Humor oder Horror – ich wusste nicht so recht, wo ich das Buch einordnen sollte.
Letztlich habe ich mich für Humor entschieden. Diese kleinen, wahren Begebenheiten haben schon etwas sehr Komisches an sich, wenn man sie mit ein wenig Abstand betrachtet. ;-)
Ich komme aus dem schönen Mecklenburg-Vorpommern. Das "schön" bezieht sich dabei vor allem auf die Natur und die Ruhe, die ich dort, nah an der Küste lebend, genießen durfte. Ja, ich liebe die Ruhe, ich brauche sie. Ich bin ein geborener Küstenmensch. Nahe am Wasser, mit Blick in die Weite, kann ich atmen und aufleben.
Trotzdem hatte ich schon immer mehr Freunde und Bekannte in Berlin als in meiner Heimat. Das turbulente Treiben hat mich fasziniert. Ich wollte rein in die Großstadt, mitten ins Leben, unter Menschen, raus aus dem eintönigen Alltag. Dahin, wo es Spaß und Vergnügen gibt. So war mein einstiger Traum.
Vor einigen Jahren habe ich ihn mir erfüllt. Heute sitze ich oft an der kleinen Havel, atme tief die Luft ein, die mich an die Küste erinnert, lausche den Geräuschen der vorbeiziehenden Schiffe, lese meine Bücher – und meide meine Wohnung, die eigentlich meine Kuschelhöhle sein soll.
Geliebtes Berlin – am meisten liebe ich deine Hinterhöfe. Vor allem den, den ausgerechnet ich erwischt habe. Ein Innenhof, der aussieht wie eine Daily Soap. Und sich oft auch spannender anfühlt als eine Talkshow.
Mein niedlicher Hinterhof misst vielleicht 30 oder 40 Quadratmeter. Der Nachbarin gegenüber könnte ich, wenn ich wollte, fast die Hand zum Morgengruß reichen. Ich mag aber nicht, dass man mir beim Schlafen oder Essen zusieht. Also sind meine Vorhänge meistens zugezogen. Meine depressiven Phasen feiern ein Freudenfest.
Andere nehmen das nicht so genau. Sie kommen auch gern mal nackt auf den Balkon, um sich lautstark mit den Nachbarn zu streiten. Neulich sah ich im Gebrüll schräg gegenüber einen Mann, dessen bestes Stück, wenn auch nicht imposant, doch deutlich sichtbar war. Ein unschlagbares Argument, offenbar – denn er ging als Sieger aus dem Streit hervor. Mich hat's nicht gewundert.
Links unten wohnt eine überreizte Frau. Ihr bester Freund: der Alkohol. Wenn sie nicht gerade laut mit ihrem Partner streitet (die Wortwahl erspare ich euch), singt sie. Und das finde ich grundsätzlich okay.
Sie singt laut. Sehr laut. Ihre Fenster sind dabei weit offen. Sie liebt alte deutsche Schlager, ein bestimmtes Lied ganz besonders. Im Takt klatscht sie in die Hände und brüllt: „Hey, hey, hey!“ – stundenlang, alle paar Tage.
Einmal sprach ich sie vorsichtig darauf an, ob sie beim Singen vielleicht die Fenster schließen könnte. Ich hatte kaum meinen Satz begonnen, da schrie sie mich an: Ich würde jede Nacht so laut ficken und stöhnen, dass niemand mehr schlafen könne, und solle mal schön meine Schnauze halten.
Ich bin Single. Nur so nebenbei.
Ich nahm schnell Reisaus. Die Frau war aggressiv und laut, ihre Tirade hörte das ganze Haus. Und nein, es gab keine Möglichkeit, mich zu verteidigen. Es war mir peinlich. Sehr sogar.
Aber sie ist nicht die Einzige, die Spaß hat.
Ich schaue abends gerne fern, bis ich fast schlafe. Dann höre ich es: das, was man mir unterstellt hat. Andere haben richtig Spaß. Stundenlang. Nacht für Nacht. Laut, stöhnend, polternd – manchmal denke ich, gleich bricht die Decke durch. Ich freu mich für sie. Ehrlich. Aber nachts ist mir mein eigener Schlaf wichtiger.
Und dann ist da noch mein Nachbar.
Tagsüber ist er charmant, klingelt, schenkt mir Rosen, lädt mich ein. Ich lehne immer höflich ab.
Nachts ist es vorbei mit dem Charme. Dann brüllt er. Aggressiv. Stundenlang. Manchmal klingt es, als stünde er direkt in meinem Zimmer. Ich weiß nicht, wen er anschreit, aber gesund klingt das nicht. Und es hört nicht nach ein paar Minuten auf. Es dauert, bis es hell wird. Erst dann legt sich mein Herzrasen.
Ich habe überlegt, die Polizei zu rufen. Aber ich traue der Anonymität nicht. Und ich fürchte die Folgen. Ich glaube, niemand im Haus traut sich, ihn zu stoppen. Vielleicht sind die Berliner einfach nur extrem tolerant. Oder ich bin ein kleiner, ängstlicher Schisser.
Manchmal gibt es auch Hofpartys. Dann werden Musikanlagen aufgebaut, die Stimmung steigt, der Innenhof bebt.
Eines Abends bat ich vorsichtig darum, die Lautstärke etwas zu drosseln. Da stand plötzlich die Frau auf dem Hof, die mir einst das laute Stöhnen unterstellt hatte. Diesmal meinte sie, ich solle meine blöde Fresse halten – es sei ja mein Köter, der rund um die Uhr bellt.
Ich habe keinen Hund.
Vor Kurzem zog ein junges, stilles Mädchen aus. Ihre Helfer waren morgens um zehn da, leise und rücksichtsvoll. Trotzdem beschwerten sich mehrere Nachbarn. Ich mischte mich ein, nahm die jungen Leute in Schutz. Bis der Mann gegenüber nackt auf seinem Balkon erschien. Hinter ihm seine ebenso nackte Frau, Hände in die Hüften gestemmt. Beide schrien, die jungen Leute seien asozial. Mich eingeschlossen. Ich schloss das Fenster. Ich wollte nicht von nackten Menschen angeschrien werden. Nein, wirklich nicht.
Irgendwo im Haus lebt jemand, der einen Groll gegen unsere Mülltonnen hegt. Zwischen vier und fünf Uhr morgens trampelt er auf ihnen herum, wirft sie um, prügelt auf sie ein. Niemand ruft: „Sei mal leise!“. Ich auch nicht. Ich lache dann. Kein lustiges Lachen.
Und dann ist da noch das mysteriöse Räuspern. Irgendwo höre ich morgens ein Hustkonzert, begleitet von markanten Auswürfen. Man sieht sie nicht, aber man hört sie. Detailgetreu. Ich denke dann nicht an mein Frühstück.
Tja. Was soll ich sagen?
Einst, an der Küste, wollte ich rein in die Großstadt. Rein ins Leben. Raus aus dem Alltag. Dahin, wo was los ist.
Mein Traum ist wahr geworden.
Nur eine Bitte habe ich an mein geliebtes Berlin. Eine einzige. Eine kleine, winzige, bescheidene Bitte...
SEI/D ENDLICH RUHIG!
Texte: Linchen
Tag der Veröffentlichung: 05.03.2009
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