Cover

Kopfsprung



Immer wieder träume ich diesen Traum.
In verschiedenen Varianten durchlebe ich diesen einen Einsatz, wache nachts auf und denke darüber nach. Was wäre wenn.

Ich bin im zweiten Jahr meiner Ausbildung zur Polizeivollzugsbeamtin und gerade im zweiten Praktikum. Spätdienst. Mit meinem Tutor, Micha, und einer weiteren Kollegin fahre ich als dritter Mann / dritte Frau auf Streife.
Wir erhalten einen Einsatz von der Leitstelle. Schlägerei in einem Treppenhaus.
Zufall, wir befinden uns gerade auf der Straße, wo sich auch die Einsatzörtlichkeit befindet. Innerhalb weniger Sekunden erreichen wir die von der Leitstelle mitgeteilte Örtlichkeit.
Die Tür steht offen. Bei dem Haus handelt es sich um einen Altbau. Schöne hohe Wände, steile, hohe Treppen im Hausflur.
Von oben sind Schreie zu hören. Lautes poltern. Jana, meine Kollegin geht voran.
Ich bin auf der Treppe direkt hinter ihr.
Wir gehen Stufe für Stufe weiter hinauf. Fast sind wir im Flur der ersten Etage angekommen. Auf einmal hören wir lautes Schreien. Ein Mann kommt urplötzlich um die Ecke geschossen.
Der Typ stößt einen unheimlichen Schrei aus. Er steht oben im ersten Stock am Ende der Treppe.
Irrer Blick. Monster.
Wie von Sinnen stößt der Typ noch weiterer Schreie aus und springt dann kopfüber die Treppe hinunter. Er stößt sich wie ein Schwimmer vom Startblock vom Treppenabsatz ab und fällt.

Alles passiert innerhalb weniger Sekunden. Jana schreit, runter schnell. Wir sind rückwärts die Treppe hinunter gerannt.
Die letzten Stufen schwinge ich mich über das seitliche Geländer nach unten.
Der Typ schreit immer noch. Er versucht sich zu fangen. Taumelt. Nimmt erneut Anlauf. Springt wieder.
Jana und ich haben den Hausflur erreicht. Rechtzeitig. Der Typ segelt an uns vorbei und knallt mit dem Kopf auf eine im Flur stehende Kommode.
Nach seinem Sturz bleibt er auf dem Boden liegen. Schreit weiter. Micha und Jana fixieren ihn mit Handfesseln und versuchen ihn aufzurichten. Außer einer großen Beule scheint ihm nichts zu fehlen. Plötzlich rennt ein Hund die Treppe hinunter. Bellt. Knurrt.
„Schaff den Hund hier weg“, ruft Micha und ich schiebe den aufgeregten Terrier-Mix bei Seite.
Mittlerweile ist Verstärkung eingetroffen.
Ein weiteres Streifenteam, Tim und Laura und mein Dienstgruppenleiter, Manni.
Die fünf haben den Typen unter Kontrolle und transportieren ihn zum Streifenwagen.

„Ich gehe mal oben gucken, was da los war“, gebe ich Micha Bescheid und stiefele alleine nach oben. Der Einsatzbefehl lautete ja „Schlägerei im Treppenhaus“ und bislang haben wir nur eine Person angetroffen.
Im 1. Stock angekommen erwarteten mich einige Personen. Ein Zeuge, der Nachbar von unserem Springer, zeigte mir dessen Wohnung. Er wohne alleine mit seinem Hund.

Dennoch betrete ich die Wohnung mit gezogener Waffe. Mein Tutor und die anderen Kollegen sind immer noch unten. Mich beschleicht ein mulmiges Gefühl, völlig alleine, völlig auf mich gestellt.

Langsam betrete ich den ersten Raum, scheinbar das Wohnzimmer. Die Waffe in Sicherungshaltung, schräg nach unten gerichtet. Sicher.

An das Wohnzimmer grenzt links das Badezimmer an. Beißender Geruch nach Exkrementen schlägt mir entgegen. Der Zustand, unbeschreiblich. Sicher.

Rechts an das Wohnzimmer grenzt eine kleine Küche an. Auch hier herrscht ein unangenehmer Geruch, allerdings nach Schimmel, verfaulten Essensresten und überquellendem Mülleimer. Sicher.

Der letzte Raum. Ein kleines Zimmer, möglicherweise das Schlafzimmer. Die Matratze ist unter der Unordnung und dem Müll kaum zu erkennen. Sicher.

In der ganzen Wohnung hält sich ein undefinierbarer unangenehmer Geruch, ein richtiggehender übler Gestank. Überall liegen Essensreste, Müll, Exkremente vom Hund, gebrauchte Kleidung und andere Gegenstände.
Ein Schlachtermesser mit einer circa 25 – 30 cm. Langen Klinge. In mir kommt Übelkeit hoch, meine Gedanken überschlagen sich. Was wäre wenn.

Ich reiße mich zusammen und verlasse die Wohnung. Meine Waffe stecke ich zurück in das Holster.
Endlich. Micha kommt die Treppe hinauf zu mir. Fragt, ob alles bei mir okay ist. Stumm nicke ich. Kann man mir ansehen, was mir gerade durch den Kopf geht?

Wir fangen an die Zeugen zu befragen. Der Springer heiße Sascha. Er nehme Drogen und habe dann häufiger Ausraster. Ein Zeuge berichtet uns, dass er Sascha versucht habe zu helfen. Er habe ihn beruhigen wollen. Dann sei der Sascha richtig ausgerastet und aus seiner Wohnung gestürmt. Im Flur habe er dann das Treppengeländer kaputt getreten und laut gebrüllt. Dann wären wir auch schon eingetroffen.
Wir nehmen die Aussagen auf, lassen uns Strafanträge unterschreiben und geben Tipps für eine Meldung beim Vermieter.

Im Hausflur erzählt Micha mir, dass der Sascha noch einmal ausgerastet ist und es einen Widerstand gegeben hat.
Er hat seine am Rücken gefesselten Hände über den Kopf nach vorne gerissen, gebissen und gespuckt. Jetzt ist er ganz ruhig und liegt im Streifenwagen von Tim und Laura. Die beiden sind schon mal zur Wache vorgefahren.

Jana wartet schon im Streifenwagen. Der Schreck muss erst einmal verdaut werden. Wir machen uns auf den Weg zur Wache. Schreibarbeit.
Auf der Wache verständige ich einen Arzt für Sascha, wegen der Haftfähigkeit. Mit den konsumierten Drogen ist nicht zu spaßen. Gemeinsam mit dem Arzt betreten Micha und ich die Zelle. Ich erkenne Sascha nicht wieder. Als er die Treppe hinunter gesprungen ist, hatte er einen irren Blick und sah total anders aus. Jetzt sieht er aus wie ein Häufchen Elend.
Er kann sich an nichts erinnern. Glaubt, dass er sich seine Verletzung am Kopf bei einem harmlosen Sturz zugezogen hat. Auch die Schürfwunden, die durch den Transport zum Streifenwagen entstanden sind, kann er sich nicht erklären.

Er kann sich an nichts erinnern. Ich werde die Erinnerungen nicht mehr los.
Was wäre wenn?

Was wäre, wenn wir eine Minute eher am Einsatzort eingetroffen wären?

Ich träume immer wieder diesen Traum, dass wir eine Minute eher eintreffen. Wir hören lautes Geschrei aus der ersten Etage und rennen die Treppe hinauf. Jana und ich kommen zuerst oben an. Die Tür zu Saschas Wohnung steht offen und ich rufe: „Polizei, beruhigen Sie sich und bleiben in der Wohnung“.
Wir betreten die Wohnung.
Im Wohnzimmer erwartet uns Sascha, mit gezogenem Schlachtermesser.
Ich ziehe meine Waffe und höre mich schreien: „Polizei. Keine Bewegung. Legen Sie das Messer langsam auf den Boden!“
Doch Sascha reagiert nicht. Er kommt mit erhobenem Messer auf uns zu. Ich schreie ihn erneut an: “Messer auf den Boden – oder ich schieße!“.
Ich habe keine andere Wahl. Sascha läuft zielgerichtet auf Jana und mich zu.
Ich muss schießen und wache aufgewühlt aus meinem Traum auf.

Was wäre wenn?

Was wäre, wenn wir 30 Sekunden eher am Einsatzort eingetroffen wären?

Wir hören lautes Geschrei aus der ersten Etage und rennen die Treppe hinauf. Wir sind fast oben angekommen, als Sascha am Treppenabsatz erscheint. Irrer Blick. Lautes Geschrei. Wie von Sinnen stößt Sascha noch weiterer Schreie aus und springt dann kopfüber die Treppe hinunter. Er stößt sich wie ein Schwimmer vom Startblock vom Treppenabsatz ab und fällt.

Jana kann ihm ausweichen. Ich nicht. Mich reißt er mit nach unten. Ich versuche ihn von mir weg zu schieben. Mich zu befreien. Meine Kraft reicht nicht aus. Wir fallen gemeinsam die Treppen hinunter. Er knallt mit dem Kopf gegen die Kommode und ich schlage mir den Kopf an einer Stufe an. Licht aus. Alles ist dunkel.

Wie aus einem Nebel vernehme ich die Stimme von Micha. Besorgnis? Was ist denn eigentlich passiert? Meine Erinnerung ist verwaschen.

„Hey Kleine, mach die Augen auf“. Langsam öffne ich meine Augen. Ein dumpfer Schmerz breitet sich in meinem Kopf aus.
„Kannst du aufstehen?“, Micha hilft mir hoch und ich versuche erst einmal meine Glieder zu ordnen. Alles dreht sich, alles tut weh.

Wir gehen zusammen zum Streifenwagen. Ich taumele, mir wird schwarz vor Augen und ich wache schweißnass aus meinem Albtraum auf.

Sascha kann sich an nichts erinnern. Ich träume von dem Erlebnis und werde meine Erinnerungen nicht los. Irgendwann einmal. Vielleicht.

Impressum

Texte: Copyright by me!
Tag der Veröffentlichung: 28.05.2011

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /