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Fische des tiefen Goldes

Enrio war dieses Jahr erneut auf den See hinausgefahren.
Erneut versuchte er in der Tiefe des schwarzen Wassers etwas zu erspähen, aber es glänzte so stark in der Sonne, dass es einen Blick in das Dunkel unter der Wasseroberfläche unmöglich machte. Seine Angel, die eigentlich nur eine Schnur mit Haken und Essensresten war, hing regungslos im Wasser.
Es schien wieder ein erfolgloser Tag zu werden und selbst wenn heute noch einer der ersehnten Fische anbiss hieß es noch lange nicht, dass er auch die ersehnte Beute brachte.
Er wollte Aurinoj fangen, die Fische des tiefen Goldes wie man sie auch nannte. Sie kamen nur zu dieser Jahreszeit, Anfang des Frühling im zweiten oder dritten Monat des Jahres, zum Laichen an die Wasseroberfläche. Den Rest des Jahres lebten sie am Grund des schwarzen Sees, von dem manche behaupteten, dass er so weit im Erdinneren lag, dass er den Menschen auf der anderen Seite Regen bescherte.
Dort in der Tiefe ernährten die Aurinoj sich von all den Dingen, die so auf den Grund fielen und dabei verspeisten sie auch viel anderes Zeug, das sich in der Tiefe befand. Darunter waren manchmal auch die Niganas, wundervolle goldglänzende Edelsteine von unschätzbarem Wert. Wie diese an den Grund gekommen waren wusste keiner. Die meisten meinten, dass es sich dabei nur um ein natürliches Vorkommen handelte, aber es gab mindestens genauso viele Geschichten von versunkenen Schätzen. Aber wie auch immer sie an den Grund des Sees gelangt waren, ein Teil von ihnen schwamm nun im Magen der Fische wieder an die Oberfläche und durch die Jagd auf die Aurinojs hoffte Enrio ordentlich Geld zu machen, mindestens soviel, dass er in absehbarer Zeit nicht wieder die Arbeiten machen musste, mit denen er und sein Bruder sich sonst über Wasser hielten. Aber er wohl nicht der einzige der auf das Glück hoffte, einen dieser Edelsteine zu finden.
Plötzlich zog es an der Angelschnur. Enrio schaffte es grade noch rechtzeitig, sie fester zu packen. Es war wohl ein großer kräftiger Fisch und Enrio merkte, wie ihm die Schnur langsam aus der Hand glitt. Er versuchte sie irgendwie so um seine Hand zu wickeln, dass er sie ordentlich festhalten konnte. Dafür lehnte er sich zu weit nach vorne und kippte im selben Moment vornüber.
Das Wasser empfing ihn eiskalt und seine Angelschnur hatte er im Schreck schon längst losgelassen. Er versuchte nach ihr zu greifen, spürte aber nur den trägen Widerstand des Wassers und seine Augen sahen auch nur die unscharfen dunklen Tiefen unter ihnen. Er strampelte sich nach oben, brauchte Luft. Viel zu lange dauerte es, bis er die Oberfläche erreicht. Sie empfing ich ebenso eisig wie vorher das Wasser, aber er konnte atmen.
Sein kleines Boot war etwas abgetrieben, aber zum Glück nicht umgekippt. Enrio schwamm zu ihm und schaffte es mit einiger Mühe sich wieder reinzuziehen, wobei das Boot fast gekentert wäre.
Er musste es für heute aufgeben, bei der Kälte war es viel zu riskant weiter nass auf dem Boot zu bleiben. Er steuerte aufs Ufer zu, wo er noch ein Weile entlangruderte, bis er die Stelle erreichte, wo er sein Boot aus dem Wasser zog und in den kleinen Schuppen sperren konnte.
Als er das geschafft hatte war er wenigstens etwas aufgewärmt, wenn auch immer noch plitschnass.
Er schloss den Schuppen ab und als er sich noch einmal umdrehte fiel ihm ein kleiner Junge auf, der zusammengekauert am Ufer saß.
Eigentlich wollte Enrio nur noch nach Hause, aber die Art wie er da hockte bewegte ihn irgendwie doch dazu sich ihm zu nähern. Er hörte wie der kleine Junge schluchzte und sah, dass er wohl auch gar nicht mehr so klein war, wie Enrio erst gedacht hatte Er war wohl in etwa im gleiche Alter wie er selbst. Das passte Enrio gar nicht, da er immer der Meinung war, dass er wohl auch genug Grund hatte zu weinen, sich aber nie zu einem so kindische Verhalten herabgelassen hätte.
“Ey, was flennst du, Kleiner? Hat deine Mutter mit dir geschimpft?”, sprach er ihn etwas unfreundlicher als geplant an.
Der Junge schaute ihn nur mit geschwollenen und tränenüberströmten Augen an und machte keine Anstalten sich nun etwas zusammenzureißen.
Enrio bereute seine unfreundliche Frage und versuchte es erneut etwas freundlicher:
“Was ist denn los, man? Du kannst doch hier nicht einfach so sitzen und flennen!”
Der Junge vergrub sein Gesicht wieder in den Knien und drehte ihm den Rücken zu.
Enrio beobachte ihn kurz und wusste nicht so recht, was er dazu sagen sollte.
“Ok, es tut mir leid, dass ich eben so unfreundlich war, kommt nicht wieder vor…”
Er überlegte zu gehen, aber irgendwie kam ihm das auch nicht richtig vor.
Er hockte ich neben den Jungen.
“Jetzt erzähl doch einfach mal warum du so traurig bist…”
Keine Antwort.
“Ich mein, wenn dus erzählst, geht es dir bestimmt bald besser….”
“Lass ich in Ruhe!” , war die schluchzende Antwort des Jungen.
Doch so leicht wollte Enrio sich nun nicht wieder abwimmeln lassen. Er war neugierig geworden und vielleicht wollte er auch irgendwie helfen.
“Weißt du…”
Er ließ sich möglichst geräuschvoll auf seinen Hintern plumpsen und streckte langsam die Beine aus.
“…wenn du mir nicht sagst was dich bedrückt, muss ich wohl hier sitzenbleiben. Und da ich vorhin ins Wasser gefallen bin, bin ich noch ganz nass und da werd ich mir wohl eine Erkältung holen und jämmerlich sterben, nur weil du…”
“Nein!” schluchzte der Junge. Er hatte sich wieder umgedreht und schaute ihn mit seinen verheulten Augen an.
Enrio lächelte vorsichtig.
“Geht doch… Jetzt erzähl mir erstmal wie du überhaupt heißt.”
Der Junge sah in mit schüchternen Augen an.
“Ich heiße Jeanos.” begann er vorsichtig. “Ich komme aus dem Lierosbezirk oben am Berghang.”
Reichenkinder, dachte Enrio. Er wusste, dass dieser Bereich der Stadt auch nicht zu den reicheren Bezirken der Seeküstenstadt Neros gehörten, aber für ihn waren alle, die nicht aus dem Armenbezirk Meran kamen, Reichenkinder. Meran lag nicht nur wie Lieros am Rande der Stadt, sondern unterhalb der alten Stadtmauern, direkt am Wasser des Sees, formal also nicht mehr innerhalb der Stadt.
“ah. Und was ist nun der Grund, wieso du so weinst ?”
Jeanos schluchzte erneut, langsam ging er Enrio auf die Nerven.
“Mein Mutter... Sie hat auf einmal diesen Husten bekommen… und dann …und dann… ist sie umgekippt und der Doktor sagt er kann ihr nicht helfen, wenn wir das Geld nicht haben … und… und …ich bin durch die Stadt gelaufen …. und… ich hab unseren Verwandten gefragt … wegen Geld und so…. und sie haben gesagt, ….gesagt, dass sei nicht ihre Sache… und das ich alt genug bin …und ….” Er weinte wieder bitterlich.
Enrio war aufgestanden.
“Und deshalb sitzt du hier und weinst?”
Jeanos schniefte nur.
“Wieso sitzt du dann hier? Verdien das Geld doch, was deine Mutter braucht!”
“Aber… aber…” verteidigte sich Jeanos weinerlich “Ich hab doch gar nichts gelernt … und … und es ist so viel , was der Doktor verlangt.”
“Dann musst du halt härter arbeiten oder willst du, dass deine Mutter stirbt?”
Jeanos war kurz davor erneut in Tränen auszubrechen und sein Gesicht in den Knien zu vergraben.
“Außerdem, weißt du überhaupt wo wir sind?”
Er zeigte auf den See.
“Darin sind unglaubliche Schätze und du sitzt hier und fragst dich wie du an Geld kommen sollst. Es ist Frühling, mann!”
“DDu meinst die Fische des tiefen Goldes? Aber ich weiß doch gar nicht, wie man sie fängt ich war noch nie auf dem See und überhaupt hab ich kein Boot und…”
“Aber ich hab eins.” verkündete Enrio stolz “und ich kann dich mitnehmen. Ich hab sogar eine zweite Angelschnur, oder hatte, besser gesagt … egal, sei morgen hier und bring eine Angelschnur mit und es kann losgehen.”
Enrio drehte sich um und ging.
“Warte doch mal!” rief Jeanos.
“Was ist denn noch?”
“Wer bist du denn überhaupt?”
“Enrio” Er lächelte.

Auf dem Nachhauseweg bereute Enrio, dass er einfach jemanden angeboten hatte mit ihm auf den See zu fahren. Meistens brachten ihm die Tage, die er draußen war nur äußerst wenig, oft fing er keinen einzigen der Aurinojs und brachte nur normale Fische als Abendessen nach Hause. Und auch wenn ihm ein Aurinoj ins Netz ging, hatte er bisher erst einmal wirklich einen Edelstein gefunden und auch der war nur sehr sehr klein gewesen. Er hatte jedoch für den Sommer genügend Geld gebracht, sodass Enrio und sein Bruder eine zeitlang sorgenfrei leben konnten.
Für heute hatte er zwar schon zwei kleinere andere Fische gefangen, die zwar fürs Abendessen reichen würde, er hoffte aber den Nachmittag noch etwas Brot aufzutreiben. Zuerst wollte er seine Klamotten wechseln. Er wusste nicht ob sein kleiner Bruder da war und wollte ihm nicht mit nur ein paar mageren Fischen begegnen. Er hasste es sowieso schon ihm jeden Tag erklären zu müssen, dass er noch keinen Edelstein gefunden hatte und die nächsten Tage nur etwas Brot und Fisch drin war und sowieso kein neues Spielzeug.
Doch jetzt hatte er wohl keine Alternative, wenn er nicht krank werden wollte und so steuerte er direkt auf seine kleine Hütte zu.
Sie stand am Rande von Meran und war relativ solide gebaut. Enrio hatte viel zeit darauf verwendet sie abzudichten und zu verstärken, daher war sie zwar immer noch recht klein, aber wetterfest. Sein kleiner Bruder und er waren nach dem Tod ihrer Eltern nach Meran gekommen und hatten diese damals leerstehende Hütte bezogen. Dies war nun schon einige Zeit her und selbst Enrio konnte sich kaum noch an seine Eltern erinnern und wusste auch nicht mehr, woran sie gestorben waren.
Die Menschen in Meran waren arm, aber sehr nett und sie hatten die beiden herzlich aufgenommen, so war es ihnen jetzt möglich ihren Lebensunterhalt selbst zu bestreiten und einen Teil der Hilfe, die ihnen zugekommen war zurückzuzahlen.
Die Hütte war leer, als Enrio ankam und so legte er die Fische ab, zog sich um und machte sich auf in die Stadt um nach Material für eine neue Angel zu suchen.

Am nächsten Morgen war Enrio schon früh wieder am See. Er keinen zweiten Angelhaken auftreiben können und wusste nicht was er mit Jeanos machen sollte, falls er kam. Insgeheim hoffte er sowieso das er nicht erscheinen würde, denn er schien mehr ein Hindernis zu sein als ein Hilfe.
Doch Jeanos stand wie vereinbart vor dem Schuppen.
“Ich habe auch eine Angel mitgebracht. “ begrüßte er Enrio.
Der betrachtete sie.
“Wow, das ist ja sogar ein richtiger Angelhaken!”
Enrio kam sich mit seinem selbstgebastelten Teil etwas schäbig vor, aber gleichzeitig wurde sein Eindruck verstärkt, dass Jeanos ein Reichenkind war und daher eigentlich auch seine Hilfe überhaupt nicht benötigte. Aber versprochen war versprochen.
Also schloss er den Schuppen auf und sie zogen gemeinsam das Boot ins Wasser. Enrio hatte nicht den Eindruck, dass es leichter war als sonst.
Er ruderte also in die Mitte des Sees mit Jeanos vor ihm, der völlig begeistert schien, von allem was er hier sah. Enrio ärgerte sich zutiefst eine Landratte mitgenommen zu habe, die ihm auch noch mit unlustigen, überflüssigen Bemerkungen auf den Keks gehen musste. Und er brachte das Boot ständig zu wanken, weil er ständig sich mal zur einen, mal zur anderen Seite lehnen musste.
“Setzt dich doch mal ordentlich hin, das Boot schaukelt total,! Wie soll man denn da rudern?!”
“Tschuldigung” Jeanos kauerte sich auf seinem Sitz zusammen und bewegte sich den Rest der Fahrt kaum noch. Enrio mochte seine unterwürfige Art nicht.
An einer ausreichend tiefen Stelle stoppte Enrio und öffnete seine Büchse mit Köder. Er nahm eins der Insekten heraus und befestigte es am Haken. Nach einigem Zögern tat Jeanos es ihm gleich. Enrio achtete nicht auf ihn, er starte aufs Wasser. Erst als Jeanos nach einer Ewigkeit den Angelhaken mit einem leisen Platschen ins Wasser warf sah er hin. Der Köder schwamm auf dem Wasser, während der Angelhaken längst untergegangen war.
“Nicht mal einen Köder kannst du ordentlich befestigen!” maulte Enrio ihn an.
“Gib her!” Er riss ihm die Schnur aus der Hand und zog sie aus dem Wasser. Er befestigte einen Köder an ihr und drückte sie Jeanos in die Hand.
“Hier! Nächstes Mal lässt du das gleich mich machen, wir haben schließlich nicht unendlich Köder! Und wirf ihn bitte auf der anderen Seite aus, dann ist es wenigstens etwas wahrscheinlicher, dass wir etwas fangen!”
Jeanos schaute ihn nur verstört an.
Enrio blickte wieder aufs Wasser und nach einer Weile fiel Jeanos Angelhaken wieder mit dem üblichen Plop ins Wasser.
Dann war es eine Weile still.
“Es tut mir Leid, Enrio.”
“Ja, ja.”
“Aber ich hab das wirklich noch nie gemacht und ich finde nicht fair, dass du immer gleich so meckerst..”
“Sei still, du verscheuchst die Fische.”

So saßen sie eine ganze Weile und Enrio kam es heute besonders lang vor. Normalerweise konnte er hier in Ruhe nachdenken und wusste den Abend genau, wie und wo er noch etwas Geld oder Essen auftreiben konnte. Doch heute konnte er fühlte er sich schon durch die Anwesenheit Jeanos zu sehr gestört. Zwar hatte diese auch schon lange nichts mehr gesagt, doch das half nicht Enrios Sympathie für ihn zu verbessern.
“Ah, da ist was!”, rief Jeanos plötzlich. Er wurde ruckartig nach vorne gezogen. Enrio wollte ihn festhalten. Er verhakte sich mit seinem Füßen im Boot und sie kippten mit dem gesamten Boot in den See. Enrio schlucke Wasser. Er hatte Mühe sich unter dem Boot zu befreien, kam mit Not an die Wasseroberfläche. Er hustete. Sein Brustkorb tat weh. Er bekam wieder Wasser ins Gesicht. Jeanos strampelte verzweifelt mit dem Kopf Unterwasser. Immer noch hustend zog Enrio ihn mit Mühe wieder heraus und konnte ihn zu Boot ziehen, wo er sich irgendwie festhalten konnte. Auch er hustete keuchend, bevor er wieder halbwegs atmen konnte.
“Ich kann nicht schwimmen!” jammerte er verzweifelt.
Auch das noch, dachte Enrio. Seine Hoffnungen, das Boot noch im Wasser wieder umdrehen zu können, schwanden. Er versuchte nun Jeanos irgendwie auf das umgekippte Boot zu kriegen, was ihm nach vielen mühsamen Versuchen endlich gelang. Er suchte das Ruder, doch das schien ebenso wie die Angeln verschwunden zu sein. Also schwamm er hinter das Boot und schob es mühsam Richtung Ufer.
Es dauerte eine Ewigkeit, bis sie es erreichten, vor allem weil Jeanos noch einige Male wieder vom Boot fiel.

Als sie das Ufer erreichten war Enrio erschöpft und völlig unterkühlt. Er hatte sich schon den morgen nicht gut gefühlt und jetzt war er sicher, dass er krank werden würde und das war das schlimmste, was ihm und seinem kleinen Bruder passieren konnte.
Und er war wütend. Er hatte seine letzte Angel verloren, seine Köder und vor allem sein Ruder.
Sie schoben das Boot wieder ans Ufer.
“Verpiss dich!”, zischte er Jeanos an.
“Verpiss dich und lass dich hier nie wieder blicken.”
“Es tut mir Leid.” jammerte der zur Antwort.
“Ach es tut dir Leid?!!!” schrie er zurück “Es tut dir also Leid, dass meine Köder, meine Angel und mein Ruder weg sind?!! Das bringt sie mir natürlich so was von zurück, du kleines unfähiges Arschloch!!”
Jeanos traten die Tränen in die Augen und er rannte heulend weg.
Enrio blieb stehen. Dann wurden ihm die Knie weich. Er hockte sich hin und fing an zu weinen. Er wusste nicht weiter, er wusste nicht wie er das seinem kleinen Bruder erklären sollte.
Die Kälte erinnerte ich bald daran, dass er sich zusammenreißen sollte. Er stand auf und ging wieder nachhause.

Den nächsten Tag lag Enrio mit einer Erkältung im Bett. Er hatte Fieber und Husten und fühlte sich nicht imstande den Tag wieder rauszufahren. Es war für ihn kaum zu ertragen, dass sein kleiner Bruder mit weinerlichen Augen an sein Bett kam und ihm Wasser und Früchte brachte, die er gesammelt hatte. Den Nachmittag kam seine Nachbarin vorbei, die sich schon oft um die beiden gekümmert hatte und auch immer ein Auge auf Enrios kleinen Bruder warf. Sie kochte ihm Tee und brachte etwas Medizin. Enrio wusste nicht, wie er ihr danken konnte.
Bald erholte Enrio sich jedoch wieder und nach zwei Tagen konnte er wieder raus. Er verfluchte Jeanos in den Tagen seiner Krankheit, aber dann dachte er kaum noch an ihn. Er hatte viel zu viel zu tun, als das er dafür noch Zeit gehabt hätte. Er lieh sich eine Axt und ging in den Wald um sich ein neues Ruder zu schnitzen. Es wurde nicht so gut wie das alte und er brauchte fast einen ganzen Tag dafür.
Er hatte den nächsten Tag sogar das Glück ein Stück Metall zu finden aus dem er sich einen neuen Angelhaken zu basteln.

Also ruderte er den nächsten Morgen wieder auf den See. Es war schon warm geworden und es war wohl einer der letzten Tage an dem man die Aurinojs noch fangen konnte, bevor sie sich wieder in die Tiefen zurückzogen.
Es war ein erstaunlich erfolgreicher Tag, er hatte schon zwei Aurinojs an Land gezogen, allerdings ohne einen Nigana, denn nur der wenige trugen wirklich einen begehrten Stein in sich.
Da zog es erneut an den Angelschnur. Er zog ihn ohne Probleme aus dem Wasser. Es war schon wieder ein Aurinoj.
Er schnitt auch diesem Fisch den Bauch auf und entfernte den Magen und Darmtrakt. Als er diesen öffnete floss wieder braune Pampe mit einigen noch erkennbaren Algen und Fischteilen heraus. Er durchsuchte sie. Da erspähte er dazwischen etwas Glitzerndes.
Es war ein Nigana!
Er war eher klein, aber jedoch größer als alle, die Enrio je gesehen hatte.
Er stieß einen Jubelschrei aus.
So schnell er konnte ruderte er ans Ufer, vergaß fast sein Boot wieder einzuschließen und rannte so schnell er konnte zum Händler.
Dieser wollte ihn natürlich übers Ohr hauen,, so wie er es immer tat, aber Enrio wusste wie viel der Stein in etwa wert war und konnte besser verhandeln als man ihm zutraute.
Mit dem Geld in der Tasche wollte er nur noch ein Festmahl für sich und seinen kleinen Bruder kaufen und dann so schnell wie möglich zurück.

Da dachte er an Jeanos.
Ob er wohl inzwischen etwas Geld aufgetrieben hatte?
Er verdrängte den Gedanken.
Aber er drängte sich immer wieder auf. Da fing Enrio an zu rennen. Er rannte auf die alte Stadtmauer zu und kletterte über sie hinweg. Er rannte durch die Stadt, achtete nicht auf die Menschen, die ihn für einen fliehenden Dieb hielten. Er rannte bis an die Grenze von Lieros.
Da stoppte er. Er rang nach Atem.
Das ganze kam ihm wahnwitzig vor. Er hatte keine Ahnung, wo Jeanos überhaupt zu finden war.
Langsam ging er weiter.
Die Gegend erschien ihm etwas heruntergekommen als der Rest der Stadt, aber die Häuser waren größer, als in Meran.
Er hielt bei einem Laden und fragte die Besitzerin, ob sie einen Jeanos kenne, dessen Mutter erkrankt sei. Sie verneinte wie auch viele weitere die er fragte.
Er suchte den ganzen Nachmittag und wollte schon aufgeben, als er seine Stimme hörte. Sie kam aus einem Laden für Puppen und alle möglichen Figuren zu verschiedenen Zwecken. Enrio dachte schon, dass er sich getäuscht hätte, trat aber trotzdem ein.
Dort saß Jeanos über einen Tisch gebeugt und schien an etwas zu schnitzen.
Enrio trat hinter ihn. Jeanos arbeite an einem kleinen Holzpüppchen, wie man es für Bestattungen verwendete.
“Deine Mutter … ist sie…?”
Erschrocken drehte Jeanos sich um.
“Enrio! Du bist hier!” Er wunderte sich über Enrios erschrockenen Gesichtsausdruck, dann schaute er auf die halbfertige Puppe in seiner Hand.
“Achso, nein nein, die ist für meine Mutter.” Er schaute etwas betrübt auf den Boden.
“Was ist mit ihr?”, fragte Jeanos zögernd.
“Es geht ihr immer noch schlecht, aber nachdem du mich davongejagt hattest habe ich bei dem Puppenmacher hier angefangen. Schnitzen ist etwas, das mir besser liegt.” Er lächelte matt. “Naja, ich kann die Medizin bezahlen, sodass es ihr zumindest etwas besser geht. Aber eine ohne eine Operation… naja, aber die würde ich wohl selbst wenn ich einen der Niganas finden würde nicht bezahlen können. Du müsstest mal meinen Chef hier hören, er hält alle die auf die Suche nach den Steinen gehen für absolute Spinner. Er meint, dass nur derart wenige Fische die Steine in sich trügen, dass man eigentlich nie einen finden würde.”
“Ich habe einen gefunden.”
Verdutzt sah Jeanos ihn an. Er wusste nicht was er dazu sagen sollte.
Enrio nahm seine Hand und drückte unauffällig das Geld in seine Hand, sodass die anderen im Laden es nicht sahen.
“Nimm du es, du brauchst es mehr als ich.”
“Ich kann es nicht nehmen, ich habe dir nur Ärger bereitet und ich bin sicher, du brauchst ihn genauso wie ich.. Du kommst doch aus Meran, oder?”
“Das spielt doch keine Rolle. Mein Bruder und ich werden auch dieses Jahr ohne einen solchen Stein leben können. Deine Mutter braucht ihn dringender.”
Und dann drehte Enrio sich um und ging. Er konnte nicht weiter argumentieren. Er hätte sich wohl nicht mehr lange dazu durchringen können sich von dem Geld zu trennen.
Doch so ging er wieder zu seinem Boot und versuchte es auf ein neues.
Jeanos bezahlte seiner Mutter die Operation. Sie überstand sie gut und erholte sich bald wieder. Doch Enrio sah er nicht wieder.

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Tag der Veröffentlichung: 17.06.2010

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