Eine kurze Geschichte über das Leben
I.
„Schwarz gewinnt!“ Wie ein Messerstich trafen ihn die Worte, hatte Karl doch eben, für jeden sichtbar, alles auf Rot gesetzt. Diese Betrüger wollten ihn ausnehmen, wollten ihn vernichten. Eine unbeschreibliche Wut stieg in ihm auf. Rot, das war seine Farbe! Sie haben ihm seine Illusionen geraubt.
- „Nichts geht mehr!“ Die Worte des Croupiers gingen ihm nicht mehr aus dem Kopf, ihm wurde schwindlig. Die Miete, Frau und Kinder; der Monat hatte gerade erst angefangen. Unbezahlte Rechnungen, die kranke Schwiegermutter und jetzt auch noch das! Die blinkenden Lichter, das ganze Geglitzer, alles nur Lug und Betrug. Er war einfach zu gutmütig, zu sanft im Umgang mit den Gaunern …und mit sich selbst.
Benommen und verwirrt torkelte Karl in Richtung Ausgang. Bloß raus hier, egal wohin, nur weg von diesem gottlosen Ort. Ihm wurde flau im Magen und an der frischen Luft übergab er sich. Der Gestank des Erbrochenen mischte sich mit dem Duft des Flieders. Die Sonne brannte und das Wasser, das sich gestern Nacht vor der Eingangstreppe zu einer Pfütze angesammelt hatte, war verdunstet. Die vertraute schwüle Hitze, das war klar, kam jetzt wieder zurück.
Er hatte kein Geld mehr für ein Ticket. Vielleicht würde er schwarz fahren, wenn er nur wüsste, wie man das macht. Aber er konnte es nicht. Also lief er ein paar Stationen. Unverhofft vernahm er eine weibliche Stimme, leise flüsternd zwar, aber dennoch klar und deutlich: „Setze das nächste Mal alles auf Schwarz und du wirst Erlösung finden!“ Karl drehte sich um, aber es war niemand da. Nur ein älterer Herr auf der gegenüberliegenden Straßenseite blieb stehen und sah ihn verwundert an. „Schwarz, Karl! Alles auf Schwarz!“ War das Eva? – Keine Antwort. Stille.
Karl sah auf sein Handy. Drei Anrufe in Abwesenheit. Sie sollte ihn in Ruhe lassen. Karl zog es vor, abwesend zu bleiben. Er schlürfte an einem Café vorbei und kam an einen Spielplatz, wo er sich auf eine kleine Holzbank niederließ. Ein paar eifrige Mütter waren gerade damit beschäftigt, auf die Horde Zwerge einzureden, die vorhatten, das Klettergerüst zu stürmen und sich mit Sand zu bewerfen. Eine dieser feinen Damen hielt ihren Jungen am Oberarm fest und schrie auf ihn ein. Karl bemerkte, dass der Junge weinte. Es war merkwürdig. Dieser Junge erinnerte ihn an sich selbst, an damals.
II.
Es war ein erbarmungsloser, kalter Winter. Seit drei Tagen hatte es geschneit, nahezu ununterbrochen hörten Karl und Martha, seine kleine Schwester, die neuesten Wettermeldungen im Radio. Die Schule war geschlossen.
An diesem Abend kam ihre Mutter in die Küche, sie war völlig aufgelöst. Ihre großen Augen waren stark gerötet und sie verhielt sich anders als sonst. Sie schluckte ein paar Pillen und nahm beide ganz fest in den Arm. Dann kamen die Sätze schließlich mit zittriger Stimme aus ihr heraus. „Euer Papa kommt nicht mehr wieder. Es gab da einen … Unfall.“ Das Wort „Unfall“ war kaum zu hören. Danach stieß sie nur noch fürchterliche Schreie aus. Karl wusste nicht, was er in dem Moment denken oder fühlen sollte. Er war gelähmt. „Ist er tot?“, fragte Martha noch. Ihre Mutter nahm sie beide wieder in den Arm.
Die Tage und Wochen vergingen. An Schule war gar nicht zu denken. Karl wusste nicht, wie er diese Zeit jemals überstehen sollte. Aber Karls Mutter hatte ihm ein kleines rotes Buch von seinem Vater gegeben, es waren seine persönlichen Skizzen. Karl behütete es wie einen Schatz und wenn er traurig war, was ziemlich oft vorkam, blätterte er darin. Danach ging es ihm meist besser.
Karl vermisste seinen Vater sehr. Alle vermissten ihn. Er war kein strenger Vater gewesen, sondern gutmütig und sanft.
III.
Er wurde langsam wach. Es war schon spät. Der Kinderspielplatz war leer und die Sonne ging unter. Karl stand auf und bemerkte, dass er hungrig war. Er brauchte etwas zu essen, aber er konnte sich nichts kaufen. Mutlos schritt er weiter durch die Straßen, bis er hinter dem Park über die Autobahnbrücke kam.
Für einen Moment hielt er inne und schaute hinunter. Die Autos rauschten unter ihm durch. Karl malte sich aus, wie es wäre, wenn er jetzt alles auf Schwarz setzen würde. Einfach nur alles auf Schwarz und die Sorgen wären vorbei. Warum zögerte er denn noch? Dann aber dachte er wieder an das Buch von seinem Vater und allmählich verflog sein Kummer. Er hatte Hunger und wollte nur noch nach Hause.
Karl rannte so schnell er konnte. Es war nicht mehr weit. Noch drei Häuserblocks und dann war er da. Vielleicht würde er es noch rechtzeitig zum Abendessen schaffen. Eva war außer sich vor Wut. Sie hatte sich große Sorgen gemacht. Karl aber lächelte glücklich und zufrieden und nahm seine Kinder fest in den Arm. Nie wieder würde er spielen. Auch nicht in Gedanken. Rot, das war seine Farbe!
Tag der Veröffentlichung: 29.07.2012
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