Nachtdienst. Wie die Zeit vergeht. Nicht mehr lange und ich bin fertig ausgebildete Polizistin und fahre mit meinem Streifenpartner zusammen auf Streife.
Jetzt im Praktikum fährt mein Tutor Manni mit und wir sind zu dritt unterwegs.
Wir haben gerade einen Einsatz abgeschlossen und sind auf dem Weg in die Wache.
Bei uns macht sich der Hunger bemerkbar und wir freuen uns auf eine kleine Pause. Die Leitstelle macht uns einen Strich durch die Rechnung. 11/32, fahrt ihr mal zum Alexanderplatz 2. Dort tropft Wasser durch die Decke und der Melder macht sich jetzt Sorgen um den Nachbarn.
Ich ignoriere mein Magenknurren und bestätige den Einsatz. Das letzte Mal, als ich einen Einsatz mit einer tropfenden Decke hatte, lag der Mieter tot in der Badewanne und das Wasser lief noch. Der Hunger ist mit einem Mal verflogen und ich hoffe, dass wir diesmal keine Leiche finden, sondern einen anderen Grund für das tropfende Wasser.
Am Einsatzort empfängt uns der Melder und zeigt uns den Wasserschaden. Das Wasser tropft immer noch und die Decke hängt auch schon leicht durch. In mir macht sich ein mulmiges Gefühl breit, das sieht nicht gut aus.
Ich beschwichtige den Melder und bitte ihn solange in der Wohnung zu bleiben. Zu dritt machen wir uns auf den Weg nach oben. Laute Musik dringt aus der Wohnung über der des Melders.
Ich betätige die Klingel, keine Reaktion. Wahrscheinlich hat er die Klingel aufgrund der lauten Musik gar nicht gehört. Christian, mein Kollege, hämmert gegen die Tür.
„Polizei, machen Sie die Tür auf. Wir müssen mit ihnen reden“. Lautes Geschrei dringt aus der Wohnung. Christian zieht sich die Lederhandschuhe an. Die Situation scheint sich zuzuspitzen, mein Tutor Manni und ich greifen ebenfalls zu den Handschuhen.
Christian hämmert noch einmal gegen die Tür. Ich klingel Sturm. Das Geschrei nimmt nicht ab. Auf einmal wirft sich eine Person von innen gegen die Tür. Eine männliche Person schreit. „Ich stech euch ab. Wer in meine Wohnung kommt, kommt nicht lebend hinaus.“
Ich greife zu meinem Pfefferspray. Unsicher, ob ich es direkt benutzen darf, frage ich meinen Tutor. Der nickt nur und hat ebenfalls sein Pfefferspray zur Hand.
Immer wieder hämmert Christian gegen die Tür und fordert den Mann auf, die Tür zu öffnen und uns hereinzulassen. Wir wollen ihm nichts Böses, aber das Wasser muss abgedreht werden, damit der Mieter unter ihm keinen noch größeren Wasserschaden hat.
„Ich stech euch ab und schlitz euch auf. Ich schlitz euch solange auf, bis ihr mich erschießt. Ich will von euch eine Kugel. Ich will mir eine Kugel fangen und schlitze euch mit dem Messer auf, bis ihr das macht. Heute verlässt keiner lebend diese Wohnung“, schreit der Mann durch die geschlossene Tür.
Er wirft sich von innen gegen die Tür und wird immer aggressiver. Ich greife nach meiner Waffe. Wenn der Mann gleich die Tür aufreißt und uns mit einem Messer attackiert, dann muss ich schießen. Die Anspannung nimmt zu. Jeder von uns hat jetzt in der rechten Hand die Waffe und in der linken Hand das Pfefferspray. Für mich ist es das erste Mal und ich bin nervös.
Wir müssen in die Wohnung. Der Mann scheint in einer ausweglosen Situation zu sein, vermutlich tut er sich etwas an. Mir fällt ein, dass ich Türöffnungswerkzeug im Wagen habe. auf dem Weg zum Auto lasse ich den Mann von der Leitstelle überprüfen.
Er ist Geisteskrank und gefährlich. Das passt.
Mit dem Türöffnungswerkzeug renne ich wieder nach oben. Wir probieren die Tür zu öffnen. Mit einem Mal schmeißt sich der Mann wieder von innen gegen die Tür und mein Werkzeug bleibt stecken. Heute funktioniert aber auch nichts.
Lagemeldung. Die Leitstelle muss über diese Situation informiert sein. Verstärkung ist unterwegs. Bis zum Eintreffen ziehen wir uns zurück und beobachten die Wohnung. Wir ziehen uns zur Sicherheit die schusssichere Weste an.
Unser Dienstgruppenleiter Mark ist ebenfalls unterwegs. Nachdem ich die Verstärkungskräfte und Mark über die Lage informiert habe und der Leitstelle eine weitere Lagemeldung schildere, wird eine Bedrohungslage ausgerufen.
Von jetzt an entscheiden nicht mehr wir über das taktische Vorgehen, sondern ein vorgegebener Ablaufplan und ein Handlungsschema.
Mark ist der Chef vor Ort. Alles Weitere entscheidet die Lagestelle. Diese Entscheidungen werden aufgrund der Aufklärungsergebnisse und Lagemeldungen durch Mark getroffen.
Mark teilt die Kräfte ein. Christian, Manni und ich übernehmen die Absperrmaßnahmen. Die anderen Kollegen sind zuständig für die Aufklärung und den Zugriff. Ich sperre sämtliche Zufahrtstraßen mit dem Auto und Pylonen ab. Von jetzt an ist die komplette Straße für den Verkehr gesperrt. Anschließend räumen wir das Haus. Da von dem Geisteskranken eine erhebliche Gefahr ausgeht, müssen die anderen Mieter aus dem Haus. Es wird eine Sammelstelle für die Evakuierten eingerichtet. Von den Verkehrsbetrieben wird ein Bus gestellt, in dem sich die Betroffenen aufhalten können.
Ebenso werden die umliegenden Häuser geräumt. Man weiß nicht, was der Mann macht. Vorsorglich wird durch die Strombetriebe das Gas abgedreht, damit wenigstens ein Gefahrenpunkt ausgeschlossen werden kann.
Bei der Räumung der umliegenden Häuser stelle ich fest, dass man von einer Wohnung eine perfekte Sicht in die Wohnung des Geisteskranken hat.
Soweit ich weiß haben die Aufklärungskräfte bislang keine Möglichkeit in die Wohnung zu sehen, da es recht verwinkelt ist.
Ich spute zu Marc und informiere ihn über die Aufklärungsmöglichkeit. Mark schickt mich dorthin und überträgt mir die Aufklärungsaufgabe.
Nach wenigen Minuten beziehe ich Stellung und beobachte die Wohnung des Geisteskranken. Alles ist dunkel, laute Musik dringt aus der Wohnung und Geschrei.
Über Funk bleibt man auf dem Laufenden. Die Sondereinheiten sind informiert. In etwa einer Stunde hat das SEK Eintreffen und wird einen Zugriff durchführen.
Langsam beruhigt sich mein Puls und mein Hungergefühl setzt wieder ein. Eine Gulaschkanone wäre unschlagbar, aber auch unrealistisch.
Mittlerweile ist es 0:00 Uhr. Seit 21:30 Uhr sind wir in dem Einsatz und es sieht nicht so aus, als wäre die Lage in nächster Zeit beendet.
Endlich, dass SEK hat Eintreffen. Wieder vergeht eine halbe Ewigkeit. Über Funk erhalte ich die Information, dass ein Kollege vom SEK sich auf dem Weg zu mir befindet. Spannung. Der Kollege trifft ein und bezieht Stellung.
Er ist jetzt der Sicherungsschütze. Falls der Geisteskranke vorhat aus dem Fenster zu springen oder vom Fenster aus um sich zu schießen, dann ist es der Job des Sicherungsschützen, die Situation zu klären.
Ich ziehe mich zurück und gebe meinen Aufklärungsposten auf, denn ich würde mich dort genau in der Schusslinie befinden. Keine gute Position.
Da ich einige Zeit als Aufklärungsposten verbracht habe, bin ich überrascht, welche Kräfte sich am Einsatzort befinden und was sich alles getan hat. Die Feuerwehr ist mit einem ganzen Zug vor Ort, mehrere Notärzte und Rettungssanitäter befinden sich in der Nähe und mittlerweile sind auch Pressevertreter eingetroffen.
Das SEK hat den Zugriff vorbereitet. Mit Unterstützung der Feuerwehr will das SEK die Wohnung stürmen und den Geisteskranken überwältigen.
Plötzlich geht alles ganz schnell.
Die Feuerwehr hat ein C-Rohr in das Haus gelegt. Der Wasserdruck ist so unvorstellbar gewaltig, dass selbst verschlossene Türen aufgesprengt werden.
Nachdem der Geisteskranke mit dem C-Rohr geduscht worden ist, erfolgte der Zugriff durch das SEK. Mittels Taser, einer Elektroschockpistole, wurde der Geisteskranke überwältigt und anschließend fixiert.
Während der Notarzt den Geisteskranken versorgt, bringen Manni, Christian und ich die Türramme und andere Einsatzmittel zurück zum Streifenwagen. Hinter der Absperrung befinden sich unzählige Schaulustige und Medienvertreter mit Fernsehkameras und Fotoapparaten.
Die Schaulustigen bezeichnen uns als die Helden. Ein gutes Gefühl, obwohl wir an dem Zugriff gar nicht beteiligt waren.
Zurück in der Wohnung des Geisteskranken bin ich sprachlos. Am Anfang des Einsatzes hätte ich gedacht, dass der Geisteskranke mindestens zwei Meter groß ist, muskulös und bewaffnet bis an die Zähne. Er ist jedoch knapp 1,70 Meter groß und wiegt kaum 55 Kilo.
Dennoch sollte man eine solche Situation nicht unterschätzen. Christian, Manni und ich begleiten den Rettungswagen in die Psychiatrie.
Der Geisteskranke wird zwangseingewiesen. Als er mich gesehen hat, wollte er von mir wissen, ob ich ihm noch einmal Elektrostöße mit dem Taser verpassen könne. Darauf steht er nämlich.
Abschlussbesprechung. Mark ist stolz auf uns alle. Runde Sache, alles ist gut gelaufen. Er ist stolz auf mich, dass ich diese Aufklärungsposition gefunden habe. Ein gutes Gefühl.
Die Anspannung lässt nach und weicht der Erleichterung.
Ich trauere meinem Türöffnungswerkzeug hinterher. Das SEK hat es mitgenommen. Vielleicht erhalte ich es wieder. Aber was ist schon ein verlorenes Türöffnungswerkzeug gegen einen solchen Einsatz, welcher auch anders hätte ausgehen können?
Tag der Veröffentlichung: 21.06.2011
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