Lian Kastelic war ein Mann ohne Gewissen. Zumindest behauptete er das gerne von sich selbst, wenn er Frauen kennenlernte oder vor anderen Schurken und Halunken prahlte. In der Szene der Verbrecher Londons war er berühmt, ja sogar berüchtigt. Man kannte Lian und seine besondere, oder vielleicht auch etwas außergewöhnliche, Tätigkeit und man respektierte ihn dafür. Durch seinen langjährigen Erfolgskurs ist er mit der Zeit zu einem der Top-Diebe aufgestiegen; etwas, auf das er mächtig stolz war. Lian genoss nämlich die Aufmerksamkeit, die er nicht nur von seinen Verehrerinnen und anderen Kriminellen, sondern auch von dem Staat selbst bekam. Ja, die Obacht seitens der Polizei reizte ihn jedes Mal, wenn er einen neuen Coup plante. Deshalb musste jedes Vorhaben das Vorherige übertreffen und es deutlich in den Schatten stellen. Das war Lians Ziel, das war sein Leben.
Es war ein verregneter Samstag Abend, als Lian im Eagle-Pub saß und nach einem anstrengenden Tag einen doppelten Whisky zu sich nahm. Sein heutiger Diebstahl war wieder einmal eine gelungene Aktion gewesen und doch unterschied er sich im Wesentlichen von allen bisher erlebten Situationen. Lian kippte das kühle Getränk in einem Schluck hinunter und es hinterließ eine brennende Spur von der Kehle aus bis hin zur Magengrube. Er brauchte nur kurz zu winken, und schon schüttete der Barmann erneut eine goldfarbene Flüssigkeit in sein Glas. Mit einem Blick hinaus auf die nassen Straßen, dachte Lian daran zurück, wie er in das Haus eines begüterten Unternehmers eingebrochen war und zielstrebig zu dem einen, großen und besonderen Bücherregal schritt, welches eine Geheimtür verbarg. Der Dieb schmunzelte angesichts des klischeehaften Verstecks, war jedoch gleichzeitig auch sehr dankbar für die Dummheit und Naivität der Reichen, was zu verbergende Sachen betraf. Es war ein Leichtes für ihn, den sich dahinter befindlichen Eingang zu durchqueren und den Tresor zu knacken. Komplikationen waren erst dann aufgetreten, als Lian seine schwarze Ledertasche mit einigen Tausend Pfund gefüllt hatte und verschwinden wollte. Er wurde erwischt und zwar von dem Hausbesitzer persönlich. Lian wurde in seiner gesamten Karrierelaufbahn, wenn man diese denn so nennen konnte, nicht auf frischer Tat ertappt, was nach und nach zu einer Art Markenzeichen wurde. Er spazierte in Häuser, holte sich sein Geld und ging lässig wieder raus. Das war alles. Doch vor wenigen Stunden war er gezwungen gewesen, sich einen Kampf zu liefern.
"Was zum Teufel tun Sie hier?"
Der Finanzmann hatte im Türrahmen gestanden, einen silbernen Kerzenständer in den Händen und einen wütenden Ausdruck im blassen Gesicht, und ging wie eine Furie auf Lian los, der durch den Überraschungseffekt kurzweilig aus dem Konzept gebracht war, sich jedoch schnell wieder fing. Die beiden Männer hatten sich über eine halbe Stunde lang einen spektakulären Kampf geliefert und Lian musste erstaunt feststellen, dass sein Gegner durchaus Kraft besaß. Am Ende jedoch schaffte es der Einbrecher, den älteren Mann außer Gefecht zu setzen und verschwand mit dem Vermögen.
Wer nun jedoch glaubte, dass Lian spätestens durch den tatsächlichen Raubüberfall Schuldgefühle oder gar moralische Bedenken bekam, der irrte sich gewaltig. Das Einzige, was Lian empfand, war eine kleine, undefinierbare Sorge, gerade so, als hätte er etwas Persönliches in dem Haus zurückgelassen oder verloren. Doch unmittelbar nachdem er geflüchtet war, hatte er seine kostbare Ledertasche durchsucht und alles an seinem Platz vorgefunden.
Weitere Gedanken daran wurden in der nächsten Minute verworfen, als nämlich eine Frau die Bar betrat, welche Lian noch nie zuvor gesehen hatte und augenblicklich sein Interesse weckte. Lian fuhr sich durch sein blondes Haar und warf der Fremden ein anzügliches Lächeln zu - eine Masche, welche ihre Wirkung niemals verfehlte. Deshalb war der Verbrecher auch nicht weiter überrascht, als die Frau neben ihm Platz nahm und einen Drink bestellte.
"Der geht auf mich", ließ Lian den Barmann wissen und grinste die hübsche Unbekannte an.
Er war sich seines guten Aussehens durchaus bewusst und nutzte dies zu seinem Vorteil aus. Dank seiner slowenischen Wurzeln besaß Lian besonders markante Gesichtszüge, wie man sie hier in London nur selten antraf und dies von den meisten Frauen als willkommene Abwechslung angesehen wurde.
"Vielen Dank", grinste die Brünette und prostete ihrem Gegenüber zu.
"Kein Problem. Ich bin Lian", stellte er sich vor.
"Sydney", erwiderte die Frau und spielte mit ihren dunklen Locken.
Lian lies seinen Charme weiterhin spielen und im Verlauf des Gesprächs merkte er, dass ihn die Frau immer mehr faszinierte. Sie war klug, unabhängig und hatte einen außerordentlich guten Humor. Und Lian, so untypisch es für ihn war, wollte sie unbedingt ein weiteres Mal sehen.
"Also, Sydney. Wann treffen wir uns wieder?"
Die Angesprochene schmunzelte und zog spöttisch die Augenbrauen hoch. "Ich gehe ganz sicher nicht mit einem Verbrecher aus."
Lian lachte und dennoch war er sich sicher, dass sie es Ernst meinte. Doch woher wusste sie von seiner besonderen Beschäftigung? Er war eigentlich davon überzeugt, dass er kein Wort über seine verbrecherische Ader verloren hatte, auch wenn sich dies in zwielichtigen Kreisen durchaus herumsprach.
"Ach, komm schon, Sydney. Ich hatte nicht den Eindruck, als hättest du dich nicht amüsiert."
"Die Antwort lautet: Nein", betonte die Frau mit Nachdruck und nahm ihre Tasche vom Tresen. Anmutig erhob sie sich von ihrem Platz, blickte noch grinsend auf den verdutzten Lian zurück und verließ die Bar.
Es war die erste Abfuhr, die Lian bekommen hatte und es fühlte sich ganz und gar nicht gut an. Eine solche Enttäuschung hatte er noch nie erlebt, nicht einmal in seinem "Beruf". Das konnte er, der legendäre Lian Kastelic, nicht auf sich sitzen lassen und so beschloss er trotz der Summe, die er noch kürzlich erbeutet hatte, einen erneuten Coup zu starten. Und zwar gleich am morgigen Tag.
Zum ersten Mal musste er eine Niederlage einstecken und deshalb hatte er einen Erfolg bitter nötig.
Das Haus, welches als Nächstes auf Lians Liste stand, war eine Stadtvilla am Rande Londons, welche einem nicht unbekannten Unternehmer-Ehepaar gehörte. Ursprünglich wollte sich Lian nach der letzten Ausbeute eine Pause gönnen, jedoch hatte ihn, wie er während einer schlaflosen Nacht feststellen musste, der Korb von Sydney so dermaßen verärgert, dass er dringend eine Bestätigung seines Erfolgs brauchte. Aus gründlichen Recherchen wusste er, dass die Robertsons gegen acht Uhr das Haus verlassen würden, um zu einer Vernissage zu gehen. Sie verließen sich auf lediglich zwei Bodyguards, die am Eingangstor positioniert waren und so ging Lian zum hinteren Teil des Hauses, schaltete geschickt die Überwachungskameras aus und kletterte über die Mauer. Auf dem Grundstück selbst gab es wesentlich weniger Sicherheitsvorkehrungen, was Lian zwar wunderte, worüber er sich jedoch nicht allzu viele Gedanken machte. Vorsichtig verschaffte er sich durch die Terassentür Zugang zu dem geräumigen Wohnzimmer, welches sehr luxuriös und zugleich äußerst gemütlich eingerichtet war. Der Dieb durchsuchte mit einem geübten Blick den großen Raum, fand allerdings nichts, was auf ein Geheimversteck hindeuten könnte und suchte den Rest des Erdgeschosses ab. Nach wenigen Minuten gelangte er zu dem Schluss, dass die Robertsons ihren Tresor höchstwahrscheinlich im Keller aufbewahrten, weshalb Lian sich ein Stockwerk nach unten begab, um dort nach seinem Ziel zu suchen.
Der Keller war, genauso wie das Wohnzimmer, sehr groß, doch trotz einiger Lampen noch längst nicht so hell, wie Lian es erwartet hätte. Aus seiner Ledertasche kramte er eine Taschenlampe heraus und durchsuchte damit den Raum. In einer Ecke, die teilweise von einer großen Säule verdeckt wurde, fand er schließlich einen silbernen, auf Hochglanz polierten Tresor. Lian merkte erfreut das Kribbeln in seinen Fingerspitzen, als er sich vor den Safe kniete und aus seiner Tasche zunächst einmal ein Stethoskop holte, mit welchem er versuchen wollte, die Kombination des Tresors herauszufinden. Zu seiner Überraschung und Frustration erwies sich dies als ein schwieriges Unterfangen und so griff er, um nicht unnötig Zeit zu verlieren, auf den Plan B zurück. Für Notfälle hatte er immer einen Schneidbrenner dabei, mit dem er nun das Metall vorsichtig erhitzte. Nach wenigen Sekunden sah er erleichtert, wie das Metall unter sprühenden Funken zerschnitten wurde und den Blick auf das Innere des Tresors freigab. Lian schaute angestrengt durch das kleine Loch, nahm seine Taschenlampe zur Hand und staunte, als er den größten Haufen an Geld, Schmuck und Gold sah.
Doch gerade, als er seine Hand nach der Beute ausstrecken wollte, wurde er von einer befehlenden Stimme unterbrochen:
"Hände weg! Sofort!"
Lian fuhr erschrocken herum und konnte nicht glauben, dass er das zweite Mal in Folge erwischt wurde. Und dieses Mal sogar von einer Frau!
Die Polizistin schritt mit einer erhobenen Pistole auf den Einbrecher zu und grinste, als sie kurz vor ihm stehen blieb.
"Ich wusste, dass ich dich hier finden würde", verkündete sie mit einem hämischen Lächeln.
Lian konnte seinen Augen kaum trauen. "Sydney? Was zum...?"
"Wolltest du dich nicht etwa mit mir treffen?", fragte diese mit einem gespielt traurigen Blick. "Nach all den Informationen und Gerüchten über dich hätte ich eigentlich erwartet, dass du vorsichtiger sein würdest. Aber es war ein Leichtes, dir auf die Spur zu kommen." Sydney lachte.
Der Dieb konnte nicht recht glauben, was im Moment geschah. Er war sich so sicher gewesen, dass alles glatt lief und nun? Nun brach seine gesamte Karriere zusammen und ausgerechnet Sydney, die Frau, die er so unbedingt wiedersehen wollte, war der Grund für seinen Untergang.
"Wie...woher weißt du über das alles?", fragte er und deutete mit seiner Hand auf den aufgebrochenen Tresor.
Sydneys Miene verdüsterte sich, als sie sich zu ihm hinabbeugte. "Erinnerst du dich an dein letztes Opfer? Den Mann, den du zusammengeschlagen hast? Das ist mein Vater. Eigentlich war ich dir schon lange auf der Spur, aber leider hast du das letzte Mal etwas verloren, das dich verraten hat", erklärte sie langsam und hielt ihm seinen goldenen Ring vor die Nase. "Ich brauchte nur ein paar Leute zu fragen und schließlich bestätigte mir der Barmann im Eagle-Pub, dass er dir gehörte."
Lian wurde schlagartig wieder bewusst, wie er nach dem letzten Einbruch ein Gefühl eines Verlustes empfand, dies jedoch nicht näher definieren konnte. Wie um alles in der Welt hatte er nicht bemerkt, dass sein Ring fehlte?
"Hey, Sydney, ich kann dir das alles erklären. Ich weiß zwar nicht was du gehört hast, aber...", versuchte er noch verzweifelt, sich aus seiner mißlichen Lage zu retten, doch Sydney wies dies nur mit einem Kopfschütteln und einem bitteren Lachen ab.
"Du brauchst mir rein gar nichts zu erklären. Das wirst du schön brav vor dem Gericht tun. Und jetzt lass deine Tasche los und pack deine Hände hinter deinen Kopf!", befahl ihm die Polizistin und holte ein Paar Handschellen heraus.
Lian senkte seinen Kopf. Er wusste, dass es vorbei war und dass er nichts mehr tun konnte. Das Gefängnis war ihm nun so gut wie sicher, dessen war er sich schmerzhaft bewusst. Er würde sich nie verzeihen, dass er, Lian Kastelic, der Mann ohne Gewissen und der legendäre Verbrecher, durch einen dummen Fehler ein jähes Ende fand und dies durch eine Frau besiegelt wurde.
Texte: Mary Blossom
Bildmaterialien: JasonBechtel
Tag der Veröffentlichung: 15.04.2012
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