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Fast sieben Jahre war sie, als ihr Schwesterchen geboren wurde. Es war die Zeit kurz vor dem scheußlichen Krieg.
Sie war gerade in die Schule gekommen, war ein lustiges quicklebendiges Menschenkind. Der Unterricht bereitete ihr Freude und das Lernen brachte Abwechslung in ihr junges Leben.

Und nun war noch das Schwesterchen da. Lange hatte sie darauf warten müssen, immer hatte sie sich ein Baby gewünscht. Nun lag das kleine Wesen da in seinem Bettchen. Oft stand sie und beobachtete die Kleine, die Äuglein, die Händchen. Sie staunte, wenn sich das Baby bewegte, und sie war sehr traurig, als man feststellte, dass die Kleine ein Problem mit einem seiner Ärmchen hatte.

Aber das kleine Mädchen wuchs trotz der Behinderung gesund und munter heran. Oft musste die „große“ Schwester auf die Kleine aufpassen, musste sie spazieren fahren. Manchmal hatte sie dazu überhaupt keine Lust. Sie wollte mit ihren Freundinnen spielen. Dann stellte sie den Kinderwagen irgendwo auf die Seite, wo sie ihn noch gut im Blick hatte, und wenn das Baby weinte, lief sie hin, schaukelte den Wagen, bis die Kleine wieder schlief und spielte dann weiter.

So wuchsen die beiden Kinder heran. Je größer sie wurden, desto unzertrennlicher wurden sie. Sie hatten zwar beide unterschiedliche Interessen, jede hatte ihren Freundeskreis, aber wenn der einen etwas Unrechtes geschah, trat die andere für sie ein.

Die Kleine wuchs heran. Sie kam in die Schule. Es war noch Krieg. Oft wurden die Schulkinder, wenn es Fliegeralarm gab, nach Hause geschickt. Die Große nahm dann ihr kleines Schwesterchen an die Hand und die zwei rannten, wie von Teufeln gehetzt, nach Hause in Muttis schützende Arme.

Es war Mai, Mai 1945, der Krieg war vorbei. Endlich konnte man wieder in Frieden leben. Wenn das Leben auch jetzt noch nicht so einfach war. So waren Mutti und Vati und die beiden Mädchen endlich wieder zusammen. Vati sorgte sich immer sehr um seine Familie. Er brachte immer etwas zu Essen mit heim, wenn es mal knapp gewesen war. Mutti sorgte mit ihrem Talent, aus oft unmöglichen alten Sachen die schönsten Kleider für die Kinder zu nähen, dafür, dass ihre zwei immer schick angezogen waren.

Deutschland war nach diesem verheerenden Krieg von den Siegermächten getrennt und in 4 Zonen aufgeteilt worden.
Der Russe hatte sich vom Westen losgesagt und ein separates Deutschland aus seinem Anteil gegründet. Es gab inzwischen eine streng bewachte Grenze zwischen diesen 2 Deutschen Staaten.

Das große Mädel war zu einem Backfisch, so hießen die Teenys damals, herangewachsen. Die ersten Freunde stellten sich ein, und es dauerte nicht lange, da stand „der“ Freund fest, der sie dann später vor den Traualtar führte.
Die jüngere von den Beiden war 13 Jahre alt, als ihre „große“ Schwester ihr erstes Baby bekam. Es war ein kleines Mädchen, und die „kleine Tante“ war ganz stolz auf ihre kleine Nichte.

Drei Jahre zogen ins Land. Die jüngere Schwester hatte einen jungen Mann kennen und lieben gelernt, und die zwei hatten bei den Eltern durchgesetzt, dass sie heiraten durften. Die Hochzeit fand so heimlich statt, dass nicht einmal der engste Nachbarnkreis davon wusste, denn als 16jährige schon zu heiraten, das war in einem kleinen Dorf was ziemlich verwerfliches.

Nach eineinhalb Jahren bekam die sehr junge Frau selber ihr erstes Kind – ein Mädchen -, dem sich in den nächsten fünf Jahren noch drei kleine Mädchen zugesellten.

Auch die große Schwester hatte inzwischen noch einen kleinen Jungen bekommen. Ihre große Tochter war nun schon 9 Jahre alt.

Der Junge war einen Monat vor dem 4. Kind der kleinen Schwester geboren.
Oft unternahmen die zwei Geschwister mit ihren Kindern große Spaziergänge. Sie tobten und spielten mit ihren Kindern. Sie hatten viel Spaß mit einander und waren, so wie immer, unzertrennlich.

Die Familie mit den 4 Kindern bekam Schwierigkeiten und ein Angebot, im anderen Teil Deutschlands ein Geschäft zu übernehmen.
Der Abschied von der geliebten Schwester und dem Vater der beiden (die Mutter war schon vor einigen Jahren verstorben) kam; aber man verabschiedete sich nicht. Die junge Familie ging heimlich weg aus dem Leben der anderen.

Nun waren die zwei Unzertrennlichen durch eine streng bewachte fast unüberwindbare Grenze für immer getrennt. Das erwies sich für die zurück gebliebene Schwester als sehr schmerzlich, denn sie verlor durch einen tragischen Unfall kurz nach dem Weggang der Jüngeren ihren geliebten Mann. Nun war sie allein mit ihren zwei Kindern und Opa und Oma.

Es gab nur ein paar kurze Wiedersehen zwischen den Geschwistern, denn der Besuch ging nur in eine Richtung. Die Jüngere konnte nie, auch nicht zu Besuch, wieder zurück.

Noch 6 Kinder wurden dem Paar, im Osten des Landes geboren. Nun waren es 10. Es war relativ leicht die 10 Kinder in einer sozialistischen Diktatur groß zu ziehen, denn hier wurde alles getan für kinderreiche Familien.

Zwar mussten die Eltern beide arbeiten, aber das konnte man ganz beruhigt, denn die Kinder waren in den Kindereinrichtungen gut versorgt. Fast alles war kostenlos.

Die Schwestern lebten nun jede in ihrer eigenen Welt. Sie hatten nicht mehr viel voneinander. Sie schrieben viele Briefe hin und her. Die Ältere, die in der BRD wohnte, besuchte die Jüngere einige Male. Auch der Vater der Beiden kam zu Besuch. Er unterstützte die Großfamilie sehr, in dem er Pakete schickte, zu Geburtstagen der Kinder und zu Weihnachten.
Aber trotz alle dem - waren sie sich fremd geworden? Vielleicht - so ein bisschen.

Viele Jahre waren ins Land gezogen. Aus den beiden Deutschlands wurde wieder ein Land.

Die Bürger des Ostens hatten dafür gekämpft – friedlich gekämpft – und demonstriert, bis sie nachgeben mussten, die Herrscher der DDR.
Mauern wurden eingerissen, die Grenzen geöffnet, und nun stand die Hoffnung, „es kann alles werden, wie es einmal war!“ So dachten die Menschen aus der DDR.
Auch die Schwester aus dem Osten dachte so.

Aber erst einmal kam eine grosse Enttäuschung.

Am Tag nach der Öffnung der Mauer fuhr die jüngere der Schwestern voller Euphorie mit ihrem Mann und dem jüngsten Sohn über eine Grenze, die es nicht mehr gab, um nun nach so vielen Jahren ihre geliebte Schwester zu besuchen.

Doch sie wurde bitter enttäuscht. Denn ihre große Schwester war nicht voller Euphorie sondern voller Panik.
Sie hatte oft darüber nachgedacht was einmal wird, wenn Deutschland wieder ein Land werden sollte. Sie hatte Angst vor einem Überfall durch die große Familie. Sie nahm an, jetzt käme diese riesige Familie (diese war inzwischen enorm gewachsen, Schwiegerkinder und reichlich Enkelkinder hatten sich dazu gesellt) und würde sie evtl. viel Geld kosten. Sie hatte nicht viel. Ihr Erspartes war genau so wie das der Jüngeren die Hinterlassenschaft des Vaters, der vor einigen Jahren verstorben war.

Es gab nur ein kurzes Gespräch, einen kurzen Aufenthalt mit vielen Vorhaltungen und Vorwürfen, dass die jüngere Schwester dem Vater sehr viel gekostet habe, dass sie alle nicht verstanden hatten, wieso man sich so viele Kinder anschafft.
Es herrschte Panik auf der einen Seite und Enttäuschung auf der anderen, und dann war eine Schwesterliebe kaputt.

Diese Enttäuschung kostete viele Tränen.


Die drei Ossis fuhren zurück in ihr Leben. Sie mussten es umstellen und viel lernen, was trotz der großen Enttäuschung der ganzen Familie gut gelang. Sie hatten es gelernt, sich auch in schwierigen Zeiten zu behaupten.

Ein ganzes Jahr verging. Der Geburtstag der jüngeren Schwester war vorbei ohne eine Gratulation der älteren.

Es war Anfang Oktober. Am 12. Oktober hatte die große Schwester Geburtstag.

„Willst du nicht deiner Schwester zum Geburtstag gratulieren? Man sollte doch verzeihen können und nicht gleiches mit gleichem vergelten. Was meinst du?“ Ihr Mann sagte es zu ihr.
„Meinst du? Was wird sie sagen, wenn ich ihr alles Liebe wünsche?“

„Das wirst du ja sehen. Mehr als das Telefongespräch beenden, kann sie ja nicht. Dann wirst du zwar noch einmal sehr enttäuscht werden, aber du hast es versucht, einen ersten Schritt zu einer Versöhnung zu machen.“

Das fast Unerwartete geschah.
Sie legte den Hörer nicht auf. Sie nahm die Glückwünsche entgegen. Man spürte, dass sie weinte.

„Wir fahren zu ihr!“ Es war der Tag danach. Der Ehemann sagte es. Sie setzten sich in ihren „Toyota, ihr erstes Westauto“ und fuhren in Richtung Westen.

Voller Herzklopfen klingelten sie. Niemand öffnete. „Sie ist nicht zu Hause“, die Jüngere war enttäuscht. „Vielleicht ist sie etwas einkaufen.“ Der Mann machte ihr Mut. „Wir warten eine Zeit.“

Sie brauchten nicht lange zu warten.

Auf der anderen Straßenseite kam die ältere Schwester mit einer Tasche am Arm angeschlendert.

Sie standen sich gegenüber, sahen sich in die Augen und fielen sich in die Arme. Alles Böse war vergessen.

Nun kam eine wunderschöne Zeit. Eine Zeit der Versöhnung.
Die ältere Schwester hatte nach dem Verlust ihres Mannes vor vielen Jahren wieder einen Partner gefunden.
Zu viert verlebten sie nun bei schönen Zusammenkünften, vielen Ausflügen und Fahrten in schöne Urlaubsgebiete eine unvergessliche Zeit.
Alles wurde nachgeholt. Alle Missverständnisse wurden vergessen gemacht.
Sie liebten sich wie zu Kinderzeiten.

Doch dann kam wieder eine Zeit der Trennung.
Die jüngere Schwester war in den Ruhestand getreten. Von nun an reiste sie mit ihrem Mann jährlich mit dem Caravan in den Wintermonaten nach Spanien. So sah man sich wieder eine Hälfte des Jahres nicht und stand nur in telefonischer Verbindung.
Aber in jedem Frühling oder Sommer gab es ein Wiedersehen.

So zogen wieder 6 Jahren an ihnen vorbei.
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Sie verbrachten wieder den Winter in Spanien. Sie wussten es noch nicht, es sollte ihr letzter Auenthalt sein.

Es war Januar 2004. Das Handy klingelte an einem mit grauen Wolken verhangenen Tag.

„Bitte erschrick nicht, ich bin krank, es ist Krebs!“ Die Stimme der älteren Schwester erklang leise am anderen Ende des Telefons.

„O nein, bitte nicht – nicht du!“ Die jüngere wollte es nicht glauben. „Doch, es ist so. Es muss eine Notoperation gemacht werden, wahrscheinlich morgen schon. Man hat mir noch eine Chance gegeben. Ich werde versuchen zu kämpfen. Wann kommt ihr nach Deutschland?“

„Meinem Schatz geht es auch nicht gut, „sagte die jüngere Schwester. Wir kommen so schnell wie es uns möglich ist.

Es vergingen noch 2 Wochen.

Sie traten die Heimreise aus Spanien an. Ihr Ehemann war ebenfalls erkrankt. Die spanischen Ärzte hatten eine schwere Bronchitis festgestellt und Antibiotika verabreicht. Die Heimreise war anstrengend für ihn. Es mussten mindestens 5 Stationen angefahren werden, damit er sich von der langen Fahrerei nach jeder Etappe etwas erholen konnte. Nach einer Woche waren sie zu Hause angekommen. Er musste sofort zum Arzt. Er litt furchtbar unter Atemnot. Es stellte sich heraus, dass er in Spanien einen Herzinfarkt erlitten hatte. Es war bereits Wasser in seine Lunge eingedrungen. Er musste sofort in ein Krankenhaus. Man stellte fest, dass er schlimmen Diabetes hatte. Jetzt musste man sich erst einmal intensiv um seine Genesung kümmern. Er kam in eine Rehaklinik und wurde gut versorgt. Er lernte, wie er sich selbst gegen Diabetes spritzen musste und er bekam viele Tabletten gegen seine Krankheit. Er wurde ein vorbildlicher Patient, der tapfer gegen diese Krankheit den Kampf aufnahm.

Die OP der Schwester war einigermaßen gut verlaufen, wurde gesagt. Aber an einem älteren Menschen geht so etwas nicht ohne Probleme vorüber.

Die Schwestern sahen sich wieder.
Sie umarmten sich und weinten.

Die Krankheit hatte grausam zugeschlagen. Durch die Chemo- hatte sie alle Haare verloren. Doch sie trug eine wunderschöne Perücke. Sie gab nicht auf. Sie wollte noch leben und kämpfte.

Die jüngere Schwester und ihr Mann blieben einige Zeit. Sie begleitete ihre kranke Schwester zur Chemo. Sie ging mit ihr spazieren und half ihr wo sie nur konnte.
Es sah aus, als würde sich deren Zustand etwas verbessern. Aber…….

Es war Mai – die jüngere Schwester und ihr Ehemann besuchten ihre Tochter. Da kam ein Hilferuf.
„Er hat mich verlassen, mein Partner. Er kann und will, wenn es mit mir zu Ende geht, keine Verantwortung übernehmen.“ Sie weinte am Telefon. „Nun werde ich wohl in ein Pflegeheim müssen, denn meine Kinder können meine Pflege nicht übernehmen. Sie sind doch beide berufstätig und auf ihren Verdienst angewiesen. Ich wäre so gern zu Hause geblieben. Nach so vielen Jahren Zusammensein geht er, jetzt wo ich so krank bin, lässt er mich im Stich.“

Es gab keinen Moment des Überlegens. „Wir kommen! Mein Schatz und ich übernehmen deine Pflege.“ Auch für ihn gab es kein Nachdenken oder Zaudern.

Sie wussten, dass es sehr schwer werden würde. Aber sie konnten diesen lieben Menschen nicht im Stich lassen.

Sie zogen für die nächste schwere Zeit in die Wohnung der Kranken.

Diese war vorübergehend auf einer Pflegestation. Ihr Schwager und ihre Schwester besuchten sie. Sie wurde gut versorgt, aber es fehlte doch viel Liebe.

„Wir sind jetzt in deiner Wohnung. Morgen holen wir dich hier raus.“ Sie nahm die Kranke in die Arme. „Wir wissen, dass es für uns sicher nicht leicht werden wird. Aber wir bleiben bei dir, solange du uns brauchst.“ Sie weinte. „Du weißt doch, dass dein Schwager hervorragend kochen kann, das wird er auch für uns beide tun.“ „Ich werde dich schon wieder hoch päppeln“, fügte er lächelnd hinzu.

Es wurde schwer!

Die Kranke Schwester bekam ein Pflegebett. Sie konnte nicht mehr in einem einfachen Bett liegen. Anfangs konnte sie noch kleine Strecken mit Hilfe eines kleinen Wagens spazieren gehen. Doch bald ging auch das nicht mehr. Sie bekam einen Krankenstuhl, mit dem sie von der jüngeren Schwester gefahren werden konnte.

Von Tag zu Tag, von Woche zu Woche verschlimmerte sich die Krankheit.

Fast an jedem Tag kamen ihre Kinder und Enkelkinder sie besuchen. Sie freute sich über ihr erstes Urenkelchen. Alle versuchten ihr die Krankheit so erträglich wie möglich zu machen.

Doch zu größeren Untersuchungen musste sie in ein Krankenhaus. „Kommst du mich besuchen?“ fragte sie ihre Schwester. „Natürlich, ich komme jeden Tag. Schon früh gleich nach dem Frühstück werde ich kommen. Das Krankenhaus ist doch nicht weit von deiner Wohnung, dahin kann ich doch laufen. In der Zeit wird dein lieber Schwager das Essen kochen.“

Jeden Früh ging die Jüngere und versorgte ihre Schwester im Krankenhaus. Sie wusch sie und half ihr bei allen möglichen Sachen, zu denen das Personal nicht in der Lage war oder keine Zeit hatte.

Am Nachmittag waren sie wieder zusammen. Sie führte die Kranke in den Krankenhausgängen entlang bis ihre Kinder kamen und liebevoll ihre Mutti und Omi umsorgten.

Dann war sie wieder zu Hause. Sie lag wieder in ihrem Pflegebett. Die Schwester und ihr Schwager versorgten sie liebevoll. Sie sahen mit ihr ihre Lieblingssendungen im Fernsehen, sie unterhielten sich mit ihr, sie achteten auf die Infusionen, die ihr jeden Tag vom Pflegedienst angelegt und auch wieder entfernt wurden. Die Schwester wechselte die schmerzstillenden Pflaster. Sie wusch ihre geliebte Kranke und erledigte alle Pflegedienste, die erforderlich wurden.

Es kam die Zeit, wo die Kranke kaum noch essen konnte. Fast alles, was sie auf gutes Zureden versuchte zu essen, erbrach sie wieder. So vergingen Wochen und Monate. Sie wurde immer schwächer. Bald bekam sie nicht nur Flüssigkeit sondern auch Nahrung und schmerzstillende Mittel durch Infusionen zugeführt.

Dieser Zustand war für alle Angehörigen kaum zu ertragen. Aber am meisten litten die Schwester und der Schwager, die täglich zusehen mussten, wie die Kranke schwächer wurde.

Sie waren so hilflos. Sie fingen an zu zweifeln, ob sie alles richtig machten. Sie fragten die Hausärztin, die sich nicht gerade sehr oft zu einem Krankenbesuch einfand.

„Ja, ja, sie machen das schon richtig. Sie wird doch von Ihnen gut versorgt.“ Sie verschrieb Medikamente. Die Jüngere holte alles in der nahe liegenden Apotheke. Den Apothekerinnen war sie schon gut bekannt. Sie wussten, dass sie das alles für ihre geliebte Schwester taten, ihr Mann und sie. Der Mann, der selber so krank war. Er hatte, wie gesagt,einen Herzinfarkt gehabt, musste sich gegen Diabetes spritzen, und er hatte trotz dieser Krankheit ohne zu zögern die Pflege der Schwägerin mit übernommen. Manchmal ging es ihm nicht so gut, dann musste er pausieren.
Die Kinder und Enkelkinder bewunderten ihn.

Wieder waren einige Wochen vergangen. Die Kranke konnte schon sehr lange nicht mehr aus dem Haus. Sie lag jetzt fest in ihrem Bett. Sie war so furchtbar schwach geworden. Die jüngere Schwester weinte jetzt oft vor Kummer und Verzweiflung, weil man diesem schwer kranken geliebten Menschen überhaupt nicht mehr helfen konnte. Eines Tages waren ihre Arme und Beine dick angeschwollen. Sie waren voll Wasser. Was sollte und konnte man nur tun? Musste man sie nicht doch besser in ein Krankenhaus bringen?
Aber sie hatten ihr versprochen, dass man, solange sie wollte, sie zu Hause behalten würde.

Sie konnte fast nicht mehr sprechen. Es fiel ihr furchtbar schwer, Worte zu formen. Sie wollte so gern sprechen, doch eines Tages ging es nicht mehr. Das Umbetten war zur Qual geworden. Nicht nur für die Kranke, auch für die, die diese Arbeit machen mussten. Man hatte Angst, ihr weh zu tun.

Den Kindern und Enkelkindern und den Pflegenden brach fast das Herz.
Es ist furchtbar einen Menschen so leiden zu sehen, ihm nicht helfen zu können, ja nicht einmal mehr trösten zu können.

In diese Leidenszeit fiel ihr Geburtstag. Man konnte ihr nicht gratulieren und Wünsche aussprechen – was sollte man ihr wünschen? Dass alles schnell zu Ende sein sollte, damit sie nicht mehr so furchtbar leiden musste?

Sie drohte zu ersticken. Ihr Mund und Rachenbereich waren voller Schleim. Anfangs reinigte die Schwester ihr den Mund mit Wattestäbchen. Sie entfernte den verkrusteten Schleim. Dann stellte man vom Pflegedienst aus ein Absauggerät hin. Schwester und Schwager sollten dieses Gerät benutzen, um der Kranken die Atemwege frei zu halten.
Niemand zeigte ihnen, wie sie das tun sollten. Ihr Schwager lernte schnell damit umzugehen. Ihre Schwester hielt ihr den Kopf. Es war grausam. Sie konnten beide nicht mehr. Sie wussten, dass die Kranke sie verstand, sich aber nicht mehr äußern konnte. Sie wussten nicht, ob sie ihr sehr wehtaten.

Die Schwester war einem Zusammenbruch nahe. Sie konnte diesen geliebten Menschen nicht mehr quälen und nicht mehr leiden sehen.
Mit Genehmigung ihrer Kinder wurde die Sterbende in ein Krankenhaus gebracht. Die Schwester fuhr im Krankenwagen mit.
Die Kranke wurde in ein wunderschönes Bett in einem sehr schönen Zimmer gelegt. Liebevoll kümmerten sich sofort Krankenschwestern um sie.

Man ließ die 2 Schwestern allein. Die Junge streichelte der Kranken die Hände. „Bist du mir böse? Ich konnte dich nicht mehr leiden sehen. Ich weiß, ich hatte dir versprochen, dass du zu Hause bleiben kannst, so lange du willst. Bitte, sei mir nicht böse.“
Ganz leicht drückte die Kranke ihr die Hand, sie bewegte die Augen, als wolle sie sagen:“ Ich bin dir nicht böse, ihr habt alles getan, was in eurer Kraft lag.“

Die Schwester weinte bittere Tränen.
Die Tochter der Kranken blieb bei ihrer Mutti.

Am Abend waren die Schwester und der Schwager das erste Mal seit langer Zeit allein in der Wohnung der Kranken. Es war so leer um sie herum. Niemand war da, der umsorgt werden musste. Man kam sich so verloren vor.

Sie gingen schlafen.

Gegen 23:00 Uhr kam der Anruf: „Meine Mutti ist eingeschlafen, ganz friedlich!“ Die Tochter weinte sehr.

Sie fuhren in das Krankenhaus um gemeinsam Abschied zu nehmen von einem geliebten Menschen.


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Tag der Veröffentlichung: 22.04.2009

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