Die Macht des Kusses
Ihr seid..khm..mir fehlen die Worte!“ Ich presste ihm sanft meinen Zeigefinger auf die Lippen. „Nicht reden. Einfach nur genießen.“ Ihm entfuhr ein leises Stöhnen, als ich meine Lippen auf die seinen drückte und mir wie immer voll und ganz im Begriff war, wie ich auf Männer wirkte. Hüftlanges schwarzes Haar, das in sanften Wellen meinen geraden Rücken und meinen grazilen Oberkörper umspielte, sowie die smaragdgrünen Augen, die jeden Blick fesselten. Manchen stürzten meine Küsse ins Verderben, andere riefen sie ins Leben zurück und wiederum andere verschonte ich. Allein ich bestimmte, was und wie es mit ihnen geschah. Ich lebte für die Männer. Und ich bedeutete ihr Verderben. Dieser Mann war nur einer von vielen. Und noch nicht einmal etwas Besonderes.
„Darf ich um diesen Tanz bitten?“ Ein junger, gut aussehender Mann verbeugte sich höflich und bot mir seine Hand an. Normalerweise ließ ich mich nicht zu solchen Spielereien verleiten. Vor allem nicht mit meinen Opfern. Doch bei diesem Mann war es anders. Es war, als hätte man mir sämtliche Instinkte geraubt. Das erste Mal, dass ich kein sofortiges Urteil fällen konnte. Da er so sonderbar war, willigte ich ein. Ich liebte die Gefahr und ich liebte es mit ihr zu spielen, schließlich war ich selbst eine.
„Ihr tanzt gut. Woher stammt ihr?“, fragte der junge Unbekannte höflich. Da ich jedoch keine Antwort gab, da ich nicht wusste, was ich angeben sollte, schließlich hatte mich das bisher noch kein Mann gefragt und ich wusste spontan nichts Greifbares, was seine Frage vollends befriedigt hätte, entschuldigte er sich. „Ich hätte nicht so voreilig sein dürfen. Verzeihung.- Aber dürfte ich womöglich euren Namen erfahren?“ Sein Lächeln, das er bei diesen Worten zum Vorschein kommen ließ, löschte all meine Vorschriften, die ich mir selbst gestellt hatte, vollkommen aus. Und eine der obersten Vorschriften lautete: Niemals mit Herz handeln, dazu bist du nicht geschaffen! Und nun tat ich es. Mein Herz handelte. Und das zum ersten Mal nach langer Zeit.
„Nein. Es war unhöflich meinerseits die Antwort zu verwehren. Mein Name lautet Sophia Pantagiota. In Griechenland, meiner Heimat, tanzt man anders als hier in Frankreich. Jedoch habe ich Dank meines Talentes schnell diese Tanzart erlernt.“ Nun, es stimmte tatsächlich. Ich stammte aus Griechenland und man rief mich dort bei dem Namen. Jedoch waren es weitaus schwerere Bedingungen, die mich zu einer Flucht aus meiner Heimat zwangen, als das, was ich ihm während des restlichen Tanzes schilderte. Bedingungen und Gründe, weshalb ich das bin, was ich bin. Die Musik wurde unterbrochen, ehe er mir weitere unangenehme Fragen stellen konnte, da der Gastgeber eine Rede hielt. Der Unbekannte nutze diese Gelegenheit dazu mich unauffällig zu einer Seitentür hinaus in den von der untergehenden Sonne beleuchteten Garten zu entführen.
Er übernahm die Führung, was für mich neu und gefährlich war. Er bedeutete Gefahr. Ich ließ es zu, dass er mir näher kam, bis sein kühler Atem meinen Hals sanft umspielte und mir kalte Schauer über den Rücken tanzen ließ. Ein Gefühl, das ich kannte. Von früher. „ Haltet ein. Schaut mich bitte an.“ Eine schlechte Vorahnung durchfuhr mich. Und als er mir in die Augen blickte, begann ich innerlich zu zerreißen, zu bluten.Wieso hatte ich es nicht durchschaut? „Ich dachte wirklich, dass du mich früher bemerken würdest.“ Seine Stimme zitterte.Doch jenes Zittern was nichts hingegen dem Zittern, das meinen gesamten Körper überspülte. In mir blutete etwas, was ich gedacht hatte, verloren zu haben.Mein Herz.
„Sophia, ich habe dich wiedergefunden. Obgleich es nun nicht die freudigste Begegnung bleiben wird..“ „Antoine, bi..bist du es wahrhaftig?“ Er riss sein Hemd auf, sodass ich das Saphir- blaue Mal auf seiner Schulter erblicken konnte. Dasselbe, das auch ich trug. „Meine Muse, ich bin zu dir zurückgekehrt, um dich eins zu fragen: Verzeihst du mir?“ Verzeihung. Er verlangte Vergebung von MIR. ER hat mich zu Muse gemacht, zu einer Gestalt der Dunkelheit. Eine Furie, gepaart mit einer Sirene und dem Körper eines Engels. Unwiderstehlich nur durch den unersättlichen Durst, dem Verlangen nach mehr.Mehr von Ihm. Doch ich bekam nie genug, würde nie genug von ihm bekommen, denn er war derjenige, der mich ansteckte. Sein Kuss verführte mich dazu von der Dunkelheit zu kosten.Auch von ihr würde ich niemals genug bekommen. Und nun stand er vor mir und bat mich um Vergebung. Von dem Leichtsinn meines Herzens geleitet vergab ich ihm. Nahm ein letztes Mal die Macht, die Kraft und die Leidenschaft seines unwiderstehlichen Kusses wahr, mit der Sicherheit in der Ewigkeit des Kusses zu versinken.
Die Dunkelheit umhüllte mich, zog mich fort von ihm, um mich bald wieder in seinen Armen zu betten. Denn auch er ertrug es nicht lange ohne seine Muse, seine Schöpfung und erlöste schließlich seine Seele mit einem letzten Versprechen, dem Versprechen, das er mir vor Jahren gab: Das Versprechen des Kusses der Muse.
Von je her wächst an jener Stelle, an der die Macht eines Kusses Glück und Verderben gleichermaßen besiegelte, ein Rosenzweig von solcher Schönheit und Pracht, dass man meinen könnte, er sei dem Paradies entsprungen. Zum Gedenken der Auswirkungen, die ein Kuss bewirken kann, die Freude und das Leid, das er mit sich zieht und doch für jeden ein anderes Schicksal bereit hält.
Tag der Veröffentlichung: 20.07.2011
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