Sie läuft durch ihr Viertel, wie jeden Tag; sieht alles, was sie immer sieht. Und nimmt doch nichts wirklich wahr; mit den Gedanken ganz woanders. Bäume säumen den Straßenrand. Sie tragen schon fast keine Blätter mehr. Nur hier und da leuchtet eins gelb oder orange hervor. Sie schlägt den Kragen ihres Mantels hoch. Der Herbstwind streicht ihr sanft durchs Haar.
Die Wolken über ihr hängen tief herab. Sie lassen die Sonne nicht durch. Es scheint, als wäre die Stadt von grau bedeckt. Aber das sieht sie nicht; schaut einfach gerade aus.
Neben ihr rauschen die Autos vorbei. Es stinkt. Es ist schmutzig und laut. So ist es jeden Tag. Und sie riecht nur was sie riechen will und sieht nur was sie sehen will. Schon seit langem ist sie taub. Scheinwerfer, bunte Lichter, helle Fenster, sie alle erleuchten die Stadt.
In der Ferne sieht sie den Fernsehturm. Er lugt durch den Nebel hindurch. Überall ragen Gebäude empor. Und sie stehen da, wo sie immer stehen.
Sie fühlt sich allein.
Tage voller Dunkelheit,
Woche für Woche,
Monat für Monat,
Jahr für Jahr.
Eingesperrt in einer Zelle.
Keiner der mich versteht.
Viele Veränderungen,
doch der Hass bleibt.
Das alles ist ganz allein ihre Schuld!
Touristen schleppen Koffer vorbei. Fahrräder kommen entgegen. Frauen schieben Kinderwagen. Sie blickt in jedes Gesicht, schaut durch sie hindurch, um sie kurz darauf zu vergessen.
Ihr Absatz klackert bei jedem Schritt und die Blätter unter den Stiefeln rascheln mit. An der Bushalte stoppt sie. Sie schaut auf den Plan wie jeden Tag, obwohl die Busse wie immer fahr’n und sie ihn seit drei Jahren auswendig kann. Plötzlich spürt sie ihr Blut gefrieren. Sie schaut in kalte Augen und sie meint, sie hätte sie schon mal gesehen. Neben dem Busfahrplan ist ein Zettel geklebt.
„Wanted! Dieser Mann wird gesucht“, beginnt sie zu lesen. Da hört sie ihren Bus plötzlich hinter sich.
Sie bezahlt und steigt die Treppen hinauf, setzt sich ans Fenster und schaut hinaus. Farben und Lichter blinken vorbei, verschwinden hinter ihr. Langsam wird es dunkler. Sie liebt es oben zu fahren, hinunter auf die Straßen zu sehen und zu träumen. Sie sitzt heute als einzige in den Reihen, ganz vorne und allein. Straßenlaternen flackern vorbei.
Und sie schaut gerade aus; malt sich den heutigen Abend aus. Ein Schatten fällt auf die Windschutzscheibe. Ihre Finger krampfen sich an ihrer Tasche fest. Zwei Augen, sie kommen aus der Dunkelheit. Sie sind blau und eiskalt. Sie möchte schreien, doch sie kann nicht. Sie möchte ihren Blick abwenden, doch sie schafft es nicht; bleibt einfach sitzen und hat Angst. Und sie glaubt, sie hat die gespiegelten Augen schon mal gesehen. Sie werden langsam größer. Einen kurzen Moment schließt sie ihre Lieder, sammelt all ihren Mut, springt auf, dreht sich um und erstart. Denn sie ist allein. Kein Mensch, kein Gesicht, keine Augen. Sie schüttelt den Kopf und erklärt sich selbst für verrückt. Sie eilt die Treppe hinunter. Die Türen öffnen sich. Sie steigt aus in die dunkle Nacht, läuft durch die hektischen Massen auf ihr Ziel zu.
Die Türsteher sind die gleichen wie letzte Woche, wie letzten Monat, wie letztes Jahr, aber das nimmt sie nicht wahr.
Alles ist bunt, laut und alles blinkt. Tausend Farben fallen in ihre Augen. Sie tanzt unter der Discokugel mit Leuten, die sie nicht kennt. Und sie denkt, sie wäre glücklich. Denn sie weiß nicht, was Glück ist und hat es noch nie gefühlt.
Tausend Menschen. Tausend Gesichter. Tausend Augen. Tausend Blicke. Und keiner, den sie richtig kennt.
Parfüm vermischt sich mit Schweißgeruch. Alkohol benebelt den Raum. Sie feiert, feiert ohne Grund, als ob es ihr letzter Abend wär’. Zwei blaue Augen beobachten ihren Tanz. Und plötzlich wünscht sie, sie wäre zu Haus.
Belogen. Verraten. Auf der Flucht.
Aber bevor ihr mich findet, werde ich eines hinter mich gebracht haben:
Rache!
Kälte schlägt ihr entgegen, als sie den Raum verlässt. Ihre Mütze, die hat sie nicht dabei. Die Kirchturmuhr zeigt halb Zwölf.
Nach ewigen Minuten kommt die Nachtlinie. Sie hatte schon überlegt mit der U-Bahn zu fahren. Aber sie hasst alles Unterirdische. Die einsame Dunkelheit macht ihr selbst tagsüber Angst.
Sie steigt in den leeren Bus hinein. Hell erleuchtet fährt er durch die Nacht.
Diesmal bleibt sie unten. Es ist angenehm warm. Sie wünscht sich, die Fahrt würde niemals enden.
In der Ferne blinkt der Fernsehturm. Die Kuppel des Reichstags leuchtet dazu.
Der Bus jagt durch die Straßen Berlins. Verlassen sitzt sie auf ihrem Platz, hat den Blick gesenkt, denn sie will nicht in die Scheibe sehen; hat Angst vor den stechenden blauen Augen. Und plötzlich denkt sie über den Sinn des Lebens nach. Bis jetzt hat sie sich noch nie darüber Gedanken gemacht. Aber in diesem Moment ist er ihr wichtig, wichtiger als alles andere. Das ticken ihrer Armbanduhr scheint entsetzlich laut. Die Reifen quietschen in den Kurven. Und da wird ihr bewusst, dass ihr Leben keinen Sinn hat und noch nie einen hatte.
Beleuchtete Werbeplakate flackern vorbei. Sie spürt, dass heute etwas anders ist, anders als sonst.
Diesmal werde nicht ich derjenige sein, der Angst hat.
Nicht der, der eingeengt wird.
Und nicht der, der ausgeliefert ist.
So, wie ich mich gefühlt hab’,
wird sie sich fühlen; heute noch.
In Alt-Moabit steigt sie aus. Sie wäre so gern schon zu Haus. Und so nimmt sie den schnelleren Weg durch den Park. Der Mond schaut als blase Scheibe zwischen den Wolken hervor. Kein Stern ist zu sehen.
Der Boden fühlt sich matschig an. Ihre Stiefel werden schmutzig und zum ersten Mal in ihrem Leben ist es ihr egal.
Die kahlen Bäume strecken ihre Äste, wie große Monster ihre Arme, in die Dunkelheit. Straßenlaternen sorgen für ein seltsames Licht. Ein Schauer läuft ihr über den Rücken. Es ist eisig. Nebelschwaden versperren ihr die weite Sicht. Sie vergräbt ihre Hände in den Manteltaschen.
Neben ihr knackt es im Gebüsch. Sie zuckt zusammen. Ein leises Rascheln dringt an ihr Ohr und eine kleine Ratte huscht vor ihr über den Weg.
Bänke stehen links und rechts des Wegs. Sie versucht sich abzulenken; ihre Gedanken zu sortieren. Sie überlegt, wer wohl schon alles vor ihr hier war, und hat Angst. Aber sie weiß nicht wovor.
Über ihr strahlt ein kleines Licht. Sie freut sich und denkt es wäre ein Stern; zu blind um zu erkennen, dass es ein Flugzeug ist, das kurze Zeit später wieder hinter den Wolken verschwindet.
Als sie endlich den Park verlässt, ist sie froh niemandem begegnet zu sein. Und sie ärgert sich über ihre Albernheit. Sie läuft wieder an der Straße entlang. Diesmal fühlt sie sich allein und ist es wirklich. Nur ab und zu fährt ein Auto vorbei. Eins bremst plötzlich neben ihr ab. Sie denkt ihr schlimmster Alptraum würde war und sie weiß nicht, was sie tun soll. Weglaufen, ist ihr erster Gedanke, doch sie beschleunigt nur ihren Schritt und die Blätter unter den Stiefeln rascheln mit. Ihr Herzschlag pulsiert in den Schläfen. Und sie denkt es könnte ihr letzter sein.
Mein Leben, sie hat es zerstört.
Jetzt werde ich ihres zerstören.
Und wenn es das letzte ist, was ich tue.
Der Wagen fährt einfach an ihr vorbei. Er ist dunkel. Vielleicht ist er schwarz oder auch dunkelblau. Sie weiß es nicht und will es nicht wissen. Nachts sind alle Katzen grau.
Zwei rote Punkte werden vom Nebel verschluckt.
In eine schmale Seitenstraße biegt sie ein, läuft an hohen Türen vorbei. Höfe befinden sich da hinter. Verschlossen und schmutzig liegen sie da. Putz bröckelt von mancher Fassade. An einer rankt etwas Efeu hinauf.
Sie geht auf eine graue Nebelwand zu. Verlassen und leer ist die Straße. Nur hie und da stehen ein paar Autos geparkt.
Plötzlich wird das Grau vor ihr dunkler. Eine Gestalt taucht aus dem Nebel auf. Und sie weiß wer es ist. Entschlossenen Schrittes kommt er auf sie zu. Sie weiß, dass sie eigentlich weglaufen sollte, doch sie kann es einfach nicht; ist wie in Trance, geht einfach weiter direkt auf ihr Schicksal zu, falls es so etwas wie Schicksal gibt. Sie hatte nicht genug Zeit es herauszufinden.
Das erste, was sie von ihrem Gegenüber erkennt, sind die Augen. Jedes Detail. Die dunklen Brauen, die schwarzen Pupillen, die Lieder. Seine Augen, sie sind blau, kalt und sprühen doch Funken. Voll Hass und Rachsucht ist sein Blick.
Sie zittert. Ihre Angst steigt bis ins Unermessliche. Sie öffnet den Mund, möchte etwas sagen.
Er zieht einen Gegenstand aus seiner Tasche. Ein Messer glänzt leicht im Mondlicht.
Der Hauch eines Zögerns huscht über sein Gesicht. Er kämpft mit sich selbst. Schweißperlen rinnen über seine Stirn.
Sie schreit. Zusammen mit dem mitternächtlichen Glockenschlag schreit sie ihren letzten Schrei in die Nacht.
Zwei blutrote Tropfen fallen auf den Bürgersteig, erzählen von einem Menschen, dem einfach nicht genug Zeit gelassen wurde, seinem Leben einen Sinn zu geben…
Tag der Veröffentlichung: 30.11.2009
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