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Vielen Dank, aber ich nehme heute keinen weiteren Kaffee mehr. Muss mich jetzt schon zusammenreissen, um nicht die Körperbeherrschung zu verlieren und in die Hosen zu machen.“ „Ich habe übrigens auch eine Toilette, nur damit du es weisst. Du musst bei mir nicht in die Hosen machen, du darfst sie gerne benutzen.“ Sie lacht, ich lache, es geht uns gut, wir haben uns.
Seit einigen Wochen gehe ich regelmässig zu ihr. Es ist schön, unterhaltsam, hilfreich und tröstend und es tut uns beiden unendlich gut. Wir besprechen viel Vergangenes, etwas Jetziges, aber auch Zukünftiges. Wir unterhalten uns wie Mutter und Tochter, wie zwei alte Freundinnen, ganz so als ob wir uns schon ein Leben lang kennen würden. Ich nenne sie Mama Hilly und sie mich liebevoll, ihre Tochter. Tochter, die ihr in ihrem Leben vergönnt war. Und sie ist meine Mutter, ersetzt den eigentlich wichtigsten Menschen im Leben eines Jedermann, weil meine Erzeugerin auf ganzer Linie versagt hat.
„Also das mit der Toilette muss ich mir schon noch gut überlegen, dann könnte ich sogar noch einen Kaffee mehr trinken.“ Sie lacht wieder, eine starke Frau, optimistisch und ein bisschen naiv. „Wie viele Kaffees hattest du heute eigentlich schon?“ „Mit dem den ich gerade einschenke, sieben!“ „Ist ja Wahnsinn! Kannst du danach noch schlafen?“ „Das wird sich zeigen!“ Und es zeigte sich, ich konnte. Konnte schlafen, weil es mir gut ging und mir dann nicht einmal eine Koffeinüberdosis etwas anhaben kann.

„Weisst du wer mich heute angerufen hat?“ Ich zucke, an meinem für heute ersten Kaffe nippend, die Schultern. „Meine grosse Liebe, nach 50 Jahren meldet er sich wieder bei mir und fragt, ob wir uns treffen könnten. Natürlich habe ich ja gesagt.“ Ich sehe wie ihr Herz schneller pocht, wie sie sich freut, aber ich sehe auch Traurigkeit. Diesen Mann hätte sie gewollt, aber ihr Leben verband sie mit einem anderen, einem der sie betrog und über den Tisch zog, ausnahm und verspottete. Ein Italiener wäre ihr Wunsch gewesen, deshalb auch ihre Liebe zu diesem Land. Sie erzählt gerne und viel von ihm. Wenn er anruft erfahre ich es als Erste. Auch weiss ich, dass sie jeden Abend um neun Uhr sein Foto küsst, kurz an ihn denkt und dann mit seinem Foto weiter fern schaut. Liebenswürdige, junggebliebene Frau. Gerade weil sie ein bisschen verrückt ist, habe ich sie gleich doppelt lieb. Es passt einfach.
„Mit ihm wollte ich immer schon Sex haben. Ach, was sag ich das zu meiner Tochter! Aber was soll ich machen, ich bin eben noch immer am anderen Geschlecht interessiert.“ Mir kommt ein Fernsehbeitrag in den Sinn, der genau dieses Thema besprochen hatte. Ich grinse. „Ja, ich habe gehört, dass einige Frauen bis ins hohe Alter Lust auf Sex haben. Und von wegen mit deiner Tochter darfst du das nicht besprechen, ich bin erwachsen und ausserdem nicht prüde!“ „Ja, du hast recht, ganz die Mama bist du, kein Blatt vor dem Mund und kein Thema heilig!“ Ja, sie hatte recht, so unähnlich waren wir wirklich nicht. Ich setzte mich zu ihr rüber und umarmte sie. Es tut so gut, endlich eine Mama gefunden zu haben, aber ein bisschen Angst macht es mir schon, dass sie schon über 80 ist. Wie lange ich sie wohl noch „haben“ werde? Ich verdränge den Gedanken, sie ist gesund und basta!

Irrtum.

August, ein schöner Monat, aber er wäre noch schöner, wenn es Mama Hilly besser gehen würde. Sie wirkt kraftlos, wird immer fahler und mag sich nicht mehr bewegen. Ihr krummer Rücken macht ihr zunehmend zu schaffen und ich höre sie das erste Mal, seit wir uns vor etwa einem Jahr kennengelernt haben, Jammern. Nicht laut, aber deutlich. Sie leidet hörbar, und die Optimistenfasade beginnt zu bröckeln. Auch mir geht es nicht gut, liege nur noch zu Hause herum, bin depressiv und am Kotzen. Ich brauche momentan Stärke, habe nicht die Kraft für jemanden anderen da zu sein. Die Besuche werden seltener. Klar schäme ich mich, sie immer wieder mit an den Haaren herbeigezogenen Ausreden abzuspeisen. Ich verspreche ihr immer wieder, dass ich schauen werde, was sich machen lässt. Und jedesmal wenn mich mein schlechtes Gewissen wieder eingeholt hat, gehe ich zu ihr hoch. Zu meiner Nachbarin, die meine Freundin, meine Mutter wurde und jetzt krank ist.
Mein Telefon klingelt, ich werweisse, ob ich abnhemen soll. Mama Hilly! Ich sei eine schlechte Tochter, sie liege schon seit einigen Tagen im Spital und nicht einmal angerufen hätte ich. Meine Welt begann sich zu drehen.“Bitte was? Wo bist du? Was ist passiert?“ „Ich war letzten Mittwoch zur Routineuntersuchung bei meinem Hausarzt und dort brach ich zusammen. Sie haben mich direkt eingeliefert und jetzt warte ich auf die Diagnose. Aber das hat dir doch Frau Walker sicher mitgeteilt.“ Nein, das hatte die gute Frau Walker nicht. Meine Mama bricht zusammen und erst nachdem sie schon fast eine Woche Zwangsaufenthalt hinter sich hatte, erfahre ich davon. Ob das an mir als schlechte Tochter liegt, oder einfach an der Nicht-Akzeptanz unserer Beziehung, ich weiss es nicht.

Weiss, alles riecht verwest, kalt, steril, krank. Ich hasse diese Einrichtung, sie erinnert einen immer auf absurdeste Weise an das Ende des eigenen Lebens. Nichtsdestotrotz gehe ich in die zwölfte Etage und suche Zimmer Nummer 27.1. Da liegt sie, im weissen Sargbett, bleich, einsam, traurig, vom Krebs ausgelaugt. Ich gehe zu ihr hin, setze mich neben sie und umarme sie aufs innigste. Wer weiss, wie oft ich noch Gelegenheit dazu haben werde.

Sie ist wieder im Spital, wieder zusammengebrochen, sie ruft mich an. Mama Hilly wird nicht mehr nach Hause kommen dürfen. Es geht ihr sehr schlecht, ich höre es an ihrer Stimme. Ich weiss, ich müsste sie besuchen gehen, ich kann nicht. Habe Angst sie noch schwächer vorzufinden als bei meinem letzten Besuch. Angst, nicht mehr Mama Hilly zu sehen, sondern Frau Maréchaux, eine alte Frau, meine Nachbarin.
Ich muss ihr endlich anrufen, es ist bereits Donnerstagabend und seit letztem Donnerstag ist sie zum zweiten Mal im Spital. Kurz nach fünf Uhr raffe ich mich auf und wähle die Direktverbindung in ihr Zimmer.

Es klingelt, ich denke nicht.

Ich werde mit der Zentrale verbunden, ich denke nicht.

Ich werde mit der Abteilung verbunden. Mein Herz bricht. Ich weiss.

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Tag der Veröffentlichung: 18.09.2009

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