I.
Das Hadesrennen findet alle 7 Jahre auf der Imperiumswelt Hades statt. Es dauert höchstens 77 Tage. Genau 7 menschliche weibliche und/oder männliche Wettkämpfer nehmen daran teil. Sie heißen Hadesfighter. Höchstens ein Hadesfighter überlebt das Rennen. Er ist der Sieger des Rennens. Er wird nach Hope, der Zentralwelt des Imperiums, teleportiert und vom Imperator des Sternenimperiums der Menschen als Sieger geehrt.
II.
Das Ministerium für das Hadesrennen ist bei jedem Rennen verantwortlich für die Planung, Durchführung und Nachbereitung des Rennens. Es trifft auch die Auswahl unter den Bewerbern für das Hadesrennen. Alle seine Planungen und Entscheidungen unterliegen der absoluten Geheimhaltung und sind juristisch nicht anfechtbar.
III.
Das Ministerium legt den Startpunkt des Rennens auf Hades in freier Entscheidung fest und stellt dort die 7 sogenannten Startportale auf. Unmittelbar vor dem Beginn des Rennens wird jeder der 7 Hadesfighter in sein Startportal teleportiert. Sobald die Startportale durch die Rennleitung geöffnet werden, beginnt das Rennen. Während der gesamten Dauer des Hadesrennens hält sich außer den Hadesfightern kein Bürger des Imperiums auf dem Planeten Hades auf.
IV.
Das Rennen besteht aus 7 Rennabschnitten. Jeder Rennabschnitt endet mit dem Erreichen eines von 7 Portalen. In jedem Rennabschnitt ist es also das Ziel, eines dieser 7 Portale zu erreichen. Hat ein Hadesfighter ein Portal erreicht, so wird er dort gegebenenfalls medizinisch versorgt und kann dort u.a. Nahrung und Getränke einnehmen und sich erholen. Hier bekommt er Informationen über die Position des nächsten Portals. Außerdem erhält er Nahrungsmittel, Getränke, Ausrüstungsgegenstände und Waffen zum Erreichen des nächsten Portals. Keinem Hadesfighter und auch keinem anderen Bürger im Imperium (außer den Mitgliedern der Rennleitung), ist vor dem Erreichen eines Portals bekannt, wo das darauffolgende Portal steht und welcher Art das Rennen dorthin ist.
V.
Ziel des Rennens ist das 7. Portal. Im Gegensatz zu den 6 Portalen vorher lässt es sich nur von einem Hadesfighter öffnen. Der erste Hadesfighter, der innerhalb der Frist von 77 Tagen das 7. Portal öffnet, wird eingelassen und ist Sieger des Hadesrennens. Nachdem das 7. Portal einmal geöffnet wurde, lässt es sich kein zweites Mal öffnen. Versuchen zwei oder mehr Hadesfighter, das 7. Portal gleichzeitig zu öffnen, so lässt es sich nicht öffnen.
VI.
Ist vor Ablauf der Frist von 77 Tagen nur noch ein Hadesfighter am Leben, so ist er der Sieger des Hadesrennens, unabhängig davon, wieviel Portale er vorher schon geöffnet hat.
VII.
Ist mit Ablauf der Frist von 77 Tagen mehr als ein Hadesfighter am Leben und hat kein Hadesfighter bis dahin das 7. Portal erreicht, so wird festgestellt, wer von den Überlebenden bis dahin dem 7. Portal am nächsten ist. Gibt es keinen solchen Hadesfighter, weil mindestens zwei Hadesfighter die gleiche kleinste Entfernung zum 7. Portal besitzen, so hat das Hadesrennen keinen Sieger. Gibt es einen Überlebenden, der dem 7. Portal am nächsten ist, so findet unter den eingeloggten Zuschauern im Sternenimperium eine Blitzabstimmung statt. Entscheidet sich mehr als die Hälfte der abstimmenden Zuschauer für den Hadesfighter, so ist er der Sieger und wird augenblicklich zur Siegerehrung nach Hope teleportiert. Anderenfalls hat das Hadesrennen keinen Sieger.
VIII.
Außer dem Sieger des Hadesrennens verlässt kein Hadesfighter mehr den Planeten. Der Startzeitpunkt des Rennens wird durch die Rennleitung so festgesetzt, dass nach genau 77 Standardtagen die für Menschen tödliche Hadesstrahlung einsetzt. Dadurch ist gewährleistet, dass es bei jedem Hadesrennen höchstens einen Überlebenden geben kann.
IX.
Während des Rennens sind die Hadesfighter auf sich allein gestellt. Es ist untersagt, von außerhalb Kontakt mit einem der Hadesfighter aufzunehmen, um ihm z.B. Wettbewerbsvorteile gegenüber seinen Konkurrenten zu verschaffen. Ebenso ist es den Hadesfightern während des Rennens untersagt, Kontakt mit anderen Menschen als den übrigen Hadesfightern aufzunehmen.
X.
Ist ein Bewerber für das Hadesrennen von der Rennleitung als Hadesfighter zugelassen worden, so wird er einmal gefragt, ob er gewillt ist, am nächsten Hadesrennen teilzunehmen. Gibt er seine Einwilligung, so ist sie endgültig und kann nicht mehr rückgängig gemacht werden. Nachdem er die Einwilligung gegeben hat, wird er zusammen mit den 6 anderen Hadesfightern an einen geheimgehaltenen Ort befördert und von der Rennleitung auf das Hadesrennen vorbereitet. Ab dem Zeitpunkt ihrer Einwilligung dürfen die Hadesfighter außer mit der Rennleitung mit niemandem sonst kommunizieren.
Seit seiner erstmaligen Austragung ist das Hadesrennen so angelegt, dass von den sieben Teilnehmern höchstens einer überlebt und als triumphaler Sieger hervorgeht. Somit ist dieser Wettbewerb immer schon ein Wettkampf gewesen, der die Teilnehmer unerbittlich an das Reich des Todes führt, und deshalb wird er auch ‘Das Hadesrennen’ genannt. Seine vieltausendjährige Tradition ist eine Geschichte des menschlichen Leidens, des Blutes, des Todes, des Verrates, der Angst, der Verzweiflung, des Versagens, der Brutalität und aller anderen Abgründe der menschlichen Seele. Er ist aber auch eine Geschichte unglaublicher sportlicher Höchstleistungen, des unbändigen Lebenswillens unter ausweglos erscheinenden Bedingungen, des Heldentums, der Aufopferung, der Treue und manchmal auch der Liebe.
Im Mittelpunkt stehen seit jeher die sieben Portale, die die Hadesfighter auf dem Weg zum Sieg erreichen müssen. Um die Portale ranken sich dramatische, oft tragische und traurige Geschichten tausender menschlicher Schicksale. Einige außergewöhnliche Geschichten haben sich in das kollektive Gedächtnis der Menschen eingegraben und wurden zum Stoff, aus dem Legenden gewebt werden. Die Namen der sieben Portale erinnern an einige dieser Geschichten. Hier soll die Geschichte des ersten Portals erzählt werden.
Das 3476. Hadesrennen hatte begonnen. Abermilliarden von Zuschauern auf Tausenden von Planeten des Imperiums hatten sich eingeloggt, um die kommenden Geschehnisse auf Hades, dem Planeten des Hadesrennens, in den kommenden 77 Tagen in allen Einzelheiten aus größtmöglicher Nähe mitzuerleben. Die aus sieben Abschnitten bestehende Rennstrecke war in monatelangen Vorarbeiten minutiös vorbereitet worden. An Millionen von Stellen auf dem gesamten Planeten waren winzige Kameras, akustische Sensoren, haptische und olfaktorische Empfangsvorrichtungen installiert, um die sieben Hadesfighter während jedes Augenblicks ihres Überlebenskampfes umfassend zu beobachten und die Daten den Zuschauern im Imperium instantan zu übermitteln. Ab jetzt wurde jeder Hadesfighter ständig von einem Schwarm fliegender Nanosensoren begleitet, die er wegen ihrer Winzigkeit nicht wahrnehmen konnte. In seinem Körper befanden sich ebenfalls Hunderte winziger Maschinenspione, die ständig alle Körperfunktionen protokollierten und die so entstehenden gewaltigen Datenströme zu den orbitalen Datentransferstationen um Hades sendeten, von wo aus sie weitergeleitet und ins interstellare Kommunikationsnetz eingespeist wurden.
Die sieben Hadesfighter öffneten gleichzeitig die Türen ihres Startportals und traten hinaus. Sie befanden sich an einem weiten Sandstrand, den die Wasser eines ihnen unbekannten warmen Meeres sanft umspülten. Die Startportale, silbern glänzende unzerstörbare Kuben aus Polyflexstahl, reflektierten das Licht der fast senkrecht stehenden Sonne Stellastyx und warfen kurze Schatten auf den heißen feinen Sand. Ungefähr 300 Meter vom Strand entfernt begann ein langgestreckter lichter Wald aus gelbgrünen Laktobäumen, dessen Begrenzung in fast gerader Linie zum Strand verlief. Die Hadesfighter nahmen ihre zur Ausrüstung gehörenden Ferngläser zur Hand und richteten sie auf die blauglitzernde Wasserfläche. In weiter Ferne draußen auf dem Meer musste sich nach Auskunft des DLogs das 1. Portal befinden. Aber sie konnten es trotz Einstellung der Ferngläser auf maximale Vergrößerung nicht ausmachen. Vermutlich war das 1.Portal so weit entfernt, dass es, durch die Krümmung des Planeten bedingt, nicht sichtbar war. Alle Kämpfer waren überrascht und zunächst ratlos, denn zu ihrer Ausrüstung gehörten keinerlei Vehikel. Lediglich eine Multimachete, ein Navigationssystem sowie das Fernglas standen jedem zur Verfügung. Die Situation war ungewöhnlich, denn bei früheren Hadesrennen waren die Rennbedingungen stets so gestaltet gewesen, dass sich die Wettkämpfer sofort nach Verlassen des Startportals in Bewegung setzen konnten, um das 1. Portal zu erreichen.
Nach einigen Stunden gründlicher Bedenkzeit traf Hadesfighter 3 eine Entscheidung: Er lief ins Meer und schwamm in die Richtung davon, in der das Portal liegen musste. Die anderen Kämpfer ließen sich am Strand nieder und beratschlagten, was zu tun sei. Dann machte Hadesfighterin 7, eine Bewohnerin des Waldplaneten Septurnum III, eine Entdeckung: Sie stellte fest, dass die Startportale offen waren. Dies war die zweite Überraschung. Bei allen bekannten vorangegangenen Rennen waren die Startportale unmittelbar nach ihrem Verlassen unwiderruflich geschlossen worden. Sofort erkundeten die sechs Kämpfer ihre Startportale und stellten erstaunt fest, dass sie einen Wohnraum einschließlich Schlafgelegenheit sowie sanitäre Einrichtungen beinhalteten. Außerdem waren darin Nahrungsmittelvorräte für etliche Wochen untergebracht. Dies ließ offenbar nur eine vernünftige Schlussfolgerung zu: Die Organisatoren des Rennens erwarteten einen längeren Aufenthalt an diesem Strand und wollten den Kämpfern das Überleben erleichtern. Aber wie sollte man dann die übrigen Portale erreichen?
Am Mittag des nächsten Tages kam Hadesfighter 3 zurück. Völlig entkräftet schleppte er sich an den Strand. Die anderen Kämpfer trugen ihn in sein Startportal und flößten ihm Wasser ein, denn er litt starken Durst. Als er wieder sprechen konnte, teilte er ihnen mit, dass er cirka 20 Kilometer auf das offene Meer hinausgeschwommen sei und das Portal gesichtet habe. Dann habe eine seitliche Querströmung eingesetzt, gegen die er nicht habe anschwimmen können. Deshalb habe er sich entschlossen umzukehren. Den Weg zurück habe er nur unter größten Mühen bewältigen können. Alle sieben Hadesfighter waren nun völlig ratlos. Wie sollten sie ohne ein Boot oder Tauchboot das Portal auf dem Meer erreichen?
Vier Hadesfighter machten sich in Zweiergruppen auf den Weg und erkundeten den Strand nach beiden Seiten hin. Nach vier Tagen kamen sie zurück. Nichts. Keine Annäherung an das Portal. Keine Hinweise. Nur Strand, Wald, Meer.
Dann begannen die Kämpfer, mit ihren zu kleinen Schaufeln umgebildeten Multimacheten den Strand aufzugraben. An vielen Stellen entstanden im Laufe der folgenden Tage mehr oder wenige tiefe Löcher. Vielleicht waren ja im warmen gelben Sand Boote, irgendwelche Geräte oder Hinweise versteckt, mit Hilfe derer man den Weg zum 1. Portal finden konnte. Nach mehr als einer Woche anstrengenden vergeblichen Grabens stellten die meisten Kämpfer ihre Grabungen ein. Lediglich Hadesfighter 2 machte unbeirrt weiter.
Am Morgen des 13. Tages fand man am Strand, auf dem Bauch liegend, den Kopf tief im blutgetränkten Sand, der Rücken zerfetzt von Schnitten einer langen Klinge, Hadesfighter 2. Er musste seit Stunden tot sein, denn die Totenstarre hatte eingesetzt. Alle übrigen sechs Hadesfighter standen um den Leichnam herum. Schweigend hoben sie nahe am Waldrand eine Grube aus und bestatteten die Leiche. Keiner sagte ein Wort. Danach eilte jeder Kämpfer in sein Startportal und verriegelte es von innen, denn einer von ihnen war der Mörder. Das Hadesrennen hatte zum ersten Mal seine teuflische Fratze gezeigt. Im Imperium schnellten die Einschaltquoten sprunghaft in die Höhe. Denn schon waren in den Medien die ersten Stimmen laut geworden, die sich über ein zu langweiliges Hadesrennen beklagten. Nach dem ersten Todesfall verstummten diese Stimmen zum größten Teil.
Den Kämpfern auf Hades schien es nun klar zu sein, dass es mindestens einen unter ihnen gab, der alle übrigen zu töten beabsichtigte, um dann unter Anwendung des Rennreglements als einziger Überlebender den Sieg des Rennens davonzutragen.
Die Kämpfer hielten sich ab jetzt vornehmlich in den Startportalen auf und beäugten sich misstrauisch durch die kleinen Fenster. Nur noch selten gingen sie nach draußen, um zum Beispiel irgendwelche Beobachtungen am Strand durchzuführen. Ein Teil der Kämpfer verfolgte die Strategie des Abwartens: Man hoffte, dass sich durch eine dramatische Witterungsänderung oder gezielte Manipulation der Wettkampfleitung eine Möglichkeit ergeben würde, das 1. Portal zu erreichen. Aber die Tage verstrichen unerbittlich, ohne dass irgendeinem der Durchbruch gelang.
Dann versuchten es drei Hadeskämpfer mit Kooperation, um dem Angriff des Mörders besser standhalten zu können. Hadeskämpferin 1, eine junge Frau namens Helena von den Retix-Asteroiden im Sternensystem Traurige Wasser, beobachtete es durch die Sichtluken ihres Portals: Die drei Hadesfighter 4, 6 und 7 verließen eines Morgens gleichzeitig ihre Startportale und begannen damit, aus dem Holz der Laktobäume und den im Wald dicht wachsenden farnartigen Pflanzen ein Floss zu bauen. Hadesfighter 4 hieß Jarusjarus und stammte von dem Wüstenplanten Neu-Kalahari. Hadeskämpferin 6, Gleena genannt, war Oberleutnant im Dienst der Imperialen Raumstreitkräfte und wurde vor allem bei der Unterwerfung von immer wieder aufflammenden Aufständen im Virgo-Sektor eingesetzt. Niemand außer ihrem Dienstvorgesetzten wusste, von welchem Planeten sie stammte, und sie wollte es auch niemandem mitteilen. Hadeskämpfer 7 von Septurnum III war äußerst geschickt im Umgang mit Waffen jeder Art.
Innerhalb dreier Tage schafften es diese drei kooperierenden Kämpfer, aus den Naturmaterialien, die sie aus dem nahegelegenen Wald holten, ein schwimmfähiges Floß zu bauen. Das Holz des Laktobaumes war leicht und gleichzeitig fest, so dass es sich hervorragend als Baumaterial eignete. Ob es auch stärkeren Winden standhalten konnte, schien jedoch fraglich zu sein.
Helena verließ ihr Startportal nicht. Körperlich war sie allen Hadeskämpfern unterlegen. Das wusste sie und sie befürchtete deshalb, dass sie das nächste Opfer sein würde, wenn sie ihr Startportal ungeschützt verließ, weil der Mörder glaubte, leichtes Spiel mit ihr zu haben. Sie beobachtete das Geschehen auf dem Strand sehr sorgfältig. In der nächsten Nacht beobachtete sie mit ihrem Fernglas, das sie auf Infrarotstrahlung und Restphotonenverstärkung eingestellt hatte, wie Jarusjarus aus seinem Startportal herausschlich und sich auf allen Vieren vorsichtig zum Wald hin bewegte. Er war kaum 20 Meter weit gekommen, als sich ein dunkler Schatten auf ihn stürzte. Es war Bran, Hadesfighter 5. Helena beobachtete, wie sich Jarusjarus aufbäumte und dann auf dem Bauch liegenblieb. Am nächsten Morgen sahen alle die blutüberströmte Leiche Jarusjarus’ auf dem Strand. Das Floß lag zerfetzt am Wasser.
Mittags zogen schnell dunkle Wolken auf. Der Himmel färbte sich grauschwarz. Dann begann es zu stürmen und in Sturzbächen zu regnen. Das Meer kam den Strand hinauf und umspülte die sieben Startportale, so dass sie zwei Meter tief im Wasser standen. Die noch lebenden fünf Hadesfighter mussten vier Tage in ihren Startportalen bleiben. Dann endete der Tropensturm und das Meer ging zurück. Am nächsten Morgen plätscherte es wieder friedlich an den Strand, im Licht der blauen Sonne Stellastyx. Die Leiche des toten Hadesfighters und die Reste des zerstörten Floßes waren verschwunden. Durch die Sichtluken ihrer Startportale blickten die Kämpfer auf den Strand und das glitzernde Meer, das genauso aussah wie am ersten Tag.
Es waren nun 60 Tage verstrichen. Helena wusste, dass sie etwas unternehmen musste, wenn sie dieses kuriose Rennen, das irgendwie gar keines war, überleben wollte. Bran war der Mörder. Sie hätte es sich denken können. Bran, ein über 2,40 Meter großer Hüne von der Gebirgswelt Tyrannus Mons. Im gesamten Imperium war Bran bekannt als überragender Klingenboxer. Beim Klingenboxen, einer brutalen Boxvariante, wurden in den Boxhandschuhen verborgene ausfahrbare Klingen eingesetzt, um dem Gegner schwerste Verletzungen zuzufügen. Bei diesen Wettkämpfen hatte sich Bran als gnadenloser Killer erwiesen. Weshalb er sich für das Hadesrennen beworben hatte, wusste Helena nicht. Doch eines wusste sie: Im direkten Kampf gegen ihn würde sie nicht den Hauch einer Chance haben. So wägte sie ihre wenigen Möglichkeiten ab. Blieb sie in ihrem Startportal, so würde Bran am letzten Renntag aus seinem Portal zum Strand laufen und das Rennen gewinnen, da er dem 1.Portal so am nächsten sein würde. Würde sie aber ebenfalls ihr Portal verlassen, würde er sie mit Sicherheit töten. Ihre Lage erschien aussichtslos. Eines allerdings konnte sie sehr gut: schnell und ausdauernd laufen. Das hatte sie in den vielen Jahren während ihres Aufenthaltes auf den Retix-Asteroiden gelernt. Die Retix-Asteroiden umkreisten in großer Entfernung die Sonne Traurige Wasser. Es handelte sich um mehrere dicht beieinanderstehende, jeweils einige Kilometer große Felsbrocken im Kuiper-Gürtel des Systems, die man untereinander mit einem Netz aus elastischen Karbon-Fulleren-Röhren verbunden hatte. Von weitem sahen die Röhren wie hauchdünne Fäden aus, die den Abgrund zwischen den großen ausgehöhlten Gesteinsbrocken überspannten. Diese Röhren besaßen jedoch einen Durchmesser von mehreren Metern und wurden als Transportwege benutzt. Und in diesen Röhren war Helena gelaufen, um ihre körperliche Fitness angesichts der geringen Schwerkraft im Asteroidennetz zu erhalten. Jeden Tag hatte sie Kilometer um Kilometer in den Röhren zurückgelegt. Das Laufen in den Röhren war ein beliebter Sport unter den Bewohnern der Retix-Asteroiden und Helena hatte bei sehr vielen Laufwettbewerben gesiegt.
So traf Helena den Entschluss, in der nächsten Nacht heimlich aus ihrem Portal zu fliehen und auf gut Glück den Strand in südlicher Richtung entlangzulaufen, in der Hoffnung, dass sich irgendeine Lösung bieten würde. Sie packte Lebensmittel für die restlichen Tage bis zum Ende des Rennens in einen Rucksack, nahm die Multimachete, das Navigationssystem und das Fernrohr mit und verließ in der kommenden Nacht, als der Himmel stark bewölkt war und die Sicht somit sehr schlecht, ganz leise ihr Portal. Vorsichtig spähte sie um die Ecke des in der Dunkelheit leicht schimmernden Kubus ihres Portals - und sah zu ihrer Bestürzung alle übrigen vier Hadeskämpfer am Strand. Etwa 300 Meter von ihr entfernt bewegten sie sich, ohne einen Laut von sich zu geben. Helena hob ihr Nachtsichtgerät. Drei Hadeskämpfer umkreisten vorsichtig mit gezückten Multimacheten und in Kampfhaltung eine hünenhafte Gestalt: Bran. Offenbar versuchten die drei, mit einem koordinierten Angriff den 5. Hadesfighter zu überwinden. Wie hatten sie es geschafft, sich zu verständigen? Helena konnte sich nicht daran erinnern, dass es nach den zwei Morden irgendwie zu Kontaktaufnahmen zwischen den drei Kämpfern gekommen war. Sie verdrängte diese Gedanken und schlich vorsichtig zum Wald. Dann, immer wieder Deckung hinter den Laktobäumen suchend, bewegte sie sich, so schnell es ging, parallel zum Strand in südliche Richtung. Als sie weit genug weg war, so dass ihre Laufgeräusche an den Portalen nicht mehr wahrgenommen werden konnten, lief sie schneller. Als sie sich außer Sichtweite der Portale wähnte, eilte sie zum Strand, direkt an das Wasser, wo der Sand hart und das Laufen deswegen einfach war, und spurtete los.
Dann lief Helena um ihr Leben. Immer den Strand entlang nach Süden. Sie lief die Nacht durch und den ganzen darauffolgenden Tag. Nur selten hielt sie an, um zu trinken oder ihre Notdurft zu verrichten. Auch den nächsten Tag und die nächste Nacht lief sie mit nur wenigen kurzen Unterbrechungen, wenn auch deutlich langsamer, denn sie bekam zunehmend Krämpfe in den Beinen. Irgendwann am nächsten Morgen, die Sonne brannte gnadenlos auf den schon heißen Sand, konnte sie nicht mehr weiter laufen. Sie suchte sich ein paar hundert Meter tief im Laktobaumwald einen schattigen Platz, den sie für relativ sicher hielt, und schlief entkräftet ein.
Als Hadesfighterin 1 aufwachte, war es Nacht. Sternenklare Nacht. Der Zeitanzeige ihres DLogs entnahm sie die Information, dass sie knapp 14 Stunden geschlafen hatte. Helena trank in gierigen Schlucken Wasser und schlang Nahrungsmittelkonzentrat herunter. Anschließend schulterte sie ihren Rucksack und schlich vorsichtig zum Strand. Mit dem Fernglas sondierte sie auf allen möglichen Spektralbereichen ihre Umgebung. Kein menschliches Wesen schien sich in ihrer Nähe aufzuhalten. Anschließend suchte sie das Meer gründlich nach Hinweisen auf das 1. Portal ab. Nichts. Ehe sie erneut loslief, schaute sie zum Himmel auf. Als sie ihren Blick wieder auf den Strand senkte, stutzte sie irritiert. War da am Hadeshimmel etwas gewesen? Erneut blickte sie hoch und suchte den Sternenhimmel ab. Irgendwie war der Sternenhimmel nicht so, wie er sein sollte. Helena versuchte sich daran zu erinnern, wie der Sternenhimmel von Hades aussah. In den Tagen vor dem Beginn des Hadesrennens bereiteten sich die Hadeskämpfer unter anderem auf das Rennen vor, indem sie alle möglichen Informationen über den Planeten Hades zusammenstellten, die sich später möglicherweise als überlebenswichtig herausstellen könnten. So hatte sich Helena unter anderem den Sternenhimmel von Hades eingeprägt. Und dann hatte sie es: Dort oben standen Sterne, die es eigentlich gar nicht geben sollte! Zum Beispiel im Sternbild Dornengebirge: Dort war ein Stern 1. Größe sichtbar, der nach Helenas Kenntnissen gar nicht existierte. Und etwas weiter nördlich, am Rande des Sternbildes Imperator Minor, leuchtete ein Stern 1. Größe, der von etwas rötlicher Farbe war und ebenfalls dort nicht hingehörte. Helena prägte sich den Sternenhimmel so gut sie konnte ein und beschloss, in der nächsten Nacht, falls sie bis dahin noch leben sollte, noch einmal darüber nachzudenken. Dann rannte sie wieder los.
Tagsüber, wenn sie ihre kurzen Verschnaufpausen einlegte, spähte sie immer wieder mit ihrem Fernglas zurück, ob sie am Horizont einen der Hadesfighter erkennen konnte, der ihr vielleicht auf den Fersen war. Aber es war nie jemand zu sehen. Hatte sie ihre Verfolger abgeschüttelt? Gab es überhaupt Verfolger? Hatte Bran die anderen drei Hadeskämpfer umgebracht? War sie vielleicht die einzige noch lebende Hadesfighterin? Und was hatte es mit den ‘neuen’ Sternen am Hadeshimmel auf sich? Waren vielleicht gleichzeitig zwei Supernovae am Himmel erschienen? Oder hatte sie ganz einfach ihr Gedächtnis im Stich gelassen? Diese Fragen quälten Helena, während sie ihrem Körper das Letzte abverlangte und in größter Hast den weißen langen Strand entlangrannte. In sanftem Bogen zog er sich dahin und schien endlos zu sein.
Fast übergangslos begann die Nacht. Ehe Helena zum Wald lief, um Deckung für ein paar Stunden des ersehnten Schlafes zu finden, sondierte sie erneut den Himmel. Ganz genau schaute sie hin. Und sah, dass die gegenseitigen Positionen der beiden ‘neuen’ Sterne sich verändert hatten. Und nicht nur das: Auch die relativen Positionen fünf weiterer Sterne hatten sich im Vergleich zur vorigen Nacht leicht verändert. Das konnte kein Zufall sein. Es musste einen Zusammenhang mit dem Hadesrennen geben, da war sich Helena nun ganz sicher. Bevor sie in den Wald lief und dabei die zum Wald führenden Spuren sorgfältig verwischte, prägte sie sich erneut die Positionen der Sterne am Hadeshimmel ein.
In der nächsten Nacht hatten die insgesamt sieben Sterne ein weiteres Mal ihre Positionen geändert. Helena wurde klar, dass dies keine Sterne oder Planeten sein konnten. Die sieben Himmelsobjekte waren dort nicht zufällig. Sie hatten etwas mit dem Hadesrennen zu tun. In den darauffolgenden Nächten verfolgte die Hadesfighterin aufmerksam die Positionsveränderungen der sieben Objekte. Sie stellte fest, dass sie eine geschlängelte Linie bildeten, die Nacht für Nacht, je weiter sie den Strand entlanglief, geradliniger wurde. In der Nacht des 77. Renntages schließlich bildeten die sieben hell am Hadeshimmel strahlenden Objekte eine völlig gerade Linie. Aufgereiht wie glänzenden Perlen an einer geraden Schnur standen sie um Mitternacht hoch am Westhimmel, über dem dunklen Meer. Vom Laufen völlig ausgepumpt setzte sich Helena an den Strand. Sie konnte nicht schlafen. Der bevorstehende Tag würde mit großer Wahrscheinlichkeit ihr letzter sein, und sie hatte fürchterliche Todesangst. Ob diese merkwürdige gerade Reihe der Himmelsobjekte ihr helfen würde, wagte sie mittlerweile zu bezweifeln. Aber etwas anderes als hier zu warten fiel ihr nicht ein. Zumindest ihre Verfolger hatte sie mittlerweile bestimmt abgeschüttelt. Schließlich nickte Helena doch ein wenig ein.
Mit Sonnenaufgang wachte sie auf. Der letzte Tag des 3476. Hadesrennens war in ein paar Stunden abgelaufen. Sie blickte zum schnell heller werdenden Westhimmel. Die Sterne und auch die sieben Himmelsobjekte auf der wie ein Finger zeigenden Linie verblassten. Helena blickte zum Meer. Und dann sah sie es. Direkt unter der Linie der sieben Himmelsobjekte. Ein glitzernder Faden auf dem Wasser. Er begann in einiger Entfernung vom Strand und schlängelte sich sanft über das Meer bis zum Horizont. Helena stockte der Atem. Das musste es sein! Mit dem Fernrohr versuchte sie, nähere Einzelheiten zu erkennen. Bei stärkster Vergrößerung schien es eine Art Schnur zu sein, die auf dem Wasser lag. Helena zögerte nicht, denn es ging um ihr Leben. Sie entledigte sich ihres Rucksacks mit den Vorräten und warf die Waffe und das Fernglas ins Meer. Dann schwamm sie hinaus. Nach ungefähr einem Kilometer angestrengten Schwimmens hatte sie den ‘Faden’ erreicht. Es war aber natürlich kein Faden, sondern es handelte sich um eine Art Steg, der mitten auf dem Meer begann. Der Steg war aus durchsichtigem harten Material gefertigt, glasähnlich und cirka 2 Meter breit, und man konnte darauf gehen, ohne dass man einbrach. Der Steg erstreckte sich bis zum Horizont. Helena wusste nun, dass sie auf der richtigen Spur war. Also fing sie an zu laufen, über das Wasser, so sah es von weitem aus, so schnell sie konnte, mit neuer Hoffnung.
Als sie nach einiger Zeit keuchend anhielt und zurückblickte, sah sie am fernen Strand einen kleinen schwarzen Punkt. Helena erschrak und rannte panisch weiter. Voraus konnte sie jetzt deutlich das 1. Portal ausmachen. Glänzend ruhte es auf dem Meer. Das verlieh ihr neuen Antrieb. Als sie ein weiteres Mal zurückschaute, war aus dem Punkt ein kleiner senkrechter Strich geworden und wieder etwas später ein winzig aussehender Mensch, der genau wie sie auf dem Steg über das Meer rannte. Helena wusste instinktiv, dass es sich nur um Hadesfighter 5 handeln konnte, um Bran, um den Klingenboxer, um den Killer, um ihren Alptraum. Bedrohlich schnell kam er ihr immer näher. Nun neigte sich die Rennzeit dem Ende zu. Beide Hadesfighter rannten, so schnell es ihre übermüdeten Körper noch zuließen. Unerbittlich holte Bran auf. Bald war er nur noch wenige Meter hinter ihr. Unter ihren Füßen spürte Helena, wie der Steg unter Brans Gewicht erbebte, wenn er mit seinen großen Füßen in rasendem Lauf auftrat. Das Portal war nur noch wenige hundert Meter entfernt. Hoch ragte es aus dem Meer auf. Die letzten Sekunden des Rennens brachen an. Mit einem gewaltigen Satz sprang Bran der fliehenden Helena hinterher. So weit er konnte, streckte er seine Arme nach vorn. Im Fallen schlitzte er mit seiner Multimachete Helenas rechte Wade auf. Dann schlug er auf den Steg auf. Helena spürte einen glühenden schneidenden Schmerz in ihrem rechten Bein. Sie stürzte ebenfalls auf den Steg. Mühsam richtete Bran sich hinter ihr auf und wollte sie endgültig vernichten. Dann aber war das Rennen zu Ende, denn in wenigen Sekunden würde die tödliche Hadesstrahlung einsetzen. Der Imperator ließ das Publikum gemäß Wettkampfreglement darüber abstimmen, ob Helena zur Siegerin des Rennens erklärt werden solle oder nicht. Abermilliarden von Zuschauern aktivierten ihr DLog und gaben darüber ihr Votum ab. Die Auswertung erfolgte in Bruchteilen einer Sekunde, ermöglicht durch die überlichtschnelle Quantenteleportation von Lichtsignalen. Mit überwältigender Mehrheit wurde Helena zur Siegerin erklärt und augenblicklich von Hades fortteleportiert.
Sie materialisierte im Siegesdom des Hadesrennens zu Hope. Dort wurde sie von Hunderttausenden hoher Würdenträger aus dem gesamten Imperium mit tosendem Beifall empfangen. Zwei imperiale Soldaten im glanzvollen kaiserlichen Ornat hoben Helena ganz sanft auf und stützten sie zu beiden Seiten, damit sie die Siegerehrung stehend entgegennehmen konnte. Das Blut aus ihrer zerfetzten Wade strömte auf die transparente Siegerplattform. Der Imperator Caius Magnus XXXV., gekleidet in einem strahlend weißen Umhang, trat gemessenen Schrittes vor sie hin, lächelte milde, sprach die Jahrtausende alte Siegerformel und krönte sie mit dem grünen Lorbeerkranz des Hadesrennensiegers. Dann wurde Helena ohnmächtig.
Es war und blieb dies das einzige Hadesrennen, bei dem der Sieger keines der sieben Portale erreicht hatte. In Gedenken an dieses Rennen wurde das 1.Portal fortan ‘Über das Wasser', genannt.
Wenn man in wolkenloser Nacht auf der eisigen Fraktalkristallebene des Planeten Hades steht und zum Himmel aufblickt, so wie ich es vor vielen Jahren getan habe, erschließt sich einem das Universum in seiner ganzen Pracht und majestätischen Fülle. Die sich aus dem zerklüfteten Felsgestein in tödlicher Kälte herauswindenden Fraktalkristalle entziehen der Luft auch die letzte Spur von Feuchtigkeit, so dass man durch die bizarren Formen der hoch aufragenden Gewächse eine atemberaubend klare Sicht auf die Sterne der Milchstrasse hat. Wie riesengroße Diamanten hängen die nahen Sterne Procyon, Epsilon Corryone, Einsamer Wanderer und Millers Messer herab und lassen die lebensfeindliche Landschaft in kaltem Licht erglühen. Und hoch im Zenit ist das gleißende Band der Galaxis mit ihren Milliarden von Sternen gespannt - seit undenklichen Zeiten den Planeten schweigend begleitend. Sterne über Sterne, so zahlreich und aus der Ferne betrachtet so unscheinbar wie Staub, bewegen sich auf ihren von den Gesetzen der Himmelsmechanik vorgegebenen Bahnen. Doch hin und wieder kommt es vor, dass solch ein unscheinbarer weit entfernter Stern in einer Supernova erblüht und so hell erstrahlt wie Millionen anderer Sonnen. Dann scheint es, als würde sich der ganze Himmel erneuern.
Ähnlich ist es mit den vielen Billionen Menschen im Sternenimperium. Wenige Giganten bestimmen seit jeher mit ihrer Macht die Geschicke der Menschheit, und nur selten geschieht es, dass ein einzelner Unbekannter aus der großen Masse hervortritt und das Schicksal des Kollektivs entscheidend beeinflusst.
Hätte mir jemand, als ich siebzehn Jahre alt war, gesagt, dass ich später einmal den Planeten Hades betreten würde, hätte ich ihn für verrückt gehalten. Hätte er mir gesagt, dass ich dem allmächtigen Imperator einst Auge in Auge gegenüberstehen würde, hätte ich ihn ausgelacht und keines weiteren Blickes mehr gewürdigt. Hätte er mir prophezeit, dass ich mir anmaßen würde, die am strengsten gehüteten Geheimnisse des Imperialen Hofes aufzuspüren, hätte ich ihn nur verständnislos angeblickt, weil ich mir überhaupt nicht vorstellen konnte, weshalb ich etwas derart Abwegiges tun sollte.
Doch will ich den Geschehnissen nicht vorgreifen und alles der Reihe nach erzählen. Viele Beschreibungen von Begebenheiten, über die ich auf den folgenden Seiten berichten werde, sind unvollständig und durch die barmherzigen Filter der Erinnerung subjektiv und manchmal in der Nachschau nostalgisch verfärbt. Manchmal entsprechen sie nur grob den Tatsachen und der Leser möge mir sachliche Ungereimtheiten gnädig nachsehen. Aber ich hatte erst Jahre nach den entscheidenden Erlebnissen Gelegenheit, diese aufzuschreiben, und konnte mich oftmals nicht auf objektiv überprüfbare Daten und Dokumente stützen, sondern war auf meine eigene unvollkommene Erinnerung angewiesen. Aber ich habe mich bei dem Verfassen des Textes, der in gewisser Weise die Geschichte meines Lebens darstellt, stets um Bescheidenheit und Wahrhaftigkeit bemüht, denn ich möchte auch in einigen Jahren noch ohne Scham in meinen eigenen Erinnerungen nachlesen können.
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Geboren wurde ich in der kleinen Stadt New Kingstone auf dem Planeten Blueeye. Blueeye, der seinen Mutterstern Halifax Eta in Hundert Millionen Kilometern Entfernung umläuft, ist eine ziemlich unbedeutende kleine Welt und besitzt lediglich einen Ozean, der zwar nicht gerade groß, dafür jedoch sehr salzhaltig ist. Die wenigen großen Städte auf Blueeye reihen sich wie Perlen an einer Kette an den Gestaden dieses Meeres auf. Dort landen auch die Raumschiffe des Imperiums, um sich mit den Reichtümern des Planeten zu beladen, ehe sie sich träge auf ihren brüllenden Feuersäulen erheben und bedeutenderen Welten zustreben. New Kingstone liegt abseits im Landesinnern und ist kaum bekannt. Dort erblickte ich als einziges Kind meiner Eltern an einem verregneten Herbsttag des Jahres 45361 n.n.Z. zum ersten Mal das fahlgelbe Licht von Halifax Eta, während mir die Hebamme in ihrer Funktion als Repräsentantin des Hochherzogtums Halifax in einer kleinen feierlichen Zeremonie das DLog einsetzte. „Seele werde Sternenmacht!“, waren die Worte der kurzen Formel, die sie leise aber bestimmt in mein Ohr flüsterte - Worte, die seit Zehntausenden von Jahren allen Bürgern des Sternenimperiums bei ihrer Geburt zuteil wurden und sie zusammen mit dem DLog unauflösbar an den Allumfassenden Sternenimperator banden.
Meine Mutter war eine schöne Frau mit strahlenden Augen und liebevoller Güte, die mein Vater und ich gleichermaßen über alles liebten. Noch heute erinnere ich mich sehnsüchtig an manch warme Abende im Sommer zurück, an denen wir nebeneinander im Gras lagen, zum Himmel aufblickten und sie mir spannende Geschichten über die fernen Welten erzählte, auf die sie zeigte. Wenn ich mich heute ganz fest auf diese so ferne Erinnerung konzentriere, kann ich manchmal sogar ihre Hände spüren, wie sie über meine Haare streichen, und dann bin ich für einen kostbaren Wimpernschlag wieder der kleine Junge, der sich rückhaltlos vertrauend in die Liebe seiner Mutter fallen lässt.
Meinen Namen Leij habe ich meinem Vater zu verdanken, der mich nach einem Blueeye’schen Freiheitskämpfer benannte, der vor langer Zeit von kaiserlichen Soldaten in einen Hinterhalt gelockt und anschließend gnadenlos getötet worden war. Schon früh erzählten mir meine Eltern davon und sagten mir, dass ich stolz auf meinen Namen sein könne, was ich natürlich auch war. Aber als ich dann in die Schule kam, änderte sich meine Einstellung dazu, denn damals waren die Soldaten des Imperiums unter Jugendlichen mal wieder schwer in Mode. Alle meine Klassenkameraden wollten später Soldat werden, in schimmernder Kampfmontur furchtlos allen finsteren Bedrohungen trotzend. Also wollte auch ich, sobald ich erwachsen war, als heldenhafter Kämpfer im Dienste des Imperiums Ruhmestaten erbringen, und erzählte niemandem von Leij, dem längst verstorbenen Freiheitskämpfer, denn vor meinen Altersgenossen schämte ich mich meines Namens.
Von meinen Eltern wohlbehütet und abgeschirmt vor den Sorgen der Welt wuchs ich zu einem wenig außergewöhnlichen Jungen heran, der über keine offensichtlichen Begabungen verfügte, der das Leben in freier Natur liebte, nicht aber die staubigen Stunden in der Schule. An den unendlich langen Sommernachmittagen, als Halifax Eta heiß vom Himmel brannte, lief ich viel lieber mit meinen gleichaltrigen Freunden zum Rand der Stadt, dort, wo die Schwinggrasebene begann. Im mannshohen Gras, zwischen den vereinzelt wachsenden rötlichen Fettkugelkiefern, spielten wir stundenlang ‘Planetenkolonisierung’, ‘Krieg des Imperiums’ und ‘Hadesrennen’. Mit kleinen Schaufeln gruben wir Löcher in den Sand, dachten uns Sandanzüge und waren berühmte PMC-Jäger, die die wunderbarsten und klangvollsten PMC-Blumen einfingen, die das Imperium je gesehen hatte. Abends kam ich ausgepumpt, hungrig, halb verdurstet und glücklich nach Hause und schlang am Abendbrottisch alles in mich hinein, was nach Essen aussah.
„Papa“, fragte ich, als mein größter Hunger und Durst gestillt waren, „wie lange muss man lernen, wenn man PMC-Jäger werden will?“
„Oh, Leij, das ist eine schwierig zu beantwortende Frage! Die einen benötigen nur wenige Wochen der Einweisung und des Trainings. Sie werden zu erfolgreichen Jägern, weil sie begabt sind. Sie fühlen die feinen Strömungen im ewigen Sand und erspüren die Saatwege der Wesen anhand feinster Veränderungen der Konsistenz des Sandes. Andere hingegen können jahrelang üben und Bücher über die PMC-Jagd studieren und werden doch nur sehr mittelmäßige Vertreter ihres Berufsstandes. Für diesen Beruf benötigst du Talent! Talent, das du in keinem Lehrbuch erwerben kannst.“
„Aber Papa“, fragte ich besorgt, „dann kann es ja sein, dass ich, wenn ich einmal groß bin, vielleicht gar nicht PMC-Jäger werden kann, weil ich dafür zu unbegabt bin!“
Mein Vater lächelte milde. Er legte mir seine große Hand sanft auf meinen Arm: „Ja Leij, das ist wohl möglich. Aber ich glaube nicht daran, denn immerhin bist du mein Sohn. Und wenn ich PMC’s jagen kann, warum nicht auch du? Und was ich dir jetzt sage, solltest du für dich behalten: Eigentlich sollten alle Bewohner Blueeye’s froh darüber sein, dass man die PMC-Jagd nur sehr begrenzt durch Ausbildung und Training erlernen kann.“
„Aber warum, Papa?“ fragte ich verständnislos, „je mehr Menschen PMC-Jäger sind, desto mehr PMC’s werden gefunden, desto mehr können im Imperium verkauft werden und desto reicher werden die Einwohner Blueeye’s !“
„Leider ist diese Logik falsch, Leij. Gäbe es eine erlernbare Technik der PMC-Jagd, glaube mir, mein Sohn, die vielen schlauen geldgierigen Ingenieure im Imperium hätten schon längst effiziente Maschinen zur PMC-Jagd entwickelt. Diese Maschinen hätten schon längst ihre Arbeit aufgenommen. Unsere Welt wäre schon seit langer Zeit ausgeplündert und wir säßen heute bestimmt nicht in Sorglosigkeit zusammen und könnten unser Beisammensein kaum in bescheidenem Wohlstand genießen. Aber diese Gedanken darfst du niemandem anvertrauen, denn sie bedeuten Zweifel.“
„Zweifel woran?“
„Zweifel an der Rechtschaffenheit des Imperiums. Und damit an der Rechtschaffenheit des Sternenimperators.“ antwortete Vater ernst mit bedächtigen Worten.
„Sind Zweifel etwas Schlimmes?“
Meine Mutter blickte zuerst meinen Vater an, wie um sein Einverständnis einzuholen, ehe sie meine arglose Frage beantwortete: „Wo Menschen zusammen leben, Leij, werden Fehler begangen, denn alle Menschen sind unvollkommen. Auch Menschen, die über andere Menschen Macht ausüben, sind nicht frei von Unzulänglichkeiten. Deswegen ist es wichtig, dass man die Fehler frühzeitig erkennt, denn wenn Menschen mit großer Machtfülle etwas falsch machen, kann dies schlimme Auswirkungen für viele andere Personen nach sich ziehen. Damit aber Fehler erkannt werden können, müssen die Menschen die Fähigkeit zum Zweifeln haben. Der Zweifel ist wichtig. Der Zweifel dient letztendlich allen Menschen. Er ist nichts Schlimmes.“
„Aber warum soll ich dann diese Dinge über die Maschinen für die PMC-Jagd keinem sagen, wenn doch der Zweifel etwas Gutes ist?“
Gequält lächelnd sagte Mutter leise: „Weil der Imperator über jeden Zweifel erhaben ist!“
„Aber ist der Imperator denn kein Mensch?“ bohrte ich in meiner kindlichen Naivität nach.
Es dauerte etwas länger, ehe mein Vater orakelhaft und wie auswendig gelernt verkündete: „Wir einfachen Menschen werden höchstens 150 Jahre alt. Aber der Allumfassende Sternenimperator Lukius II. herrscht seit fast 400 Jahren mit unermesslicher Kraft über das gewaltige Reich der Menschen und führt es zu Wohlstand, Ehre und Glück.“
Damit war das Thema für den Abend durch. Ich war damals viel zu jung und zu einfältig, um auch nur ein Viertel dessen zu verstehen, was mir meine Eltern mitzuteilen versuchten.
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An dieser Stelle sollte ich einige Worte über die PMC-Lebewesen verlieren:
Als Blueeye vor Jahrtausenden besiedelt wurde, entdeckte man bei Ausschachtungsarbeiten für einen unterirdischen Wohnkomplex durch Zufall eine merkwürdige Lebensform, die nur auf Blueeye und nirgends sonst im Imperium gedieh. Diese Lebensform existierte unter der Oberfläche, in den weiten wüstenartigen Landstrichen des Planeten. Aber nicht in Hohlräumen oder Gängen, sondern vielmehr direkt in der oberflächennahen Sandschicht, die in manchen Gegenden mehrere Hundert Meter dick war. Die bis zu 60 Zentimeter großen Wesen besaßen eine gelbbraune Farbe wechselnder Schattierung, so dass sie im Sand kaum auszumachen waren. Sie sahen aus wie strauchartige Pflanzen. Das Erstaunliche an ihnen war, dass sie sich im Sand vorwärtsbewegten, selten allein, fast immer in kleinen und größeren Gruppen. Niemand wusste genau, wie schnell sie sich durch den Sand graben konnten, falls man ihre Fortbewegung überhaupt als graben bezeichnen konnte. Sandgleiten war wohl eine treffendere Beschreibung. Erfahrene PMC-Jäger schätzten die maximale Geschwindigkeit auf bis zu sechzig Kilometer pro Stunde. Diese Schätzung erschien den meisten seriösen Biologen übertrieben hoch, zumal kein physikalischer Mechanismus bekannt war, der die unterirdische Fortbewegung derart graziler Organismen durch dichten Sand mit einer solch hohen Geschwindigkeit ermöglicht hätte. Nach ihrer Entdeckung hielt man diese Wesen lange Zeit für Pflanzen, ehe intensive Forschungen ergaben, dass es sich hierbei wohl um eine Zwitterform zwischen pflanzlichem und tierischem Leben handelte. In ihrem Namen spiegelte sich die ursprüngliche falsche Klassifizierung wieder: Planta Mobilis Canoris. Oder kurz: PMC.
PMC’s waren seit ihrer Entdeckung die tragende Säule der Blueeye’schen Ökonomie: Gelang es einem, ein Exemplar dieser überaus schwer aufzufindenden Lebewesen einzufangen und an die Oberfläche zu bringen, so bildete es nach einigen Tagen blütenartige dunkelbraune Strukturen aus. Und dann begann unvermittelt der Gesang des Geschöpfes: Ein nichtsprachlicher Gesang, dessen Spielart nur begrenzt vorhergesehen werden konnte. Ein Gesang, der von den meisten Menschen als angenehm wohltuend und harmonisch empfunden wurde. Manche PMC’s gaben fröhliche heitere Klänge von sich, andere tönten ausgelassen und brachten die Zuhörer in Stimmung, und noch andere zauberten melancholische Klangteppiche hervor, die einem mit ihrer Traurigkeit das Herz zerreißen konnten. Man erzählte sich, dass Menschen nach den Klängen dieser Wesen süchtig wurden oder sich wegen ihres traurigen Gesanges das Leben nahmen. Nach etwa drei Wochen stellten die PMC’s ihren Gesang ein und starben kurz darauf ab.
Als diese einzigartige Fähigkeit der PMC’s im Imperium bekannt wurde, gelangte die bis dahin recht unbedeutende ärmliche Siedlungswelt Blueeye am Rande des Sternenreiches zu einiger Bekanntheit. Denn viele Adlige wollten ihre Paläste mit dieser Kuriosität schmücken, um ihre Gäste zu beeindrucken, oder auch, weil sie selbst den wundervollen Klängen der fremdartigen Lebewesen erlagen.
PMC’s waren teuer. Sehr teuer. So teuer, dass sich nur wohlhabende Bürger diese Kostbarkeit leisten konnten. Denn PMC’s zu fangen ist ein äußerst schwieriges zeitraubendes Unterfangen, das nur von ausgebildeten PMC-Jägern erfolgreich in Angriff genommen werden kann. Die erfolgreiche Jagd auf die scheuen Kreaturen erfordert sehr viel Begabung, Erfahrung und Training. Wenn PMC-Jäger sich in Teams von mindestens drei Teilnehmern auf die Suche begeben, legen sie ihre speziellen Sandanzüge an und folgen den kaum wahrnehmbaren Spuren der PMC’s im tiefen Sandmeer. Durch eine spezielle mentale Technik können sie ihre Augen so modifizieren, dass sie in den Tiefen des Sandozeans zu sehen in der Lage sind.
In den vorangegangenen Jahrhunderten verfeinerten die Bewohner von Blueeye das Aufspüren von PMC’s zu einer Kunst. So waren sie in der Lage, das Imperium stets mit PMC’s zu versorgen, obwohl die Nachfrage nach den Wesen nie auch nur annähernd gedeckt werden konnte. In der Folge dieses Monopols blieb der Preis für PMC’s stets hoch und die Bewohner von Blueeye ermöglichten sich auf diese Weise über die Jahrhunderte hinweg einen bescheidenen Wohlstand. Es gab von außen viele Versuche, das Monopol zu brechen, sei es durch technologische Innovationen die Jagd betreffend, oder durch Experimente, PMC’s auf anderen Welten anzusiedeln. Alle Versuche scheiterten jedoch, so dass der Berufsstand der PMC-Jäger, als ich geboren wurde, nach wie vor zu den angesehensten des Planeten gehörte. Es erfüllte mich mit großem Stolz, dass mein eigener Vater dieser privilegierten Berufsgruppe angehörte.
Hin und wieder besuchten meine Eltern mit mir das PMC-Museum New Kingstones, in dem es alles über die Biologie der PMC’s und die Geschichte der PMC-Jagd zu erfahren gab. Im Eingangsbereich war jedes Mal ein anderes PMC-Prachtexemplar ausgestellt, das mit seinem Gesang die hereinströmenden Museumsbesucher verzauberte. Meine Eltern verweilten aber stets nur kurz bei dem Geschöpf. Ihre Mienen wurden meist traurig und schnell zogen sie mich weiter. Ich war darüber irritiert, denn ich erfreute mich immer an den schönen Wohlklängen und konnte die gedrückte Stimmung meiner Eltern nicht einordnen. Später sollte ich den Grund dafür erfahren.
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Seit Zehntausenden von Jahren findet im Imperium der Menschen alle sieben Jahre ein spektakuläres Ereignis statt. Es ist der populärste und älteste Wettbewerb in der Geschichte der Menschheit. Es handelt sich um ein Wettrennen. Viele nennen es das Rennen aller Rennen, die Königin der Wettkämpfe, das ultimative Spiel. Es ist das Hadesrennen. Die Lympischen Spiele auf der verlassenen Alten Erde waren in ihrer Popularität und Intensität des Miterlebens nichts im Vergleich zu diesem Ereignis. Dem tödlichen Wettstreit fiebern viele Billionen Untertanen des Sternenimperators schon Jahre im voraus mit Ungeduld entgegen. Sie sind bereit, sich hoffnungslos zu verschulden, indem sie riskante Wetten auf ihre Favoriten abschließen.
Während des Rennens klinken sich Abermilliarden von Menschen aus ihrem Leben aus und in das Hadesrennen ein, damit sie jeden Augenblick des Kampfes der sieben Hadesfighter auf Leben und Tod auskosten können. Ist die Existenz eines gewöhnlichen Bürgers grau, langweilig und öde, so kann er während der Wettkampftage seiner privaten Tristesse entfliehen und nervenzerreißende Abenteuer erleben, die ihm sonst nie zuteil würden. Denn die sieben Athleten sind zu jedem Zeitpunkt des Rennens von Myriaden winzigster Sensoren umgeben, die sie unsichtbar umschwirren und sogar unbemerkt in ihre Körper eindringen, um alle verfügbaren Daten einzusammeln. Diese werden dann zu orbitalen Übertragungsstationen geschickt, von wo aus sie instantan in jeden Winkel des Imperiums gesendet werden. Es handelt sich um optische Daten aus allen möglichen Perspektiven und Entfernungen, um olfaktorische und haptische Informationen, um Daten über die biologischen Funktionen und Empfindungen der Kämpfer wie zum Beispiel Herzfrequenz, Atmung, Schweißproduktion, Körpertemperatur, Schmerz, Durst, Hunger und Müdigkeit. Auch geographische und meteorologische Informationen reihen sich in den gigantischen Datenstrom ein sowie Daten zu Nahrungsmittelvorräten, verwendeten Waffen, Zustandsbeschreibungen von Kampfausrüstungen und Fahrzeugen, Flugbahnen und Reichweiten von Projektilen.
Die umfassende Verfügbarkeit der Wettkampfdaten ermöglicht jedem Zuschauer eine Unmittelbarkeit und Nähe am Wettkampfgeschehen, welche dem realen Teilnehmen äußerst nahe kommt. Deswegen ist es eigentlich unangemessen, wenn man von Zuschauern und vom Zuschauen spricht. Die Umschreibungen ‘Miterleber’ und ‘Miterleben’ treffen die Teilnahme der Bevölkerung am Wettkampf besser. Trotzdem hat sich bis heute die Bezeichnung ‘Zuschauer’, die noch aus den frühen Tagen des Hadesrennens stammt, erhalten.
Andererseits vollzieht sich der Datentransfer nur in einer Richtung. Darauf wird von der Wettkampfleitung seit jeher streng geachtet, denn es soll definitiv ausgeschlossen werden, dass die Wettkämpfer während des Rennens von außen beeinflusst werden oder gar Hilfe erhalten. In der langen Geschichte des Hadesrennens ist kein einziger offizieller Fall einer solchen Einflussnahme von außen auf das Rennen bekannt geworden. Nichtsdestoweniger halten sich hartnäckig Gerüchte darüber, dass es bei einigen wenigen Rennen zu illegalen Versuchen der Beeinflussung gekommen sein soll, die aber jedes Mal durch die Wettkampfleitung aufgedeckt worden seien. Die Verantwortlichen seien in jedem Fall durch die Imperialen Behörden aufgespürt, grausam verhört und anschließend in aller Heimlichkeit liquidiert worden.
Ich war 12 Jahre alt, als ich zum ersten Mal in meinem Leben ein Hadesrennen, es war das 5426. seiner Art, bewusst miterlebte. Kinder dürfen noch nicht auf die volle Bandbreite der Informationen aus dem Wettkampfgeschehen zugreifen, damit ihre geistige Entwicklung keinen Schaden nimmt. Ihre maximale tägliche Teilnahmedauer wird behördlich streng reglementiert. Die ihnen zugänglichen Daten werden so stark gefiltert, dass keine Gefahr des Abgleitens in eine Sucht besteht. Trotzdem gab und gibt es immer wieder Versuche von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, die Sicherungsprogramme auszuhebeln. Schon viele mussten ihren Leichtsinn mit geistiger Verwirrung bezahlen, denn der ungefilterte Datenstrom vom Hadesrennen manifestiert sich zu einem derart intensiven persönlichen Erlebnis, dass er wie eine psychische Bombe in die Seele eines Kindes einschlägt - mit entsprechenden geistigen Verwerfungen.
Wie die meisten Kinder ließ auch ich mich schon Monate vor Beginn des Kampfes von der allgemeinen Begeisterung mitreißen und fieberte den dramatischen Ereignissen entgegen. Als es dann aber endlich soweit war, ich das helmartig geformte Interface aufsetzte und die gefilterten Ereignisse auf Hades wahrnahm, war es für mich doch recht enttäuschend. Irgendwie sprachen mich die Geschehnisse nicht an. Ich verfolgte anfangs zwar den Rennverlauf, insbesondere die Kämpfe zwischen den Athleten, doch war das Ganze zu weit weg, zu weit entfernt von meinem Erfahrungshorizont, als dass es mich gefesselt oder gar fasziniert hätte. Sehr zur Verwunderung meiner Eltern legte ich das Interface bald beiseite und wandte mich den Dingen zu, die mir etwas bedeuteten. Vermutlich war ich damals von meiner Entwicklung her noch nicht reif für das Hadesrennen. Ich war lieber in der Natur und lebte dort in meiner geheimnisvollen Welt der kindlichen Wunder.
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Meine Welt, das waren die Tiefen unter den weiten Schwinggrasebenen, die am östlichen Stadtrand von New Kingstone begannen. Von hier aus unternahm ich heimlich meine ersten Sandmeerausflüge und stellte mit großer Genugtuung fest, dass es mir ohne persönliche Anleitung durch einen erfahrenen Sandtaucher gelang, im Sand zu überleben, mich darin fortzubewegen und vor allem, mich darin zu orientieren. Kindern war es streng verboten, im Sand zu tauchen, weil es schon so viele tödliche Unfälle gegeben hatte. Erst ab einem Mindestalter von 15 Jahren wurden Jugendliche behutsam und in vielen Trainingssstunden in die Technik des Sandtauchens unterwiesen, denn die Gefahren im Sandmeer sind vielfältig und stellen oft tödliche Bedrohungen dar. Aus diesem Grunde erzählte ich niemandem von meinen heimlichen Ausflügen. Nicht mal meinen Eltern, denn ich befürchtete, sie würden mir die Ausbildung zum PMC-Jäger verweigern, wenn sie erführen, dass ich mich derart verantwortungslos über wesentliche Sandtauchergebote hinweggesetzt hatte.
Trotz aller Gefahren und Gewissensbisse streifte ich mir regelmäßig den Digger, so hieß der Sandtauchanzug damals, über und ließ mich in die lockende dunkle Welt des Sandozeans hinabgleiten. Die ersten Tiefenmeter waren anstrengend zurückzulegen. In zirka 30 Metern Tiefe jedoch setzten die Strömungen ein und trugen mich an immer neue Orte rauschender Sandeinsamkeit. Meine tiefsandadaptierten Augen erfreuten sich an der braunen Farbenvielfalt dieser unterirdischen Welt. Stundenlang hielt ich mich in der Tiefe auf und erkundete die fremdartige unterirdische Landschaft. Nur selten begegnete ich PMC-Wesen. Meistens entfernten sie sich rasch, wenn sie meine Nähe registrierten. Wenn ich mich nicht bewegte, konnte es aber geschehen, dass sie mir nahekamen und einen Augenblick verharrten, ehe sie mit elegantem Schwung davonsirrten. Auf diese Weise wurde aus mir im Laufe der Monate ein recht erfahrener Sandtaucher - ein Geheimnis, das ich niemandem anvertrauen durfte.
Auf meinen kindlichen Ausflügen in den Sandozean entdeckte ich noch ein weiteres Geheimnis:
Es war an einem kalten stürmischen Herbsttag, und meine Eltern waren mit anderen Bürgern New Kingstones nach Leaktown, der Provinzhauptstadt, gefahren, um Einzelheiten der Preisgestaltung bei den sehr seltenen Gelbzweig-PMC’s mit den lokalen Regierungsbehörden auszuhandeln. Von den nahen Bergen wehte ein kräftiger feuchter Wind, der wie jedes Jahr um diese Zeit die Gerüche der blühenden Keelbeersträucher in die Ebene trug. Nach der Schule begab ich mich zum südlichen Stadtrand, holte meinen Digger aus einem Baumversteck heraus, zog ihn an und ließ mich durch ein schon vor Monaten ausgehobenes Erdloch in die Tiefe hinab.
Zu meiner angenehmen Überraschung setzten an diesem Tag die Strömungen schon in recht geringer Tiefe ein, so dass mir der kräftezehrende Abstieg zu großen Teilen erspart blieb. Außerdem waren die Strömungen ungewöhnlich stark. Sie zogen mich schnell mit sich, und so befand ich mich bald in fremden Sandarealen, deren Farbkompositionen ich noch nie vorher gesehen hatte. Von euphorischer Abenteuerlust getrieben vergaß ich meine sonst übliche Vorsicht und überließ mich dem berauschenden Sandfarbenspiel. Die Strömungen vergrößerten ihren Gradienten und führten mich immer tiefer. So kam es, wie es kommen musste: Ich verlor die Orientierung. Nach zwei Stunden hatte ich mich restlos verirrt und konnte kaum abschätzen, in welcher Tiefe ich mich befand. Letzteres war besorgniserregend, denn wenn ein Sandtaucher nach oben zur Oberfläche aufsteigt, muss er das Strömungssystem verlassen und sich mit eigener Kraft durch den nach oben hin immer fester werdenden Sand durcharbeiten. Schon viele Sandtaucher sind dabei zu Tode gekommen, weil ihre Kraft nicht ausreichte, die Schichten zu durchdringen. Letztendlich blieb auch mir, wenn ich heil nach Hause kommen wollte, keine andere Wahl als zu sandzuklettern - so wird das senkrechte Aufsteigen im Blueeyeschen Sandmeer seit jeher genannt. Glücklicherweise hatte mich die letzte Strömung ein beträchtliches Stück nach oben gebracht, so dass ich das Sandklettern problemlos bewältigen konnte.
In unmittelbarer Oberflächennähe stieß ich auf ein großes Objekt, das ich nie zuvor gesehen hatte. Schon aus mehreren Metern Entfernung, noch bevor es überhaupt sichtbar wurde, nahm ich seine Präsenz wahr. Vorsichtig näherte ich mich ihm von schräg unten. Es war von einer Aura umgeben, die mich in einen seltsamen Bann zog. Wie ein starker Magnet, der nicht auf Metall, sondern auf meine Seele einwirkte, zog es mich an. Es war recht groß. Ich berührte seine glatte metallische Oberfläche mit den behandschuhten Händen - und augenblicklich durchströmte mich ein wohliges wärmendes Gefühl. Fasziniert und hingerissen umrundete ich das etwa vier Meter hohe zylinderförmige Ding im oberflächennahen Sand. Sein Durchmesser betrug etwa drei Meter. Es hatte an einer Seite Rillen, die offenbar einen Eingang markierten. Unmittelbar daneben blinkten farbige Lichter rhythmisch auf. Ich konnte mir nicht erklären, um was es sich handelte, warum und wie lange es sich schon, unbemerkt von den Menschen, im Sand nahe New Kingstone befand.
Da es schon Abend wurde, meine Eltern bestimmt bald nach Hause zurückkehrten und ich keinen Wert darauf legte, einer strengen elterlichen Befragung unterzogen zu werden, riss ich mich von dem rätselhaften Objekt los und legte hastig die wenigen letzten Meter bis zur Erdoberfläche zurück. Mein Ausflug hatte mich an den nordwestlichen Rand New Kingstones geführt, von wo aus ich leicht zu meinem Elternhaus zurückfand. Mutter und Vater erzählte ich nichts von meinem Beinaheunglück und auch nichts von meinem geheimnisvollen Fund im Sand.
In den nächsten Tagen, Wochen und Monaten suchte ich heimlich, so oft ich Zeit hatte, den fremdartigen grauglänzenden Zylinder auf. In seiner Nähe spürte ich stets ein unerklärliches Wohlbefinden. Als Kind machte ich mir darüber jedoch weiter keine großen Gedanken und nahm das angenehme Gefühl einfach als gegeben hin. Es gehörte wie selbstverständlich zu dem Objekt. Natürlich interessierte es mich brennend, was es mit dem geheimnisvollen Ding auf sich hatte. So stöberte ich immer wieder stundenlang in allen mir als Kind zugänglichen KI-Datenbanken und elektronischen Archiven von Blueeye nach Hinweisen auf die Herkunft und den Zweck des Objektes im Sand. Aber meine Suche blieb erfolglos. Der große Zylinder bewahrte beharrlich sein Geheimnis vor mir. Auch das Rätsel der blinkenden Lichter an seiner Außenwand konnte ich nicht lösen. Noch war es mir möglich, ihn zu öffnen und in ihn einzudringen. Meine Eltern zu fragen traute ich mich nicht, denn das hätte das Eingeständnis meiner heimlichen Sandtaucherei bedeutet, was ich auf jeden Fall vermeiden wollte. In der Nachschau heute ist mir klar, dass mein Vater mit seinem Wissen damals das Geheimnis mit Sicherheit gelüftet hätte.
Nach Wochen ergebnisloser Nachforschungen gab ich schließlich auf. Ich akzeptierte das Objekt einfach in seiner Existenz. Regelmäßig besuchte ich es auf meinen Sandausflügen. In seiner Nähe konnte ich mich wunderbar entspannen und neue Kraft schöpfen. Der Zylinder wurde im Laufe der nächsten Jahre zu einer geschätzten Selbstverständlichkeit, zu meinem ganz privaten Zufluchtsort, den ich mit niemandem teilte.
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Die ganze Geheimniskrämerei um meine private Sandtaucherei fand ihr natürliches Ende, als ich meinen fünfzehnten Geburtstag feierte und danach in die offizielle Sandtaucherausbildung eintrat. Eigentlich hatte ich sie kaum noch nötig, aber das konnte ich ja niemandem mitteilen. Meine Trainer wunderten sich über meine angeblich schnellen Lernfortschritte, zogen daraus aber die falschen Schlüsse. Sie hielten mich für besonders begabt und lobten mich bei meinen Eltern. Diese freuten sich sehr über mich und schenkten mir stolz ihr strahlendstes Lächeln, was mir die Schamesröte ins Gesicht trieb. Glücklicherweise interpretierten sie mein Erröten als Ausdruck meiner bescheidenen Verlegenheit.
Nach der Sandtaucherausbildung, die ich mit ordentlichem Erfolg absolvierte, organisierte mein Vater für mich die weitaus schwierigere Schulung zum PMC-Jäger. Hier verfügte ich gegenüber meinen Mitschülern über keinerlei Vorsprung an Fähigkeiten und Wissen. Ich stellte mich dabei auch nicht sonderlich klug oder befähigt an, so dass ich alles in allem nur ein recht mittelmäßiger Lehrling war. Im Gegensatz zu meiner Mitschülerin Minea.
Minea kam aus der Stadt Leaktown. Sie war mit ihren 18 Jahren ein Jahr älter als ich. Ihre Eltern arbeiteten beim Luftverkehrsüberwachungsamt der Stadt Leaktown. Minea war das älteste von drei Geschwisterkindern, äußerst ehrgeizig und hochintelligent. Sie wollte unter allen Umständen ihren Traumberuf der PMC-Jägerin erlernen. Schnell stellte sich während der harten Trainingsstunden im Sandmeer heraus, dass sie außerordentlich begabt war. Während die meisten Adepten so wie ich an den unterirdischen Kreuzungen zögerten und fieberhaft darüber nachgrübelten, welche Abzweigung die Gruppe der vorauseilenden PMC-Wesen wohl genommen haben könnte, hatte sie ein feines Gespür für deren Wanderwege und wählte traumwandlerisch sicher die richtige Fährte. Minea war der unbestrittene Liebling der Ausbilder und die strahlende Favoritin der meisten männlichen Adepten. In den Pausen war sie stets von einem Schwarm Verehrer umgeben, was sie sichtlich genoss. Mich nahm sie so gut wie gar nicht wahr, was mich, zugegeben, ganz schön wurmte. Um ihre Aufmerksamkeit zu erregen, vollführte ich, als wir in Trainingsformationen im Sandozean unterwegs waren, hin und wieder kleine akrobatische Kabinettstückchen, die ich mir vor Jahren selbst beigebracht hatte und von denen ich glaubte, dass sie recht ansehnlich seien. Aber Minea gab mir mit keiner Geste zu verstehen, dass sie meine Tricks wahrgenommen hätte. Wohl aber meine männlichen Mitkonkurrenten.
„He, Leij,“ rief mir Gerond, ein breitschultiger Hüne von den Nördlichen Salzebenen, über zwei Tische hinweg mit seiner alles übertönenden Stimme zu, als unsere Ausbildungsgruppe nach einem strapaziösen Ausbildungsgang beim Abendessen zusammensaß, „mach doch mal das Kunststück mit der dreifachen Pirouette und dem eingedrehten Salto hier oben vor! Ich finde, dass es heute morgen im Sand ziemlich plump aussah - so wie ein Knollenkäfer beim Verdauungsgang!“
Gerond genoss das schallende Gelächter der PMC-Jägeradepten.
Ich spürte, wie mir das Blut in die Wangen schoss und suchte krampfhaft nach einer angemessenen Antwort. Schließlich sagte ich mit schwächlicher Stimme: „Es ist einfach, etwas lächerlich zu machen. Du kannst das Kunststück morgen ja mal vorführen. Dann können wir ja sehen, ob es bei dir weniger plump aussieht.“
„Sieh mal an, der große Sandkünstler!“ tönte Gerond und zog damit die ungeteilte Aufmerksamkeit aller auf sich, „Ich wette, dass ich dich in Sachen Beweglichkeit und Schnelligkeit im Sand um Längen schlage. Wenn es um PMC’s geht, kommt es nämlich nicht auf Akrobatik, sondern vor allem auf Geschwindigkeit und schnelles Handeln an. Und ich wüsste nicht, wie du mir da das Wasser reichen könntest!“
Neidisch nahm ich aus den Augenwinkeln wahr, wie Minea an Geronds Lippen hing. Und dumm wie ich damals war, tappte ich prompt in seine Falle hinein. Da ich sicher glaubte, schneller und wendiger als Gerond zu sein, antwortete ich selbstbewusst: „Ach, alles nur Gerede am gedeckten Tisch und nichts dahinter. Du bist ja nur neidisch auf mich. Du weißt ganz genau, dass du in den Tiefenströmungen keine Chance gegen mich hast!“
Gerond lachte provozierend: „Na ja, das käme auf einen Test an. Was hältst du davon: Du und ich, wir treffen uns morgen Abend nach der Ausbildung im Fidschi-Tiefsand. Wer die Hankok-Sandschnellen langsamer überwindet, schuldet dem Sieger ein Glaswzeig-PMC.“
Glaszweig-PMC’s sind sehr seltene PMC’s, deren Tarnung infolge ihrer fast durchsichtigen zweigartigen Körperstrukturen perfekt ist, so dass PMC-Jäger sie kaum aufspüren können. Für Glaszweig-PMC’s werden auf dem Schwarzmarkt horrende Preise gezahlt, so dass dem Sieger dieses privaten Wettstreites ein attraktiver Preis winkte. Nur zu gern willigte ich ein.
So verabredeten wir uns für den nächsten Abend am abgelegenen Schacht 157A, der direkt zum Fidschi-Tiefsand hinabführte. Minea erklärte sich bereit, den Wettkampf zu überwachen. Nun hatte ich endlich ihre Aufmerksamkeit auf mich gezogen. Beim Gedanken daran begann mein Herz aufgeregt zu klopfen.
Der darauffolgende Ausbildungstag bestand vornehmlich in theoretischer Unterweisung, der uns körperlich nicht viel abverlangte, so dass wir abends relativ ausgeruht waren. Die Stimmung in der Klasse war heiter und ausgelassen, denn es lockte die Aussicht auf einen spannenden Zweikampf.
Abends trafen wir uns alle wie vereinbart am Eingang des Schachtes 157A. Schweigend legten wir unsere Sandanzüge an. Wir kontrollierten gründlich den festen Sitz aller Komponenten, testeten die Funktionsfähigkeit aller Sensoren und Anzeigen im Helmdisplay und ließen uns dann in die dunkle Welt hinab. In 45 Metern Tiefe begann der Fidschi-Tiefsand mit seinen berüchtigten schnellen und tückischen Strömungen, die man auf Blueeye immer schon Sandschnellen nennt. Minea blieb in unserer unmittelbaren Nähe, um einen fairen Rennbeginn sicherzustellen. Am Ausgangspunkt der Hankok-Schnellen gab sie das Startzeichen über Interkom.
Voll auf meine in langen Trainingsstunden erworbenen Fähigkeiten vertrauend überließ ich mich widerstandslos der sofort einsetzenden enorm starken Strömung. Wenn immer es möglich war, beschleunigte ich zusätzlich mit Armen und Beinen. In etwa drei Metern Entfernung und gleichauf mit mir glitt Gerond dahin. Immer wieder änderte die Strömung abrupt die Richtung. Manchmal taten sich Verzweigungen auf, die blitzschnelle Entscheidungen erforderten, wollte man nicht in turbulente und damit lebensgefährliche Bereiche der Hankok-Schnellen geraten. Wir mussten unsere ganze Erfahrung, unser ganzes Wissen, unsere volle Reaktionsgeschwindigkeit und alle Körperkräfte einsetzen, um den rasanten Parcours zu meistern. Nach etwa zehn Minuten hatte noch keiner von uns beiden einen merklichen Vorsprung vor dem anderen erzielt.
Dann geschah die Katastrophe: Mein Digger geriet außer Kontrolle.
Ein Sandanzug ist ein hochkomplexes Kleidungsstück und ein Meisterwerk menschlicher Ingenieurskunst. Er umschließt den Körper des Sandtauchers wie eine enge Haut. Obwohl federleicht zu tragen beherbergt er doch eine Unzahl elektronischer und nanomechanischer Systeme, die das Überleben des Sandtauchers, seine Orientierung und seine Fortbewegung ermöglichen. Durch katalysierte osmotische Prozesse entzieht er zum Beispiel den vielen winzigsten Hohlräumen in der unmittelbaren Umgebung den Sauerstoff, so dass der Taucher ausreichend mit Atemluft versorgt wird. Ein ausgeklügeltes Klimasystem sorgt für angenehme Temperatur- und Luftfeuchtigkeitswerte im Innern. Unzählige Sensoren auf der Außenoberfläche des Anzuges registrieren ständig sowohl die Partikelgeschwindigkeiten als auch die Druckverhältnisse und geben die Daten an den im gesamten Anzug verteilten Computer weiter, der daraus ein zuverlässiges Strömungsprofil des Sandes errechnet. Sämtliche Daten und Berechnungsergebnisse stehen dem Sandtaucher auf dem Helmdisplay augenblicklich zur Verfügung und gewährleisten, dass er angemessen auf die kaum vorhersehbaren ‘Wetter’ im Sandozean reagieren kann. Außerdem ist die Anzughaut mit einem Stabilisatornetz aus Stahlplast durchwirkt, so dass der Taucher durch den enormen Druck in der Tiefe nicht zerquetscht wird.
Ich wich im letzten Moment einer Sandturbulenz aus, als ich feststellte, dass das Helmdisplay unmögliche Daten anzeigte. Direkt neben mir befand sich eine Festsandader, an der ich mich in sicherem Abstand mit hoher Geschwindigkeit vorbeibewegte. Der Sandanzugcomputer gab jedoch an, dass sich genau dort eine laminare Strömung ausbildete, die ich nutzen sollte, um rascher vorwärtszukommen. Wäre ich dem Vorschlag gefolgt, würde ich heute diese Zeilen wohl nicht schreiben, denn eine Kollision mit einer Festsandader mit einer derartig hohen Geschwindigkeit endet mit großer Wahrscheinlichkeit tödlich. Schockiert drosselte ich die Geschwindigkeit, was zur Folge hatte, dass ich augenblicklich hinter Gerond zurückfiel und ihn Sekunden später aus den Augen verlor. Trotz erfolgter Abbremsung zog mich die starke Strömung mit hoher Geschwindigkeit voran. Schlagartig häuften sich kurz darauf die verwirrenden Fehlanzeigen im Helmdisplay, was dazu führte, dass ich unfreiwillige Pirouetten und Salti drehte, während mich die Hankok-Sandschnellen unerbittlich mitrissen.
Panik ergriff mich. Einen defekten Digger hatte ich noch nie erlebt, denn ihre Technik arbeitet zuverlässig und präzise. Man konstruiert sie absolut sicher und wartet sie regelmäßig mit penibler Gründlichkeit, denn der Sandtaucher vertraut ihr sein Leben an. Was ich jetzt im Sand erlebte, konnte eigentlich gar nicht sein. Aber das Versagen des Anzugs war grausame Realität. Nach wenigen Minuten war ich ohne die Unterstützung des Systems fast hilflos. Es ging für mich nun nicht mehr um den Gewinn des Rennens zweier heißblütiger PMC-Jägeradepten, sondern nur noch um das nackte Überleben. Verzweifelt versuchte ich, einen Ausgang aus dem lebensbedrohenden Labyrinth zu finden. Doch dies war ohne die Orientierungshilfen des Anzugsystems ungemein schwierig. Ich fühlte mich wie amputiert. Schreckliche Angst bemächtigte sich meiner. Mehrere Male kam ich Festsandformationen und manchmal sogar Felsen bedrohlich nahe, so dass ich meine ganze Geschicklichkeit aufbringen musste um nicht zu kollidieren.
Schließlich gelang es mir jedoch, ich weiß heute immer noch nicht wie, in eine relativ langsame laminare Seitenströmung hineinzugelangen, die aufwärts führte. Einige Minuten später war die schlimmste Gefahr überstanden, denn die Sandschnellen endeten nach ein paar Hundert Metern. So konnte ich mich an den mühsamen aber relativ gefahrlosen Aufstieg machen, für den die Anzugssensorelektronik keine entscheidende Bedeutung hatte. Eine riesengroße Erleichterung überkam mich, als ich realisierte, dass ich überleben würde. Das Rennen war zwar verloren, aber das war nun zur Nebensache geworden. Wenig später erreichte ich ausgepumpt aber glücklich die Oberfläche. Halifax Eta berührte gerade den Horizont und überflutete mit seinem roten Licht die weite Schwinggrasbene.
Schacht 157A befand sich in etwa 8 Kilometern Entfernung. Mit Hilfe des DLogs rief ich meinen PT, meinen Personal Transporter. Nach ein paar Minuten traf er ein und brachte mich leisem Summen zum Schacht 157A. Dort erwartete mich Entsetzen.
Um den Schachteingang herum standen schweigend die Schüler meiner Klasse in einer Traube zusammen, mir den Rücken zugewandt. Als sie meine Ankunft bemerkten, blickten sich einige von ihnen zu mir um. Ihre Gesichter waren maskenhaft starr. Als ich zu ihnen trat, öffnete sich die Gruppe wie eine schwarz aufblühende Blume, so dass ich ins Zentrum gelangen konnte. In der Mitte kniete Minea. Sie kniete über einem am Boden auf dem Rücken liegenden Menschen. Sie hob ihren Kopf und blickte mich an. Ihr Blick war eine stumme Anklage. Mir fuhr es eiskalt über den Rücken. Als sie sich langsam aufrichtete, gab sie den Blick auf den leblosen Körper unter ihr frei. Es war Gerond. Sein Helm war an der rechten Seite seines Gesichtes aufgerissen. Der gewaltige Druck des Tiefsandes hatte ungehindert auf Geronds Kopf einwirken können und ihn zerquetscht. Gerond war tot.
Minea schaute mich mit tödlich kaltem Blick an. Ein Blick, der mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Es war totenstill, bis auf das feine Rascheln der Schwinggräser im schwachen Abendwind. Noch heute erinnere ich mich in allen Einzelheiten an diesen Moment leise raschelnder Stille im blutroten Licht der untergehenden Sonne Halifax Eta, als die schöne Minea mich leise fragte und ihre kaum zu vernehmende Stimme doch laut wie ein Schrei war: „Hast du ihn getötet, Leij?“
„Nein, nein, nein!“ stammelte ich, „Wieso ist er tot? Was ist passiert? Ich habe damit nichts zu tun!“
„Wo warst du die ganze Zeit? Warum haben wir die ganze Zeit nichts von dir gehört? Bist du abgehauen?“
„Nein, nein und nochmals nein!“ schrie ich ich entsetzt auf. Sie verdächtigten mich tatsächlich des Mordes an Gerond. „Ich habe ihn nicht getötet! Mein Digger wurde in den Hankok-Schnellen defekt, so dass ich fast selbst ums Leben gekommen wäre. Ich bin vor ein paar Minuten durch schieres Glück nach oben zurückgekehrt!“
Mineas Worte zerschnitten die Stille wie Messer: „Das glaubst du doch wohl selbst nicht! Anzug defekt! Das habe ich ja noch nie gehört! Eine bessere Ausrede hast du nicht?“
Dann war es mit ihrer Kraft zu Ende. Sie brach in Tränen aus und warf sich mit einem gequälten Aufschrei über den toten Gerond.
Ich konnte nicht länger bleiben. Das war alles zu viel für mich. Ich drängte mich nach außen durch die anklagende Mauer meiner Mitschüler, ging zu meinem PT, stieg ein und ließ mich zur Unterkunft bringen. In meinem Zimmer angekommen stillte ich meinen quälenden Durst, duschte danach ausgiebig und ließ mich anschließend todmüde aufs Bett fallen. Nach zwei Stunden wachte ich schweißgebadet auf und konnte nicht wieder einschlafen. Ich kleidete mich an, ging nach draußen und verbrachte die Nacht mit ruheloser Wanderung unter den Sternen Blueeye’s.
Am nächsten Tag wurde ich verhört. Mein Sandanzug wurde beschlagnahmt und einer gründlichen Prüfung unterzogen. Es stellte sich heraus, dass meine Aussagen der Wahrheit entsprachen. Außerdem kam zutage, dass mein Digger vor dem Wettkampf manipuliert worden war. Das erschreckte mich zutiefst.
Geronds Anzug hingegen war zu dem Zeitpunkt, als er verunglückte, in einwandfreiem Zustand. Die Rekonstruktionen aufgrund der aufgezeichneten Anzugsdaten ergaben, dass Gerond offenbar aufgrund einer Fehleinschätzung bei großer Geschwindigkeit mit dem Kopf gegen einen scharfkantigen Felsen geprallt war. Der Felsen hatte den Helm aufgerissen, was Geronds sofortigen Tod durch übermäßige Druckeinwirkung zur Folge hatte. Minea empfing sein Anzug-Notsignal und eilte, so schnell sie konnte, durch die Schnellen zu dem Verunglückten. Sie kam viel zu spät und konnte lediglich den Leichnam bergen.
Minea besuchte mich nach zwei Tagen in meinem Zimmer und bat mich um Verzeihung für ihre geäußerten Anschuldigungen. Aber ihr steinerner abwesender Blick strafte ihre Worte Lügen. Sehr förmlich akzeptierte ich ihre Entschuldigung. Als sie gegangen war, konnte ich meine Tränen nicht länger zurückhalten.
Drei Tage nach Geronds Beerdigung suchte mich Peetjum auf, einer aus seinem engsten Freundeskreis. Er sagte, dass ihm sein Gewissen keine Ruhe lasse. Dann vertraute er mir an, dass Gerond am Vorabend des Unglückstages heimlich meinen Sandanzug manipuliert habe. Er, Peetjum, wisse davon, weil Gerond sich mit seiner Tat vor seinen Freunden gebrüstet habe. Gerond habe aber nie vorgehabt, mir schweren Schaden zuzufügen. Er habe mir nur einen kleinen Schrecken einjagen wollen. Ich dankte Peetjum für seine Informationen. Bevor er wegging, umarmte ich ihn. Monate später schlossen wir eine zaghafte Freundschaft. Peetjums Geständnis behielt ich für mich, denn ich wollte dem Ansehen des verstorbenen Gerond keinen Schaden zufügen. So wurde die Manipulation meines Sandanzuges offiziell nie aufgeklärt.
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Vor dem tragischen Unglücksfall war meine Ausbildungsklasse eine strahlende gewesen. Wir pflegten einen freundlichen, ja fast kameradschaftlichen Umgangston mit unseren Lehrern. Meistens war die Stimmung unter den Schülern von fröhlicher Leichtigkeit geprägt. Wir waren stolz, dass wir den angesehenen Beruf des PMC-Jägers erlernen durften, einen Beruf, der uns auf Blueeye ein finanziell abgesichertes Leben bei hoher gesellschaftlicher Akzeptanz ermöglichen würde. Wir waren stolz auf unsere Jagdfähigkeiten und sonnten uns im Bewusstsein unserer jugendlichen Kraft.
Nach Geronds Tod änderte sich das alles. Unsere sorglose Unbekümmertheit war von einem auf den anderen Tag dahin. Unser wissbegieriges optimistisches Streben nach Erweiterung der Fähigkeiten bei der PMC-Jagd verwandelte sich in eine verbissene Paukerei und Schinderei. Der Umgangston der Ausbilder uns gegenüber wurde förmlich und rauher. Gnadenlos peitschten sie uns durch die noch verbliebenen Stationen unser Ausbildung. An manchen Tagen stellten sie uns im Sandozean fast unmöglich zu lösende Jagdaufgaben und hetzten uns derart, dass wir abends nur noch todmüde ins Bett fielen. Trotzdem beschwerte sich niemand darüber. Geradezu verkrampft eifrig büffelten wir Mathematik, Quanteninformatik, Nanophysik, Geologie, Tiefsandchemie, PMC-Jagdtechnik, Interplanetarwirtschaft, Jura galactica und Medizin und ließen in Klausuren niemanden abschreiben. Wir wurden zu einer grimmig entschlossenen Gruppe von Einzelkämpfern, die kein noch so guter Ausbildungserfolg wirklich freuen konnte. Zu sehr lasteten die tragischen Geschehnisse in den Hankok-Sandschnellen auf unseren Seelen. Und niemand von uns fand die Kraft, die Klasse zusammenzubringen, um eine Klärung der gegenseitigen unausgesprochenen Verdächtigungen herbeizuführen.
Im Alter von 18 Jahren legte ich meine Prüfung zum PMC-Jäger ab. Unsere letzte und schwerste Prüfungsaufgabe bestand darin, ein PMC-Wesen alleine zu fangen, ohne fremde Unterstützung. Vielen Prüfungskanidaten ist es nicht vergönnt, diese schwierige Hürde zu überwinden. Sie dürfen dann ein Ausbildungsjahr wiederholen. Schaffen sie es erneut nicht, können sie nie mehr PMC-Jäger werden. Ich bewältigte die Aufgabe ohne große Mühe, weil ich einfach schieres Glück hatte. Kurz nachdem ich in den Tiefsand eingestiegen war, tauchte wie aus dem Nichts direkt vor mir eines der seltenen Glaszweig-PMC’s auf und verharrte reglos etwa einen Meter vor mir. Es war kinderleicht, es einzufangen. Der Fund brachte mir viel Anerkennung bei meinen Mitschülern ein aber auch bei der Ausbildungsleitung, zumal es sich bei dem PMC um ein großes und besonders transparentes Exemplar handelte. Ich durfte es behalten und mit nach Hause nehmen.
Zu Hause angekommen gaben meine Eltern mir zu Ehren ein großes Fest, war ich doch mit Bestehen der Abschlussprüfung in den Kreis der Erwachsenen eingetreten. Zu dem Fest erschienen viele Verwandte, Nachbarn und Freunde aus Kindheitstagen. Sie überschütteten mich mit Glückwünschen und Geschenken. Aus meiner Ausbildungsklasse erschien jedoch niemand, was mich aber nicht bekümmerte. Mein Glaszweig-PMC stellte ich in mein Zimmer und lauschte, so oft ich Zeit hatte, seinem wunderschönen verträumten Gesang. Nach drei Wochen beendete es seinen Gesang und ging ein paar Tage später ein. Ich hob im Garten ein tiefes Loch aus und legte es behutsam hinein. Dann bedeckte ich es mit Sand aus dem Fidschi-Tiefsand.
Ein paar Tage später begann mein Berufsleben als PMC-Jäger. Man ordnete mich einer Gruppe aus drei Jägern zu, die schon mehrere Jahre Berufserfahrung hatten. Von ihnen lernte ich schnell alle ausgefeiltesten Tricks, um mit wenig Aufwand effektiv an die begehrte Beute zu gelangen. Stets jagten wir im Team. Bald waren wir so gut aufeinander eingespielt, dass wir uns fast ohne Worte verstanden. Wir waren sehr erfolgreich und brauchten den Vergleich mit wesentlich älteren Teams nicht zu schauen. Als ein Jahr vergangen war, quälten mich die traurigen Erinnerungen aus meiner Lehrzeit nur noch sehr selten, denn die Zeit und das Leben hatten ihren schützenden Mantel des Vergessens über das Geschehene gelegt.
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Es gibt nur wenige Ereignisse im Leben eines Bürgers im Sternenimperium, die das öffentliche Leben derart lahmlegen wie das alle sieben Jahre stattfindende Hadesrennen. Es dauert 77 Tage, und während dieser langen Zeit ist die Arbeitsproduktivität der Menschen auf allen Planeten, Monden, Asteroiden, Raumstationen und allen sonstigen Habitaten im interplanetaren und interstellaren Raum äußerst gering. Schon immer haben sich Menschen gefragt, weshalb die vieltausendjährige Tradition des Hadesrennens nicht schon längst beendet wurde. Aber kein Imperator in der langen Geschichte des Imperiums hat je die Abschaffung angeordnet. Das Hadesrennen erfreut sich seit jeher ungebrochener Beliebtheit unter den Menschen. Obwohl der Wettkampf absolut gnadenlos ist, hat es noch nie einen Mangel an Kandidaten gegeben, die bereit waren, ihr Leben trotz geringster Überlebenschancen aufs Spiel zu setzen.
Im Alter von 19 Jahren erlebte ich zum zweiten Mal bewusst diese außergewöhnlichen Tage mit. Beim ersten Mal vor sieben Jahren hatte mich das Rennen nicht berührt. Damals war ich noch ein Kind gewesen und durch die Wahrnehmungsfilter geschützt. Dieses Mal hatte ich Zugriff auf die vollen Datenströme von Hades. Was ich erlebte, erfüllte mich mit tiefem Schrecken.
Hades heißt die Welt, auf der das Rennen ausgetragen wird. Hades - nach dem Reich der Toten so benannt. Hades umkreist den kleinen blauen Stern Stellastyx, der sich einst am Rande des Sternenimperiums befand, nun aber, nach Jahrzehntausenden menschlicher Expansion über den Spiralarm der Galaxis, ein Stern in den eher zentralen Bereichen des menschlichen Siedlungraumes ist. Einziger weiterer Planet im Stellastyx-System ist Charon, ein hellgrüner lebensfeindlicher Gasriese, der von 23 Monden begleitet wird. Hades besitzt keinen Trabanten, dafür aber Leben in Hülle und Fülle in einer für Menschen atembaren Atmosphäre. Seine Flora und Fauna basiert auf Kohlenstoff und weist einen ungeheuren Artenreichtum auf, vergleichbar vielleicht mit dem der alten Erde im sogenannten Zeitalter des Pleistozän.
Der Planet wurde seit seiner Entdeckung trotzdem nie von Menschen besiedelt. Das liegt in einem rätselhaften Phänomen begründet, das einzigartig im bekannten Universum ist: Alle sieben Jahre tritt für kurze Zeit überall auf dem Planeten eine Strahlung hoher Intensität auf. Diese Strahlung tötet menschliches Leben - und nur menschliches Leben. Es ist nicht bekannt, ob sie irgendeinen Einfluss auf andere Lebensformen oder Materie hat. Menschen sind ihr jedoch schutzlos ausgeliefert. Sie tötet innerhalb von Sekundenbruchteilen. Eine Abschirmung dagegen existiert nicht. Tausende von Jahren, so kann man es in den uralten Imperialen Bibliotheken auf Scientia Alpha nachlesen, hat man nach den Ursachen und Eigenschaften der Hadesstrahlung geforscht, um Gegenmaßnahmen zu entwickeln oder Abschirmungen zu konstruieren. Alle Untersuchungen blieben ergebnislos. Man konnte lediglich herausfinden, dass ihr Ursprung wohl im Planeteninnern, einige Tausend Kilometer unter der Oberfläche, zu suchen ist. Außerdem lernte man, den exakten Zeitpunkt des Einsetzens der Hadesstrahlung vorherzusagen.
So wurde die vor Leben überquellende und doch so feindliche Welt Hades vor Jahrzehntausenden zum Verbotenen Planeten erklärt und zur riesengroßen Arena eines grausamen Wettkampfes umgestaltet, der seinen Namen dem Planeten verdankt, auf dem er ausschließlich ausgetragen wird. Und das schon seit annähernd 40000 Jahren. Betreten werden darf Hades nur von Angehörigen des Ministeriums für das Hadesrennen - um den Wettkampf vorzubereiten und hinterher die Spuren zu beseitigen. Während der Zeit des Rennens hält sich außer den sieben Hadesfightern kein menschliches Wesen auf dem Planeten auf. Der Wettkampfbeginn wird so datiert, dass nach exakt 77 Tagen die tödliche Hadesstrahlung einsetzt.
Im allgemeinen besteht ein Wettkampf aus sieben Abschnitten. Innerhalb eines jeden Abschnittes versuchen die Hadesfighter, eines der insgesamt sieben Portale zu erreichen, die vor dem Wettkampf irgendwo auf Hades von der Wettkampfleitung installiert wurden. Im Innern der Portale werden sie medizinisch versorgt, mit Nahrungsmitteln und gegebenenfalls Werkzeugen, Fahrzeugen sowie Waffen ausgerüstet. Vor allem erfahren sie hier die Position des nächsten Portals. Ziel ist es, das siebte Portal, das Zielportal, als erster zu erreichen. Gelingt dies einem Wettkämpfer vor Ablauf der 77 Tage-Frist, so wird er ohne Verzögerung nach Hope teleportiert und als Sieger geehrt. Alle anderen Wettkämpfer verbleiben auf Hades und müssen sterben - spätestens, wenn am Ende der Wettkampfdauer die Hadesstrahlung ihr unerbittliches Werk an ihnen verrichtet.
Hadeskämpfer können sich nur sehr eingeschränkt auf den Kampf vorbereiten, denn sie kennen vorher, genau wie das zuschauende Publikum, weder die Routen zu den einzelnen Portalen noch die Art der Teilwettkämpfe auf den sieben Rennabschnitten. Das Planungskomitee sorgt dafür, dass in jedem Rennabschnitt andere Prüfungen zu bewältigen sind.
Die wenigen strengen Regeln des Wettkampfes sehen vor, dass höchstens ein Hadesfighter den Planeten lebend verlässt. Hat zum Beispiel nach 77 Tagen niemand das siebte Portal erreicht, so erfolgt innerhalb weniger Sekunden eine Blitzabstimmung unter den eingeloggten Zuschauern des Rennens. Sie stimmen darüber ab, ob derjenige Hadesfighter, der dem siebten Portal am nächsten ist, zum Sieger des Rennens erklärt werden soll. Fällt die Abstimmung positiv aus, so wird der Athlet augenblicklich als Sieger nach Hope teleportiert. Entscheiden sich die Zuschauer aber gegen ihn, so bleiben alle Kämpfer auf Hades und müssen sterben.
Ist vor Ablauf der Frist nur noch ein Fighter am Leben, so ist das Rennen beendet und der noch lebende Athlet Sieger.
Hadeskämpfer haben schon des öfteren versucht, zu zweit oder zu mehreren in das rettende siebte Portal zu gelangen. Das hat jedoch nie funktioniert. Das siebte Portal lässt sich, im Gegenstaz zu den anderen Portalen, immer nur durch eine einzige Person öffnen. Und sobald dies geschehen ist, ist es für alle anderen noch lebenden Kämpfer verschlossen.
Die strengen Regeln bedingen in aller Regel einen gnadenlosen Wettkampf. Kooperation ist zwar erlaubt, kann aber nicht bis zum Schluss durchgehalten werden, da nie mehr als ein Hadesfighter das Rennen überlebt. Im Gegenteil: Die sieben Athleten bekämpfen einander bis aufs Blut. Sie kennen kein Erbarmen mit ihren Konkurrenten. Denn sie haben nur ein Ziel. Das heißt: Überleben.
Selbstverständlich kennt jeder Imperiumsbewohner die Wettkampfregeln und ist mit den sich auf das Rennen auswirkenden Implikationen bestens vertraut. Aber es macht einen erheblichen Unterschied, ob man Wissen über die Grausamkeit eines Kampfes besitzt oder es so miterlebt, als wäre man selbst dabei. Aus vielen Gesprächen und Berichten wusste ich zwar, dass das Miterleben eines Hadesrennens sehr beeindruckend war, aber nichts hatte mich auf eine derart intensive Sinneserfahrung vorbereitet.
Ich schloss das Hadesinterface an, wählte Hadesfighter 6 und loggte mich ein.
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Die drückende feuchte Hitze des Dschungels lähmte meinen Verstand. Bleierne Müdigkeit hatte sich meiner bemächtigt. Außerdem litt ich quälenden Durst. Die vergangenen fünf Tage angestrengter Hetzjagd zum 3. Portal durch den äquatorialen Spinnschrecken-Regenwald hatten ihre Spuren in meinem Körper und in meiner Psyche hinterlassen. Alle Knochen schmerzten. Am liebsten hätte ich mich einfach hingelegt, um zu schlafen. Ich hatte Angst. Schreckliche Angst. Sobald einer der anderen Hadesfighter registrieren würde, dass ich keine Waffe mehr hatte, war mein Leben so gut wie verwirkt. Wie konnte ich auch so dumm gewesen sein, meine Multimachete und meinen Trinkwasservorrat gleichzeitig zu verlieren! Meine einzige Waffe im Kampf gegen die aggressive Urwaldfauna - weg! Im Gedanken an den Verlust trieb es mir Tränen in die Augen.
Als der Spinnschreckenschwarm überraschend aufgetaucht war und sich mit erheblicher Geschwindigkeit genähert hatte, hatte es nur eine Alternative gegeben: Flüchten - so schnell wie möglich. Der Schwarm war schneller gewesen und hatte rasch aufgeholt. Plötzlich hatte sich vor mir der Dschungel geöffnet, so dass ich am Ufer eines breiten Flusses stand, dessen braune Fluten sich träge dahinwälzten. Der bedrohlich summende Schwarm hatte sich über mir aufgerichtet, um dann hinabzustoßen und sein tödliches Gift mit Tausenden von Stacheln in meinen Körper zu injizieren.
In letzter Sekunde war ich in das trübe Wasser gesprungen und hatte die Luft angehalten, so lange ich konnte. Als ich keine Luft mehr hatte und auftauchen musste, hatte sich etwas um meine Wade gewunden und tiefer hinabgezogen. Voller Panik hatte ich nach unten gegriffen und einen dicken Tentakel erfühlt. Als es mir gelungen war, den Tentakel mit der Machete abzutrennen, hatte ein zweiter Fangarm meinen rechten Arm erfasst. Meine Lunge hatte nach Luft geschrien. Es war mir gelungen, auch diesen Tentakel abzutrennen. Aber dabei war mir die Multimachete entglitten und auf den Grund des fremdem Urwaldflusses gesunken. Mit letzter Kraft konnte ich auftauchen und gierig die kostbare Luft einatmen. Der Spinnschreckenschwarm hatte sich verzogen. Ich konnte mich an einer Luftwurzel eines am Ufer stehenden Baumriesen festkrallen und mich aufs Trockene ziehen.
Seit fast zwei Tagen schon hatte ich nichts mehr getrunken. Es gab zwar überall Wasser im tropischen Wald, aber wegen der Infektionsgefahr traute ich mich nicht, es zu trinken. Doch es war nur eine Frage der Zeit, bis der übermächtige Durst die bröckelnde Mauer meiner Vorsicht einreißen würde. Aber vielleicht schaffte ich es ja, unbeschadet bis zum dritten Portal ‘Wahl der Waffen’ zu gelangen. Mein DLog teilte mir mit, dass es keine fünfzig Kilometer entfernt war, und dass außer mir noch fünf Hadeskämpfer lebten. Allerdings verriet es mir nicht, wo sich meine Konkurrenten aufhielten. Ich stand auf einem Nebenast eines Baumriesen und befand mich hoch über dem Grund des Waldes. Nur hier oben war es für Menschen licht genug für ein Vorwärtskommen. Am Boden wuchs die Vegetation so dicht und war mit so vielen gefährlichen Wesen bevölkert, dass ein Mensch dort ohne spezielle Ausrüstung nicht lange überleben geschweige denn sich fortbewegen konnte.
Schwerfällig raffte ich mich auf. Die ohrenbetäubende pfeifende, zirpende, brüllende, kreischende, glucksende, klopfende, blubbernde Kakophonie des Dschungels um mich herum machte besonders leises Verhalten unnötig. Mit dem Stirnvisier peilte ich einen nahe herabhängenden Ast an, schoss die Flugbola des rechten Armes ab und sprang in den Abgrund. Die Bola wickelte sich um den anvisierten Ast, während ich noch in der Luft war. Sie spannte sich, fing meinen freien Fall ab und lenkte ihn in einen halbkreisförmigen Bogen um. Der Armstabilisator des Kampfanzuges nahm die enormen Zugkräfte zum größten Teil auf. Kurz vor Erreichen des höchsten Bahnpunktes zielte ich auf den nächsten erreichbaren Ast und warf die Bola des anderen Armes ab. Gleichzeitig entrollte sich automatisch die noch um den ersten Ast gewickelte rechte Flugbola und surrte blitzschnell zurück in den Ärmel, so dass sie beim nächsten Sprung wieder verwendet werden konnte.
So hangelte ich mich mit dieser Methode mit recht großer Geschwindigkeit von Baumriese zu Baumriese über den Abgrund hinweg. Diese Fortbewegungsart war sehr effektiv und schon bei früheren Hadesrennen zur Anwendung gekommen. Sie stellte allerdings hohe Anforderungen an das Reaktionsvermögen, den Gleichgewichtssinn und die Körperkräfte der Athleten. Eine einzige Fehleinschätzung beim Visieren oder beim Bolaabwurf konnte den Tod bedeuten. Nach einer halben Stunde hochkonzentrierter Arbeit war ich so ausgepumpt, dass ich erneut für eine Verschnaufpause anhalten musste. Ich lehnte mich an den Nebenstamm des Urwaldriesen und schaute mich vorsichtig um.
In etwa zweihundert Metern Entfernung hockte jemand, so wie ich, auf einem dicken Ast. Auf dem grünen Anzug war in schwarzer Schrift die Zahl 2 angebracht. Hadesfighter 2 hatte mich ebenfalls entdeckt. Meiner ansichtig geworden schwang er sich fast panisch auf und setzte seinen Lauf fort. Ich tat es ihm gleich. Parallel zueinander strebten wir von Baum zu Baum schwingend dem dritten Portal entgegen. Hadeskämpfer 2 stellte sich sehr geschickt an und hatte sich bald einen kleinen Vorsprung erarbeitet. Mal kamen wir uns ein wenig näher, mal entfernten wir uns auf unseren parallelen Routen etwas voneinander. Meine Lunge brannte. Die überanstrengten Armmuskeln sandten heiße Nadeln des Schmerzes in mein Gehirn. Lange konnte ich dieses aberwitzige Tempo nicht mehr mithalten.
Gerade wollte ich ein weiteres Mal eine kurze Rast einlegen, als ich aus dem Augenwinkel wahrnahm, dass Hadesfighter 2 verunglückte. Beim Visieren hatte er sich wohl verschätzt. Seine Flugbola schoss ins Leere, so dass er abstürzte. Mit der anderen Bola gelang es ihm zwar, sich an einem dünnen Ast festzuhalten, aber der brach ab. Hadesfighter 2 stürzte, schlug auf einen tiefer hängenden Ast auf, konnte sich nicht festhalten, stürzte, sich überschlagend, erneut tiefer und wurde schließlich von einer aus dem Baum herauswachsenden Fingerkaktee aufgespießt.
Fingerkakteen sind im Spinnschrecken-Regenwald weit verbreitete Baumparasiten und bilden zur Blütezeit fingerförmige hautfarbene weiche Auswüchse aus, denen sie ihren Namen verdanken. Die Stacheln der Fingerkaktee sind etwa einen halben Meter lang. Hadesfighter 2 wurde aufgespießt und fing sofort fürchterlich an zu schreien. Ich witterte augenblicklich meine Chance. Der Kämpfer war dem Tod geweiht und hatte mit großer Wahrscheinlichkeit noch Vorräte, und vor allem, seine Multimachete. Ich bewegte mich zu ihm herüber und begann vorsichtig den Abstieg zu dem kampfunfähigen Hadeskämpfer. Sein Schreien ging in ein Kreischen über. Er musste fürchterliche Qualen erleiden. Als ich nach einigen Minuten bei ihm angelangt war, stellte ich zu meinem Bedauern fest, dass er seine Waffe nicht mehr bei sich hatte. Vielleicht war sie ihm bei seinem Absturz verlorengegangen. Aber es besaß noch seine Nahrungsmittelvorräte. Hadesfighter 2 war von fünf dicken Kakteenstacheln an den Beinen, Armen und im Unterleib durchbohrt worden. Hilflos und unter unermesslichen Schmerzen röchelnd wand er sich auf dem großen Baumparasiten. Ich nahm ihm seinen Vorratsbehälter ab und schickte mich an, meinen Weg zum dritten Portal fortzusetzen.
Nach zwanzig Metern Aufstieg konnte ich nicht mehr weiter. Die Schreie des verletzten Mannes brachten mich zum Einhalten. Ich kehrte zu dem Verletzten zurück. Unter großen Mühen gelang es mir, ihn von der Pflanze abzuheben. Dabei verlor er das Bewusstsein. Ich legte ihn über meine Schulter. Er war gar nicht so schwer, wie ich es gedacht hatte. Sein warmes Blut strömte über meinen grünen Kampfanzug. Unter enormer Kraftaufbietung kletterte ich zu einem dicken Ast hoch, der breit genug war, dass ich den Verletzten darauf ablegen konnte, ohne dass er herabfiel. Hadesfighter 2 war leichenblass, denn er hatte schon viel Blut verloren. Aus seinem MedSet kramte ich Spray zum Stillen von Blutungen heraus und verschloss damit notdürftig seine großen Wunden. Da ich zu erschöpft war um weiterzulaufen, lehnte ich mich an den nahen Stamm des Baumes, bettete den Kopf des Bewusstlosen auf meinen Schoß, trank gierig Wasser aus den Vorräten des Mannes und fiel in einen unruhigen leichten Schlaf.
Die kaum zu vernehmende Stimme des Mannes weckte mich auf: „Es tut so schrecklich weh! Ich halte die Schmerzen nicht mehr aus! Bitte! Bitte! Hilf mir!“ Tränen liefen über die Wangen des Mannes.
Ich kramte erneut in dem MedSet des Kämpfers und konnte ein schmerzstillendes Mittel finden, das ich ihm verabreichte. Die Wirkung des Medikamentes setzte sofort ein. Er entspannte sich in meinen Armen und schlief ein. Als er wieder aufwachte, blickten seine Augen etwas klarer als vorher.
„Geht es dir ein wenig besser?“ fragte ich ihn.
„Ja, danke.“ Seine schwache Stimme war im Gelärme des Urwaldes kaum zu vernehmen, so dass ich meine Ohren nahe an seinen Mund heranbringen musste, um ihn überhaupt verstehen zu können. „Wenn ich mich nicht bewege, tut es kaum weh. Danke für das Schmerzmittel.“
Ich flößte ihm Wasser ein, dass er mit großen Schlucken begierig trank.
„Warum tust du das für mich?“ fragte er mich nach einiger Zeit, nachdem er sich vom anstrengenden Trinken etwas erholt hatte, „Du hättest mich sofort töten sollen. Ich bin sowieso nicht mehr in der Lage, den Kampf fortzusetzen.“
„Ich weiß nicht, warum ich dir helfe. Ich konnte deine Qualen nicht mitansehen. Und nun ist es zu spät, dich alleine zu lassen.“
„Wie heißt du?“ fragte mich Hadesfighter 2.
„Ich heiße Mark. Ich komme vom Habitat ‘Trunkene Zuversicht’ nahe der Welt Spinmaker_Seven. Tantalus-System. Wenn ich gewinne, werde ich mir auf Hope ein Hotel kaufen und den Rest meines Lebens mit schönen Mädchen in den Betten des Hotels verbringen. Und du?“
„Rirondus. Rirondus vom Planeten FerrumColum. Ich wollte der erste Mann von FerrumColum sein, der das Hadesrennen gewinnt. Ich wollte ein berühmter Mann werden. Auf FerrumColum hätten sie mir Denkmäler errichtet, wenn ich gesiegt hätte. Ich kann mir vorstellen, wie sie mich jetzt dort verfluchen werden, weil ich sie so enttäuscht habe.“
„Niemand verflucht dich. Du hast einen guten Kampf geliefert. Vorhin beim Bolahangeln hast du mich glatt abgehängt. Du warst superschnell. Das haben alle gesehen.“
„Danke für deine Aufmunterung.“ Rirondus lächelte schwach. „Aber jetzt musst du weiterlaufen, wenn du deine schönen Mädchen je sehen willst.“
„Die Mädchen können warten. Ich bleibe noch ein wenig bei dir, um dir Gesellschaft zu leisten.
„Nein, nein. Du stirbst, wenn du bei mir bleibst. Geh! Geh! Ich komme schon allein zurecht.“ Das Sprechen hatte Rirondus angestrengt. Er schloss die Augen. Seine Atemzüge waren kurz und flach geworden. Er würde in den nächsten Stunden sterben, denn seine Verletzungen waren zu schwerwiegend. Vor allem der Stachel, der durch seinen Unterleib gedrungen war, hatte mit Sicherheit massive innere Verletzungen hervorgerufen, die nur in einem der Portale hätten behandelt werden können. Aber das dritte Portal war eine Unendlichkeit entfernt.
Irgendwann wachte Rirondus erneut auf. Kalter Schweiß stand auf seiner Stirn und er zitterte am ganzen Körper. Das Schmerzmittel verlor wohl an Wirkung.
„Ich will nicht sterben!“ rief er verzweifelt mit kraftloser Stimme. „Ich will nicht sterben. Ich habe Angst. Bitte helft mir! Lasst mich hier nicht einfach so verrecken!“ Seine Wangen waren tränenüberströmt.
Ich versuchte, zu ihm zu sprechen, aber er konnte mich nicht mehr hören. Rirondus wurde von einem Krampf geschüttelt, so dass ich ihn ganz fest halten musste, damit er nicht durch seine unkontrollierten krampfhaften Bewegungen vom Ast in die Tiefe stürzte. Eine halbe Stunde später erschlaffte Rirondus in meinen Armen, als der Tod ihn von seinen Qualen erlöste.
Ich schob den Leichnam vorsichtig von mir herunter und erhob mich ächzend, denn durch das lange Sitzen waren meine Gliedmaßen steif geworden. Dann stieß ich den toten Kämpfer hinab in die Tiefe. Die Wesen am Grund des Dschungels würden ihn als willkommene Abwechslung auf ihrem Speiseplan begrüßen. Ich sprach ein leises Gebet für Rirondus. Dann schaute ich mich suchend um, um eine geeignete Route für die Fortsetzung meiner Jagd zum dritten Portal zu finden.
Gerade als ich die rechte Flugbola abwerfen wollte, traf mich ein gewaltiger Schlag, der mich von den Beinen riss und auf die Knie zwang. Etwas wickelte sich mit großer Kraft um meinen Hals und würgte die Luft ab. Ich fasste krampfhaft an meinen Hals - und ertastete eine Flugbola. Sofort war mir klar, dass dies ein Angriff eines weiteren Hadesfighters war. Ich drehte mich um und erkannte etwa zehn Meter von mir entfernt Hadesfighter 1, der grausam lächelnd an der Bola zog. Die Kraft war so groß, dass ich vom Ast, auf dem ich kniete, heruntergerissen wurde und in die Tiefe fiel.
Als die straff gewordene Bola meinen Fall brutal abbremste, brach es mir jedoch nicht das Genick, denn die Netzverstärker meines Anzugs absorbierten im Halsbereich die Wucht der Abbremsung weitgehend. Sie konnten aber nicht verhindern, dass ich langsam stranguliert wurde. Voller Panik griff ich an die Bolaschnur und versuchte sie zu lösen. Was natürlich nicht gelang. Der Drang, Luft zu holen, wurde übermächtig. Aber es gab keine Luft für mich. Von oben hörte ich das heisere hämische Lachen des feindlichen Kämpfers. Ich geriet vollends in Panik. Meine Beine zuckten konvulsivisch. Ich konnte nichts mehr sehen. Mir wurde schwarz vor Augen. Mein ganzer Körper stand in Flammen. Die Qual wurde immer größer. Mein Herz raste. Die Lunge drohte zu zerreißen. Dann war es vorbei.
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Ich riss mir das Hadesinterface vom Kopf und sog gierig die Luft von Blueeye ein. Mein ganzer Körper zitterte unkontrolliert. Ich war schweißgebadet. Benommen richtete ich mich auf. Mich schwindelte. Was ich soeben erlebt hatte, hatte mich so aufgewühlt, dass ich etliche Minuten brauchte, um in die Wirklichkeit zurückzufinden. Aber war es nicht die Wirklichkeit gewesen, die ich soeben erlebt hatte? Ich war Hadesfighter 6 gewesen und war im Spinnschrecken-Regenwald qualvoll zu Tode gekommen. Das alles war wirklich geschehen! Weit weit weg auf dem Planeten Hades war vor ein paar Minuten der Hadeskämpfer Mark vom Habitat ‘Trunkene Zuversicht’ auf grausame Weise umgebracht worden und sicherlich Abermillionen Menschen hatten seinen Tod so wie ich gerade live miterlebt, miterfahren, miterlitten. Miterfahren einzig und allein zu ihrer Unterhaltung.
Ich blickte mich zu den anderen Menschen im Projektionssaal um, die wie tot auf ihren Pritschen unter ihren Interfaces lagen und in diesem Augenblick auf Hades weilten, auch wenn sich ihre Körper hier auf Blueeye befanden, sicher und geschützt durch Zehntausende von Lichtjahren Entfernung. Entsetzt verließ ich den Projektionssaal und ließ mich von meinem PT nach Hause bringen.
Nach ein paar Tagen wich der anfängliche Schock des Erlebten einem merkwürdigen Gefühl der Leere in mir. Ich hatte das sonderbare Gefühl, gar nicht mehr richtig zu leben. Wie eine ausgebrannte Hülle kam ich mir vor. Hatte ich auf Hades, obwohl ich dort gar nicht wirklich gewesen war, meine Seele verloren? Plagten andere Menschen nach dem Einloggen in das Rennen auch derartige psychische Beschwerden? Ich erzählte Bennum, dem ältesten PMC-Jäger aus meiner Jagdcrew, von meinen traumatischen Erlebnissen.
Er lachte mich nur aus: „Ach, Leij! Was bist du doch für ein Sensibelchen! Hätte ich gar nicht gedacht von dir, dem starken PMC-Jäger. Hat es dir keinen Spaß gemacht, dabeizusein? Mal so richtig was zu erleben, das ist doch eine willkommene Abwechslung bei dem täglichen Einerlei des grauen Alltags! Aber warte nur ab. Beim nächsten Einloggen gefällt es dir schon viel besser. Du wirst sehen.“
„Wie kommt es, Bennum, dass ich während meiner Einloggzeit das Gefühl hatte, tatsächlich Hadesfighter 6 zu sein? Ich erlebte sogar seine Gedanken. Seine Gedanken waren meine. Und das verstehe ich nicht. Ich dachte immer, die Sensoren würden nur objektive Messdaten senden. Dass sie auch die Gedanken der Hadeskämpfer auslesen können, wusste ich bisher nicht.“
„Selbstverständlich können die Sensoren auf Hades keine Gedanken lesen,“ beruhigte mich Bennum, „Aber es gibt leistungsstarke KI’s, die aus den übermittelten Rohdaten wie zum Beispiel Herzfrequenz, Hautwiderstand, Schweißproduktionsrate, Körpertemperaturschwankungen und so weiter mögliche Gemütszustände extrapolieren und diese in die Hadesinterfaces senden. Dann hat der eingeloggte Zuschauer das Gefühl, die Gedanken des Hadesfighters zu erfahren. Durch viele Untersuchungen an Hadesrennensiegern hat man herausgefunden, dass die durch Extrapolation gewonnenen Gedanken in vielen Fällen mit den sich tatsächlich manifestierten Gedanken und Gefühlen übereinstimmten. Das Verfahren wurde in den letzten Jahrhunderten weiter vervollkommnet. Man kann zwar nicht mit hundertprozentiger Sicherheit behaupten, dass du die wahren Gedanken deines Hadesfighters gespürt hast. Aber mit großer Wahrscheinlichkeit waren sie es.“
Vorsichtig stellte ich die Frage, die mich am meisten beschäftigte: „Macht es dir denn gar nichts aus, die Hadesfighter sterben zu sehen oder ihr Sterben gar selbst mitzuerleben?“
„Leij. Jeder Hadesfighter ist freiwillig dort oben und weiß ganz genau, worauf er sich eingelassen hat. Ihm ist klar, dass nur einer der sieben Kämpfer das Rennen überleben kann. Niemand wird zur Teilnahme am Rennen gezwungen. Wie dir bekannt sein dürfte, bewerben sich regelmäßig Tausende um eine Teilnahme beim nächsten Rennen, und es ist für das Hadesrennenministerium stets eine gigantische Aufgabe, sieben Geeignete aus der Vielzahl der Kandidaten auszuwählen. Weshalb soll ich also Mitleid haben? Es ist sogar so, dass manche Hadesfighter mit der festen Absicht zu sterben am Rennen teilnehmen!
Und zu deiner Frage, ob es mir nichts ausmacht, das Sterben mitzuerleben: Gerade deswegen loggen sich die Menschen doch ein! Um zu erfahren, was es mit dem Sterben auf sich hat, das uns allen irgendwann bevorsteht. Das ist der letzte Kick. Genau darum geht es doch! Immer schon haben sich die Menschen an Hinrichtungen ergötzt. Vor vielen Tausenden von Jahren, als die Menschheit noch im vortechnologischen Zeitalter auf dem Planeten Alte Erde lebte, zogen grausame Hinrichtungen die Menschenmassen geradezu magisch an und wurden stets begleitet von Jahrmärkten und Zirkusvorstellungen. Dies hat sich bis heute so gehalten. Das Hadesrennen ist nichts anderes als eine Kultivierung der Lust des Menschen am Leid anderer. Heute sind wir nur ehrlich genug es zuzugeben. Insofern ist das Hadesrennen wahrhaftig. Es macht uns nichts vor. Es ermöglicht uns, ohne falsche Scham zu unseren menschlichen Neigungen zu stehen.“
„Gibt es denn viele Menschen so wie mich, die keine Freude beim Zuschauen haben, sondern daran leiden?“ fragte ich kleinlaut, denn ich kam mir im Lichte der Äußerungen Bennums geradezu kindisch vor.
Milde antwortete Bennum: „Ich persönlich kenne keinen. Aber nimm’s nicht persönlich. Du musst ja beim Rennen nicht dabeisein. Niemand wird gezwungen, sich das Hadesinterface aufzusetzen, wenn der Kampf beginnt. Ich für meinen Teil kann dir nur sagen, dass du eine Menge verpasst, wenn du dir dieses Rennen entgehen lässt. Übrigens: Ich war vor ein paar Tagen als Hadesfighter 1 eingeloggt und konnte miterleben, wie er Hadesfighter 6 tötete. Das war schon souverän gemeistert. Hadesfighter 1 wird das Rennen gewinnen. Ich habe gestern 5000 Sternendollar auf ihn gesetzt.“
Doch Hadesfighter 1 gewann das Rennen nicht und Bennum verlor seinen Wetteinsatz. Was ihn aber nicht weiter ärgerte. Er betrachtete das alles als ein großes unbeschwertes Spiel, das mit Heiterkeit und Leichtigkeit zu nehmen sei. Ich hingegen schwor mir, nie wieder ein Hadesinterface aufzusetzen.
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Zwei Jahre später war das Hadesrennen in weite Ferne gerückt. Der Alltag war eingezogen und hatte bald die alptraumhaften Erinnerungen an das Wettkampfgeschehen aus meinen Gedanken verdrängt. Mehrere Male pro Woche jagten wir, meistens erfolgreich, PMC’s, eine Tätigkeit, die zur Routine wurde und unseren Lebensunterhalt absicherte. Ich war in der Lage, meinen Beruf recht erfolgreich auszuführen. Ich beherrschte mein Handwerk passabel, und meine Fangquoten waren zufriedenstellend.
Regelmäßig wurden die erbeuteten Sandwesen im Eiltransport nach Leaktown zum nächsten Raumhafen verfrachtet, wo sie in die interstellaren Transporter verladen wurden, die mit ihnen im FastCast zu ihren reichen Besitzern auf anderen Imperiumswelten eilten. Immer, wenn wir Zeit hatten, schauten wir uns staunend das dröhnende Spektakel der landenden und startenden Raumschiffe an. Meistens handelte es sich um kleinere Norm-Transporter, deren riesige Mutterraumschiffe im planetennahen Orbit warteten. Ab und zu landeten jedoch auch kleinere Privatyachten überaus reicher Adliger, die es sich nicht nehmen lassen wollten, ihre PMC’s persönlich abzuholen und dazu keine Kosten scheuten, so hoch sie auch sein mochten. Diese schnittigen und bis ins Detail liebevoll gestalteten eleganten Raumschiffe zogen regelmäßig die Aufmerksamkeit der Menschen, vor allem der Kinder und Jugendlichen, auf sich und boten stets Anlass zu wildesten Spekulationen über ihre schillernden Besitzer - und natürlich zum Träumen.
Auch ich war fasziniert von den glänzenden phantasievoll geformten Maschinen, die das Tor zu den vielen Welten des Imperiums darstellten. In meiner Phantasie malte ich mir aus, wie es wohl sein würde, mit so einer Raumyacht vom Weltraum aus in die Atmosphäre eines fremden Planeten einzutauchen. Solche Gedanken waren aber nichts als Träumerei, denn interstellare Reisen kosteten ein Vermögen und waren für einen gewöhnlichen Sterblichen so wie mich absolut unerschwinglich. Außer man wurde Sieger beim Hadesrennen! Dann winkte einem, abgesehen von Ruhm und Ehre im gesamten Imperium, unermesslicher Reichtum sowie die lebenslange Erlaubnis, alle Orte des Sternenreiches beliebig oft zu besuchen, sei es mit Raumschiffen oder durch direkten FastCast in der Teleportationskammer.
Es war an einem solchen Morgen, als ich mit meinem Vater am Rande des Raumhafens von Leaktown stand und meinen Blick nicht von dem geschäftigen bunten Treiben in der Ferne abwenden konnte. Mein Vater stand neben mir und schaute wie ich zu den gewaltigen Schiffen. Er musste wohl meine glänzenden Augen gesehen haben, denn er fragte mich: „Sag mal, Leij, bist du eigentlich gerne PMC-Jäger?“
Etwas überrascht über diese unerwartete Frage antwortete ich zögernd und ausweichend: „Ich denke, dass ich einen recht passablen Jäger abgebe. Mit meinen Fangquoten brauche ich mich in New Kingstone vor niemandem zu verstecken.“
Ich blickte meinen Vater an. Eine derartige Frage hatte er mir noch nie zuvor gestellt. Er lächelte. „Du weichst mir aus, mein Sohn. Ich wollte eigentlich nur wissen, ob es dir Spaß macht, im Sandozean PMC’s zu jagen. Ob du Deinen Beruf liebst.“
Nachdem ich kurz nachgedacht hatte, wie ich meine Antwort formulieren sollte, ohne ihn zu verärgern, sagte ich: „Es bereitet mir viel Freude, im Sandozean zu sein und diese dunkle faszinierende Welt zu erkunden. Das unermessliche Sandmeer kennen wir Menschen nur zu einem geringen Teil, und ich möchte gerne herausfinden, welche Geheimnisse dort noch auf unsere Entdeckung warten. Die eigentliche Jagd auf die PMC’s finde ich allerdings nicht so spannend, wie ich es eigentlich sollte. Sicher bist du jetzt enttäuscht über mich. Aber ich möchte dich nicht belügen. Das Jagen von PMC’s betrachte ich als unvermeidbare Notwendigkeit, uns wirtschaftlich abzusichern.“
War ich soeben überrascht gewesen über die Frage meines Vaters, war ich es jetzt noch mehr über seine Entgegnung: „Danke, Leij, für deine ehrliche Antwort. Sie zeigt mir, dass ich mit meiner Einschätzung über dich schon immer richtig gelegen habe. Und es freut mich, dass du so über die PMC-Jagd denkst!“
Ich glaubte meinen Ohren nicht zu trauen: „Aber Vater! Ich dachte immer, du wolltest, dass ich ein sehr guter PMC-Jäger werde, der voll hinter seinem Beruf steht - ihn mit Hingabe ausübt!“
Doch er antwortete rätselhaft: „Leij, ich möchte dich bitten, heute abend zum Monatstreffen zu kommen. Du bist nun so weit, dass du einige Wahrheiten über die PMC-Jagd erfahren solltest.“
Beim Monatstreffen handelte es sich um eine monatlich stattfindende Zusammenkunft befreundeter älterer PMC-Jäger, an der auch mein Vater regelmäßig teilnahm. Dieses Treffen wurde seit etlichen Jahren privat organisiert. Ich hatte es immer für eine Art gemütlichen Zusammensitzens guter Freunde gehalten, zumal oft eine Menge Alkohol konsumiert wurde und die Teilnehmer hinterher ziemlich angeheitert nach Hause gingen. Dass beim Monatstreffen wichtige Angelegenheiten über die PMC-Jagd besprochen werden könnten, war mir in meiner Einfalt nie in den Sinn gekommen. Deswegen hatte ich bisher auch keinerlei Wunsch verspürt, an einem Treffen alter Männer teilzunehmen, an dem nostalgisch über längst vergangene Zeiten geschwärmt wurde. Umso gespannter war ich jetzt natürlich auf die Informationen, die mir zuteil werden sollten.
Das heutige Monatstreffen fand in meinem Elternhaus statt, wie üblich in einem gemütlich ausgestatteten abgelegenen Kellerraum, in dem die befreundeten Jäger völlig ungestört waren und auch selbst niemand störten. Erst später erfuhr ich, dass dieser Raum mit speziellen technischen Vorrichtungen, die es nur zu horrenden Preisen illegal zu kaufen gab, abhörsicher ausgelegt war.
Am einzigen Tisch des Raumes saßen außer meinem Vater noch vierzehn weitere Männer, die ich zwar als PMC-Jäger aus New Kingstone oberflächlich kannte, zu denen ich sonst aber keinen näheren Kontakt hatte. Mein Vater bat mich, auf dem einzigen noch freien Stuhl an dem Tisch Platz zu nehmen. Voll gespannter Erwartung ließ ich mich nieder. Der älteste der Gruppe, ein bärtiger braungebrannter Mann namens Korjek von den Sandseeuntiefen der McArtor-Hochebene, richtete freundlich das Wort an mich: „Leij! Danke, dass du Zeit gefunden hast, heute abend bei uns zu sein! Dein Vater hat uns schon oft von dir erzählt. Wir freuen uns, dich heute in unserem kleinen Kreis begrüßen zu können.“
„Eure Einladung ehrt mich.“ antwortete ich. „Mein Vater teilte mir mit, dass ich heute Neues über die PMC-Jagd erfahren soll. Ich muss zugeben, dass ich schon sehr gespannt darauf bin.“
Korjek blickte mich ernst an: „Wir haben lange darüber beraten, ob wir dich einweihen sollen. Aber dein Vater bat uns eindringlich darum, denn er ist von deiner Integrität überzeugt. Was wir dir mitteilen wollen, wird nicht leicht zu verdauen sein. Es kann sein, dass du uns zürnst, wenn du erst die Wahrheit kennst. Auch haben wir eine Bedingung, die wir an die Fortsetzung dieses Gespräches knüpfen: Du darfst mit niemandem außerhalb dieses Kreises darüber reden. Außer wir erlauben es ausdrücklich. Falls du das nicht akzeptieren kannst, ist es in Ordnung, und wir sind dir auch nicht böse deswegen. Aber das Gespräch wäre dann in diesem Augenblick für dich beendet.“
Korjeks eröffnende Worte beunruhigten mich ein wenig. Aber ich war natürlich viel zu neugierig, als dass ich hätte ablehnen können. Gleichzeitig fühlte ich mich durch das Lob meines Vaters bezüglich meiner Vertrauenswürdigkeit geschmeichelt. Deswegen ging ich ohne großes Nachdenken auf die Bedingung ein:
„Geht klar! Ich werde meinen Mund halten. Aber spannt mich nicht länger auf die Folter!“
Aleert, ein weißhaariger Mann mit harten Gesichtszügen aus New Kingstone richtete das Wort an mich: „Leij, hast du dich jemals gefragt, weshalb die PMC’s singen?“
Ich lachte laut auf wegen der Banalität dieser Frage: „Das lernt doch jedes Kind auf Blueeye in der Schule. Aber ich will es nochmal wiederholen, damit ihr seht, dass ich im Unterricht gut aufgepasst habe: Die verschiedenen auf der Oberfläche lebenden Pflanzen bilden weithin sichtbare Blüten in leuchtenden Farben aus, um ihre Fortpflanzung zu gewährleisten. Dadurch werden sie zum Beispiel von Insekten gefunden und können bestäubt werden. Im Sandmeer gibt es aber kein Licht. Im Laufe der Millionen von Jahren währenden Evolution auf Blueeye haben die PMC’s einen Weg gefunden, miteinander in der ewigen Dunkelheit zu kommunizieren. Ihre Methode ist der Schall, den sie aussenden, um sich bei ihren Artgenossen bemerkbar zu machen, damit sie sich zum Beispiel fortpflanzen können. Die akustischen Signale, die sie dabei erzeugen, sind zufällig so geartet, dass wir Menschen sie als wohlklingend empfinden.“
„Und warum kann man die Töne nicht auch im Sandmeer vernehmen?“ fragte Aleert leise nach.
„Ganz einfach!“ antwortete ich leichthin, „Weil der Sand den Schall natürlich verschluckt.“
„Das hieße also, um bei deinem Vergleich mit den Blumen zu bleiben, dass die auf der Oberfläche wachsenden Pflanzen zwar wunderschöne Blüten ausbilden, diese aber von niemandem gesehen werden können, weil es ständig dunkel ist!“
Dieser Einwand verblüffte mich. So hatte ich über die Angelegenheit noch nie nachgedacht. Unsicher geworden entgegnete ich nach einiger Zeit des Nachdenkens: „Vielleicht ist der Schall ja noch da, aber so abgeschwächt oder durch den Sand verändert, dass nur die PMC’s ihn noch wahrnehmen können.“
„Leij“, ergriff ein dritter Jäger, an dessen Namen ich mich nicht mehr erinnern kann, das Wort, „deine Antwort ist größtenteils falsch, birgt aber auch einen Funken Wahrheit in sich. Selbstverständlich hat man in der Vergangenheit versucht, die Schallaussendung der PMC’s auch im Sandozean nachzuweisen. Auf allen bekannten Frequenzbereichen. Aber ohne Ergebnis. Man konnte nie etwas feststellen, auch nicht mit empfindlichsten Messinstrumenten. Dies lässt nur eine einzige vernünftige Schlussfolgerung zu!“
„Die PMC’s singen im Sandmeer nicht?“ gab ich zögerlich und leise von mir. Ich war nun verunsichert.
„Ja. Ja, dies sollte man meinen.“ schaltete sich mein Vater in die Diskussion ein, „Die PMC’s singen im Sandmeer nicht. Aber das macht irgendwie keinen Sinn und steht im völligen Widerspruch zu dem, was alle Schulkinder Blueeye’s seit langer Zeit lernen. Und warum sollte die Evolution die Fähigkeit zur Schallaussendung entwickeln, ohne dass diese Fähigkeit auch tatsächlich eingesetzt wird?“
Nun war ich völlig verblüfft und ratlos: „Soll das etwa heißen, dass die Menschen seit Jahrtausenden auf Blueeye leben, ihren Wohlstand hauptsächlich dem Gesang der PMC’s verdanken, aber immer noch keinen blassen Schimmer haben, worauf der Gesang letztendlich beruht?“
Meine Worte verklangen und es wurde ganz still in der Runde. Nach einer mir ewig lang vorkommenden Zeitspanne ergriff ein Mann mit durchdringenden grauen Augen das Wort. Er hieß Pitaar und jagte gewöhnlich im Weißsandgraben zwischen Leaktown und New Kingstone. Pitaar war berühmt wegen vieler spektakulärer Fänge ausgesucht schöner PMC’s.
„Wir konnten die Vorstellung, dass die PMC’s im Sand stumm sind, nie akzeptieren.“ begann er seine Rede. „Deshalb haben wir uns auf unseren Sandausflügen stets mit Breitfrequenz-Schallsensoren ausgerüstet, die wir, so oft es während der Jagd möglich war, zum Einsatz brachten. Jahrelang blieben unsere Bemühungen, die Schallaussendung durch PMC’s im Sandmeer nachzuweisen, erfolglos. Erschwert wurde das Ganze durch die bekannte extreme Scheue der Sandlebewesen. Die PMC’s schienen im Sand absolut stumm zu sein.
Aber dann ergab sich vor ein paar Jahren ein unerwarteter Glücksfall. Na ja, ob es ein Glücksfall war, sei einmal dahingestellt! Jedenfalls konnte ich einem Ereignis beiwohnen, das vor mir noch nie jemand beobachtet hatte. Es war an einem Abend, kurz bevor ich nach getaner Arbeit an die Oberfläche zurückkehren wollte. Ich hielt mich unbeweglich ganz dicht an einer Festsandschicht auf und wurde wohl deswegen von der großen PMC-Gruppe nicht bemerkt. Dreißig PMC's formierten sich vor meinen Augen zu einer völlig regelmäßigen räumlichen Struktur. Bei dieser Struktur handelte es sich um einen Dodekaeder. Die dreißig PMC's bildeten exakt die dreißig Ecken des Dodekaeders. Aber das war nicht alles. Genau im Zentrum befand sich ein weiteres Sandlebewesen. Es war offenbar, um es mit menschlichen Begriffen auszudrücken, verletzt. Es war fast zweigeteilt und damit seinem Ende nahe. Woher seine tödliche Verletzung rührte, konnte ich nicht beurteilen.
Ich schaltete sofort meine Schallsensoren ein und verhielt mich still, um die Wesen nicht auf mich aufmerksam zu machen. Etwa eine halbe Stunde lang verharrten die Lebewesen regungslos auf ihren Positionen. Dann starb das PMC in der Mitte und die Formation löste sich auf.
In meinem Labor wertete ich die Datenspeicher aus - und konnte tatsächlich feststellen, dass die PMC’s Schallwellen ausgesandt hatten. Es handelte sich jedoch nicht um Schall, den Menschen mit ihren Ohren wahrnehmen können, sondern um Infraschall. Durch eine Transformation wandelte ich ihn in für Menschen hörbaren Schall um.“
„Und dann konntet du den beruhigenden Gesang der dreißig PMC’s hören!“, rief ich aufgeregt in die Runde, „Die dreißig PMC’s trösteten ihren verletzten Artgenossen!“
„Nein“ antwortete Pitaar mit sorgenvoller Miene, „ich hörte das verletzte Sandlebewesen schreien.“
Er wendete sich nach hinten um und schaltete einen Audioplayer ein. Aus den Lautsprechern ertönte ein langgezogenes nervenzerreißendes kreischendes Geräusch. Nach kurzer Zeit musste ich mir die Ohren zuhalten, weil die dissonanten Töne immer unerträglicher wurden. Ich hatte das Gefühl, das Kreischen würde sich in mein Gehirn hineinfressen. Gnädig schaltete Pitaar das Gerät nach einer halben Minute aus. Die einsetzende Stille war wie Balsam. Alle Anwesenden im Raum atmeten spürbar auf.
Dann sprach Pitaar weiter: „Die Töne, die wir gerade hörten, enstanden durch einfache Verschiebung des im Sand aufgenommenen Infraschallgeräusches in den hörbaren Bereich. Da ich eine bestimmte Vermutung hatte, setzte ich danach spezielle Software ein. Sie sollte aus den Originalaufzeichnungen die durch den Tiefsand verursachten Frequenzveränderungen herausrechnen. Mein Gedanke war, dass die PMC’s Schwingungen erzeugen, die der Sand modifiziert. Werden die Schwingungen nicht im Sand, also in der Atmosphäre erzeugt, ergibt sich ein völlig anderes Klangbild. Leij, du hörst nun die gleiche Aufnahme wie gerade, mit dem einzigen Unterschied, dass der Einfluss des Sandes auf das produzierte Geräusch herausgerechnet wurde.“
Pitaar schaltete den Player ein zweites Mal ein. Und nun erklang plötzlich eine Melodie - die typische beschwingt heitere Melodie eines PMC’s, wie sie uns allen seit vielen Jahren vertraut war. Die Melodie war von luftiger Leichtigkeit und Eleganz und ließ mich die geradezu verletzenden Geräusche von vorher vergessen. Nach einiger Zeit schaltete Pitaar ab. Keiner der Männer sagte etwas. Sie warteten.
Ganz langsam begannen mir die Implikationen dessen, was ich in den letzten Minuten erfahren hatte, zu dämmern.
„Das heißt,“, sprach ich tastend nach einiger Zeit in die Stille hinein, „dass es sich bei den Klängen, die wir von den gejagten PMC’s hören, in Wahrheit um Schmerzensschreie handelt.“
„Diese Interpretation ist unserer Ansicht nach die einzig schlüssige.“ sagte Korjek mit bedächtiger Stimme. „Wenn wir die PMC’s aus dem Sand holen, entreißen wir sie ihrem natürlichen Lebensraum. Deshalb müssen sie sterben. Ihr Todeskampf dauert annähernd drei Wochen. Während dieser gesamten Zeit leiden sie. Wir Menschen erfreuen uns an den wunderschönen Klängen der PMC’s, die in Wahrheit nichts anderes sind als wochenlange Todesschreie. Und was die Sache noch schlimmer macht: PMC’s sind keine seelenlosen Halbpflanzen, sondern empfindungsfähige Lebewesen mit einer ausgeprägten Sozialstruktur. In höchster Not stehen sie sich gegenseitig bei und versuchen einander zu helfen. Denn wie sonst soll man es verstehen, dass die dreißig anderen PMC’s in mathematisch präziser Dodekaederformation so lange bei dem tödlich verletzten Artgenossen blieben, bis es starb?
Leider konnte ich durch weitere Analysen nicht herausfinden, welcher Art die Kommunikation zwischen dem verletzten PMC und den anderen war. Dies ist noch ein großes Geheimnis, was wir noch lüften müssen, wenn wir die PMC’s besser verstehen wollen.“
Langsam schwirrte mir der Kopf. Dass unser Gespräch eine derart schockierende Wendung nehmen würde, hätte ich nicht für möglich gehalten. Leise fragte ich: „Haben andere PMC-Jäger später ähnliche Beobachtungen gemacht?“
Jego, ein untersetzter Mann in mittleren Jahren, mit schütterem Haar und einem freundlich blickenden Gesicht, antwortete mir: „Ich erlebte es vor drei Jahren. Es handelte sich bei mir nur ein einzelnes PMC im Todeskampf. Die späteren Geräuschanalysen ergaben das gleiche Bild wie in Pitaars Fall. PMC’s sind eigentlich stumme Wesen. Nur im Todeskampf schreien sie. Auf welche Weise sie außerdem noch miteinander kommunizieren, ist nicht bekannt.“
„Wenn wir also davon ausgehen, dass PMC’s empfindungsfähige soziale Wesen sind, bedeutet dies alles also, dass wir hier auf Blueeye mit unserer PMC-Jagd jeden Tag unermessliches Leid produzieren, nur weil wir Menschen uns an schönen Klängen erfreuen wollen.“
„Besser hätte ich es nicht ausdrücken können.“ bestätigte Korjek. Nach einer Weile fuhr er fort: „Unser Problem ist, dass wir in einem Dilemma stecken. Beenden wir planetenweit die Jagd auf PMC’s, so berauben wir uns selbst unserer wirtschaftlichen Grundlage. Die Bevölkerung Blueeye’s wird über kurz oder lang verarmen, denn die PMC’s sind unser einziger bedeutender Exportartikel in das Imperium. Unsere Wirtschaft ist abhängig von der PMC-Jagd. Außerdem können wir uns kaum vorstellen, dass der Sternenimperator es hinnehmen wird, wenn wir die Lieferung der begehrten PMC’s einstellen. Jagen wir aber weiter wie bisher, machen wir uns, da wir nun die Zusammenhänge kennen, jeden Tag erneut schuldig.“
„Warum muss ich über all dies Stillschweigen bewahren?“ wollte ich wissen, „Wäre es nicht am besten, die gesamte Bevölkerung Blueeye’s zu informieren, damit das weitere Vorgehen gemeinsam abgestimmt werden kann und die Last der Verantwortung nicht allein auf euren wenigen Schultern ruht?“
„Oh, glaube mir, Leij, dass wir diese Fragen in unserem Kreis schon sehr oft diskutiert haben!“ meldete sich Stanton, ein junger Jäger aus Leaktown zu Wort, „Bisher sind wir noch der Auffassung, dass es am besten ist, wenn wir unser Wissen für uns behalten. Denn wir vermuten, dass es zu einem gesellschaftlichen Konflikt mit unabsehbaren Konsequenzen kommen könnte, wenn wir die Öffentlichkeit über die Wahrheit der PMC-Jagd in Kenntnis setzen. Es werden sich nämlich sofort zwei Gruppen in der Bevölkerung herausbilden: Die eine, die aus ethischen Gründen für die Abschaffung der Jagd eintritt, und die andere, die aus nachvollziehbaren wirtschaftlichen Erwägungen die PMC-Jagd weiter aufrechterhalten will. Und diese beiden Gruppen werden sich zunehmend unversöhnlich gegenüberstehen!“
„Und sobald das Imperium davon erfährt,“ ergänzte Aleert, „wird es seine Interessen mit aller Macht durchsetzen - vermutlich auf eine Weise, die keinem von uns hier gefallen dürfte.“
„Aber man muss doch irgendetwas unternehmen!“ rief ich aufgeregt. „In der jetzigen Form kann die PMC-Jagd doch nicht weiter aufrechterhalten werden. Was wir tun, ist moralisch verwerflich, jetzt, da wir wissen, welche Konsequenzen die Jagd für die Sandwesen hat.“
„Du hast natürlich recht, Leij,“ antwortete mein Vater, „und es freut mich, dass du für die PMC’s eintrittst. Aber wir dürfen nicht überstürzt handeln. Solange wir keine vernünftige Alternative vorweisen können, müssen wir vorerst alles beim Alten lassen und die Jagd weiterführen. Auf keinen Fall darf das Imperium von unseren Kenntnissen und von unseren Zweifeln erfahren. Dies hätte mit Sicherheit schlimme Auswirkungen für ganz Blueeye!“
„Das heißt also, ihr wollt weitermachen wie bisher. So, als wenn nichts gewesen wäre.“
Korjek antwortete mit resigniert klingender Stimme: „Ich will ehrlich zu dir sein, Leij. Ja, darauf läuft es im Augenblick hinaus. Aber wir suchen seit Jahren nach einem Ausweg aus dem Dilemma. Irgendwann, das verspreche ich dir, werden wir etwas finden. Sobald sich ein gangbarer Weg abzeichnet, werden wir ihn beschreiten.“
Wir diskutierten noch sehr lange, bis in die frühen Morgenstunden, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Am Ende, als alle Gäste gegangen waren, war ich völlig aufgewühlt und konnte kaum in den Schlaf finden.
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In den nächsten Tagen tauchten wir wieder in die Tiefe, um PMC’s zu jagen. Doch die Jagd machte mir keine Freude mehr. Im Gegenteil: Sie erfüllte mich zunehmend mit Widerwillen. Immer, wenn wir eines der scheuen Wesen einfingen und an die Oberfläche beförderten, musste ich an das grausame Schicksal denken, das wir ihm durch unser Handeln auferlegten. Immer häufiger kam es vor, dass ich abends nach getaner Arbeit ohne einen einzigen Fang nach Hause zurückkehrte und darüber keineswegs betrübt war. Meine Fangquote sank unter jedes akzeptable Niveau. Meine Abneigung gegen die Jagd wuchs hingegen von Tag zu Tag. Wenn ich meinem Vater in die Augen blickte, meinte ich dort eine Art von Traurigkeit zu erkennen. Ich glaube, er verwünschte den Tag, als man mich in das Geheimnis der PMC’s eingeweiht hatte. Aber es war nicht mehr rückgängig zu machen. Ich war meinem Vater jedoch keineswegs böse. Im Gegenteil: Ich hätte es ihm nicht verziehen, wenn er mir Wahrheit verschwiegen hätte.
Irgendwann im nächsten Frühling, als ich es nicht länger ertragen konnte, nahm ich zum Bedauern meiner Crew endgültig Abschied von der Jagd. Meine Eltern versuchten halbherzig und vergeblich, mich von meinem Entschluss abzubringen. Sie akzeptierten meine Entscheidung, die ich aus Gewissensgründen getroffen hatte. Ich konnte mich des Eindruckes nicht erwehren, dass sie sogar ein wenig neidisch auf mich waren. Ihnen war es nicht so ohne Weiteres möglich, den eigenen und gesellschaftlichen Zwängen zu entfliehen. Die PMC-Jagd hatte zu viele Jahre ihres eigenen Lebens geprägt, als dass sie dieses Leben so einfach hätten aufgeben können.
In den nächsten Monaten hielt ich mich noch manches Mal im Sandozean auf, nicht um zu jagen, sondern um allein zu sein und mir über meine weitere Zukunft klar zu werden. Immer wieder trieben meine Gedanken dann in die Vergangenheit zurück, in die Zeit meiner Ausbildung, die von den tragischen Geschehnissen um Gerond überschattet war. Im Laufe der Zeit dämmerte mir, dass meine Zukunft nicht das Blueeyesche Sandmeer war.
So oft ich konnte, begleitete ich PMC-Transporte nach Leaktown, um möglichst viel Zeit am Raumhafen verbringen zu können. Je häufiger ich den majestätischen Landungen der Raumschiffe und den geschäftigen Aktvitäten auf dem Raumhafen zusah, desto größer wurde meine Sehnsucht nach Freiheit. Weg aus der beklemmenden, von resignierendem Fatalismus geprägten Enge Blueeye’s zu kommen, erschien mir mehr und mehr als ein erstrebenswertes Ziel. So begann ich damit, über den CC, dem Communication Channel meiner Wohnung, alle möglichen Informationen über die Imperiumswelten zusammenzutragen, um mein Wissen über das Imperium zu vergrößern. Je länger ich in den unzähligen mir zugänglichen Dateien stöberte, desto stärker wuchs in mir der Wunsch heran, meine Heimatwelt irgendwann einmal zu verlassen. Schneller als ich für möglich gehalten hatte, ging mein Wunsch in Erfüllung.
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An einem Wintertag des Jahres 45383 n.n.Z. schwenkte der Schnelle Raumkreuzer Lemuria des Herzogs Halfan XXVI., seines Zeichens Herrscher über das Herzogtum Halifax, in einen unangemeldeten Orbit um Blueeye ein und löste damit eine organisationstechnische Katastrophe aus, die jedoch von der Raumüberwachung heruntergespielt wurde, um nicht den allseits gefürchteten Zorn des Herzogs auf sich zu ziehen. Es kam durch die Notwendigkeit außerplanmäßiger riskanter Ausweichmanöver im planetennahen Einflugkorridor zu vierzehn Unfällen mit Atmosphärengleitern und automatischen Transpondern mit insgesamt 50 Toten. Es ließ sich später aber in allen Fällen durch entsprechende ballistische Protokolle und GraviLogs zweifelsfrei nachweisen, dass die alleinige Schuld bei den betroffenen Piloten beziehungsweise Navigatoren in den Steuerzentralen Blueeye’s zu suchen war, nicht aber bei der Kommandatur des Raumkreuzers Lemuria.
Vom Orbit aus verließen gleichzeitig 17 flache quaderförmige goldfarbene Planetenfähren den Kreuzer und senkten sich, synchron um ihre Querachsen rotierend, auf die 17 über den ganzen Planeten verteilten Raumhäfen herab. Sie lösten damit 17 lokale logistische Minikatastrophen aus, denn in jeder der 17 Fähren konnte sich theoretisch der Herzog befinden, so dass sich alle Städte, die den jeweiligen Raumhafen unterhielten, innnerhalb von wenigen Minuten auf den hohen Besuch eines Adligen vorzubereiten hatte. Als sich in überstürzter Hast die Empfangskomitees, bestehend aus Repräsentanten des öffentlichen Lebens und kirchlichen Würdenträgern, auf den Raumhäfen eingefunden hatten, beendeten in präziser zeitlicher Koordination alle Raumschiffe ihre Rotationen und landeten gleichzeitig. Denn Herzog Halfans ausgeprägter Sinn für die ästhetischen und artifiziellen Aspekte der Zeit, für den der Adlige im gesamten Imperium bekannt war, wirkte sich auch in diesem organisatorischen Detail aus.
Zum großen Erstaunen der wartenden Menschen erfolgten die Landungen nicht mit dem gewohnt ohrenbetäubenden Aufbrüllen der gewaltigen Bremstriebwerke, sondern, abgesehen von den Geräuschen der durch die großen Raumschiffmassen verdrängten Luft, lediglich mit einem durchdringenden Vibrieren. Was die Bewohner Blueeye’s bis dato noch nicht wussten, war, dass alle direkt dem Herzog unterstehenden Teile der halifaxianischen Flotte inzwischen mit dem neu entwickelten DarkEnergy-Antrieb ausgerüstet worden waren. Dieser Antrieb war erstmals in der Lage, im unterlichtschnellen Bereich den antigravitativen Einfluss der Dunklen Energie zu nutzen.
Die Lemuria war eines dieser neuen teuren Schiffe und ermöglichte einen Reisekomfort, den es bisher im Imperium nicht gegeben hatte. Sanft senkten sich die riesigen Quader auf die Oberfläche hinab und verharrten in etwa zehn Metern Höhe, ohne dass, wie sonst üblich, riesige hydraulische Standbeine ausgefahren wurden. Exakt 37,26 Minuten nach der Landung - diese Wartezeit hatte Herzog Halifan nach der 37,26 Minuten dauernden Rotationsperiode des weißen Zwergsterns Halifax delta festgelegt - , als die unter den nun leise summenden Fähren wartenden Würdenträger zu frieren begannen, entfaltete sich unter den ruhig schwebenden makellos glänzenden Quadern jeweils eine im Vergleich zur Fähre winzige Rampe. Auf keiner der Rampen kam Herzog Halifan herunter, was ein fast hörbares erleichtertes Aufatmen der Empfangskomitees zur Folge hatte. Vielmehr schritt jeweils ein hünenhafter Mann in schwarzem Kampfanzug herab, auf dessen breiter Brust das kreisförmige in sich verschlungene rote Ornament der Imperialen Streitkräfte prangte.
Als er das Ende der Rampe erreicht hatte, verneigte sich das Empfangskomitee mit der protokollgerechten Demut - tief. Der Provinzgouverneur begrüßte den Offizier, der daraufhin mit schallverstärkter Stimme das Wort an die Repräsentanten richtete. Seine Ansprache wurde in die lokalen Komkanäle eingespeist.
„Freie Bürger Blueye’s! Seine Eminenz Herzog Halifan lässt Ihnen die Grüße unseres geliebten Herrschers Lukius II. ausrichten. Seine Augen ruhen mit Wohlgefallen auf seinen treuen Untertanen, die hier auf Blueeye wichtige Dienste zum Wohle des Sternenreiches leisten. Herzog Halifan weiß, dass er beim Sternenimperator in blindem Vertrauen für die Zuverlässigkeit und Aufopferungsbereitschaft der Untertanen seines Herzogtums bürgen kann.“
Der Major der kaiserlichen Streitkräfte machte eine wohlbemessene Pause, um die Bedeutung dieser Worte zu unterstreichen, ehe er fortfuhr: „Seit Tausenden von Jahren genießen die Menschen des Imperiums ein Leben in Freiheit und Wohlstand. Dank der weisen Führung aller Sternenimperatoren konnte sich die Menschheit friedlich auf viele Planeten in diesem Teil der Milchstraße ausbreiten. Als vermutlich einzige primär-intelligente Rasse werden wir in naher oder ferner Zukunft die gesamte Galaxis in Besitz nehmen und dann unsere Hände nach ferneren Zielen ausstrecken.“
Wieder hielt der Major kurz inne, um seinen Zuhörern und Zuschauern Gelegenheit zu geben, die pathetischen Worte zu verarbeiten. Dann sprach er weiter:
„Seit einiger Zeit droht dieser Prozess des stetigen friedfertigen Wachstums ins Stocken zu geraten. Denn es gibt Kräfte, destruktive Kräfte, die sich gegen das Imperium stellen und letztendlich seine Vernichtung planen. Seine Vernichtung mit menschenverachtendem Hass und brutalen Methoden!“
Ein entsetzter Aufschrei ging durch das Empfangskomitee und alle übrigen Zuschauer. Später wertete man die Aufzeichungen dieses Aufschreis tiefenpsychologisch aus, wobei man gezielt nach Hinweisen auf lediglich vorgespielte Emotionen fahndete.
Der Offizier vollführte ein sparsame Geste mit seiner rechten Hand, worauf sich geräuschlos Öffnungen an der Fährenunterseite auftaten. Aus diesen Öffnungen heraus entfalteten sich riesige Projektionsschirme. Nachdem elektronische Lichtabsorber den Bereich in unmittelbarer Nähe des Raumschiffes abgedunkelt hatten, wurde eine mehrere Meter hohe Holoaufzeichnung auf den Schirmen abgespielt.
Sie zeigte den Angriff von Raumschiffen auf einen Planeten, vom Weltraum aus betrachtet. Bei den Raumschiffen handelte es sich um Kriegsschiffe, aber ihnen fehlten die sonst üblichen Hoheitszeichen und Farben der Imperialen Streitkräfte. Sie waren vielmehr mit fremdartigen blauen Symbolen verziert glänzten und in gelber Farbe. Einige der Menschen auf dem Raumhafen erkannten die angegriffene Welt sofort: Es handelte sich um die Wasserwelt Diamond. Diamond war erst vor ein paar Jahrhunderten vom Imperium erschlossen worden. Der Planet lag an der Peripherie des menschlichen Einflussbereiches in Richtung Zentrum der Galaxis. Diamond war bekannt für seine enorme Vielfalt unterseeischen Lebens und deshalb als Urlaubs- und Jagdparadies geschätzt bei all denen, die es sich leisten konnten.
Die riesige Holoprojektion zeigte den entsetzten Zuschauern unter der Landefähre nun Bilder der Zerstörung und Verwüstung. Ballistische Projektile verließen in sanftem Bogen die Abschussrampen der Raumschiffe und gingen auf die Schwimmenden Städte Diamonds nieder. Etwas später sah man gigantische Atompilze sich majestätisch langsam aus dem Meer erheben, in die oberen Atmosphäreschichten hineinwachsend, von Blitzen umzuckt. Nahaufnahmen zeigten, dass das Meer an den Einschlagpunkten in gigantischen Wolken verdampfte. Die Schwimmenden Städte waren daraufhin verschwunden. Schließlich zeigte die Holoprojektion, wie die Raumschiffe beschleunigten und sich anschickten, das Diamond-System zu verlassen.
Der Major der Streitkräfte schaltete die Lichtabsorber aus, ließ den Holoprojektor wieder einfahren und wartete zwei Minuten. Als er erneut seine Stimme hob, war es totenstill auf dem Platz geworden, abgesehen vom tiefen Summen der Raumschiffaggregate, die das Schiff in der Schwebe hielten.
„Seit zwei Jahren werden Planeten am Randbereich des Imperiums angegriffen. Die Angriffe erfolgen ohne jegliche Vorankündigung und mit brutaler Gewalt. Nach der Vernichtung der Infrastruktur des betroffenen Planeten und häufig auch der atomaren Verseuchung, die unzähligen Menschen das Leben kostet, fliehen die Agressoren feige. Sie weichen jeder militärischen Konfrontation aus. Wir glauben sicher zu wissen, dass sie sich in zentrumsnahe Bereiche der Milchstraße zurückziehen.“
„Erlauben Sie mir die Frage, Major Highfield.“ richtete der Bürgermeister Leaktowns stockend das Wort an den Offizier, „Wieviele Welten des Imperiums fielen den Angreifern schon zum Opfer? Und wer sind die Angreifer?“
„Bisher wurden elf Systeme angegriffen und teilweise schwer verwüstet. Als der Planet ThoroniaNotRed vor acht Monaten mit Thermoschockmissiles bombardiert wurde, gelang es der Besatzung eines imperialen Vektorsprungschiffes, eines der angreifenden Raumschiffe zu stellen und zu erobern. Die Besatzung verübte sofort gemeinschaftlichen Suizid, so dass man niemanden lebend ergreifen und verhören konnte. Aber es wurden Dokumente sichergestellt. Dokumente und Logbucheintragungen, die von der eroberten Besatzung nicht mehr komplett vernichtet werden konnten. Aus diesen Dokumenten geht zweifelsfrei hervor, dass es sich bei den Angreifern um abtrünnige Angehörige der Imperialen Streitkräfte handelt. Sie planen offenbar die Eroberung des Imperiums. Nach allem, was wir wissen, stellen ihre bisherigen Angriffe lediglich Tests für ihre militärische Stärke dar, sind also nur ein Vorgeplänkel kommender weit massiverer Auseinandersetzungen. Wie groß ihre militärische Macht tatsächlich ist und über welche Ressourcen sie verfügen, ist uns nicht bekannt. Der Imperiale Geheimdienst Sec wird jedoch in Kürze weitere wichtige Informationen über die Rebellen vorlegen.“
„Major Highfield“, fragte Coa Bjanks, die stellvertretende Bürgermeisterin New Kingstones, besorgt „können Sie uns sagen, wie groß die Gefahr für das Imperium tatsächlich ist?“
Der Offizier antwortete mit bedächtigen Worten, die jedermann zeigten, dass er sich auf diese Frage sorgfältig vorbereitet hatte: „Bis vor ein paar Monaten deutete nichts darauf hin, dass es sich hier um einen eskalierenden Konflikt handeln könnte. Sämtliche Analysen schienen zweifelsfrei zu belegen, dass hier lediglich eine relativ kleine verbrecherische Gruppierung, mit zugegebenermaßen hoher krimineller Energie, am Werk ist. So wurden zunächst nur geringe Teile der Öffentlichkeit informiert, auch, um unangemessenen panischen Reaktionen der Bevölkerung vorzubeugen. Dann steigerte sich aber die Anzahl und die Brutalität der Übergriffe, und es zeichnete sich ab, dass das Imperium in seiner Gesamtheit bedroht ist. Trotzdem ist eindeutig festzustellen: Die Macht der Verbrecher ist den gewaltigen Kräften und Reserven des Imperiums nicht gewachsen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Mörder gefangengenommen und ihrer gerechten Betrafung zugeführt werden.“
Erleichterung machte sich auf den Gesichtern der Zuhörer breit. Der Major setzte seine Ansprache fort: „Nichtsdestoweniger müssen alle freiheitsliebenden Menschen zusammenhalten und einander beistehen, wenn wir aus diesem Konflikt als Sieger hervorgehen wollen. So wird auch die Bevölkerung Blueeye’s gebeten, ihren Beitrag zu leisten, um die Bedrohung durch die Rebellen ein für alle Mal zu beseitigen.
Das Sternenreich benötigt mehr Soldaten, um seinen zunehmenden militärischen Aufgaben an der Peripherie seines Einflussbereiches nachkommen zu können. Soldaten, die bereit sind, ihr Leben für den Imperator zu wagen und den Rebellen mit unerschrockener Tapferkeit zu begegnen, damit andere Bürger sorgenfrei leben können. Herzog Halifan hat sich beim Imperator dafür verbürgt, dass Blueeye ohne Schwierigkeiten 17000 Soldatinnen und Soldaten senden kann. Auf die Provinz Leaktown fallen demnach 1000 Rekruten.“
Der Provinzgouverneur wusste natürlich, dass man ein derartig dringend vorgetragenes Ersuchen des Herzogs nicht abweisen konnte. Schon gar nicht, wenn man so an seinem Leben hing wie er. Deshalb antwortete er: „Major Highfield! Richten Sie Herzog Halifan aus, dass die Menschen der Provinz Leaktown alles tun werden, um den Sternenimperator in seinem aufrechten Kampf gegen die aufständischen Verbrecher zu unterstützen. In spätestens 10 Tagen werden 1000 Rekruten aus der Provinz Leaktown bereitstehen, um ihre Ausbildung zu Imperiumssoldaten anzutreten.“
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Ich konnte den Auftritt Major Highfields zu Hause in New Kingstone life mitverfolgen - und war begeistert. Als die dramatischen Bilder von der Bombardierung Diamonds über den Holobildschirm flimmerten, war mir sofort klar, zu welchem Zweck die 17 Raumfähren gelandet waren. Und als der Offizier seine Nachfrage nach Soldaten vorbrachte, war mein Entschluss schon längst gefasst.
Schon am nächsten Tag fuhr ich nach Leaktown und meldete mich zum Dienst in den Imperialen Streitkräften. Ich war nicht der einzige, der sich freiwillig meldete. Viele junge Frauen und Männer sahen hier ihren Kindheitstraum in Erfüllung gehen, im gewaltigen Sternenreich spannende Abenteuer zu erleben und heldenhaft ihren Beitrag zur Expansion der Menschheit zu leisten. So war der Andrang an der gelandeten Fähre auf dem Raumhafen Leaktowns groß. Nach schon drei Tagen lagen mehr als 1000 Bewerbungen vor. Major Highfield ließ mitteilen, dass ihn das Engagement der Bürger Blueeye’s sehr beeindrucke. Er wolle dafür sorgen, dass in den nächsten Monaten ein zweites Schiff nach Blueeye gesandt werden solle, um weitere Freiwillige in die Armee aufzunehmen.
Meine Eltern waren traurig über meine Entscheidung, dem gesicherten Leben auf Blueeye den Rücken zu kehren. Zugunsten einer unsicheren Zukunft, die mich vielleicht sogar das Leben kosten könnte. Aber meine Entscheidung war unumstößlich. Auf Blueeye sah ich keine Zukunft für mich, denn das einzige, was ich wirklich gut gelernt hatte, nämlich PMC’s zu jagen, machte mich nur unglücklich. Letztendlich akzeptierten meine Eltern den Entschluss, aber ich nahm natürlich wahr, dass es sie sehr bedrückte.
Am 16. Januar des Jahres 45385 n.n.Z. betrat ich mit 999 anderen Rekruten die Raumfähre des Majors Highfield, um die Ausbildung zum Soldaten des Imperiums zu beginnen. 1000 junge Menschen saßen aufgeregt in ihren Sitzen und warteten voller Spannung auf den Start der Fähre. Auf den internen Bildschirmen sahen wir die wartenden Menschen auf dem Raumhafen. Tausende Angehörige, Freunde, Bekannte und Schaulustige hatten sich eingefunden, um den Abflug des Schiffes mitzuerleben. Ich suchte den großen Platz nach meinen Eltern ab und fand sie schließlich als winzige Objekte in der großen Menschenmenge. Meine Mutter hatte bei unserem Abschied sehr geweint, und auch meinem Vater hatten Tränen in den Augen gestanden. Allein ich hatte von Abschiedsschmerz nichts wissen wollen und ihnen versichert, dass ich so bald wie möglich für einen Besuch zurückkehren wolle.
Dann hob die goldglänzende Fähre ab. Aufgrund des neuartigen Antriebs wurden wir trotz enormer Beschleunigung nicht in die Sitze gepresst. Fasziniert blickten wir uns an. Und stolz. Wir waren nun Soldaten des Imperiums. Ich warf einen letzten Blick auf den Raumhafen Leaktowns, der unter uns schnell kleiner wurde. Ich sollte meine Eltern nie mehr wiedersehen.
Eines der ungewöhnlichsten Hadesrennen war ohne Zweifel das 1392., welches während der besonders despotischen Herrschaft des Imperators Umkor III. ausgetragen wurde. Die entscheidenden Ereignisse spielten sich im Zusammenhang mit dem zweiten Portal ab, und deshalb wird zur Erinnerung daran das 2. Portal heute immer noch ‘Himmelskönigin’ genannt, obwohl Umkor III. nichts unversucht ließ, diesen Namen unter allen Umständen zu verhindern. Die Geschichte des 2. Portals ist aber auch die Geschichte des jungen Mannes Joon vom Planeten Violetter Staub, dessen Schicksal es war, auf dem Planeten Hope, dem Machtzentrum des menschlichen Sternenimperiums, in den chaotischen Mahlstrom höfischer Intrigen zu geraten und so den Weg nach Hades zu finden.
Der Planet Violetter Staub wurde von seinen Entdeckern so genannt, weil sich einmal innerhalb eines Planetenjahres die gesamte Atmosphäre hell violett einfärbte. Das Naturschauspiel dauerte genau 11 Planetentage. Diese 11 Tage nannte man auch die Staubtage. Ursache waren Billiarden winzigkleiner Sporen, die eine Pflanzenart namens Pinurabilis in die Luft entsandte, um den Fortbestand der Art zu sichern. Pinurabilis war durch diesen effizienten Mechanismus die beherrschende pflanzliche Lebensform auf dem Planeten, bildete damit aber gleichzeitig auch eine wesentliche Nahrungsgrundlage für eine Unzahl anderer Lebewesen, so dass sich auf Violetter Staub im Laufe der Jahrmillionen eine überaus üppige Flora und Fauna entwickeln konnte.
Auf dieser paradiesischen Welt des Lebens im Überfluss wuchs Joon auf. Er wohnte mit seiner Mutter in einem kleinen Morphbungalow am Rande eines Kazienwaldes, weit abgelegen von der nächsten größeren Ansiedlung Morningriver. Joon liebte seine Heimat. Besonders war er den Tieren zugetan. Schon als kleines Kind ging er gerne in den Kazienwald und beobachtete stundenlang die Kazien-Keilschnecken, wie sie die Blätter in den hohen Baumkronen abweideten, um daraus ihre kunstvollen Eiablagetürme zu erbauen. Manchmal schlich er sich leise an die Baumhöhlenhasen heran, kleine vierbeinige pelzige Säugetiere mit großen seitlich abstehenden Ohren, und schaute ihnen bei der Pflege ihres Nachwuchses zu. Es gelang ihm, sich bis auf wenige Meter an sie heranzupirschen, ohne dass sie, wie sonst üblich, geräuschlos und in weiten Sätzen davonhuschten. Obwohl sie ihn wahrgenommen hatten, duldeten sie seine Anwesenheit. Als Joon seiner Mutter aufgeregt davon erzählte, wollte sie ihm zunächst gar nicht glauben, denn Baumhöhlenhasen waren extrem scheue Lebewesen. Erst mit Videoaufnahmen von seinen Waldausflügen zu den Tieren konnte er sie davon überzeugen, dass er sie nicht angelogen hatte, und sie war darüber sehr erstaunt.
Im Alter von 17 Standardjahren schloss Joon die Schulausbildung ab und wurde Blaukopfechsenreiter. Blaukopfechsen waren auf dem Planeten Violetter Staub lebende bis zu 3,50 Meter große zweibeinige Echsen, die sich ausschließlich von der Pflanze Pinurabilis ernährten. Mit ihren gewaltigen spitzen Hörnern waren sie in der Lage, sich gegen die meisten ihrer natürlichen Feinde wirksam zu wehren. Außerdem konnten sie sich auf ihren muskulösen stämmigen Beinen, die in großen krallenbewehrten Klauen endeten, ausdauernd und schnell fortbewegen. Die Siedler auf Violetter Staub entdeckten bald, dass sich diese Tiere zum Reiten eigneten, und sie begannen damit, Blaukopfechsen einzufangen und sie zu dressieren, so dass sie als Reittiere eingesetzt werden konnten. Blaukopfechsen waren jedoch sehr eigenwillig, meistens unberechenbar und deshalb kaum zu zähmen. Nur wenige Menschen waren talentiert und hinreichend geduldig, um aus diesen wilden urtümlichen Kreaturen gehorsame Reittiere zu formen. Wenn es jedoch jemandem gelang, eine Blaukopfechse zu zähmen, so besaß er damit einen ungeheuer schnellen und ausdauernden Begleiter, der seinen Reiter überall hin trug und ihn sogar vor anderen Raubtieren des Planeten wirkungsvoll und selbstlos beschützte.
Joon war ein begnadeter Blaukopfechsenreiter. Niemand konnte erklären, wie er es zuwege brachte, eine völlig wilde und fremde Blaukopfechse in nur wenigen Tagen so zu beeinflussen, dass sie ihm lammfromm folgte, ihn widerstandslos aufsitzen ließ und in rasendem Lauf trug, wohin er auch wollte. So blieb es nicht aus, dass Joon an den beliebten Blaukopfechsenrennen auf Violetter Staub teilnahm und alle Preise einstrich, die es zu gewinnen gab. Bald schon war Joon auf seinem Heimatplaneten eine Berühmtheit. Mit den Preisgeldern aus den Rennen konnte er sich ein sorgenfreies Leben leisten.
Zu dieser Zeit waren die Blaukopfechsen auch am Imperialen Hof zu Hope in Mode. Jeder Adlige, der etwas auf sich hielt und seinen Reichtum zur Schau stellen wollte, legte sich einen Rennstall mit Blaukopfechsen samt Reitern zu, um bei den regelmäßig stattfindenden Rennveranstaltungen durch Erfolge vor dem Imperator zu glänzen. So kam es, dass Joons legendäre Fähigkeiten im Umgang mit Blaukopfechsen den Würdenträgern am Imperialen Hof nicht verborgen blieben. Herzog Gunter, genannt ‘Der Edle’, aus dem Hause Bortaliskoria, ein entfernter Onkel des Imperators, ausgewiesener Förderer der Künste und Kenner schöner Frauen, wollte seinen wegen misslungener Spekulationsgeschäfte etwas ramponierten Ruf durch spektakuläre Gewinne beim Blaukopfechsenrennen aufpolieren. Dazu benötigte er vor allen Dingen exzellente Reiter. Herzog Gunter reiste also mit seinem Raumschiff Lovely Pearl persönlich nach Violetter Staub und ging über der Hauptstadt Pinuracity nieder, in der gerade ein Blaukopfechsenrennen ausgetragen wurde, an dem auch Joon teilnahm - und gewann. Während des Anfluges ließ sich Herzog Gunter ständig über den aktuellen Stand des Wettkampfes auf dem Laufenden halten. Insbesondere von Joons Reitkünsten war er sehr angetan. Herzog Gunter hatte seine Ankunft mit sicherem Gespür für perfektes Timing so eingerichtet, dass er genau in dem Augenblick landete, als die Siegerehrung vorgenommen werden sollte. Es war nun gerade der 5. Staubtag auf dem Planeten und die Atmosphäre deshalb violett neblig eingetrübt. Als der Herzog seinem Raumschiff, einem schlanken silbernen Diskus, mit wehender violetter Schleppe entstieg, schien es, als stiege ein Gott aus nebligen ätherischen Höhen auf die niedere Welt hinab. Alle Akteure und Abertausende von Zuschauern warfen sich gleichzeitig auf die Erde, den Kopf in den violetten Staub drückend, so wie es das offizielle Protokoll für Begegnungen des einfachen Volkes mit Vertretern des Hochadels vorsah. Herzog Gunter ließ durch seinen neben ihm stehenden Deklarator mit einer weit über den Platz hallenden Stimme verkünden:
„Herzog Gunter aus dem Imperialen Haus Bortaliskoria richtet den Bewohnern des Planeten Violetter Staub seine gnädigen Grüße aus. Er gratuliert ihnen zum soeben zu Ende gegangenen erfolgreichen Blaukopfechsenrennen. Die Leistungen des Reiters Joon aus der Stadt Morningriver haben sein Wohlwollen gefunden. Er soll deshalb zum Sieger des Rennens erklärt werden. Joon möge sich erheben und vortreten.“
Joon richtete sich zitternd vor Angst auf und ging mit tief gesenktem Kopf und in gebeugter Haltung unsicheren Schrittes über den weiten Platz zum hoch aufragenden Diskus. Etwa zehn Meter vor dem Herzog warf er sich erneut in den Staub und sprach die vorgeschriebene Begrüßungsformel: „Euer niedrigster Untertan Joon dankt für die Gnade der Beachtung und legt sein Schicksal in Ihre schützenden Hände.“
Nun geruhte Herzog Gunter selbst zu sprechen. Seine volltönende Stimme hallte, von Schallmodifikatoren im Raumschiff tausendfach verstärkt und im Timbre an die augenblickliche psychologische Situation adaptiert, über den Platz: “Der Reiter Joon möge sich wieder aufrichten, denn er genießt unser vorzügliches Wohlwollen.“
Ein Raunen ging durch die Menge, denn solch milde Ansprachen durch Repräsentanten der Herrscherschicht hörten gewöhnliche Bürger des Imperiums nur sehr selten. Herzog Gunter fuhr fort: „Wir geruhen, die Fähigkeiten des Bürgers Joon als Blaukopfechsenreiter in den Ländereien unseres Herzogtums auf Hope, zu Ehren des Sternenimperators, seiner Majestät Umkar III., zu fördern und zu nutzen. Deshalb richten wir die hochherrschaftliche Bitte an ihn, uns nach Hope zu begleiten.“
Joon wusste, dass in diesem Augenblick seine Tage auf Violetter Staub gezählt waren, denn eine so genannte ‘hochherrschaftliche Bitte’ schlug man nicht ab. Diejenigen Menschen, die es schon einmal gewagt hatten, hatten dies zumindest mit dem Ruin ihrer persönlichen Karriere, oft aber auch schon mit dem Verlust ihres Lebens bezahlt. Und da Joon leben wollte, antwortete er: „Ihr niedrigster Untertan Joon ist sich der übergroßen Ehre Eurer Bitte wohl bewusst und schätzt sich glücklich, Ihnen mit seiner Zusage eine geringe Freude bereiten zu können. Verfügen Sie über mich in Ihrem Sinne.“
Damit neigte sich Herzog Gunters Aufenthalt auf Violetter Staub schon dem Ende zu. Er ging ohne einen weiteren Gruß in sein Raumschiff zurück, klopfte sich, als alle Luken geschlossen waren, voller Ekel den violetten Staub von seiner Robe und ließ sich von seinen mitgereisten persönlichen Dienerinnen gründlich baden und neu einkleiden. Dann überzeugte er sich, dass Joon an Bord war und ließ den Befehl zur Rückreise nach Hope geben.
War Joons beruflicher Aufstieg auf Violetter Staub als erfolgreich zu bezeichnen gewesen, so konnte man ihn auf Hope nur mit dem Adjektiv ‘kometenhaft’ einigermaßen treffend beschreiben. Joon war mit seinen Fähigkeiten als Blaukopfechsenreiter eine Sensation. Er gewann mit den edlen Tieren fast jedes Rennen und brachte seinem Besitzer Ansehen und immense Gewinne ein. Herzog Gunter war fasziniert von Joon und gewährte ihm so viele Privilegien, wie einem gewöhnlichen Bürger gerade noch erlaubt waren. Auf Bällen und Empfängen wurde über den Blaukopfechsensport gefachsimpelt und Joons Name war in aller Munde. Joons Mutter hörte auf Violetter Staub vom Ruhm ihres Sohnes und war stolz auf ihn.
Sein Glück war aber nicht von Dauer. Häufig schon wurden in der langen Geschichte Hopes einfache Bürger zum Spielball intriganter Adliger mit ihren launischen Leidenschaften. Joon erging es nicht anders.
Fürst Aldrich XI. veranstaltete sein jährliches Blaukopfechsenrennen in der Stadt Miraculum-Vitt. Der Siegespreis war dieses Mal außerordentlich exquisit: Dem Besitzer der siegreichen Blaukopfechse winkte eine Liebesnacht mit der liebreizenden Tochter des Fürsten, Alizialia. Natürlich führte diese Siegesaussicht zu einem Bewerberansturm für das Rennen, denn Alizialias Schönheit wurde in allen Adelshäusern Hopes gerühmt. Herzog Gunter schickte seinen besten Reiter Joon und seine schnellste Echse namens Krakrik zu diesem Wettbewerb und malte sich schon Tage vor Rennbeginn völlig siegessicher in Gedanken aus, wie er Alizialia in seinem Schlafzimmer entblättern würde, nachdem Joon für ihn den Sieg davongetragen hatte.
Joons härtester Konkurrent bei Blaukopfechsenrennen war im allgemeinen der Reiter Hador des Grafen von Haderwich. Auch Graf von Haderwich wollte unter allen Umständen den Sieg bei diesem prestigeträchtigen Blaukopfechsenrennen davontragen. Der Graf sah nur Joon als Hindernis auf seinem Weg zum Erfolg. Alle anderen Kandidaten würde sein Reiter Hador schon überwinden. Sportliche Fairness zählte jedoch nicht gerade zu des Grafen ausgeprägten charakterlichen Eigenschaften. Er ließ einen Tierpfleger aus Herzog Gunters Reitstall zwingen, Joons Echse Krakrik heimlich ein biochemisches Mittel zu verabreichen, das den Willen des Tieres lähmte, aber eine Stunde nach dem Wettkampf im Körper der Echse nicht mehr nachweisbar war. Der Tierpfleger verunglückte einen Tag später tödlich unter ungeklärten Umständen. Um seinen Triumph perfekt zu machen, ließ Graf Haderwich einen Geldbetrag von drei Millionen Dollar auf Joons Konto überweisen. Dabei manipulierte er die Überweisung so, dass sie zu einem seiner größten Rivalen, dem Herzog Muncibol Marmong IV., zurückverfolgt werden konnte.
Das Blaukopfechsenrennen von Miraculum-Vitt verlief so, wie Graf Haderwich es geplant hatte. Krakrik lief hervorragend, aber es fehlte dem Tier im entscheidenden Moment der Siegeswille gegen Hadors Rennechse, so dass Joon knapp hinter Hador den zweiten Platz belegte. Herzog Gunter war entsetzt wegen dieser Niederlage, hatte er sich doch im Vorfeld des Rennens öffentlich gebrüstet, die Nacht mit dem schönen Mädchen Alizialia mit spielerischer Leichtigkeit gewinnen zu können. Auch Joon konnte seine Niederlage nicht begreifen, denn er hatte mit Bestürzung Krakriks Kraftlosigkeit während des Rennens gespürt. Er war ratlos, denn in den vorangegangenen Trainingstagen hatte sein Reittier vor Energie und Kampfeswillen nur so gesprüht.
Wutentbrannt ließ Herzog Gunter seinen Rennreiter Joon in den Audienzsaal schleifen. Zwei herzogliche Soldaten warfen Joon dem Herzog vor die Füße, der ihn unter unflätigen Flüchen nach dem Grund seines Versagens befragte. Joon beteuerte seine Unschuld und erklärte, er könne sich die Schwäche seiner Echse nicht erklären. Angesichts der blinden Wut des Herzogs fürchtete Joon um sein Leben. Und dann konfrontierte Herzog Gunters Privatsekretär den zitternd auf dem Boden liegenden Rennreiter mit der Überweisung des Millionenbetrages, der augenscheinlich von Muncibol Marmong IV. stammte, einem Mitkonkurrenten beim Blaukopfechsenrennen von Miraculum-Vitt. Auch darauf wusste Joon keine Antwort. Alles, was er wusste, war, dass er einer Intrige zum Opfer gefallen war und sein Leben verwirkt hatte.
Für Herzog Gunter war es erwiesen, dass Joon sich von Herzog Muncibol Marmong IV. hatte bestechen lassen. So verurteilte er in seiner Eigenschaft als oberster Richter seines Herzogtums noch in der gleichen Stunde Joon zum Tode. Als Hinrichtungsmethode legte er öffentliches Auspeitschen fest. Seine wirtschaftlichen Beziehungen zu Herzog Muncibol Marmong IV. ließ er einfrieren, was in den nächsten Jahren zur Folge hatte, dass Graf von Haderwichs Einfluss am Imperialen Hof beträchtlich anwachsen konnte.
Den zum Tode verurteilten Joon brachte man in eine Zelle, in der er bis zu seiner Hinrichtung eingesperrt bleiben sollte.
In seiner Todesangst bewarb er sich beim unmittelbar bevorstehenden Hadesrennen als Hadesfighter. Er hatte Glück und wurde unter den vielen Bewerbern ausgewählt. So wurde Joon beim 1392. Hadesrennen Hadesfighter 4.
Im ersten Abschnitt mussten die sieben Wettkämpfer ein Wettrennen mit motorgetriebenen vierrädrigen Fahrzeugen absolvieren. Das Rennen erstreckte sich über eine Länge von 10000 Kilometern und führte durch die Saringrasebene, einem Savannen- und Wüstengebiet in der nördlichen Hemisphäre von Hades. Hier wuchs in großen Mengen das gefürchtete Saringras, welches als Lockstoff für den Saringrasfalter ein Gas absonderte, welches nach dem Einatmen bei Menschen ähnliche Symptome auslöste wie das Kampfgas Sarin aus der Zeit der sogenannten Weltkriege der Menschen auf der Alten Erde. Hadesfighterin 3 verunglückte 3000 km vor dem 1. Portal. Sie wurde aus ihrem Fahrzeug geschleudert und war gezwungen, das giftige Pflanzengas einzuatmen. Sie starb nach vier Stunden unter qualvollen Krämpfen in einer staubigen Senke. Joon erreichte das 1. Portal zwar unbeschadet, aber mit großem Abstand als Letzter, denn das Lenken von Fahrzeugen gehörte nicht zu seinen Stärken.
Als Joon das 1. Portal verließ, hatten alle seine Konkurrenten schon einen großen Teil der Strecke zum 2. Portal zurückgelegt. Dieses befand sich auf dem schneebedeckten Gipfel eines 5450 Meter hohen Berges im Kahligebirge, dem Mount Pikington, der bekannt war wegen seiner unzähligen, großtenteils noch unerforschten, Höhlen in seinem Innern.
Mit einer eher primitiven Kletterausrüstung mussten die Kämpfer den Berg bezwingen. Er stellte zwar keine allzu großen Anforderungen an die bergsteigerischen Fähigkeiten, war aber berüchtigt wegen seiner unvorhersehbaren Wetterumschwünge, vor allem im Bereich des Gipfels. Schon viele Hadeskämpfer hatten bei früheren Rennen ihr Leben an den plötzlich von eisigen Stürmen umtosten Felswänden verloren. Joon machte sich ohne Zuversicht an den beschwerlichen Aufstieg. Auf Violetter Staub hatte er zwar auch schon vereinzelt Bergtouren mit Freunden unternommen, aber dabei hatte es sich mehr um Wanderungen als um Kletterpartien gehandelt. So sank sein Mut zusehends. Das zuschauende Publikum im Imperium hatte ihn längst abgeschrieben und konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf die führenden Athleten. Insbesondere auf Marqueesa vom Planeten Holycastle, die hier ihre fast schon legendären Kletterkünste voll ausspielen konnte und in greifbare Nähe des 2. Portals vorgerückt war.
Joon hatte gerade mal die ersten paar hundert Meter Höhenunterschied bewältigt, als das Unglück passierte: Er glitt von einer Kante ab und stürzte mehrere Meter tief auf ein Plateau aus glattem Fels. Er konnte sich im Sturz so drehen, dass er mit den Beinen landete. Glühend heißer Schmerz stach beim Aufprall in seine Beine und ließ ihn sofort ohnmächtig werden. Stunden später wachte er aus seiner Bewusstlosigkeit auf. Schmerzgepeinigt schaute er sich seine Beine an, die irgendwie schief verliefen. Die interne Analyse mit seinem DLog ergab, dass beide Unterschenkel gebrochen waren.
Das war das Ende - dachte Joon verzweifelt. Ohne externe medizinische Versorgung konnte er unmöglich laufen geschweige denn einen Fünftausender bezwingen. Kraftlos legte er sich zurück auf den Rücken und versuchte, die Beine so zu positionieren, dass die stechenden Schmerzen ein wenig erträglicher wurden. Schon die kleinste Bewegung tat ungeheuer weh. Joon begann zu weinen, weil er keinen Ausweg sah. Nach einigen Stunden versiegten die Tränen. Er richtete sich halb auf, holte aus seinem Rucksack unter großen Mühen eine Getränkeflasche hervor und stillte damit seinen großen Durst. Danach fiel er in einen leichten Schlaf. Als er aufwachte, war er nicht mehr allein.
Auf Hades lebte ein riesengroßer grauer Raubvogel, der in den hochgelegenen Höhlen im Gebirge seine Nachkommen aufzog. Seine Schwingen waren so gewaltig, dass er mit Leichtigkeit in den obersten dünnen Atmosphäreschichten segeln konnte ohne abzustürzen. Oft konnte man beobachten, wie mehrere Vögel dieser Art stundenlang die Gipfel des Dornengebirges umkreisten, getragen von den Aufwinden, elegant, vom Boden aus nur als winzige Punkte sichtbar. Sie waren die unbestrittenen Könige der Lüfte auf Hades. Man nannte die Art ‘Hadeskondor’. Hadeskondore waren furchtlose Raubtiere, die es mit ihren riesigen gebogenen Schnäbeln sogar mit Brotoxcarnivoren, Felsenspinnen und Hadeseisbären aufnahmen. Menschenfleisch betrachteten sie als willkommene Abwechslung auf ihrer Speisekarte. Viele Hadeskämpfer waren ihnen schon zum Opfer gefallen.
Als Joon aufwachte, sah er zu seinem Entsetzen neben sich in 2 Metern Entfernung einen Hadeskondor stehen. Hoch ragte er über ihm auf und schaute mit seinen violetten Augen auf ihn herab. Joon glaubte, dass er nun sterben müsse und betete zu seinem Gott. Aber der Hadeskondor zerfetzte Joon wider Erwarten nicht! Er blieb einfach nur neben dem verletzt am Boden liegenden Hadesfighter stehen und blickte ihn an. Alle Zuschauer im Imperium waren entgeistert. In der vieltausendjährigen Geschichte des Hadesrennens war ein solch außergewöhnliches Verhalten eines Hadeskondors noch nie beobachtet worden. Nach ein paar Stunden entfaltete das Raubtier seine gewaltigen Schwingen, erhob sich in die Luft und flog dem Gipfel des Berges entgegen.
Joon konnte nicht verstehen, weshalb das Tier ihn nicht getötet hatte. Unter großen Schmerzen schleppte er sich unter einen schmalen Felsüberhang, um ein wenig wind- und regengeschützter zu liegen. Dann stillte er Hunger und Durst aus seinen Nahrungsmittelvorräten. Seine Versuche, mit Hilfe der Ausrüstungsgegenstände Schienen für seine gebrochenen Beine zu fertigen, scheiterten kläglich. Ermattet von den großen Anstrengungen und Schmerzen schlief er nach einigen Stunden wieder ein.
Am nächsten Tag besuchte ihn der Hadeskondor ein zweites Mal. Er wurde von einem etwas kleineren Artgenossen begleitet. Auch dieses Mal wurde Joon nicht behelligt. Die beiden gigantischen Vögel standen ruhig in seiner unmittelbaren Nähe und blickten ihn an. Nach einigen Stunden erhoben sie sich rauschend in die Luft und verließen Joon.
In den nächsten Tagen ließen Joons Schmerzen etwas nach, da er seine Beine wenig bewegte und sie auf diese Weise schonte. Er wartete auf den Tod. Regelmäßig ließen sich zwei oder mehr Hadeskondore auf dem kleinen Felsplateau nieder, um ihn regungslos zu betrachten und nach einigen Stunden wieder fortzufliegen. Niemand im Imperium konnte die seltsamen Vorgänge am Fuße des Berges Pikington erklären.
Am achten Tag nach seinem Unfall war Joon sehr geschwächt. Morgens landeten vier Hadeskondore auf dem Plateau. In der Welt zwischen Wachen und Schlafen nahm Joon ein schwaches Wispern wahr. Dieses Wispern konnte er nicht mit seinen Ohren hören. Es berührte ihn in seinem Geist. Es war ein lockendes Wispern. Und es kam aus der Richtung, in der die großen Vögel standen. Joon versank in einen Fiebertraum.
Viele Stunden später wachte er auf und stärkte sich mit den mittlerweile zur Neige gehenden Nahrungsmitteln. Ein weiteres Mal kamen fünf Hadeskondore zu Joon. Das lockende Wispern in Joons Kopf war wieder da, dieses Mal stark, und es ging eindeutig von den Geschöpfen aus. Joon fasste einen aberwitzigen verzweifelten Entschluss. Er schleppte sich mühsam auf die wartenden Vögel zu. Sie griffen ihn nicht an. Als er einem von ihnen so nahe war, dass er ihn mit seiner Hand berühren konnte, ließ sich der Vogel nieder.
Joon wagte das Undenkbare: Er zog sich mit seinen Händen unter quälenden Schmerzen in seinen verletzten Beinen an dem Raubtier hoch. Das Geschöpf ließ es mit sich geschehen. Joon schaffte es, sich quer über den Rücken des Tieres zu legen. Unvermittelt richtete es sich auf, und Joon musste seine ganze Kraft mobilisieren, um nicht herunterzufallen. Dann entfaltete der Hadeskondor seine riesigen Flügel und erhob sich mit Joon in die Lüfte. Im Imperium schnellten die Einschaltquoten sprunghaft in die Höhe, denn etwas derart Erstaunliches hatte man noch nie erlebt.
Der Hadeskondor flog den Berg hinauf. In großer Höhe wurde ein Höhleneingang sichtbar. Der Vogel nahm Kurs darauf und landete davor. Mit langen Schritten bewegte er sich in die Höhle hinein. Der gewundene Gang öffnete sich schließlich zu einem gewaltigen Höhlendom. Und in diesem Höhlendom wohnte ein ganzer Staat von Höhlenkondoren. Hunderte der riesigen Geschöpfe waren hier versammelt. Der Hadeskondor, der Joon trug, bewegte sich zum Zentrum des Doms. Dort sah Joon ein riesiges Nest mit großen gelbfarbigen Eiern.
Unmittelbar neben dem Nest stand ein gewaltiger Hadeskondor, der fast doppelt so groß war wie seine übrigen Artgenossen in der Höhle. In unmittelbarer Nähe dieses riesigen Tieres wurde Joon abgesetzt. Er wusste instinktiv, dass es sich um die Königin des Vogelstaates handelte. In seinem Geist spürte er eine Präsenz wie die auf dem Felsplateau, nur wesentlich intensiver und klarer. Die Präsenz ging von der Königin aus. Joon spürte nichtsprachliche sympathische Zuwendung. Er versuchte, sie wie ein Echo an das große Tier zurückzugeben. Erneut verspürte er einen lockenden Ruf. Diesmal ging er ohne Zweifel von der Kondorkönigin aus. So schleppte sich Joon über den Boden des Felsendomes auf die Königin zu. Unter unsäglichen Mühen gelang es ihm ganz langsam, den hohen Rücken der Königin zu erklimmen. Sie setzte sich in Bewegung, aus der Höhle hinaus, auf den Felsvorsprung, auf in den Sturm, zwischen die Wolken. Dann flogen die beiden auf den Winden Hades’, und trotz aller Schmerzen lachte Joon vor Freude darüber, dass er dies vor seinem Ende noch erleben durfte.
In der Ferne erblickte er eine weiße Wolkenwand, und er stellte sich vor, wie es wäre, wenn sie dort hineinflögen. Die Hadeskondorkönigin flog tatsächlich in die Wolkenwand hinein! Konnte sie seine Wünsche lesen? Joon machte einen Test, indem er sich wünschte, dass sie ganz tief über den Boden dahinflögen. Und tatsächlich: Das Geschöpf erfüllte seinen Wunsch. Mehr noch: Es übermittelte ihm das Gefühl, dies mit großer Freude getan zu haben.
In diesem Augenblick erkannte Joon, blitzartig durchfuhr ihn die Erkenntnis, dass er das 2. Portal erreichen konnte. Er stellte sich den Gipfel des Pikington vor, dort, wo sich das 2. Portal befand, und wünschte sich dorthin. Die Königin wendete in elegantem Bogen und trug ihn zum Portal. Joon ließ sich auf den Felsen herab, schleppte sich zum Eingang des Portals und öffnete es. Das Erstaunen unter den Hunderten von Milliarden Zuschauern auf den Welten des Imperiums war ohne Beispiel.
Die medizinischen Geräte des Portals behandelten Joons Knochenbrüche und entließen ihn geheilt nach zwei Tagen. Joon hatte wieder eine, wenn auch äußerst geringe, Siegeschance. Er trat hinaus auf die Ebene - und machte sich mit Skatern über die 1000 km lange Asphaltstrecke auf den Weg zum 3. Portal. Nach 8 Stunden landete ein riesiger Hadeskondor vor ihm auf der Piste. Der erstaunte Hadesfighter erkannte seine Vogelkönigin, lachte vor Freude auf und schwang sich mit einem lauten Freudenschrei auf den Rücken des Tieres. In aberwitziger Geschwindigkeit brachte es den Hadesfighter zum 3. Portal. So setzte es sich fort: Hatte Joon ein Portal verlassen, so dauerte es ein paar Stunden, bis ihn die Hadeskondorkönigin gefunden hatte. Joon sprang auf das Geschöpf auf, und es trug ihn zum nächsten Portal.
Auf diese Weise erreichte Joon mit großem Abstand vor seinen Konkurrenten das siebte Portal. Ganz weit oben in der Atmosphäre Hades’ nahm er Abschied von seiner Retterin, die er für sich ‘Himmelskönigin’ nannte. Dann betrat er das letzte Portal und wurde so zum Sieger.
Der Imperator Umkor III. war sehr erzürnt über den Verlauf dieses Hadesrennens. Er fühlte sich vom Hadesfighter Joon betrogen. Aber man konnte ihm keinen Regelverstoß nachweisen. So blieb Joon regulärer Sieger. Er wurde gründlichst psychologisch und mental sondiert, aber kein Psychologe konnte herausfinden, weshalb die Hadeskondore Joon geholfen hatten. Umkor III. ließ das Organisationskomitee, das für die Ausrichtung dieses Rennens verantwortlich war, hinrichten. Sodann schickte er ein Raumschiff mit Soldaten und Biologen nach Hades und ließ die Hadeskondore ausrotten. Den Namen ‘Himmelskönigin’ für das 2. Portal ließ er verbieten. Aber im Volk wurde, wenn vom 2. Portal die Rede war, immer nur vom Himmelsköniginnenportal gesprochen, und nach 100 Jahren gaben es die Imperatoren schließlich auf, die Verwendung des Namens Himmelskönigin zu untersagen.
Die 17 Planetenfähren wurden von der Lemuria verschluckt. Hatten sie auf den Raumhäfen Blueeye’s riesig ausgesehen, so wirkten sie im Vergleich zur Lemuria geradezu winzig. Wir wurden in spartanische Mannschaftsquartiere eingewiesen, die karg aber zweckmäßig eingerichtet waren. Von der Raumschiffkommandantur erfuhren wir, dass uns die Lemuria nach Klausewitz bringen würde. Der Planet Klausewitz gehörte seit langer Zeit dem Militär und war eine der sechs Welten im Imperium, auf denen die Soldaten der Streitkräfte ausgebildet wurden.
Gigantische Triebwerke beschleunigten die Lemuria auf Sprunggeschwindigkeit. Die Sprunggeschwindgkeit eines Schiffes mit der Masse der Lemuria betrug zirka 91 Prozent der Lichtgeschwindigkeit. Unterhalb dieses Wertes war ein Sprung, auch FastCast genannt, zwar möglich, kostete aber immens viel EmEnergie, und wurde deshalb möglichst vermieden. Beim FastCast handelte es sich um eine Teleportation des gesamten Raumschiffes. Dazu wurde die in den EmE-Akkus des Schiffes gespeicherte EmEnergie verwendet. Die Technik der Teleportation war schon uralt, aber als einzige ermöglichte sie die überlichtschnelle Bewegung. Ohne sie wäre es nicht möglich gewesen, ein derart großes Sternenreich wie das der Menschen zu errichten und zu verwalten. Die Technologie war zwar ausgereift, und alle Bürger profitierten letztendlich von ihr, aber sie war astronomisch teuer. Denn es war nach wie vor extrem aufwändig, EmEnergie zu gewinnen und zu speichern. Deshalb hatten die Sternenimperatoren schon vor vielen Tausenden von Jahren ein Staatsmonopol auf EmEnergie erhoben. Überlichtschnelle Bewegung durch Teleportation war für einen gewöhnlichen Bürger unerschwinglich. Nur Angehörige der Führungselite konnten es sich leisten, im Imperium zwischen den Welten zu reisen. Und natürlich Funktionsträger des Imperiums, insbesondere das Militär und der Sec. Darin lag wohl ein Grund, weshalb die Imperialen Streitkräfte nie unter Nachwuchsmangel zu leiden hatten: Es war für einen einfachen Bürger quasi die einzige Möglichkeit, in den Genuss interstellarer Reisen zu kommen.
Bei meinem ersten FastCast erlebte ich ein seltsames Phänomen. Gewöhnlich wird eine Teleportation als ziemlich unangenehm empfunden. Viele Menschen sind hinterher desorientiert, klagen über schlimme Übelkeit und Schmerzen. Sie brauchen nicht selten mehrere Stunden, um sich vom FastCast zu erholen. Wenigen Menschen gelingt es, mit zunehmender Anzahl von Sprüngen die Belastungen nach und nach immer besser zu ertragen. Andere gewöhnen sich Zeit ihres Lebens nie daran. Bei mir war alles anders: Als die Lemuria sprang, durchfuhr mich wie ein Blitz eine seltsame Euphorie. Sie ergriff meinen Körper und meine Seele. Es war mir, als würde sich mein Bewusstsein plötzlich über meinen Körper hinaus ausdehnen. Die Menschen und Dinge um mich herum nahm ich in einer nie dagewesenen Klarheit und Schärfe wahr. Es war ein erhebendes Gefühl, das nach dem FastCast langsam wieder abklang. Nach der Teleportation war ich im Gegensatz zu meinen Mitreisenden völlig beschwerdefrei. Ich fühlte mich regelrecht gestärkt und wie aufgeladen. Sofort kamen Erinnerungen an den rätselhaften Zylinder im Blueeye’schen Sandmeer hoch, damals, als ich noch ein Kind war. Dort hatte ich mich ähnlich gut gefühlt, nur nicht in einer solchen den ganzen Körper mitreißenden Stärke. Gab es zwischen diesen beiden Phänomenen einen Zusammenhang? Ich wusste die Antwort nicht.
Die Lemuria materialisierte am Rande des Sonnensystems, dem Klausewitz angehört. Der große rote Planet, dessen Oberfläche zum größten Teil von grauweißen Wolkenbändern verschleiert wurde, umlief mit weiteren 13 Planeten sein Zentralgestirn EkoEks3. EkoEks3 war eine hellblaue Sonne, deren Helligkeit in einem Rhythmus von 35 Jahren schwankte. Dem Takt der Helligkeitsschwankungen folgte das Klima auf Klausewitz. Als die Lemuria landete, vollzog sich gerade der drei Jahre währende Übergang von der Warmphase zur Kaltphase. Die Raumschiffbesatzung sagte uns, dass wir frischen Rekruten uns darüber freuen könnten. Eine Basisausbildung sei für sich schon kein Zuckerschlecken - eine Basisausbildung in der Warmphase oder der Kaltphase jedoch sei, um es vorsichtig auszudrücken, eine elende Schinderei.
Mit den Landefähren der Lemuria wurden wir neueingetroffenen Rekruten auf insgesamt 40 Kasernen verteilt. Mich verschlug es tief in den kalten Süden zu einer Kaserne namens For_Nox. For_Nox lag inmitten einer ausgedehnten Tundra, die von niedrigen kälteangepassten Pflanzen karg bewachsen war. Das Klima in diesen Breiten war stets rauh, mit langen kalten Wintern und kurzen heißen Sommern. Schon nach wenigen Wochen harter Ausbildung wünschten sich viele Rekruten auf ihre Heimatplaneten zurück. Aber da war es zu spät, denn wir hatten unseren militärischen Eid schon geleistet, der uns unlöslich mit dem Militär verband.
Auf dem Apellplatz der Kaserne hatten wir, die dritte Ausbildungskompanie, in grimmiger Kälte zum Eid strammgestanden. Ein eisiger Sturm hatte uns fast waagerecht die Hagelkörner ins Gesicht gefegt, während sich unser hinausgebrüllter Schwur in der seelenlosen Tundra verlor: „Hiermit schwöre ich dem Allumfassenden Sternenimperator unverbrüchliche Treue und unbedingten Gehorsam bis in den Tod. Ich schwöre, dass ich das Imperium der Menschheit unter Einsatz meines Lebens schützen und verteidigen werde.“
In den ersten Wochen wurden wir gnadenlos gedrillt, so wie es seit ewigen Zeiten bei allen Militärs der Welt geschieht. Die jungen Soldaten sollen körperlich fit gemacht werden. Hauptsächlich geht es aber darum, die Rekruten zum absoluten Gehorsam gegenüber militärischen Vorgesetzten zu erziehen.
Der Apellplatz wurde unser zweites Zuhause. Bald kannten wir jeden seiner Quadratzentimeter aufs Genaueste, mussten wir doch oft genug mit der Nase dicht am Boden darauf herumkriechen. Maßten wir uns an, beim Marschieren im Stechschritt die Zwei-Millimeter-Toleranz der Fußspitzen nicht einzuhalten, konnte das stundenlanges Nachexerzieren zur Folge haben. In der weiten Tundra lernten wir die Beschränkungen unserer Körper kennen, wenn wir nach 30 Kilometer weiten Eilmärschen unter vollem Marschgepäck Ewigkeiten währende Gefechtsübungen zu absolvieren hatten. Es gab Zeiten, da war der Schlaf ein selten gesehener Gast, so dass wir bald lernten, ihn überall und zu jeder Zeit zu begrüßen.
Nach einem Jahr kannten wir uns umfassend aus in Fragen des Militärrechts, der Geschossphysik, militärischer Fahrzeugtechnik, Strategie und Taktik der Kriegführung im interplanetaren Raum, Medizin, Waffenkunde, Einzelkampftechniken, Schutz- und Abwehrmaßnahmen bei biologischen, chemischen und atomaren Angriffen, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Wer sich nicht auskannte, riskierte den Verlust der wenigen Freizeit, die uns zugestanden wurde. Oder ihm drohte sogenanntes Joyjogging auf dem Apellplatz bis zur totalen Erschöpfung.
Unsere Waffe, das überall im Imperium verwendete Universalgewehr U4, die wir stets bei uns tragen mussten, lernten wir innig kennen. Mit verbundenen Augen konnten wir sie innerhalb von Sekunden zerlegen, zusammensetzen und reparieren. Wir kannten präzise ihre Eigenschaften und verwendeten dieses Wissen, um Schüsse abzugeben, die eines Scharfschützen würdig waren. Denn keine zwei U4’s gleichen einander völlig. Aber dies lernt man nur, wenn man sich auf ein geradezu intimes Verhältnis mit seiner Waffe einlässt, so wie wir gezwungen wurden, es zu tun.
Nach dem ersten Vierteljahr hatten wir ein zehntägiges Überlebenstraining in der Tundra zu absolvieren. Der Winter neigte sich dem Ende zu, und es war nicht mehr ganz so bitterkalt. Unsere Ausrüstung bestand lediglich aus dem Kampfanzug und dem Kampfmesser. Nahrung und Getränke wurden uns nicht mitgegeben. Wir arbeiteten in Dreierteams zusammen. Zu meinem Team gehörte eine Rekrutin namens Ruba und ein Rekrut namens Malt. Nach zwei Tagen hatten wir gelernt, dass die Wurzelknollen der Pfeilpflanze, einer roten Pflanze mit pfeilförmigen Blättern, die optimal an die rauhen Bedingungen der Tundra angepasst war, wasserhaltig waren. So konnten wir überleben. Das heißt, so konnten wir den Abbruch des Überlebenstrainings, indem wir von einem Überwachungskopter abgeholt wurden, vermeiden. Abbruch des Überlebenstrainings durch Abholung mit dem Kopter war gleichbedeutend mit nachfolgendem fürchterlichen Spezialtraining, das einige junge Soldaten, so erzählte man sich, aus Verzweiflung schon mit dem Freitod beendet hatten. Um nicht zu erfrieren, verbrachten wir die langen Nächte engumschlungen, damit wir die Körperwärme nutzen konnten.
Nach fünf Tagen gelang es Ruba mit letzter Kraft, einen halben Meter großen Triopus aus seiner Höhle zu zerren und zu überwältigen. Malt und ich zogen dem toten Tier die Haut ab und besudelten uns dabei mit seinem gelben Blut. Dann sammelten wir herumliegendes Buschwerk, zündeten es an und brieten den Triopus darüber. Halbverhungert verschlangen wir das zähe, ranzige und halbgare Fleisch des Lebewesens. Es schmeckte übel, rettete uns aber das Leben.
Nach sechs Tagen wäre Malt fast in einem auftauenden Sumpf zu Tode gekommen. Mit vereinten Kräften und hastig zusammengeflochtenen Zweigen, auf die wir uns legten, um nicht auch einzusinken, konnten wir ihn herausziehen. Nach sieben Tagen überfiel uns nachts ein anderes Dreierteam unserer Ausbildungskompanie. Die Mitglieder der Gruppe waren uns aber im Nahkampf unterlegen. Wir überwältigten und fesselten sie und nahmen ihnen ihre Vorräte ab. Am achten Tag beobachteten wir aus einer getarnten Kuhle im Dreck, wie sie mit dem Kopter abgeholt wurden. Am neunten Tag sahen wir uns einer großen Horde Sumpfratten gegenüber, die dafür bekannt sind, dass sie alles fressen, was ihnen in die Quere kommt. Starr vor Angst, mit unseren kleinen Messern hilflos, standen wir den vielen Tieren gegenüber und warteten darauf, dass sie uns ansprangen und in Stücke rissen. Dann erinnerte ich mich plötzlich an eine langweilige Unterrichtsstunde über die Tierwelt von Klausewitz und begann, die Klinge meines Messers gegen die Klinge Malts zu schlagen. Das klingende Geräusch versetzte die Tiere in Panik, so dass sie überstürzt die Flucht ergriffen. Am zehnten Tag kehrten wir dreckverkrustet, ausgehungert und völlig übermüdet nach For_Nox zurück. Es kam uns vor wie das Paradies. Von den insgesamt 50 Teams hatten es nur 12 geschafft, die vollen 10 Tage in der Wildnis durchzuhalten. In den schwierigen Tagen unseres Überlebenskampfes hatten Ruba, Malt und ich ein Band inniger Freundschaft geflochten, das uns über Jahre miteinander verband.
Nach der Basisausbildung trennten sich unsere Wege. Wir wurden auf verschiedene Kasernen verteilt. Dort unterwies man uns in den Gebrauch der Standardwaffen und -kampffahrzeuge des Militärs. Außerdem erhielten wir eine Ausbildung in diversen Einzelkampftechniken. Wir lernten, wie man ein Gefecht im Kampfverband führte, und zwar sowohl auf Planetenoberflächen als auch in Raumschiffen. Uns wurde beigebracht, wie man sich mit ISS, so hießen die Individualschutzschirme damals, durch unwegsames Terrain bewegt und ohne fremde Unterstützung größeren Kampfgruppen paroli bietet. In Raumgleitern transportierte man uns zum verwüsteten Nachbarplaneten New Verdun. Dort lehrte man uns, unter Gefechtsbedingungen vorgegebene Geländeabschnitte unbewohnbar zu machen und dabei selbst unkontaminiert zu überleben.
Ein Höhepunkt der Ausbildung war für uns die Einzelkampfausbildung im Weltraum. Wir steckten in silbernen Raumanzügen, die mit einem Triebwerk ausgestattet waren (sie wurden wegen ihres Aussehens scherzhaft Silberfischchen genannt), und erhielten die Aufgabe, ein feindliches Raumschiff zu entern oder gegnerische Sodaten zu bekämpfen. So anstrengend und belastend dieses Training auch war, so sehr genoss ich, wie die meisten von uns, das Gefühl, sich im schwerelosen Raum in völliger Freiheit bewegen zu können.
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Unsere Ausbildungszeit auf Klausewitz dauerte insgesamt zwei Jahre. In der Rückschau betrachtet waren es zwei harte Jahre, in denen unsere Körper bis an die Grenzen ihrer Belastungsfähigkeit gefordert wurden. Infolge der ständigen Beanspruchung durch den Dienst kamen wir kaum dazu, über das, was wir taten, oder über unsere Vergangenheit, nachzudenken. Mir tat das gut, denn es half mir, einen positiven Blick in die Zukunft zu finden. Außerdem stellte ich zu meiner Genugtuung fest, dass ich den Anforderungen des Soldatenlebens offensichtlich gewachsen war. Die Aussicht, dem Imperium als Soldat in gerechter Sache zu dienen, erfüllte mich sogar ein wenig mit Stolz.
Am Ende unserer Ausbildung erhielten wir den untersten Dienstgrad ‘Soldat des Imperiums’ oder kurz ‘Soldat’. Ich wurde einer Kampfeinheit zugewiesen, die auf Austerlitz, einem der sonnenfernen Nachbarplaneten im EkoEks3-System, stationiert war. Dort diente ich knapp zwei Jahre lang unter dem legendären Sergeant Hayden.
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Federleicht löste sich mein erdfarbener Raumjäger aus der schwachen gravitativen Anziehung des Kometenkerns, in dem ich ungeduldig auf den Kampfeinsatz gewartet hatte. Das stromlinienförmige Fahrzeug beschrieb einen sanften Bogen. Es wendete sich der noch fernen Welt zu und bechleunigte im Tarnmodus. Die Anzeigen und Displays im Cockpit leuchteten vor und über mir in bunten Farben. Sie signalisierten uneingeschränkte Kampfbereitschaft des Systems. Ich hatte die Raumvisualisierung der Pilotenkanzel auf Totaltransparenz umgeschaltet. Dies gab mir das Gefühl, frei im leeren Raum zu schweben: Hinter mir die schnell kleiner werdende dunkel zerklüftete Form des Kometen, in dem ich die letzten zwei Tage wartend verbracht hatte. Unter mir das hell gleißende Band der Milchstraße. Neben mir weit weg die grün leuchtende Sonne Only4h@ven, deren alles überstrahlendes Licht durch die optischen Filter des Raumjägers abgeschirmt wurden. Vor mir unser Ziel - mit bloßem Auge gerade so als winzige schwach leuchtende Sichel zu erkennen - der Rebellenplanet tz_Alpha. Ich genoss es, meinen Raumjäger, den ich liebevoll auf den Namen ‘Zornige Ameise’ getauft hatte, im Transparenzmodus zu fliegen. Es vermittelte mir stets das Gefühl grenzenloser Freiheit.
Was ich ohne optische Verstärkung nicht wahrnehmen konnte, waren die 511 anderen baugleichen Raumschiffe, die mich begleiteten. Auf dem Spacescanner zeichneten sie sich als golden glänzende Punkte ab. Zusammen mit mir hatten sie ihre kalten Verstecke in der Oortschen Wolke des Sonnensystems Only4h@ven verlassen und machten sich nun mit mir auf den Weg, ihren militärischen Auftrag auf tz_Alpha zu erfüllen.
In einer schalenförmigen Angriffsformation fächerten sich die kleinen und wendigen Einmann-Jäger auf und beschleunigten zum feindlichen Planeten. Jeder Soldat wusste genau, was er zu tun hatte. Der Einsatz war von langer Hand vorbereitet und in etlichen Realzeitsimulationen trainiert worden. Ich schaltete den allgemeinen Komkanal ein. Es herrschte weitgehend Stille. Die Soldaten hielten sich diszipliniert an die befohlene Funkstille. Nur ab und zu drang die geflüstere Anweisung eines Einheitenführers oder des Kommandierenden Offiziers in meine Pilotenkanzel. Jede Kampfeinheit bestand aus 64 Soldaten. Meine wurde von Sergeant Hayden angeführt. Das Schiffssystem teilte mir mit, dass er unmittelbar neben mir flog. Unmittelbar, das heisst, in etwa 20000 Kilometern Entfernung - zu weit weg, um seinen Kampfjet mit bloßem Auge erkennen zu können.
Nach dem langen Warten im Innern des Kometen fieberte ich nun dem bevorstehenden Kampf entgegen. Dieses war schon mein achter Feindeinsatz unter Sergeant Haydens Führung. Heute war sein Geburtstag, und so hatte ich mir fest vorgenommen, es heute besonders gut zu machen. Wie alle anderen 63 Soldaten meiner Kampfgruppe verehrte ich meinen Kompaniechef. Wir waren fest davon überzeugt, dass wir unter seiner Führung die bevorstehende Mission mit Bravour meistern würden. Denn Sergeant Hayden war der Beste. Und somit gehörten auch wir zu den besten Soldaten des Imperiums. So glaubten wir es.
10 Millionen Kilometer vor unserem Ziel wechselten wir in den Stealthmodus. Jetzt waren unsere wendigen Raumschiffe für fast alle bekannten Ortungssysteme unsichtbar. Es war sehr zu bezweifeln, ob die Rebellen auf tz_Alpha unsere Anwesenheit im planetennahen Raum feststellen konnten. Meine Zornige Ameise war sogar im optischen elektromagnetischen Spektrum so gut wie unsichtbar. Ohne Antrieb fielen die 512 Raumjäger nun in absoluter Stille tz_Alpha entgegen.
Unsere Blitzmission sah vor, dass wir auf dem Planeten landen und dort Gefangene nehmen sollten. Ein Unterfangen, das noch nie zuvor geglückt war. Bisher hatten es die Rebellen stets verstanden, sich dem Zugriff der Imperialen Streitkräfte durch Flucht - oder Selbstmord - zu entziehen. Diesmal sollte es anders sein. Nach Informationen des Sec hielt sich eine kleine Gruppe von Rebellen seit ein paar Monaten auf der kleinen Wüstenwelt auf, die zudem militärisch kaum gesichert war. Unsere Chancen, dem Imperium gefangene Rebellen zu bringen, waren demnach sehr hoch. Über das, was man mit den Gefangenen anstellen würde, um ihnen ihre wertvollen Informationen zu entreißen, wagte ich nicht nachzudenken.
Die feindliche Basis befand sich in der Nähe des heißen Äquators - eingegraben in einem Felsmassiv. Sie sollte mit unseren überlegenen technischen Mitteln in kürzester Zeit einzunehmen sein. Ich überprüfte noch einmal die relativen Positionen aller Jäger aus meiner Einheit. Mit dem Teleskop sondierte ich die schnell näherkommende felsige und lebensfeindliche Planetenoberfläche in der Nähe des vermuteten feindlichen Unterschlupfes.
„Leij und Robex!“ wisperte es in meinem Ohr. Es war die Stimme von Sergeant Hayden, „Seht ihr die dem Felsmassiv vorgelagerte Bodenrinne?“
„Ja, Sergeant“, flüsterte ich zurück, „ihre Tiefe beträgt maximal fünf Meter. Sie ist breit genug, dass ein Jäger dort heruntergehen kann. Der Untergrund besteht aus Basaltgestein, so dass ein Versinken unwahrscheinlich ist.“
„Richtig erkannt, Leij! Du und Robex landet dort und haltet mir den Rücken frei. Ihr bleibt dort, bis ich euch rufe.“
„Jawohl, Sergeant!“ bestätigten Robex und ich. Es erfüllte mich mit Stolz, zu Sergeant Haydens Schutz beitragen zu dürfen. Obwohl er unseren Schutz sicher nicht nötig haben würde.
Der Spacescanner zeigte, wie die Raumjäger sich langsam in ihre vorgesehenen endgültigen Positionen hineinschoben, ehe sie in die dünne Atmosphärenschicht eintauchten. Mein Herz schlug heftig in aufgeregter Erwartung. tz_Alpha hing nun riesengroß vor mir im All. Ich sah gewaltige Sandstürme über die gelbe Planetenoberfläche rasen. Von so weit oben sahen sie wie winzige zerfaserte graue Stoffdeckchen aus, die über ein gelbes Blatt Papier getrieben wurden.
Und dann kam mit einem Male alles ganz anders.
Wie aus dem Nichts waren da auf einmal Projektile, die sich den angreifenden Raumjägern mit beängstigender Geschwindigkeit näherten. Plötzlich und unerwartet erschienen sie auf allen Ortungsdisplays - als rote von tz_Alpha aufsteigende Punkte, die den blauen Punkten, die unsere eigenen Schiffe darstellten, rasend schnell näher kamen. Das System meldete die Zahl der Projektile: 512 . Mein Gott, für jeden blauen Punkt ein roter!
Ehe ich überhaupt richtig realisieren konnte, was hier soeben passierte, meldete das Schiffssystem die ersten Detonationen im umgebenden Raum. Augenblicklich war der Komkanal erfüllt von Schreien, Brüllen und Fluchen entsetzter Soldaten. Innerhalb der ersten vier Sekunden nach Entdeckung der feindlichen Projektile war schon etwa die Hälfte unserer Raumjäger vernichtet. Aus dem Augenwinkel nahm ich weit in der Ferne um mich herum viele kleine Lichtblitze wahr. Fast niedlich sahen sie aus - so winzig und so weit weg - aber jeder zeugte vom Sterben eines Menschen.
Als ich mit Entsetzen an das für mich vorgesehene Projektil zu denken begann, meldete sich schon das Schiffsystem mit gnadenlos freundlicher Stimme bei mir: „Kollision mit feindlichem Objekt in fünf Sekunden. Antrieb zwecks Selbsterhaltung auf Notschub gesetzt.“
Zornige Ameise beschleunigte mit maximalen Werten in Richtung Planetenoberfläche. Dabei vollführte sie ein waghalsiges Wendemanöver. Sie konnte damit jedoch die feindliche Rakete nicht abschütteln, sondern lediglich einen geringen zeitlichen Aufschub des Einschlages erzielen. Die kühle Stimme ließ sich erneut vernehmen: „Kollision mit feindlichem Lenkgeschoss - Länge elf Komma drei eins Meter - Durchmesser eins Komma sieben zwei Meter - vermutlich Plasmonenantrieb - in acht Komma sechs neun Sekunden.“
Ein schneller Blick auf meine Ortung zeigte, dass Sergeant Hayden noch vier Sekunden von seinem Tod entfernt war. Einer plötzlichen Eingebung folgend schrie ich in den Komkanal: „Getarnte Selbstzerstörung aufrufen!“ Ich blendete den Countdown bis zur Kollision ein und legte den Zeitpunkt meiner GS eine Millisekunde vorher fest. Ich hoffte inständig, dass diese Zeitspanne einerseits groß genug war, mir das Leben zu retten und andererseits klein genug, so dass der Feind keinen Verdacht schöpfte.
Es war gerade noch Zeit, den Raumanzug, in dem ich seit Beginn des Einsatzes steckte, hermetisch zu verschließen. Im immer noch eingeschalteten Transparentmodus konnte ich wahrnehmen, wie die feindliche Lenkwaffe von der Seite heranraste. Dann verspürte ich einen gewaltigen Schub, als Zornige Ameise zerplatzte und mich in meinem Kokon ins All schleuderte. Da das schützende Schiffsystem nicht mehr existierte, war ich enormen Beschleunigungskräften ausgesetzt, die mir das Bewusstsein raubten.
Kurz darauf kam ich wieder zu mir. Ich steckte in meinem Kokon, der träge um seine Längsachse rotierte und dabei antriebslos dem Planeten entgegenfiel. Der gelbe sturmgepeitschte Planet war nun übermächtig groß und überstrahlte mit seinem Licht das der Sterne. Mich umgab Stille.
Benommen befragte ich das Bordsystem: „Bin ich verletzt?“
„Du bist unverletzt, Leij“, antwortete die freundliche weibliche Stimme, „Blutdruck, Herzfrequenz und Adrenalinspiegel weisen erhöhte Werte auf, was aber in Anbetracht der derzeitigen Extremsituation nachzuvollziehen ist. Alle deine Körperfunktionen sind in Ordnung.“
Ich sah mich um. Ich trieb in meinem Kokon inmitten einer losen Ansammlung größerer und kleiner Trümmerteile, die vor ein paar Minuten noch meine geliebte Zornige Ameise gewesen waren. Bei einer Getarnten Selbstzerstörung, so wie sie gerade vollzogen worden war, wurde dem Feind die Explosion eines Fahrzeugs vorgetäuscht. Dabei wurde es gezielt so auseinandergesprengt, dass die menschlichen Insassen in intakten Behältern, die wie Explosionsreste aussahen, überleben konnten. Kokons nannte man diese Überlebensbehälter. In solch einem Kokon befand ich mich jetzt. Er umgab meinen eigentlichen Raumanzug wie eine zweite Hülle. Raumschiffkokons ermöglichten dem Piloten, mehrere Wochen ohne äußere Versorgung zu überleben. Sie besaßen sogar einen eigenen Antrieb, der im All Distanzen im innerplanetaren Raum eines Sonnensystems überwinden konnte.
„Informiere mich über die militärische Situation.“ wies ich das Kokonsystem an.
„495 Einheiten wurden zweifelsfrei vom Feind zerstört. Neun Piloten haben GS eingeleitet, davon außer dir noch vier weitere erfolgreich. Über das Schicksal der verbleibenden sieben Piloten habe ich keine sichere Kenntnis. Vermutlich sind sie bei der Flucht vor den feindlichen Lenkwaffen über tz_Alpha abgestürzt.“
Diese Mitteilung erschütterte mich. Unsere Mission war zu einer Katastrophe ausgeartet. Noch vor wenigen Minuten hätte ich das für unmöglich gehalten. Nach einiger Zeit, die ich brauchte, um die Nachricht von dem vollständigen Debakel zu verdauen, fragte ich: „Hast du Kenntnis von Sergeant Hayden?“
„Sergeant Hayden hat nach deiner Komkanal-Kontaktaufnahme ebenfalls eine GS eingeleitet. Die GS war mit 95%iger Wahrscheinlichkeit erfolgreich. Der Kokon bewegt sich mit einer Relativgeschwindigkeit von minus 27 Metern pro Sekunde ebenfalls in Richtung Planetenoberfläche.“
Per reichweitebegrenztem Richtstrahl nahm ich Kontakt mit dem Kokon meines Einheitenführers auf und erbat Befehle. Es meldete sich jedoch nicht Sergeant Hayden persönlich, sondern sein Anzugssystem: „Leider muss ich dir mitteilen, Soldat Leij, dass die Getarnte Selbstzerstörung Sergeant Haydens Raumjäger fünf Komma zwei Mikrosekunden zu spät erfolgte, was Explosionsschäden am Kokon zur Folge hatte. Dieser Kokon ist deshalb momentan nur sehr eingeschränkt manövrierfähig. Sergeant Hayden wurde bei der GS verletzt. Er ist ohne Bewusstsein. Sein Zustand ist jedoch stabil. Aufgrund der Schwere der Verletzungen ist eine medizinisch regenerative Behandlung derzeit nicht möglich.“
Ich unterbrach die Verbindung und überlegte fieberhaft, was ich in dieser verzweifelten Lage tun konnte. Die anderen Überlebenden zu kontaktieren wagte ich nicht. Da ich ihre Positionen nicht kannte, hätte ich den Funk ohne Richtstrahl einschalten müssen. Damit würde auch der Feind die Signale erhalten und mich problemlos orten können. Eine kleine einfache ferngelenkte Rakete würde mir innerhalb weniger Minuten den Rest geben.
Bis zum Eintritt meines Kokons in die Atmosphäre waren es noch drei Minuten. Ich fragte das System: „Können wir Sergeant Haydens Kokon per gepulstem Traktorstrahl so an uns heranziehen, dass beide in geringer Entfernung auf die Planetenoberfläche auftreffen und ohne dass dies der Feind bemerkt?"
„Der gepulste Traktorstrahl wird mit 94,7%ger Wahrscheinlichkeit nicht registriert werden. Da im Augenblick Hunderttausende von Trümmerteilen auf tz_Alpha zufallen, ist es sehr unwahrscheinlich, dass der Feind alle Stücke ballistisch überwacht und somit die Abweichung des getrakten Kokons von seiner eigentlichen Flugrichtung feststellt. Insgesamt wird die Wahrscheinlichkeit, bei dieser Aktion entdeckt zu werden, auf 14,9% geschätzt."
Ich überlegte nicht lange, denn die Zeit lief davon. Ich gab den Befehl zum sofortigen Einsatz des gepulsten Traktorstrahls. Dies führte dazu, dass Sergeant Haydens Kokon von meinem System durch künstliche Richtgravitation angezogen wurde. Inständig hoffte ich, dass der Feind dies nicht bemerkte. Außerdem bat ich Hayden's Kokonsystem, die Kontrolle darüber übernehmen zu dürfen. Die Bitte wurde gewährt.
Alles schien gutzugehen. Als beide Kokons in die tiefen Atmosphäreschichten eintauchten, besaßen sie nur noch eine gegenseitige Entfernung von etwa 200 Metern. Ich konnte sehen, wie Haydens Kokon aufzuglühen begann. Kein Abschuss erfolgte. Ich atmete auf. Dann schaltete ich bei beiden Kokons die Atmosphärentarnung ein. Dies bedeutete, dass sich um beide Kokons ein sehr eng begrenzter Schutzschirm aufbaute, der das Verglühen verhinderte. Gleichzeitig wurde nach außen ein Strahlungkonglomerat emittiert, das gerade solch ein Verglühen in der Atmosphäre vortäuschte. Ohne Abbremsung stürzten die beiden Kokons dicht nebeneinander zur Oberfläche. Immer noch kein Abschuss. Irgendwann erreichte die atmosphärische Reibung solch hohe Werte, dass wir nicht weiter beschleunigten.
Ein paar Sekunden später berührten die Kokons die Planetenoberfläche. Eine Viertelsekunde vorher hatten die Systeme den Frontaufprallschirm eingeschaltet, der das Zerschmettern der Kokons auf dem felsigen Grund verhinderte. Die Kokons drangen in den Fels ein. Meiner bremste mithilfe seines Triebwerks unterirdisch ab. Da Haydens Kokon über den Traktorstrahl verbunden war, wurde er mit abgebremst. Dabei wurden gewaltige Kräfte freigesetzt, die vom Kokon nur unzureichend kompensiert wurden und mich erneut in die Bewusstlosigkeit fallen ließen.
Das medizinische System weckte mich auf. Wir befanden uns in rund zweihundert Metern Tiefe im Felsgestein. Alle Aggregate, bis auf die zur Lebenserhaltung unabdingbar notwendigen, waren ausgeschaltet worden, um die Tarnung nicht zu gefährden. Bang wartete ich in der Stille auf einen feindlichen Angriff. Sergeant Haydens Kokon steckte schräg über mir in etwa vierzig Metern Entfernung im Felsgestein. Nichts tat sich. Wir blieben von feindlichen Angriffen unbehelligt.
Nach einiger Zeit des ungewissen Wartens beruhigten sich meine aufgewühlten Nerven ein wenig. So fand ich Zeit, über unsere Situation nachzudenken. Je länger ich darüber grübelte, desto deutlicher wurde mir das Ausmaß unseres militärischen Scheiterns sowie die Hoffnungslosigkeit unserer Lage. Was wie ein sommerlich leichter Spaziergang begann, hatte innerhalb von Sekunden zum Untergang einer ganzen Flotte von überlegen ausgerüsteten Raumjägern geendet. Wie hatte es dazu kommen können? Nach den Informationen, die die Imperiale Flottenkommandatur des Menger-Schwamm-Spiralarmzweiges auf EkoEks3 unmittelbar vor dem Einsatz herausgegeben hatte, befanden sich auf tz_Alpha nur einige hundert Rebellen in einem einzigen Stützpunkt, der überdies nur schwach bewaffnet war. Woher waren also alle diese Lenkgeschosse gekommen? Wieso hatten unsere eigenen Ortungsgeräte sie erst entdeckt, als es schon zu spät war? Und vor allem: Wieso hatten uns die Rebellen trotz der exzellenten elektromagnetischen Tarnung überhaupt entdecken können? Uns war bisher immer mitgeteilt worden, dass die feindliche Militärtechnik der unsrigen unterlegen sei. Diese Katastrophe warf ein völlig neues Licht auf den technologischen Stand der Rebellen. Sowie auf die Fähigkeiten der eigenen Feindaufklärung. Hier war etwas völlig aus dem Ruder gelaufen, und ich hätte zu gerne gewusst, was. Aber dazu musste ich erst einmal nach EkoEks3 zurückkehren. Dass mir das gelingen könnte, hielt ich für sehr unwahrscheinlich. Und dann war da noch ein verletzter Sergeant Hayden in einem nur halbwegs funktionsfähigen Kokon. Wie sollte ich ganz alleine den bei seinen Soldaten so beliebten Einheitenführer lebend hier herausbringen? Und wie würde er reagieren, falls er dieses Fiasko jemals überleben würde, was unter den gegebenen Umständen mehr als fraglich schien?
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Sergeant Hayden war eine Legende - berühmt unter den Soldaten im ganzen Imperium. In der von ihm befehligten Einheit dienen zu dürfen galt als eine besondere Ehre. Immer wieder bewarben sich viele kampferprobte hervorragende Soldaten vergeblich um einen Platz in seiner Truppe. Weshalb ausgerechnet ich das unwahrscheinliche Glück gehabt hatte, seiner Kompanie zugeteilt zu werden, konnte ich mir nie erklären. Als ich ihm das erste Mal persönlich gegenüberstand, wäre ich vor Ehrfurcht am liebsten im Boden versunken. Seine Autorität umgab ihn wie eine strahlende Aura. Mit seinen 2,25 Metern Körpergröße war er eine beeindruckende Erscheinung - durchtrainiert bis in die letzte Faser, breitschultrig, muskulös und dabei doch gertenschlank. Seine stechenden grauen Augen schienen mich durchbohren zu wollen, als er mich bei unserer ersten Begegnung musterte:
„Soldat Leij. Gestern morgen habe ich von der Militärkommandantur auf Austerlitz erfahren, dass du meiner Kompanie zugeordnet wurdest. Mir ist nicht bekannt, welche Gerüchte du schon über uns gehört hast. Vielleicht betrachtest du es als Glücksfall, hier dein Soldatenleben verbringen zu können. Viele ausgezeichnete Kämpfer des Imperiums gäben ihre Hand dafür, dieser Einheit angehören zu dürfen. Aber sie wissen nicht, was dies bedeutet. Kannst du es dir vorstellen?“
Ich weiß nicht mehr genau, was ich als Antwort faselte. Nervös stammelte ich irgendetwas von Tapferkeit, Kameradschaft und Hingabe für das Imperium. Von der Verteidigung der hohen moralischen Werte der Menschheit gegenüber feindlichen Mächten. Sergeant Haydens undurchdringliche Miene ließ nicht durchblicken, ob ihn meine Antwort zufriedenstellte. Stattdessen verkündete er: „Das Soldatenleben im Sternenimperium ist nicht einfach. Und du wirst feststellen, Soldat Leij, dass es schwieriger wird, je länger du dabei bist. Und zu oft ist es ein gnadenloses und schmutziges Geschäft, auch wenn das niemand offiziell sagen wird. Wenn du das nicht akzeptieren kannst, hast du einen falschen Beruf gewählt. In dieser Kampfeinheit wirst du zwangsläufig bis an deine ganz persönlichen Grenzen geführt werden. Das wird nicht immer eine angenehme Erfahrung für dich sein. Ob du als Soldat ein hohes Alter erreichen wirst, kann ich dir nicht versprechen. Aber eines kann ich dir versprechen: alle in dieser Kompanie, mich selbst eingeschlossen, werden, wenn es die Situation im Kampf erfordert, bis zur Selbstaufgabe für dich da sein. Und das Gleiche verlange ich umgekehrt von dir! Ich hoffe, dass ich mich damit klar genug ausgedrückt habe.“
Nach einer langen bedeutungsschweren Pause, während der ich kaum zu atmen wagte, fügte er die formalen Sätze an: „Ich heiße dich offiziell in unserer Kampfeinheit, der Schnellen Angriffskompanie 224 der 78. Planetenschutzbrigade der kaiserlichen Streitkräfte des Menger-Schwamm-Spiralarmes willkommen. Mögest du deinen Pflichten als Soldat der imperialen Streitkräfte gerecht werden und die behütende Hand unseres Sternenimperators stets über dir sein.“ Dann legte er mir seine Hände auf meine beiden Schultern, so wie es in den Streitkräften bei Anlässen dieser Art üblich war.
Als ich zu ihm aufblickte, konnte ich deutlich die Narben in seinem Gesicht ausmachen, die er von verschiedenen Einsätzen davongetragen hatte. Natürlich war auch mir bekannt, dass er anstelle seines linken Armes eine Multifunktionsprothese aus Stahlplast trug. Der Arm war ihm im Kampf bei der Explosion einer Mikrobombe abgerissen worden. Selbstverständlich hätte Hayden eine vollständige Heilung durch eine biologische Eigenprothese erhalten können. Aber er hatte dies wie auch die Beseitigung anderer körperlicher Entstellungen stets beharrlich abgelehnt. Viele, die Sergeant Hayden gut zu kennen glaubten, sagten, er trüge er seine vielen Narben mit Stolz und um seine Autorität zu stärken. Ich bin heute, nach vielen Jahren, anderer Auffassung: Ich glaube, er trug seine Narben zur Mahnung - zur Mahnung für seine Kameraden, seine Vorgesetzten, aber auch für sich selbst. Seine Stahlplastprothese sollte eine ständige Erinnerung daran sein, dass Krieg ein menschenverachtendes Handwerk ist, das auch durch noch so viele kosmetische Operationen seine Blutrünstigkeit nicht verbergen kann.
Sergeant Hayden war berühmt für seine Fürsorge um seine ihm anvertrauten Soldaten. Es ging das Gerücht, dass Haydens Kompanie die mit der geringsten Todesrate in der kaiserlichen Armee war. Hayden verlangte seinen Soldaten im Kampf das Letzte ab, setzte andererseits aber alle Hebel in Bewegung, seine Untergebenen unversehrt aus dem Kampf herauszuführen.
Vor etlichen Jahren hatte er einen Angriff auf die Stadt Wolkenmauer auf dem Planeten Twistle VII zu befehligen. In Wolkenmauer hatten sich ein paar tausend aufständische Bewohner verschanzt. Angeblich bedrohten sie das Imperium mit neuentwickelten biologischen Waffen. Haydens Kompanie erhielt den Auftrag, die Führung der Aufständischen ausfindig zu machen und auszuschalten. Durch einen fatalen Fehler einer seiner Unteroffiziere wurde Haydens Truppe jedoch vorzeitig entdeckt. Der zahlenmäßigen Überlegenheit der Stadtbewohner konnten sie nicht lange standhalten. Nach einem kurzen erbitterten aussichtslosen Häuserkampf im glänzenden Bürokomplex Wolkenmauers, den über 700 Einheimische und 26 Angreifer mit ihrem Leben bezahlen mussten, wurden die überlebenden 37 Soldaten gefangengenommen und in unterirdische Bunkeranlagen verschleppt. Sergeant Hayden gelang es als Einzigem, sich der Gefangennahme zu entziehen. Ihm war der linke Arm abgerissen worden, als eine 4mm-Mikrobombe drei Meter von ihm entfernt detoniert war. Das Ortungssystem seines Kampfanzuges hatte die Bombe nicht orten können, weil sie unter einer Metallabschirmung versteckt gewesen war. Aber Sergeant Hayden lebte. Das interne MedSystem stoppte die lebensbedrohlichen Blutungen und linderte die unerträglichen Schmerzen. Es gelang Hayden, die Position seiner gefangen gehaltenen Soldaten, welche auf ihre Verhöre und anschließenden Hinrichtungen warteten, zu orten. Mit übermenschlicher Anstrengung konnte der schwerverletzte Kompanieführer durch die unterirdische Kanalisation zu seinen Soldaten vordringen. Dort richtete Hayden ein Blutbad unter den Bewachern ein und befreite die Kameraden. Anschließend bewaffneten sich die Befreiten mit den Plasmagewehren der Aufständischen und führten ihren ursprünglichen Auftrag zu Ende. Sergeant Hayden hielt bis zum Ende durch - bis sie den Raumtransporter in seinem Versteck betreten hatten, der sie zurück zur Truppenbasis bringen würde. Dann brach er bewusstlos zusammen.
Vorkommnisse wie diese begründeten Sergeant Haydens legendären Ruf. Ihm wurden zahllose verlockende Angebote unterbreitet, in der Militärhierarchie aufzusteigen. Sein taktisches und strategisches
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Copyright © Martin Sollert 2012
Bildmaterialien: Vivian Tan Ai Hua - www.facebook.com/aihua.art
Tag der Veröffentlichung: 09.05.2012
ISBN: 978-3-86479-676-0
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