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„Nein, mein Kleiner“, lache ich und nehme ihm meine Englischzettel wieder aus der Hand.
„Die brauch ich noch.“
Ich hefte sie zurück in den Ordner und lege ihn auf meinen Schreibtisch. Dann wende ich mich wieder meinem kleinen Bruder zu.
„Und was machen wir nun?“, frage ich. Mik hält mir eine kleine Stoffschlange hin, doch als ich danach greifen will, zieht er die kleine Hand schnell wieder weg.
„Nicht für mich?“ Ich ziehe spielerisch meine Unterlippe nach unten. Mik gluckst glücklich. Ich stehe von meinem Stuhl auf und hebe ihn hoch. Das mag er, wenn man ihn wie ein kleines Flugzeug hochhebt. Als er über meinem Kopf schwebt, lacht er laut heraus. Sein kleiner Mund ist offen und man kann die ersten kleinen Zähnchen erkennen.
Wir setzen uns auf mein Bett und ich knuddel mich an ihn.
Er fühlt sich ungewöhnlich warm an.
„Du bist ja ganz durchgeschwitzt.“
Ich lege ihn vor mich und ziehe ihm die dunkelblaue Latzhose aus.
„So, jetzt sollte es nicht mehr so warm sein“, sage ich und gehe mit Mik auf dem Arm ins Wohnzimmer, zu meiner Mutter.
Sie sitzt auf dem Sofa und legt die frische Wäsche zusammen, die sie anschließend fein säuberlich sortiert. Drei kleine Wäschehaufen liegen vor ihr. Ihrer ist der größte, dann kommt meiner, und zum Schluss Miks, welcher der kleinste ist.
„Meinetwegen kannst du immer so klein bleiben“, flüstere ich ihm ins Ohr. Er kneift die Augen zu und verzieht den Mund zu einem Grinsen.
„Ich hab ihm die Hose ausgezogen, ich glaube, ihm war warm“, sage ich an meine Mutter gerichtet.
Sie blickt von ihrem Wäschestapel auf.
„Hat er Fieber?“
„Das weiß ich nicht.“
„Miss bitte mal Fieber bei ihm.“ Sie steht auf und läuft zu Miks Wickelkommode hinüber. Eine Sekunde später reicht sie mir das Fieberthermometer.
Ich setze meinen kleinen Bruder auf den Boden und stecke eine neue Hülle auf das Thermometer, bevor ich es ihm ins Ohr halte. Das mag Mik nicht. Er verzieht den Mund und fängt an zu Brüllen. Seine kleinen Arme schlagen um sich und er dreht den Kopf weg, sodass ich ihn festhalten muss. Es tut mir weh, etwas mit ihm zu machen, was er nicht will, aber ich tue es.
Dann endlich piept das Thermometer.
„38,8°C“, sage ich und meine Mutter kommt auf uns zu. Sie greift Mik unter die Arme und hebt ihn schwungvoll auf ihren Arm.
„So kleiner Mann. Jetzt kriegen wir ein Zäpfchen.“
Sie legt ihn auf die Wickelkommode und zieht ihm Strumpfhose und Windel auf, gibt ihm dann ein Zäpfchen.
Mik jammert noch ein wenig, aber richtiges Brüllen, wie ich es eigentlich von ihm gewohnt bin, ist das nicht.

Mik ist eingeschlafen, und ich sitze wieder an meinem Schreibtisch, vor dem Ordner mit den Englischzetteln drin, als das Telefon klingelt. Lächelnd lasse ich mich auf mein Bett fallen und drücke auf den grünen Hörer.
„Ja?“
„Hey Valerie, hier ist Emely“, sagt die Stimme am anderen Ende der Leitung.
Ein Grinsen breitet sich auf meinem Gesicht aus.
„Hey. Wie geht’s dir?“
Ich muss kichern. Wir haben uns erst vor sechs Stunden oder so das letzte Mal gesehen, doch es kommt mir wie eine Ewigkeit vor.
„Gut, und dir? Was machst du so?“
„Ach, ich mach grade Englischhausaufgaben. Beziehungsweise ich versuche es. Verstehst du Aufgabe 4?“, seufze ich und spiele mit meinem Funkwecker herum, der auf meinem Nachttisch steht. In letzter Zeit stellt er sich andauernd von alleine auf Sommerzeit um.
„Hmm… Aufgabe 4…“
Ich höre Emely, wie sie in ihren Sachen kramt.
„Hmm nein, die hab ich auch nicht.“
„Okay, schade.“
„Hast du gesehen, wie Ole heute die ganze Zeit zu Marie geguckt hat?“
Ich mache es mir auf meiner Bettdecke bequem und stelle mich auf ein längeres Gespräche ein. Ich liebe unsere abendlichen Telefonate!
„Nein, erzähl! Ole und Marie?“
„Jaa, er hat die ganzen Stunden immer wieder in ihre Richtung geguckt, und wenn sie dann kurz geschaut hat, hat er schnell weggeguckt!“
„Wow, also weiß sie es? Und, was sagt sie dazu? Mag sie ihn?“
Emely kichert.
„Ja, ich glaube sie mag ihn auch. Sie will es natürlich nicht zugeben. Aber ich glaube, das könnte was werden.“
Jetzt sind wir voll in unserem Gespräch versunken, und ich merke gar nicht, wie die Zeit vergeht. Als wir endlich ein Ende finden und ich auflege, zeigt mir mein Wecker 23:46 Uhr an.
„Upps“, murmele ich und schleiche mich leise aus meinem Zimmer heraus. Ich stelle mich innerlich schon auf den Ärger ein, den ich gleich von meiner Mutter bekommen werde, wenn sie merkt, dass ich bis eben telefoniert habe. Doch als ich ins Wohnzimmer komme, ist sie nicht dort. Auch in der Küche ist keine Spur von ihr. Komisch. Nicht mal Essen hat sie gemacht.
„Hä?“ Ich gehe weiter durchs Haus.
„Mama?“
Keine Antwort.
Leise schleiche ich dir Treppe hoch und öffne ihre Schlafzimmertür einen Spalt weit.
Mir fällt ein Stein vom Herzen.
Da liegt sie, mit ausgebreiteten Armen auf ihrem Bett, und schläft. Und neben ihr liegt Mik. Mik?
„Mik?“, flüstere ich.
Er dreht seinen kleinen Kopf in meine Richtung.
Vorsichtig nähere ich mich dem Bett, darauf bedacht, meine Mutter nicht zu wecken. Ich nehme Mik auf den Arm und schleiche davon.
„Was machst du bei Mama im Bett, kleiner Mann?“
Er guckt mich mit seinen großen, blauen Kulleraugen an. Sie sind von einem so reinen Blau, dass man meinen könnte, es sei künstlich.
Ich bringe Mik in sein kleines Zimmer. Bevor er geboren wurde, war dieses Zimmer jahrelang mein Spielzimmer. Noch immer waren die Wände mit einer rosafarbenen Blümchentapete tapeziert.
Vorsichtig lege ich ihn ins Bett, wobei mir auffällt, dass seine Stirn immer noch ungewöhnlich heiß ist.
„Was ist nur los mit dir?“, frage ich und hole das Thermometer aus dem Wohnzimmer.
39,8°C.
„Mein kleiner Spatz, du hast ja richtig hohes Fieber!“
Ich hebe ihn wieder aus seinem Gitterbett und gehe zurück ins Schlafzimmer, zu meiner Mutter.
„Mama?“ Ich klopfe dreimal gegen die Tür, dann gehe ich zu ihr und setze mich aufs Bett.
Sie rekelt sich ein wenig, dreht sich auf die andere Seite.
„Mama“, sage ich noch einmal und rüttel leicht an ihrem Bein.
„Mama!“
„Hmm?“ Erschrocken sieht sie auf. Ihre Haare kleben ihr in Striemen an der Stirn und sehen aus wie Stroh, ihr T-Shirt ist verdreht und ihre Augen müde.
„Mik hat hohes Fieber“, flüstere ich.
Mein kleiner Bruder hängt fast leblos in meinem Arm und rührt ich kaum. Seine Augen wandern ziellos durch die Dunkelheit und man merkt, dass es ihm nicht gut geht.
Meine Mutter setzt sich auf und legt ihre Hand auf Miks Kopf.
„Wie hoch?“, fragt sie.
„39,8°C“, antworte ich.
Dann murmelt sie irgendwas, was sich anhört wie ‚Ach du scheiße‘ und steht auf. Das Licht sticht mir in die Augen, als es plötzlich angeknipst wird.
Meine Mutter zieht sich ihre Hose über und ihren grauen, viel zu großen Pullover.
„Was machst du?“
„Wir fahren ins Krankenhaus.“ Mit den Worten verschwindet sie aus dem Zimmer. Ich folge ihr in die Küche, wo sie nach dem Telefon greift.
„Hallo? Schneider hier. Ich brauche sofort ein Taxi in die Ulmenstraße 15“, brummt sie ins Telefon. „Ja, danke.“
„Taxi?“
Ach ja. Es fällt mir wieder ein. Mein Vater ist, wie so oft in letzter Zeit, auf Geschäftsreise. Demnach haben wir kein Auto.

Im Krankenhaus sitze ich mit Mik auf dem Schoß im Wartezimmer, während meine Mutter am Empfangstresen mit einer ausschweifenden Gestik versucht, der Schwester klar zu machen, dass wir einen Notfall haben.
Endlich ruft ein Arzt uns in eines der Behandlungszimmer.
Mik ist eingeschlafen, also lege ich ihn vorsichtig auf die Liege.
„Er hat Fieber, 39,8°C“, berichtet meine Mutter dem Arzt, der sich Notizen macht.
Während meine Mutter ihm Mik komplette Krankengeschichte erzählt, streiche ich meinem Bruder über die Hand, um ihn zu beruhigen. Sein Kopf dreht sich hin und her, er scheint nicht gut zu schlafen.
Mama erzählt von seinen ständigen Fieberanfällen, von seiner Weinerlichkeit in letzter Zeit, von seinem Untergewicht und dem Nasenbluten.
„Ja, Frau Schneider“, sagt er, als sie fertig ist. „Ich würde ihrem Sohn gerne Blut abnehmen, und dann sehen wir weiter.“

Vom Blutabnehmen ist er aufgewacht. Er hat geweint und sich mit Händen und Füßen gewährt.
Gedanken an diese Zeit machen mich immer noch traurig. Aber es ist nicht mehr so schlimm, dass ich in Tränen ausbreche oder so. So war es am Anfang. Jedes Mal, wenn ich ein Kleinkind gesehen habe, kamen mir die Tränen. Die Leute müssen gedacht haben, ich sei geisteskrank.
Aber naja, es ist nicht mehr so schlimm.
Ich kann wieder lachen. Wir können wieder lachen.
„Leukämie?!“, kreischt meine Mutter aufgeregt. Sie rennt im Behandlungsraum auf und ab, fährt sich wie eine Irre andauernd mit den Händen durch die blonden Haare. Sie sind immer noch genau so strohig wie vor einer Stunde noch.
Mik liegt immer noch auf der Liege und schläft mittlerweile wieder, und ich sitze immer noch neben ihm und halte seine kleinen, zerbrechlichen Finger zwischen meinen.
„Beruhigen Sie sich, Frau Schneider“, sagt der Arzt und legt meiner Mama eine Hand auf die Schulter. Er wirft mir einen Blick zu, der so viel sagt wie: „Hilf mir, deine völlig gestresste und übermüdete Mutter zu beruhigen, bitte.“
Ich mache nichts. Ich bleibe einfach sitzen.
„Um ganz sicher zu gehen, müssen wir eine Knochenmarkspunktion machen.“
„Eine was?“ Sie läuft immer noch durch den Raum.
„Bleib doch mal stehen, Mama!“, rufe ich gereizt in den kalten Raum, doch keiner nimmt mich wahr.
„Dabei wird Knochenmark aus dem hinteren Beckenkamm entnommen, um es anschließend zytologisch zu untersuchen.“
„Sie schneiden ihn auf?!“, schreit sie entsetzt und bleibt endlich stehen. Alle Farbe ist aus ihrem Gesicht entwichen und sie wirkt seltsam klein und krank. Am liebsten würde ich zu ihr herüber gehen und sie in den Arm nehmen, sie ins Bett bringen, und ihr ein Schlaflied singen.
Doch ich bleibe sitzen und beobachte weiter.
„Nein, nein. Er bekommt ein Narkotikum und wird schlafen, und währenddessen werden wir mit einer kleinen Nadel seinen Beckenkamm punktieren.“
Wenige Minuten, nachdem meine Mutter die Einverständniserklärung unterschrieben hat, liegt Mik auch schon auf einer anderen Liege, in einem OP-Raum. Er liegt auf dem Bauch, die kleinen Arme und Beine von sich gestreckt, ein dünner Schlauch führt in seinen Mund. Damit er Luft bekommt, haben die Ärzte mir erklärt.
Er hat jetzt nur noch ein grünes Hemd an, dieses typische, ekelige Krankenhausgrün.
Er sieht hilflos aus, wie er da liegt, allein und klein, doch ich kann nicht zu ihm, die Schwestern haben mir nicht erlaubt, bei ihm zu bleiben. Also bleibt mir nicht andere übrig, als vor dieser Glasscheibe zu warten und zu zusehen, wie sie meinem Bruder eine Nadel in den Rücken stechen.
Als ich die Nadel sehe, wird mir schlecht und ich halte mir automatisch die Hand vor die Augen. Sie ist mindestens zehn Zentimeter lang und bestimmt einen Zentimeter dick. Okay, das ist übertrieben. Aber im Vergleich zu einer Nadel, mit der man Blut abgenommen bekommt, ist das hier ein Monstrum.
Um 2 Uhr nachts in etwa bekamen wir dann das Ergebnis der Biopsie.
„Ihr Sohn hat ALL, akute lymphatische Leukämie.“

Doktor Witten sitzt uns gegenüber, wir sind lediglich durch einen Schreibtisch getrennt.
Meine Mutter starrt ihn ungläubig an.
„Sie müssen etwas verwechselt haben“, sagt sie ruhig.
In der vergangen Stunde, als wir auf das Untersuchungsergebnis warten mussten, hat sie sich die Haare gewaschen und gekämmt und etwas Make-Up aufgelegt. Sie sieht jetzt viel besser aus. Immer noch müde und erschöpft, aber nicht mehr so kränklich.
Mik liegt ein Stockwerk über uns in einem weichen Bett. Er teilt sich das Zimmer mit einem anderen Jungen.
„Tut mir Leid, Frau Schneider.“ Der Arzt rückt seine Brille zurecht.
Meine Mutter lässt den Kopf sinken. Sie drückt die Hände ins Gesicht und ihr schwacher Körper beginnt zu beben. Hilflos sehe ich zu ihr herüber. Ein Schluchzen entfährt ihr.
Widerwillig strecke ich meine Hand aus und lege sie ihr auf die Schulter.
„Was passiert jetzt mit Mik?“, frage ich an Dr. Witten gerichtet.
Er blättert kurz in seinen Unterlagen, sieht mich dann an. Mit gefalteten Händen erklärt er mir Miks Therapieplan:
„Morgen Vormittag werden wir bei deinem Bruder eine Lumbalpunktion durchführen, das heißt, wir entnehmen etwas Gehirn-Rückenmark-Flüssigkeit.“
Meine Mutter hebt den Kopf und sieht ihn ängstlich an.
„Er wird dafür natürlich wieder schlafen“, ergänzt der Arzt schnell.
„Dein Bruder wird eine Chemotherapie bekommen. Dazu muss er natürlich hier im Krankenhaus bleiben, gleich morgen früh verlegen wir ihn auf die Onkologie-Station. Mit der Chemo versuchen wir, ihn in Remission zu bekommen. Das heißt, wir versuchen, alle Krebszellen zu vernichten. Während der Intensivphase dieser Behandlung muss Mik hier im Krankenhaus bleiben. Danach bekommt er weniger aggressive Zytostatika und kann nach Hause. Vorausgesetzt alles verläuft planmäßig.“
Ich nicke vorsichtig.
„Eventuell muss eine Bestrahlung seines Kopfes durchgeführt werden, um dortige Leukämiezellen ebenfalls zu zerstören. Aber das werden wir erst morgen wissen.“
Wieder nicke ich.
Die Müdigkeit kriecht langsam durch meinen Körper, und es fühlt sich an, als würde ich zu Boden gedrückt werden.
„Und nun sollten du und deine Mutter nach Hause fahren und noch ein wenig schlafen, damit ihr morgen wieder für Mik da sein könnt“, schließt er seinen Vortrag und steht auf.
„Amanda?“, ruft er durch den Flur, „Kannst du bitte ein Taxi rufen?“
Zu Hause habe ich doch tatsächlich noch ein paar Stunden Schlaf bekommen. Meine Träume drehten sich zwar ununterbrochen um Miks Beerdigung, aber ich habe schlafen können.
Das Klingeln meines Weckers reißt mich aus meinen Albträumen. Der Friedhof löst sich in nichts auf und Gedanken werden klarer. Mit der Hand taste ich nach meinem Wecker, und als ich ihn finde, aktiviere ich die Snooze-Funktion. Ich drehe mich auf die Seite und schalte meine Gedanken wieder aus.
Doch nur wenige Sekunden später wird meine Tür aufgerissen.
„Valerie!“, schreit meine Mutter. „Warum in aller Welt bist du noch nicht in der Schule?!“
Erschrocken setze ich mich auf.
Meine Augen schlafen noch, weshalb ich meine Mutter nur verschwommen in der Tür stehen sehe.
„Mik“, flüstere ich verwundert.
Ich dachte, meine Mutter geht davon aus, dass ich heute mit ins Krankenhaus komme.
„Valerie! Zieh dich an und geh zur Schule! Ins Krankenhaus kannst du auch danach noch kommen.“ Damit zieht sie die Tür hinter sich zu und verschwindet.

Im Badezimmer betrachte ich mein Spiegelbild. Meine braunen Haare sind zerzaust und meine Augen sehen glasig aus und haben dunkle Ringe. Ich dreh den Wasserhahn auf und wasche mein Gesicht, danach käme ich meine widerspenstigen Haare. Ich käme sie alle nach hinten, sodass mein Gesicht frei ist. Wie es wohl aussehen würde, wenn ich Leukämie hätte. Würden mir die Haare ausfallen? Werden Mik die Haare ausfallen?
Meine Schuhe sind jetzt ein Jahr alt und haben Löcher in den Sohlen. Bei jedem Schritt spüre ich die Unebenheiten des Bodens direkt an meinen Füßen. Es sind keine echten Chucks, es waren solche Billig-Dinger für 9,99 ¤. Mittlerweile sind sie auch nicht mehr hellgrün, sondern hellgrau.
Als ich endlich den Boden der Schule an meinen Fußsohlen spüre, geht es mir schlagartig besser. Die Fliesen kühlen sie etwas und verringern den Schmerz von Steinen und Glasscherben.
Allerdings quietscht es nun bei jedem Schritt.
Mein Klassenraum in im zweiten Stockwerk, den Gang runter und dann die letzte Tür links. G11b. Das G steht für Gymnasium. Eigentlich wollte ich hier gar nicht her, ich wollte auf die Gemeinschaftsschule, weil dort meine beste Freundin hinging. Aber meine Eltern haben nicht lange diskutiert und mich hier angemeldet. Ich gehöre aufs Gymnasium bla bla.
Hinter der dünnen Holztür höre ich meine Klassenkameraden lachen und kreischen.
Mein Magen rebelliert, aber ich drücke die Klinke trotzdem runter.
Lachen und Kreischen hört augenblicklich auf, alle starren mich an.
Automatisch fährt meine Hand zu meinem Bauch.
„Valerie!“, kreischt Emely und kommt auf mich zu gerast.
Lachen und Kreischen fangen wieder an, zwischendrin ruft einer rein:
„Mann, ich dachte, es wäre Frau Heine!“
In dem Moment kommt Frau Heine herein und verweist uns auf unsere Plätze.

Auch der Krankenhausboden kühlt meine Füße angenehm. Ich hoffe, er ist nicht total verkeimt.
Die Empfangsdame feilt sich ihre künstlichen Nägel zurecht, als ich meine Arme auf den Tresen stütze.
„Hmm?“, macht sie in meine Richtung und legt widerwillig die Nagelfeile weg.
„Ich suche meinen Bruder, Mik Berger. Er müsste auf der Krebsstation liegen.“
Sie sucht in den Akten in ihrem Computer und schickt mich dann in die Onkologie, Stockwerk 3, Zimmer 045.
Als ich herein komme sitzen meine Mutter und Mik auf einem Krankenbett und sehen ein Bilderbuch an. Mik auf ihrem Schoß, Schläuche in der Nase und in der kleinen Hand. Dass die da tatsächlich eine Nadel rein bekommen haben…
„Hallo“, murmele ich, als mich keiner bemerkt.
Meine Mutter sieht auf, nickt mir zu.
„Wie war Schule?“
„Gut“, lüge ich.
Der Sessel ist bequemer, als er aussieht.
„Ich brauche neue Schuhe.“
„Aber sonst hast du keine Sorgen?!“ Meine Mutter steht auf einmal mitten im Zimmer.
„Hast du mal daran gedacht, dass es vielleicht Dinge gibt, die jetzt wichtiger sind als ein paar neue Schuhe?! Dass Mik wieder gesund wird vielleicht?“
Ihre Stimme hallt durchs Zimmer und erschreckt mich.
Ich will was sagen, doch eine Krankenschwester, die gerade herein gekommen ist, kommt mir zuvor.
„Beruhigen Sie sich, Frau Berger. Sie sind erschöpft, gehen Sie doch einen Kaffee trinken. In der Cafeteria gibt es ganz leckeren.“
Sie nimmt ihr Mik vom Arm, und nach einem langen Blick in meine Augen verlässt meine Mutter den Raum.
„Nimm es nicht persönlich“, sagt die Schwester und setzt mir Mik auf den Schoß, um das Fenster zu öffnen.
Ich nicke nur kurz, wahrscheinlich merkt sie es gar nicht.
„Für sie ist die ganze Situation sehr schwer. Ich bin Anja.“ Sie reicht mir ihre Hand.
„Valerie“, stelle ich mich vor.
„Wie geht es dir, Valerie?“
Ich blicke auf Miks blonden Haarschopf hinunter.
„Wie geht es IHM?“
„Soweit ganz gut.“
„Was heißt das?“
„Morgen fangen wir mit der Chemo an, und bis wir wissen, wie die wirkt, werden wir abwarten müssen.“
Ich drücke vorsichtig Miks Hand.
„Wird er sterben?“
Anja sieht mich an. Ihre Augen sind voll Mitleid und Schmerz.
„Das weiß ich nicht.“
Ich erinnere mich, dass ich erst nach ein paar Monaten neue Schuhe bekam. Es gab einfach Wichtigeres. Meine Füße haben noch Narben vom Sommer, an den Stellen, wo scharfkantige Steine oder Scherben sie aufschnitten haben, oder dünne Äste sich hineingebohrt haben. Es sind Narben, die mich für immer daran erinnern werden. In 20 Jahren noch werde ich meine Füße sehen, und an meinen Bruder denken müssen, an meine Mutter, die mich angeschrien hat, weil ich gesagt habe, ich brauche neue Schuhe.
In diesem Raum ist es kalt. Ich zieh den Reisverschluss meiner Sweatjacke zu. Mein kleiner Bruder liegt auf einem Behandlungstisch und schläft. Immerhin bekommt er es nicht richtig mit. Über einen durchsichtigen Schlauch laufen durchsichtige Medikamentencocktails in seine Adern. Gift fließt in seinen Körper. Es soll dort möglichst alle Krebszellen zerstören. Aber es zerstört leider auch gesunde Zellen, wurde mir erklärt. Doch die meisten schaffen es, sich selbst zu regenerieren. Aber Mik wird in den nächsten Tagen infektanfälliger sein. Er wird schlapp und müde sein, wahrscheinlich wird er auch Durchfall und sowas bekommen.
Ich lehne mich zurück in den Sessel und stelle meinen iPod lauter. ‚Träumst du?‘ von Ooomph!. Die Musik dröhnt in meine Ohren, sodass ich nichts mehr von den Gesprächen zwischen meiner Mutter und jedem, der das Zimmer betritt, mitbekomme.
Sie hat sich nicht bei mir entschuldigt oder sowas, sie ignoriert mich einfach weitestgehend. Aber das ist okay.

Am nächsten Tag war Mik kaum wach zu kriegen. Er konnte die Augen nicht lange aufhalten, er konnte nicht essen, nicht trinken.
Es tut weh, seinen kleinen Bruder stundenlang kotzen zu sehen, einfach zu sehen, dass es ihm total scheiße geht. Und man selbst sitzt einfach daneben und kann nichts tun, außer zu hoffen, dass es bald aufhört.
In diesen Stunden hätte ich ihm sein Leiden gerne abgenommen. Es hätte mich treffen sollen, nicht ihn.

Der Klassenraum ist noch fast leer, als ich ankomme. Zu Hause habe ich es nicht mehr ausgehalten, ich bin früher losgegangen.
Meine Mama ist zu nichts zu gebrauchen. Wehe ich komme auf die Idee, sie irgendwas zu fragen. Oder mit ihr reden zu wollen.
‚Sie hat ihre eigenen Sorgen‘, heißt es dann. Seit 4 Tagen habe ich nichts Richtiges mehr gegessen. Meine Hausaufgaben bleiben unberührt und irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, in einem ewig langen Albtraum fest zu stecken.
Ich will aufwachen. Ich will, dass es vorbei ist.

Es war zwei Uhr nachts, als bei meiner Mama die Wehen einsetzten. Sie schrie das ganze Haus zusammen und versicherte sich 300 Mal, ob ich auch wirklich alleine zu Hause bleiben könne. Ich war 14, natürlich konnte ich.
Gegen vier Uhr kam dann der Anruf aus dem Krankenhaus.
Ein Junge, Mik. Er und Mama sind gut auf und gesund.
Es war einer der schönsten Tage meines Lebens.
„Wie geht es ihm?“, frage ich, als ich ins Krankenzimmer komme. Meine Mutter ist nicht da, Gott sei Dank. Anja wischt gerade Erbrochenes vom Boden auf.
„Offensichtlich immer noch nicht sehr viel besser“, seufze ich und nehme einen Lappen, um ihr zu helfen.
„Wann hört das denn endlich auf?“
„Ich weiß es nicht“, gibt Anja zu. „Ich hoffe bald. Er verliert sehr viel Flüssigkeit.“
Mik liegt im Bett, als ob er jeden Moment sterben würde. Seine Arme hängen schlaff herunter und sein Kopf liegt zur Seite gedreht, alleine kann er ihn nicht halten. Seine Augen sind geschlossen, er sieht müde aus, aber er schläft nicht. Wie soll er auch schlafen, wenn sein Magen beschließt, sich mindestens alle halbe Stunde einmal zu entleeren?
„Schlägt die Therapie denn wenigstens gut an?“, frage ich.
Als ich keine Antwort bekomme, drehe ich mich verwundert um. Anja steht hinter mir, wieder diesen beängstigenden Blick in den Augen. Eine Mischung aus Hilflosigkeit und Mitleid. Ihr Blick genügt mir als Antwort.
Ich glaube, das war der Tag, an dem ich zum ersten Mal überlegt habe, wie ein Leben ohne ihn aussehen würde.
Als es klingelt, bin ich tatsächlich ein wenig traurig.
Alle um mich herum packen jubelnd ihre Sachen ein, nur ich bleibe sitzen und schaue aus dem Fenster. In dem Baum vor unserem Klassenraum hat ein Vogelpärchen sein Nest gebaut. Zwei kleine Vögel sitzen darin und haben die Schnäbel weit aufgesperrt, als ein Elternteil mit einem Wurm nach Hause kommt.
Nach Hause.
Ich habe das Gefühl, ich habe kein richtiges zu Hause mehr. Am liebsten würde ich die kompletten Sommerferien einfach hier sitzen bleiben. Mein Papa ist immer noch auf Geschäftsreise. Er weiß natürlich schon von Miks Leukämie. Aber er kommt da nicht einfach weg. Also bin ich immer noch mit meiner Mama alleine. Beziehungsweise, eigentlich bin ich die meiste Zeit ganz alleine. Sie sitzt den ganzen Tag im Krankenhaus.
Da verstehe ich schon. Wäre ich Miks Mama, würde ich es wohl genauso machen. Ich besuche ihn auch jeden Tag.
Aber das Krankenhaus macht Albträume. Ich kann nicht mehr schlafen und alles riecht für mich nach Desinfektionszeug.
Zu Hause ist natürlich niemand da. Ich schmeiße meinen Ranzen in den Flur und ziehe meine abgelatschten Chucks aus. Mir tun die Füße weh. Aber ich habe kein Geld für neue Schuhe. Und Mama hat wichtigere Sorgen.
In der Spüle steht noch mein Geschirr von gestern. Eine Müslischüssel, halb voll mit Milch. In ein paar Tagen wird es Joghurt sein.
„Hast du was gegessen?“
„Ja“, lüge ich und will gehen, als sie mich festhält.
„Komm her“, flüstert sie und wirft ihre Arme um meine Schultern. Ich lasse mich in ihre Umarmung fallen. Es tut gut, sie mal wieder zu spüren.
Mik liegt in seinem Bett und schläft. So wie immer. Ich beuge mich über ihn und greife nach seiner kleinen Hand. Als er gerade geboren war, hatte ich immer Angst, ich könnte seine dünnen Knochen kaputt machen. Dabei gehen Babys gar nicht so schnell kaputt, wie man immer denkt. Sie sehen einfach nur so zerbrechlich aus, weil ihre Haut dünner ist, und noch etwas zu groß. Sie müssen dort erst noch rein wachsen. Man muss sich nur mal angucken, wie Ärzte ein Baby bei einem Kaiserschnitt aus dem Bauch rausholen. Es wird einfach an Armen und Beinen gegriffen und rausgezogen, der Kopf wird nicht gestützt oder so. Und trotzdem landen sie wenig später gesund und munter im Arm der Mutter.
Klar, man sollte sie nicht schütteln oder die Knochen verbiegen oder so, aber man muss sie nicht anfassen, als wären sie aus feuchtem Zucker und könnten jeden Moment in sich zusammen fallen.
„Hast du nochmal mit Dad gesprochen?“ Je häufiger ich in diesem Krankenzimmer bin, desto mehr scheint meine Stimme von den Wänden wieder zu hallen.
„Er schafft es wahrscheinlich bis übermorgen hier zu sein.“
Übermorgen. Das war gut.
„Hör zu, Valerie, holst du mir was aus der Cafeteria? Ein Brötchen oder sowas?“ Meine Mum hält mir einen Geldschein hin.
Eigentlich ist es keine Frage, sondern ein Befehl.
Ich nehme das Geld und verschwinde wortlos in den Flur.
Krankenhäuser sind groß. Und in diesem hier gibt es eindeutig zu wenig Wegweiser.
„Ähm, Entschuldigung?“ Ein junger Mann dreht sich zu mir um.
„Ja?“
„Ich suche die Cafeteria.“
„Dann sind wir ja schon zu zweit.“
„Wie?“ Zu zweit? „Oh. Achso.“
Er lächelt.
Wow. Wann habe ich zuletzt jemanden hier lächeln sehen?
„Konrad.“ Seine Hand ist riesig. Meine wirkt dagegen wie die eines Babys.
„Valerie.“
„Hübscher Name.“

Impressum

Texte: Alle Rechte liegen bei mir.
Tag der Veröffentlichung: 01.11.2011

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