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Prolog


Frische Frühlingsluft, wärmende Sonnenstrahlen und das gewohnte Bild zahlreicher Menschen erweckten den Anschein, als sei es ein Tag wie jeder andere. Doch nichts war wie sonst. Die Tragödie des Attentats auf Papst Johannes Paul II war schon zehn Tage her, be-herrschte jedoch den Vatikan wie kein anderes Ereignis zuvor. Tausende Blumen schmückten die Stelle, an der es geschehen war, und täglich dasselbe Bild: Ob Tou-risten, Pilger oder Einheimische, jeder hatte einen Blumenstrauß in der Hand und die Absicht, diesen am Tatort abzulegen, begleitet von einem stillen Gebet. An diesem Tag ahnte niemand, dass eine weitere Tragö-die den Schatten über den Vatikan noch mehr verdunkeln sollte.
Etwas früher als sonst verschloss Vittorio Orlandi seinen Schreibtisch und machte sich auf den kurzen Heimweg in seine Wohnung, die nur wenige Meter von seinem Arbeitsplatz entfernt auf dem Vatikangelände lag. Normalerweise ließ er sich Zeit, genoss die Sonne und den Duft der frischen Rosenblüten, die überall aufgegangen waren. Doch diesmal ging er schneller, oh-ne einen Blick für die Schönheit der Natur übrigzuha-ben, als ob sein Unterbewusstsein ihn zur Eile an-hielt.
Als er seine kleine Wohnung erreichte, fand er die Eingangstür aufgebrochen vor. Vorsichtig schob er die Reste des zersplitterten Türblattes auf, sah mit ängstlichen Augen in den Korridor und brachte ein nur leises Emanuela? über die Lippen. Seine 15-jährige Tochter sollte eigentlich zu Hause sein, da der Klavierunterricht in der kirchlichen Musikschule längst vorüber war und sie ihrem Vater versprochen hatte, sofort nach Hause zurückzukehren. Doch niemand antwortete. Orlandi wusste, dass er sich auf seine Tochter verlassen konnte. So kam ihm gar nicht erst in den Sinn, dass Teenager schon mal die Zeit vergessen und sie vielleicht bei einer Freundin sein könnte. Erst recht nicht, als ihm ein süßlicher Geruch ent-gegenschlug, der intensiver wurde, je weiter er in die verlassene Wohnung vordrang. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Er hielt sich ein Taschentuch vor Mund und Nase, um diesen unangenehmen Chlorgestank zu dämpfen. In der Wohnzimmertür blieb er wie angewurzelt stehen und versuchte zu begreifen. Offensichtlich hatte hier ein Kampf stattgefunden. Ein Sessel war umgestürzt, eine Stehlampe ebenso. Auf dem Teppich fiel ihm ein kleines dunkelbraunes Arzneifläschchen auf, dessen ausgelaufene Flüssigkeit diesen penetranten Geruch verursachte. Mit zitternden Fingern nahm er es auf. Auf dem Etikett stand: Chloroform.
In diesem Moment läutete das Telefon. Obwohl es nicht übermäßig laut war, erschrak Orlandi derart, dass er das Arzneifläschchen fallen ließ. Für einen Moment schien er unfähig zu handeln. Er war mit der Situation völlig überfordert. Als das Läuten unerträg-lich wurde, griff er zum Hörer und nahm ihn ab. Als er seinen Namen sagen wollte, versagte seine Stimme.
»Wir haben Ihre Tochter«, hörte er jemanden sagen. Orlandi stockte der Atem. Es war, als würde in diesem Moment seine kleine Welt zusammenbrechen. Seine ge-liebte Tochter – entführt. Das kann nicht sein... Warum? Er konnte es nicht fassen und war nicht im-stande, auch nur ein Wort zu sagen. Der Hörer glitt ihm aus der Hand. Wie in Zeitlupe sackte er zusammen, als seine Beine ihn nicht mehr trugen. Ursächlich für seine plötzliche Schwäche war nicht nur der Schreck, sondern auch die mit Chloroform angereicherte Luft. Sein Glück war, dass sich die Chemikalie zunehmend verflüchtigte.
Traumatisiert saß er eine Ewigkeit mit angezogenen Knien an der Wand angelehnt und starrte auf das braune Fläschchen. Seine Lippen, seine Hände, sein ganzer Körper zitterten. Im gleichen Moment stieg eine Welle von Übelkeit in ihm hoch.
Was ging hier vor? Innerhalb weniger Tage wurde der Vatikan zum dritten Mal Schauplatz eines Verbrechens. Erst die Ermordung eines Schweizergardisten, dann das Attentat auf den Papst und nun die Entführung seiner Tochter. Warum ausgerechnet seine Tochter? Wer war er denn? Ein kleiner Angestellter des Vatikans, ohne jede Bedeutung und ohne Vermögen. Orlandi konnte nicht be-greifen, weshalb sein kleines Mädchen, wie er es liebevoll nannte, entführt worden war. Hatte der An-rufer Gründe nennen wollen oder eine Forderung? Er wusste es nicht. In seinem Ohr tönte immer noch der schreckliche Satz: Wir haben Ihre Tochter. Danach hatte er den Hörer aus den Händen gleiten lassen. Obwohl ihm klar sein musste, dass die Verbindung längst unterbrochen war, griff er nach dem Telefon, hielt sich den Hörer ans Ohr und hoffte, die Stimme des Anrufers zu hören. Die Leitung war tot.
Als er sich einigermaßen gefasst hatte, eilte er zum Camerlengo, der die Amtsgeschäfte des Papstes übernommen hatte. Mit bebender Stimme berichtete Orlandi ihm, was geschehen war. Der Camerlengo war fassungslos, war es aber schon, bevor Orlandi sein Amtszimmer betreten hatte.
»Die haben meine kleine Emanuela entführt«, sagte Orlandi aufgeregt und den Tränen nahe. Als er nach Luft rang, hakte der Camerlengo ein, der bislang nicht zu Wort gekommen war.
»Ich weiß es bereits«, antwortete er leise, ohne Orlandi in die Augen zu sehen. Er war nicht weniger verzweifelt als Orlandi. »Vor wenigen Minuten erhielt ich einen Anruf«, fuhr der Camerlengo fort, »sie fordern die Freilassung des Papstattentäters.«
»Die wollen die Freilassung von Ali Agca erpressen? Mit meiner Tochter?« Ohne ein weiteres Wort über die Lippen zu bringen, starrte Orlandi mit versteinerter Miene den Camerlengo an, als ahnte er, dass er nie mehr ein Lebenszeichen von seiner Tochter erhalten würde, geschweige denn, sie jemals wieder in seine Arme schließen könne.


1


Mehr als zwei Jahrzehnte später.
Einen unglücklicheren Zeitpunkt hätte sich Lutz Hollender für seine Gastvorlesung an der Berliner Uni-versität kaum aussuchen können. Seit einer ge-schlagenen Stunde kreiste die Boeing, auf deren Passagierliste er stand, ohne Landeerlaubnis im Berliner Luftraum. Für kurze Zeit war Schönefeld ge-sperrt worden, um jedes Sicherheitsrisiko während der Landung von Air-Force-One auszuschließen. Davon bekam Hollender nichts mit, sondern ärgerte sich über die Verzögerung und schob es auf schlechte Koordination eines überfrequentierten Großflughafens.
Als seine Maschine endlich gelandet war, sah er auf einem entfernten und mit gepanzerten Polizeifahrzeugen abgeschirmten Teil des Rollfeldes den im Sonnenlicht glänzenden Großraumjet des amerikanischen Präsidenten. Wäre er nur zwei Minuten früher gelandet, hätte er noch die schwarze Stretchlimousine sehen können, die sich in Eskorte mit hoher Geschwindigkeit von der Maschine entfernt hatte.
Die Sicherheitsvorschriften waren drastisch ver-schärft worden. Ein Attentat während des Staats-besuches wollte man sich auf gar keinen Fall leisten. Drohungen hatte es reichlich gegeben und es war ein offenes Geheimnis, dass der neue amerikanische Präsident gefährdeter war als anderen seit Kennedy.
Lutz Hollender schwankte zwischen Verständnis und dem Gefühl maßloser Übertreibung, als er die dritte Sicherheitsschleuse passierte. Zum dritten Mal wurde er abgetastet, zum dritten Mal sein Handgepäck durch-sucht. Sein Business-Class-Ticket und die Tatsache, dass er weltweites Ansehen genoss, verschafften ihm in dieser Hinsicht keinen Vorteil. Ein gewisser Ausgleich war, dass er sich in Berlin befand, seiner Heimat-stadt, wo er nicht nur seine Jugend verbracht, sondern auch studiert und seine erste Professur hatte, bevor er einem lukrativen Angebot der Boston University folgte.
Sichtlich genervt, vermischt mit den Auswirkungen des Jetlags, stieg er schließlich in ein typisches London-Taxi, das der ganze Stolz seines Besitzers war. Jedem Fahrgast, ob er es hören wollte oder nicht, erzählte er von seiner Errungenschaft, die er erst ein halbes Jahr zuvor aus London importiert hatte. Zwi-schendurch entschuldigte er sich dafür, dass er Umwege fahren musste, da diverse Straßenzüge aufgrund des Staatsbesuches gesperrt waren.
Als das Taxi auf dem Boulevard Unter den Linden an Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett vorbeifuhr, fiel Hollender vor dem Museum ein überdurchschnittliches Polizeiaufgebot auf, das zweifellos nichts mit dem Staatsbesuch zu tun hatte. Polizisten bewachten den Eingang und einige waren damit beschäftigt, Taschen der Besucher zu kontrollieren.
»Was ist da los?«, fragte Hollender den Taxifahrer, nur um ihn von seinem Redeschwall über sein geliebtes London-Taxi abzulenken.
»Schlimme Geschichte«, antwortete er. Kaum ist das Berliner Haus des berühmten Londoner Wachsfiguren-kabinetts eröffnet, gibt es schon einen Skandal.« Schon wieder London, dachte Hollender. Der Chauffeur musste diese Stadt lieben. »Ein Besucher hat einen An-schlag auf die Figur von Adolf Hitler ausgeübt«, fuhr er fort. »Wenn Sie mich fragen, gut so. Was hat diese Figur auch dort zu suchen?«
»Immerhin ein Teil der Deutschen Gesichte, wenn auch kein rühmlicher Teil«, erwiderte Hollender und erntete lediglich eine ablehnende Handbewegung. Damit war das Thema erledigt. Keiner von beiden konnte zu diesem Zeitpunkt ahnen, dass schon bald ein weiterer Zwischenfall das Museum belasten würde.
Kurz darauf hielt das Taxi vor dem Portal des Stei-genberger Hotels. Hollender war froh, endlich am Ziel zu sein und aus den Fängen dieses London begeisterten Taxifahrers zu entkommen.
»Dort drüben ist der berühmte Ku'damm, mein Herr. Nur einen Steinwurf weit entfernt.« Hollender zeigte sich an dieser gut gemeinten Information wenig inte-ressiert. Während er das Fahrgeld bezahlte und ein großzügiges Trinkgeld dazu, eilte ein livrierter Hoteldiener herbei, der sich anschickte, das Gepäck entgegenzunehmen. Es war ihm anzumerken, dass er lust-los mit gekünstelter Freundlichkeit seinen Job tat, ohne sich sonderlich anzustrengen. Zweifellos war Hollenders Erscheinungsbild daran nicht ganz un-schuldig. Er wirkte nach dem langen Flug etwas un-gepflegt, wozu auch ein unübersehbarer Kaffeefleck mitten auf seinem Jackett beitrug. Heftige Turbulenzen hatten dieses Malheur während des Fluges passieren lassen. Angesichts dieser Umstände brachte Hollender sogar Verständnis dafür auf, dass der Page ihm nicht die Aufmerksamkeit schenkte, die er normalerweise ge-wöhnt war.
In der imposanten Lounge blickte er auf einen nicht enden wollenden Tresen aus edlem Holz, hinter dem einige uniformähnlich gekleidete Menschen damit be-schäftigt waren, Gäste zu bedienen und ihnen ihre Wünsche zu erfüllen. Hollender machte einen beleibten Concierge aus, der zurzeit niemanden zu bedienen schien. Auch er steckte in einem mittelgrauen Anzug. Hollender schätzte, dass er nicht mehr allzu lange bis zu seiner Pensionierung zu arbeiten hatte. Er wirkte gemütlich und schien sich durch nichts aus der Ruhe bringen zu lassen, egal, ob es das Läuten des Telefons war oder Fragen, die ihm ständig gestellt wurden. Sich um mehrere Dinge gleichzeitig kümmern zu können, war seine Stärke. Am Revers seines tadellos sitzenden Sakkos heftete ein kleines Schild mit der Aufschrift Tom Williams. Engländer, war Hollenders Gedanke und dachte dabei an seinen fanatischen Taxifahrer, der sicherlich bereits ein neues Opfer gefunden hatte.
»Mein Name ist Lutz Hollender, Harvard University Boston. Für mich wurde eine Suit gebucht.«
»Einen Moment bitte, Sir.« Der Concierge tippte Hollenders Namen in einen Computer ein. »Hier haben wir Sie schon, Sir. Apartment 312 ist für Sie reserviert«, sagte er und händigte einem Pagen die Codekarte aus.
Hollender bedankte sich.
»Warten Sie bitte, Sir. Ich glaube, es ist eine Nachricht für Sie hinterlegt worden.« Der Concierge ging ans andere Ende der Theke und kam kurz darauf mit einem verschlossenen Briefumschlag zurück. Hollender bedankte sich erneut, während er den Umschlag achtlos in einer Tasche seines Jacketts verschwinden ließ.
»Entschuldigung«, hörte er plötzlich eine junge Stimme hinter sich sagen. Er drehte sich um und blickte einem Jüngling in die Augen, der gerade erst aus der Schule entlassen worden schien und nun als Page eine Laufbahn im Hotelgewerbe begann. Mit einer diskreten Handbewegung hatte Williams ihn herbei-gewinkt. »Darf ich Sie zu ihrem Apartment begleiten, Sir?« Die Stimme des Pagen vermittelte den Eindruck, als sei sein Stimmbruch noch nicht gänzlich abgeschlossen.
»Wo ist der junge Mann, der mein Gepäck aus dem Taxi geladen hatte?«, fragte Hollender, obwohl es ihm eigentlich egal war.
»Er ist nur für den Empfang vor dem Hotel zu-ständig, Sir.«
Hollender war froh, dass er seinen Koffer nicht selbst tragen musste, was ihn bei einem Hotel dieser Kategorie auch gewundert hätte. Als sie die Suit er-reicht hatten, steckte er dem Pagen eine Zehn-Euro-Note zu, viel zu großzügig dafür, dass er nur einmal auf einen Fahrstuhlknopf gedrückt hatte und die Tür aufsperrte. Fröhlich verschwand der Jüngling wieder, der in diesem Moment so viel verdient hatte, wie sonst an einem ganzen Tag.
Hollender zog sich das Jackett aus, warf es über die Lehne eines Sessels, streifte sich die Schuhe von den Füßen und ließ sie unordentlich mitten im Raum liegen. Rücklings warf er sich mit ausgebreiteten Armen auf das Bett und genoss die Ruhe. Der Jetlag setzte ihm arg zu. Er war müde und starke Kopf-schmerzen trugen nicht gerade zu seinem Wohlbefinden bei.
Gut eine halbe Stunde verharrte er regungslos auf dem Bett, bis er sich herausrollte und zur Minibar ging. Gern hätte er sich ein Glas Martini gegönnt, entschied sich jedoch angesichts seiner augenblick-lichen Verfassung, es besser sein zu lassen. Stattdessen griff er zu Mineralwasser, löste darin zwei Aspirin auf und überwand sich, diese schlecht schmeckende Flüssigkeit zu trinken.
Nach einer ausgiebigen und wohltuenden Dusche ent-nahm er der Minibar diesmal tatsächlich ein Portions-fläschchen Martini und schüttete den Inhalt in ein Glas. Er ging zum Fenster und blickte hinaus auf einen kleinen Park, der direkt vor dem Hotel angelegt war. Ansonsten war die Aussicht nicht sonderlich. An-grenzende Häuserfronten versperrten den Blick und der Kurfürstendamm mit seiner markanten Gedächtniskirche lag auf der anderen Seite des Hotelkomplexes. Hollender rieb sich über die Stirn. Seine Kopf-schmerzen waren noch nicht ganz vorüber.
Als er sich auf die Bettkante setzte, fing sein Blick das auf der Sessellehne liegende Jackett ein. Die Nachricht. Er stand auf und holte das Kuvert. Es war ein hoteleigener Umschlag, auf dem sein Name stand, aber sonst nichts weiter vermerkt war. Er riss den Umschlag auf und zog einen kleinen Zettel hervor, auf dem ein handschriftlicher Text verfasst war: Ich muss Sie dringend sprechen. Bitte rufen Sie mich sofort an, stand auf dem Zettel, gefolgt von einer Handynummer. Unterschrieben war die Nachricht mit A. Martinelli.
Achtlos legte Hollender den Zettel auf das Nacht-schränkchen. Er wusste mit der Nachricht nichts anzu-fangen, zumal ihm der Name Martinelli absolut nichts sagte. Deshalb entschied er, dies zu ignorieren und stattdessen lieber ein bis zwei Stunden zu schlafen, was ihm sicherlich gut täte. Danach würden seine Kopf-schmerzen verschwunden sein und der Jetlag nicht mehr so erbarmungslos an seiner Konstitution zerren.
Als er wieder aufwachte, war es bereits Nachmittag. Ganz gleichgültig ließ ihn die Nachricht von diesem Martinelli doch nicht. Kaum zu sich gekommen, nahm er den Zettel vom Nachttisch und las sich noch einmal die kurze Mitteilung durch, die immer noch keine Bedeutung bekam. Es nützte nichts, angestrengt über den Namen nachzudenken. Noch nie hatte er von einem Mann mit diesem Namen gehört, daran bestand kein Zweifel. War der Verfasser überhaupt ein Mann? Die Handschrift ließ es jedenfalls vermuten.
Ruf einfach diese Nummer an, dann erfährst du, wer er ist und was er von dir will, dachte Hollender und griff entschlossen zu seinem Handy. Als ob er auf den Anruf wartete, meldete sich Martinelli schon nach dem ersten Klingelton.
»Mein Name ist Lutz Hollender. Ich habe Ihre Nach-richt erhalten. Weshalb möchten Sie mich sprechen?«
»Oh, Mister Hollender. Ich bin erleichtert, dass Sie anrufen. Ich habe erfahren, dass Sie sich in Berlin aufhalten.«
»Worum handelt es sich, wenn ich fragen darf?«
»Entschuldigen Sie, ich habe mich nicht vor-gestellt. Ich bin Wissenschaftler, genau wie Sie. DNA-Forscher, um genau zu sein. Mein Büro hat heraus-gefunden, dass Sie zu einer Vorlesungsreise nach Europa kommen und heute in Berlin erwartet werden. Es war für meine Sekretärin nicht schwierig, Ihr Hotel ausfindig zu machen. Ich bin wirklich erleichtert, endlich Kontakt mit Ihnen zu haben. Ich habe schon mehrmals versucht, Sie in Boston zu erreichen, leider stets vergeblich.«
»Mir wurde nie ausgerichtet, dass Sie angerufen ha-ben.«
»Das ist bedauerlich. Aber jetzt habe ich Sie ja gefunden. Ich muss Sie unbedingt sprechen. Da ich e-benfalls in Berlin bin, passt es gut.«
»Sie sagten, Sie sind DNA-Forscher? Ich bin hin-gegen Kirchenhistoriker. Mit Ihrem Metier habe ich nichts zu tun. Sind Sie sicher, dass ich der Lutz Hollender bin, den Sie suchen?«
»Sie sind doch Professor an der Universität in Bos-ton?«
»Ja, das stimmt.«
»Dann habe ich den richtigen Lutz Hollender ge-funden. Können wir uns möglichst heute noch treffen? Es ist wirklich sehr wichtig.«
»Entschuldigen Sie, ich bin erst vor wenigen Stun-den eingetroffen. Ich habe fast einen ganzen Tag im Flugzeug gesessen. Können wir Ihr Anliegen nicht am Telefon besprechen?«
»Auf gar keinen Fall. Ich kann verstehen, dass Sie erschöpft sind. Glauben Sie mir, es ist wirklich sehr wichtig und eilig. Ich würde Sie sonst nicht be-lästigen.«
»Ich wüsste schon gern, weshalb ich mich heute noch einmal aufraffen sollte, Sie zu treffen. Also bitte, sagen Sie mir, worum es geht.« Hollender war nicht gerade erfreut über Martinellis Hartnäckigkeit.
»Wir arbeiten gewissermaßen am selben Forschungs-projekt. Es gibt diesbezüglich Informationen, die Sie interessieren werden. Und ich benötige Ihre Hilfe.«
»Von welchem Forschungsprojekt sprechen Sie und von welcher Hilfe?«
»Bitte, Mister Hollender, ich kann wirklich nicht am Telefon darüber sprechen. Vielleicht wird mein An-schluss abgehört.«
Hollender wurde klar, dass er Martinelli nicht ab-wimmeln konnte, ohne einfach aufzulegen, was nicht seine Art war. Außerdem hatte er eine Schwäche für ge-heimnisvolles und das wurde es, als Martinelli davon sprach, dass sein Telefonanschluss möglicherweise ab-gehört wird.
»Bitte haben Sie dafür Verständnis, dass ich nach dem langen Flug keine Lust mehr verspüre, das Hotel zu verlassen. Macht es Ihnen etwas aus, hierher zu kom-men?«
»Kein Problem«, antwortete Martinelli erleichtert. »Passt es Ihnen in einer Stunde?«
»Meinetwegen. Ich erwarte Sie in der Hotelbar.«
»Noch etwas, Mister Hollender. Sollte mir etwas zu-stoßen, dann nehmen Sie bitte von mir verfasste Doku-mente an sich und verwahren sie sorgfältig. Sie dürfen nicht in falsche Hände geraten. Sie werden diese Auf-zeichnungen sicherlich finden.«
Bevor Hollender nachfassen konnte, wurde die Ver-bindung unterbrochen. Martinelli, der einfach auf-gelegt hatte, sprach in Rätseln. In der Hoffnung, etwas über diesen Menschen in Erfahrung bringen zu können, packte Hollender sein Notebook aus. Er schloss eine kleine Antenne an, die ihm ermöglichte, an jedem Ort ins Internet zu gelangen, selbst mitten auf dem Petersplatz, wenn es ihm beliebte. Auf jeden Fall war es schneller, als sich in das Hotelnetzwerk einzu-loggen.
Zunächst suchte er in einer Enzyklopädie nach dem Namen Martinelli. Hollender schien es einen Versuch wert, immerhin stand auch über ihn etwas in diesem Nachschlagewerk. Doch nichts. Über einen Wissen-schaftler mit Namen Martinelli wurde nichts gefunden.
Nun wiederholte er seine Suche in einer Such-maschine, die weit mehr Ergebnisse zutage brachte. Er fand einen Mathematik-Professor an der Universität in Rom, Sportler, Artisten, Architekten. Alles Personen, die mit diesem Martinelli nichts außer dem Namen ge-meinsam hatten. Hollender sah auf die kleine Uhr, die auf dem Display seines Notebooks angezeigt wurde. In einer Stunde wollte Martinelli im Hotel sein. Es blieb nicht mehr viel Zeit.
Er kramte eine leichte Sommerhose und ein weißes Freizeithemd aus seinem Koffer. Beides hatte auf der Reise arg gelitten und hätte erst einmal gebügelt ge-hört. Doch solche Nebensächlichkeiten waren für Lutz Hollender nicht unbedingt von Bedeutung. Sein mit Kaffee beflecktes Jackett ließ er über der Sessellehne liegen. Es war warm genug, sodass er es nicht be-nötigte und später in die Hotelreinigung bringen wollte. Mit beiden Händen strich er sich durch sein volles dunkles Haar, wodurch er seiner Meinung nach frisiert genug war. Zum Schluss nahm er eine billige Uhr vom Tisch, bei der das wertvollste das halb ein-gerissene Lederarmband war.
Jeden Moment würde dieser Martinelli eintreffen. Er rief den Concierge an und teilte ihm mit, dass er einen Gast erwarte, den er bitte in die Hotelbar schi-cken möchte.
Wenig später betrat Hollender die Bar, die zu dieser Tageszeit spärlich besucht war. Zwei Gäste, wahrscheinlich Geschäftsleute, saßen am Tresen, in der hinteren Ecke bemerkte er eine junge Dame und an einem anderen Tisch ein Paar. Ein Barkeeper war hinter seinem Ausschank damit beschäftigt, Gläser zu polie-ren.
Hollender suchte sich einen Tisch aus, von wo aus er den Eingang gut im Blick hatte. Ein aufmerksamer Kellner beobachtete ihn seit Betreten der Bar und eil-te sofort herbei, als Hollender sich setzte. Der Mensch war ein Hüne von einem Mann. Hollender schätz-te, dass er mindestens zwei Meter groß sein müsse. Er trug schwarze Hosen, ein schneeweißes Oberhemd und eine rote Fliege.
»Was darf ich Ihnen bringen, Sir?«
»Ein Mineralwasser bitte.«
»Sehr wohl, Sir.« So schnell wie er aufgetaucht war, verschwand er wieder.
Auf dem Nachbartisch, an dem niemand saß, lag eine ordentlich zusammengefaltete Berliner Tageszeitung. Hollender nahm sie sich. Gerade zwei Zeilen hatte er gelesen, als er die Zeitung schon wieder beiseite legte. Er konnte sich nicht konzentrieren, da seine Gedanken um diesen Martinelli kreisten. Akribisch suchte er in seiner Erinnerung, ob nicht doch eine Spur zu diesem Mann zu finden war. So sehr er sich auch anstrengte, er konnte sich an keine Person dieses Namens oder eines ähnlichen erinnern.
Als eine halbe Stunde vergangen war, ohne dass Mar-tinelli erschien, ging er zur Rezeption und erkundigte sich, ob sich vielleicht jemand gemeldet hätte.« Kaum hatte er Williams diese Frage gestellt, wusste er, wie überflüssig sie war. Natürlich hätte er ihn in die Bar geschickt oder Hollender in Kenntnis gesetzt, falls Martinelli abgesagt hätte.
»Nein, Sir«, antworte Williams. »Es hat niemand nach Ihnen gefragt.« Obwohl dies die einzige Antwort sein konnte, wunderte sich Hollender dennoch. Marti-nelli tat so, als sei das Treffen lebensnotwendig und jetzt kam er einfach nicht, sagte nicht einmal ab. Moment, dachte Hollender. Wenn mir etwas zustößt, hatte er gesagt. Was hatte das zu bedeuten? War ihm womöglich etwas zugestoßen und hatte er damit ge-rechnet?
Obwohl Hollender dieses Mysterium in gewisser Weise reizte, entschied er sich, die ganze Sache auf sich beruhen zu lassen. Vielleicht wurde Martinelli auf-gehalten oder hat es sich überhaupt anders überlegt. Doch Hollender bekam diese Angelegenheit nicht aus dem Sinn. Er nahm sein Handy, drückte die Wahlwiederholung und wartete vergeblich darauf, dass sich Martinelli meldete.

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Tag der Veröffentlichung: 16.06.2009

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