallen war, konnte doch niemals eine solche Tat, nein, solche Taten begehen? War er, Chief Constable McClaren tagelang mit einem Mörder zusammengewesen, ohne das Geringste zu bemerken? Es musste eine andere Erklärung geben. Einer der Constables kam ihm zu Hilfe und wandte sich an Reclimess. „Sir, vielleicht hat er nur die Leiche untersucht.“

Es hätte McClaren nichts ausgemacht, wenn der Superintendent sie alle angebrüllt hätte. Er wusste insgeheim, dass er manches Mal ein wenig schwerfällig war. Aber diese milde Trauer in Reclimess' Stimme war viel weniger zu ertragen. „In diesem Fall hätte er Blutflecke auf der Kleidung gehabt. Aber diese schmalen Spritzer sind zweifellos entstanden, als er auf Lord Adelaight eingeschlagen hat. Sehen Sie sich seine linke Hand an.“

McClaren staunte. Der Ring an Sorrowbys linker Hand war ihm bisher überhaupt nicht aufgefallen. Als er ihn genauer betrachtete, konnte er einen Ausruf des Erstaunens nicht unterdrücken. „Das ist doch das Wappen, das über dem Eingang war. Löwe auf gerautetem Schild und der verschlungene Buchstabe A wie Adelaight. Mr. Sorrowby trägt den Siegelring des toten Lords!“

Reclimess nickte, immer noch traurig und müde. „Muss ich Sie durchsuchen, Nigel?'“

Sorrowby schüttelte den Kopf und griff in seine Brusttasche. Er zog das schwarzlederne Notizbuch mit den Intitialen PVA hervor und reichte es Reclimess. Sorrowby lächelte.

„Schreiben Sie's auf meine Liste.“

***

Die Verhaftung Nigel Sorrowbys erregte ungheures Aufsehen. Niemand, wirklich niemand hätte eine solche Lösung des Falles vorausgesehen. Reclimess wurde in der Presse nun wieder gefeiert, man verlangte einen Orden für ihn. Sorrowby legte ein umfassendes Geständnis ab, was das Gerichtsverfahren gegen ihn erheblich beschleunigte. Seine Motive für diese Schreckenstaten waren Gegenstand umfangreicher Spekulationen in den Zeitungen, zumal er sich über diesen Punkt nicht im Geringsten einließ. Schließlich kam man zu dem Schluss, dass es sich bei dem so tief gefallenen Detektiv um einen vollkommen verdorbenen Charakter handeln musste, der allein aufgrund abgrundtiefer Bosheit zu seinen Abscheulichkeiten getrieben worden war. Diese Auffassung wurde vor allem von jenen nachdrücklich vertreten, die zuvor mit ähnlicher Vehemenz seine Beteiligung an den Ermittlungen gefordert hatten. Die öffentliche Meinung kannte nur eine logische Konsequenz für solche Perfidie: Tod durch den Strang. Das hohe Gericht kam nicht umhin, zum gleichen Ergebnis zu gelangen und so saß der ehemals gefeierte Nigel Sorrowby binnen kurzem in der Todeszelle. Der Termin, an welchem er für seine Taten büßen sollte, nahte heran.

Am dieser Tag anbrach, herrschte in ganz London, ja im ganzen Vereinigten Königreich, die gespannteste Aufmerksamkeit. Auch wenn nicht wie in früheren Zeiten die Hinrichtung einer öffentlichen Zurschaustellung glich, so hatten doch Journalisten aus aller Welt es verstanden, sich Plätze zu sichern, von denen aus sich die Details gut beobachten lassen würden. Selbst in den Kolonien wartete man auf ihre gedrahteten Berichte.

Währenddessen saß Sorrowby kaltblütig in seiner Zelle, die Hände auf den Oberschenkeln und harrte der Dinge. Seine Todesstunde war noch nicht angebrochen, als sich die Tür öffnete. Reclimess trat ein. Er wartete keinerlei Aufforderung ab, sondern setzte sich dem ehemaligen Detektiv gegenüber. Sorrowby zeigte nicht das geringste Erstaunen über sein Erscheinen. Die beiden Männer sahen sich in vollkommen ruhiger Stimmung an, so als wollten sie lediglich eine Partie Schach spielen. Schließlich ergriff Sorrowby das Wort.

„Sagen Sie, wie geht es McClaren?“

„Er versieht jetzt seinen Dienst in Blowharlington, als Vorsteher der dortigen Dorfpolizei. Der Ort liegt an der schottischen Grenze. Er hat es jetzt nicht mehr all zu weit zu seiner Heimatstadt.“

Sorrowby nickte. „Ich denke, es ist das Beste für ihn.Beim Yard war er nicht richtig.“

„Ich denke auch.“

Die beiden Männer verfielen wieder in Schweigen.
Dieses Mal war es Reclimess, der es brach. „Also Nigel: warum?“

Sorrowby wirkte auf einmal verschlossen, wie die Zelle, in der er sich befand. „Hatten wir nicht vereinbart, die Vergangenheit ruhen zu lassen? Sie wollen es doch gar nicht wissen.“

„Ich fürchte mich davor, aber ich muss.“

„Sie wissen es bereits.“

„Es kann nicht sein.“

„Nicht?“

Reclimess senkte den Blick.

„Ich dachte, wir wären Freunde, Harvey. Sie waren mir so ähnlich. Ich habe Ihnen alles beigebracht, was ich wusste. Und dann kam dieser Hunckley-Fall. Es hat lange gedauert, wir haben bis zur Erschöpfung gearbeitet, aber endlich hatte ich alle Fakten zusammen, um den Kerl zu überführen. In meinem Notizbuch! Und Sie hätten Ihren Anteil am Ruhm für den abbekommen.“ Sorrowbys Augen waren wie das Eis auf der Themse in einem langen, sehr kalten Winter. Grau, hart und trotzdem wusste man nicht, ob man einbrechen würde. „Aber stattdessen haben Sie mir diesen Ring untergeschoben, mit dem Finger auf mich gezeigt und in eine Gefängniszelle gebracht.“ Er bebte jetzt vor Zorn. Reclimess starrte vor sich hin, als er antwortete.

„Es war sicherlich ein schlimmer Fehler von mir.“

„Wenn man Fehler erkennt, muss man sie korrigieren.“

„Ich habe mich aus einfachsten Verhältnissen hochgearbeitet!“

„Ich nicht auch?“

„Das wäre das Ende meiner Karriere gewesen!“

„Stattdessen haben Sie meinen Ruf, ja, mein ganzen Leben ruiniert. Man hat mich nicht einmal mehr gerufen, um eine entlaufene Katze zu suchen.“ Sorrowby lachte bitter.

„Es war eine ganz plötzliche Eingebung,. Nigel! Ich hatte das nicht vorausgeplant.“

„Nein, aber Sie haben mein Notizbuch genommen und mit Hilfe meiner Aufzeichnungen die Hunckley-Morde aufgeklärt. Ich habe dafür, dass ich Scotland Yard, dass ich Ihnen geholfen habe, im Gefängnis gesessen.“

„Aber diese ganzen braven Menschen. Was haben die Ihnen getan? Was wollten Sie damit erreichen?“

„Wer hat mich denn aus seiner Mitte ausgespien? Das waren diese ach so braven Menschen. Nicht einer hat an meiner Schuld gezweifelt.“ Nun schaute auch Sorrowby zu Boden. „Niemand hat an mich geglaubt.“

„Die Köchin und das Barmädchen gehörten aber nicht zur gehobenen Gesellschaft. Warum die beiden?“

„Haben Sie es denn nie selbst bemerkt? Sie stammen doch aus ähnlichen Verhältnissen wie ich. Streber, nennen die uns. Wir würden uns für was Besseres halten, sagen sie.“ Sorrowby spie auf den staubigen Boden. „Verspottet haben die mich, als ich aus dem Gefängnis kam. Die Köchin war am schlimmsten. Eine entsetzliche Tratsche. Und die Kleine aus der Bar? Sie hat sich mit jedem eingelassen. Nur nicht mit mir, als ich ein einziges Mal“, Sorrowby hob den Zeigefinger, „ein einziges Mal mit zwei Gläsern Branntwein im Blut ein wenig Trost gesucht habe. Als ich ihr auf ihrem Zimmer meinen Namen sagte, hatte sie endlich mal einen, der noch tiefer stand als sie. Und ich sage Ihnen. Sie hat es mich weidlich spüren lassen.“

„Poole ...“, Reclimess beugte sich vor und packte Sorrowby an der Schulter. Der Detektv lächelte dünn, als ihn der Superintendent beinahe schon verzweifelt bittend ansah. „Nigel, haben Sie die Beweise …“ Angst trat in seine Augen, als Sorrowby leise nickte. Seine Hand fiel herab.

„Die öffentliche Erwartung war ... so hoch. Keine Sekunde lang habe ich gedacht, dass die Beweislage fingiert sein könnte. Ich habe einen Unschuldigen umbringen lassen.“

Sorrowby lächelte immer noch, als er sagte, „Darin hatten Sie ja schon Übung, nicht wahr? Schreiben Sie's auf Ihre Liste.“

Reclimess schüttelte den Kopf. „Und das alles wäre nie passiert, wenn ich Sie damals nicht verraten hätte.“

„Ja, unsere Liste ist lang. Zu lang“, Sorrowby sah sich um und suchte nach Worten, diese Bestrafungen waren nicht süß, Harvey, sie waren letztlich pure Galle in meiner Seele. Ein finsterer Rausch.“

Reclimess sah hoch, sein Blick war ruhig. „Haben Sie deswegen Adelaights Ring und Tagebuch genommen?“

Sorrowby nickte. „Diese Liste hätte niemals begonnen werden dürfen.“

Wieder schwiegen sie. Draußen wurden die Schatten länger. Die Stunde der Hinrichtung war beinahe da.

„Harvey?“

„Ja, Nigel.“

„Hängen ist so eine unehrenhafte Strafe.“

„Ja.“

„Harvey. Würden Sie mir einen letzten Gefallen tun?“

„Ja, Nigel. Sie würden mir damit auch eine Gunst erweisen.“

***

Man war allgemein davon ausgegangen, dass der Wirbel um die Tagebuchmorde von St. Pancras vorbei wäre. Doch als die Bürger von London am folgenden Tag ihre Zeitungen aufschlugen, gerieten sie erneut in helle Aufregung.Dort stand, dass der Superintendent Harvey Reclimess von Scotland Yard verhaftet worden war. Als der Henker und der Reverend nebst einigen Wachleuten die Tür zu Sorrowbys Zelle auftaten, um ihn zum Galgen zu geleiten, lag dieser tot auf seiner Pritsche. Daneben stand Reclimess, welcher unverzüglich und mit großer Würde gestand, den Delinquenten getötet zu haben. Er selbst gab, da alle ratlos herumstanden, die Anweisung zu seiner Verhaftung.

Seine Kollegen versuchten mit aller Macht herauszufinden, was geschehen war. Man vermutete, dass Sorrowby den Superintendent angegriffen habe, um sich für die Enttarnung zu rächen, doch es fanden sich keine Kampfspuren. Man suchte nach anderen, vor allem nach noblen Motiven, weshalb ein Polizist einen Gefangenen, der weniger als eine Stunde noch zu leben hatte, töten musste. Reclimess selbst schwieg, so dass der königlichen Staatsanwaltschaft letztlich nichts anderes übrig blieb, als ihn anzuklagen.

Das hohe Gericht bemühte sich ebenfalls, mildernde Umstände für den Angeklagten zu finden. Man stellte ihm einen ausgezeichneten Verteidiger zur Seite, welcher aber nach kurzer Zeit aufgab, da sein Mandant jegliche Zusammenarbeit verweigerte. Man ließ Reclimess von mehreren Nervenärzten untersuchen, da man auf eine vorübergehende Unzurechnungsfähigkeit spekulierte. Doch Reclimess antwortete auf alle Fragen so ruhig und klar, beschrieb den Tathergang derart routiniert und bis in alle Einzelheiten, dass man schließlich auch diese Möglichkeit verwerfen musste. Der Lordrichter flehte Reclimess nach dem Plädoyer der Anklage geradezu an, doch endlich zu sagen, was ihn zu dieser Tat bewogen habe, bevor sich die Jury zur Beratung zurückziehe. Immerhin war vom Staatsanwalt, der gar nicht anders konnte, die Todesstrafen gefordert worden.

Reclimess lächelte und schwieg.

Die Geschworenen entschieden einstimmig auf schuldig und so verkündete das hohe Gericht, dass der Angeklagte wegen Mordes zum Tode durch den Strang verurteilt werde.

Reclimess nahm den Urteilsspruch ruhig entgegen und sagte, immer noch lächelnd:
„Schreiben Sie's auf meine Liste.“

Die Hinrichtung Harvey Reclimess' wurde von der geneigten Öffentlichkeit mit grimmiger Befriedigung aufgenommen. Man erklärte sich dessen Verbrechen damit, dass die abgrundtiefe Verdorbenheit eines Sorrowby wohl ansteckend gewesen sein musste. Dies führte dazu, dass der Comissioner des Metropolitan Police Service, nicht ohne Druck seitens der Medien, verkündete, man würde zukünftig auf jegliche Zusammenarbeit mit privaten Ermittlern bei der Ausbildung von Polizeibeamten verzichten. Nachdem somit der letzte Schlusspunkt unter diese Affäre gezogen war, konnten sich die anständigen Bürger Londons wieder ihren Alltagsgeschäften widmen.

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Bildmaterialien: Coverbild mit freundlicher Genehmigung von dieBlen.de
Tag der Veröffentlichung: 21.09.2012

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