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Riano: Gedanken



Okay, ich gebe es zu, ich kann nicht mehr. Weiß nicht mehr weiter und brauche dringendst Zeit für mich. Ich habe gerade meine Liebe, Lilly-Ann, nach Hause geschickt. Sie war gekommen, um mich zu sehen, um bei mir zu sein. Weil sie mich liebt und mich vermisst hat. Aber wie gesagt: something is rotten in the state of Riano.

Brauche Zeit, um über das Geschehene nachzudenken, Zeit mir über die Zukunft Gedanken zu machen, Zeit um das Jetzt zu verstehen. Ich werde ein wenig spazieren gehen.

So viel ist bisher geschehen in meinem Leben. So viel Dummes, so viel Lustiges, so viel Schönes, so viel Schlechtes. Ich habe es doch mit allem aufgenommen. Mit Prügel, mit Drogen, mit Freunden, mit der Liebe, mit Hass und mit Angst. Mit Zuneigung, mit Ablehnung, mit Spott und mit Lob, mit Freud und mit Leid. Es kommt immer wieder irgendetwas mit dem man umzugehen hat, ob man nun will oder nicht.

Aber jetzt gerade ist es ein wenig zu viel. Nicht mehr portionsweise, sondern schubweise kommen die Geschehen in meinem Leben. Ah, da führt ein Weg hoch. Ich stehe vor der westlichen Felswand, von Trahhen aus gesehen natürlich. In Hailiah gibt es nur Hügel, keine so erdrückenden Felsblöcke. Nun, dann gehen wir halt da hoch, Hauptsache ich kann weiter gehen.

So viel Neues. Eine neue Familie, eine neue Mutter, die leibliche, wie sich's herausstellte. Dazu einen neuen Bruder, neue Großeltern, einen neuen Job, eine neue Liebe, ein neuer Schlag in die Fresse.

Lynn heißt sie, meine Mutter, die mich als Neugeborenes weggab, mir aber noch nicht sagen will, kann, wieso und trotzdem behauptet, dass sie mich nun doch haben will und dass sie bereue, was geschehen war. Nun gut, ich habe nach meiner richtigen Mutter gesucht, denn die, die mich damals adoptierte, sah ich nie als würdig meine erste Zuwendungsperson zu sein. Sie war krank, im Kopf meine ich. Das andere wäre zu ertragen gewesen. Sie nahm Pillen, jeden Tag, gegen alles, wie mir schien. Blaue, Grüne, kleine Weiße, große Weiße, Kapseln, Tabletten, rote mit einem Spalt, rote ohne Spalt, solche gegen Durchfall und solche gegen Verstopfungen, Kopfschmerztabletten und Prostataproblemkiller. Ihr seht, die Frage, ob all diese Pillen nötig waren, erschließt sich durch diese Aufzählung von selbst. Betty ernährte sich von diesen kleinen Monstern nicht weil sie sie brauchte, sondern weil sie schlichtweg süchtig war.

Sie lag oft nur da, abwesend, wartete auf Godot, von ihren Kindern aufgegeben, von ihrem Mann verprügelt und von mir, nun ja, von mir wurde sie nur verabscheut. Nie half sie mir, obwohl ich ihre Hilfe gebraucht hätte, denn ihr Mann, Tony, verprügelte mich noch viel öfters als er sie misshandelte. Sie sah jeweils zu, rührte keinen Finger, öffnete nicht einmal die Augen. Sie war da und doch nicht.

Tony, ein alkoholisierter Metallfabrikarbeiter, der seine Freizeit im Stevens verbrachte, um dann nach Hause zu kommen und vor allem mich dafür zu bestraffen, dass sein Geld alle war. Ich bin jetzt noch gezeichnet von seinem schwarzen Ledergurt. Und meine »Mama« lag nur da, wie ein Zentner Dreck, bewegungslos und doch bewegend.

Ich riss aus. Wollte nicht mehr Teil dieses Spieles sein, wusste, dass ich von ihnen nur adoptiert worden war, und wollte meine richtigen Eltern finden. Ich war sieben und landete auf der Straße. Zuerst war ich fünf Jahre lang Drogenkurier für die Freunde Hailiahs und wartete dann zwei Jahre lang selbst auf den Kurier. Ich kann mich nicht erinnern, wie es dazu kam, aber das Ende, das bleibt in Erinnerung. Lilly-Ann tauchte in meinem Leben auf.

Sie war umwerfend und ignorierte mich. Ich war Abschaum, aber allem Anschein nach kann sich sogar Schaum verlieben. Ich kroch zu Lovejoy und bat ihn um Hilfe, er sollte mir helfen, von den Drogen abzulassen. Und das tat er dann auch. Jetzt bin ich clean.

Ich schloss mich einer Gruppe von Straßen-Hailiahnern an und fand das Leben echt wieder lebenswert. Wir zogen um die Häuser, frei, unabhängig und unbeschwert. Es fühlte sich gut an. Die Gedanken an meine wahren Eltern blieben, aber sie kamen nicht mehr oft, denn mir ging es gut.

Dann der Tag, an dem ich Lilly-Ann wieder sah, von ihrem Vater verstoßen wegen einem dummen Freund. Sie kam zu mir, ich half ihr. Sie hatte mir schließlich auch geholfen, mit den Drogen, auch wenn sie es nicht weiß. Eine Hand wäscht die andere, und wenn dann beide sauber sind, vereinen sie sich.

Jedoch nur, wenn nichts dazwischen kommt. Die eine Hand wurde von einer dritten, alten, runzligen, hässlichen, warzigen Hand weggezerrt und misshandelt. Das ertragen Hände einfach nicht. Jetzt hat die männliche Hand Angst vor allem, sogar vor der zarten weiblichen und so zieht die männliche Hand alleine den Felsweg hoch, traurig, einsam, verstört..

* * * * * * *

Eine neue Mutter, ja, lasst mich noch ein wenig über Lynn nachdenken. Sie wollte mich nicht, ich suchte sie, gab sie auf, fand sie, sie wollte mich, ich konnte nicht. Ich kann sie nicht lieben, nicht so wie ein Sohn seine Mutter zu lieben hat. Weiß auch gar nicht, wie das geht. Wie sollte ich auch? Ich möchte nicht mehr bei ihr sein. Ich verhalte mich so falsch in ihrer Nähe und das schmerzt.

Sie gab ihr Bestes. Und doch, obwohl ich die Alte angezeigt habe, geschah nichts. Meine Mutter verharrte und die Alte durfte weiterhin frei sein. Ist das fair? Nur, weil diese Bullen hier nicht in der Lage sind, Recht von Unrecht zu unterscheiden sind Täter frei und Opfer hinter Gittern. Raven gehört nicht in den Knast und Lynn weiß das, aber wieso handelt sie dann nicht? Mir kommt unweigerlich meine Adoptivmutter in den Sinn.

Ein schöner Weg, ich sehe die paar Häuschen und Ställchen Trahhens von oben. Noch nicht von ganz oben, aber das kommt noch. Habe ich doch noch mehr Gedanken, die mich weiter treiben.

Ein ganz intensiver Gedanke gilt auch meinem Zwillingsbruder. Ich wusste immer, dass mir etwas fehlte und als ich ihn sah, war mir klar, was dieses etwas war. Ich sah ihn, ich verstand ihn, ich spürte seine Kraft, seine Trauer, seine Liebe, und doch jagte er mich davon. Ich brauche ihn. Brauche seine Liebe, brauche die Bindung zu ihm. Bitte Raven halte mich zurück.

Ein Hund, hier oben? Ein schönes Tier, komm mal rüber. Weiß-braunes Fell, he, du bist doch Cassiel. Du gehörst meinem Bruder! Hat er dich geschickt? Wo sind die anderen? Unten geblieben? Wieso hat er nur dich geschickt? Oder bist du von alleine gekommen? Hat er mich schon wieder aus dem Gedächtnis gelöscht, noch bevor ich darin einen Platz fand?

Ich fühle wie meine Augen mehr und mehr an Klarsicht verlieren. Ich verliere mich in Trauer. Verliere mich selbst. Habe keinen Halt mehr. Raven, wieso willst du mich nicht? Wieso hast du mich davon gejagt? Spüre denn nur ich eine Bindung? Suche denn nur noch ich nach einer Familie?

Mein Herz ist schwer, sehr schwer, ich komme kaum die letzten Meter bis zum oberen Ende der Felswand hoch. Cassiel begleitet mich, er wimmert, scheint mit mir zu weinen. Den Kopf lässt er hängen. Endlich oben. Noch einmal betrachte ich Trahhen. Meine Augen wandern über die Häuschen, Police Departement, meine Mutter. Vorlorn, mein Bruder, mein Seelenfreund, meine zweite Hälfte. Raven bitte halte mich!

Cassiel beginnt zu Heulen. Ein herzerschütterndes Heulen. Ich springe. Lasse die Felskante hinter mir und fliege Kopf voran in die Tiefe.

Dies ist mein letzter Fall. Ich fühle, wie mir der Flugwind die Tränen entreisst. Cassiel heult weiter, mein Herz bricht. Phoenix, das ist der letzte Flug für dieses Leben. Ich sehe, wie der Boden immer näher kommt.

Auf einmal ein anderes Gefühl. Angst. Nein, Panik, ich will nicht sterben!!!! Ich will leben, will es noch einmal versuchen mit Raven. Bitte!!! Rettet mich!!!! Lasst mich nicht sterben!!!! Nicht so, nicht jetzt!!!!

Doch ich weiß, es gibt kein Zurück mehr. Keine Rettung für mich. Ich bin gesprungen und ich werde landen müssen. Ich sehe den Boden näher kommen. Wieso bin ich nur gesprungen. Wieso? Ich wollte doch nur leben…

* * * * * * *

Mit einem dumpfen Laut schlägt Riano auf einem Felsen auf. Auf dem Felsen auf dem Raven früher so gerne saß. Cassiel heult weiter, heult lauter und dann stimmen auch die anderen Sechs Hunde mit ein.

Auch in Zelle Nummer Sieben regt sich jemand mit Tränen in den Augen. Er versteht jetzt, dass es ein Fehler war, seinen Bruder wegzustoßen. Doch wie schon so oft in der Geschichte der Menschheit, ist die Einsicht auf Krücken unterwegs und kommt zu spät.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 26.09.2009

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