Freude
Sie schob die vertrockneten, braunen Kastanienblätter mit ihren Füßen vor sich her. In Gedanken versunken ging sie Schritt für Schritt den verlassenen und doch stimmungsvollen Weg entlang. Die Situation zu Hause hatte sie längst schon vergessen. Blätter, die den Sommer längst hinter sich hatten, lösten sich von den Bäumen und schwebten sanft wie Federn zu Boden. Sie ging und ging. Hatte kein Ziel. Sie genoss noch ein letztes Mal den lauen Herbsttag in ihrem Dorf. Sie hatte die frische Luft jetzt gebraucht, nach zwei Wochen im Haus, wie eingeschlossen zu sein. Trotz ihrer vielen Freunde war sie oft gerne alleine. Ohne Freunde und Familie. Sie trottete nicht mehr den Weg entlang, sondern war auf einen Forstweg abgebogen. Sonnenstrahlen drangen durch die frisch-grünen Nadeln einer Fichte. Sie musste die Augen zusammenkneifen, um den weiteren Weg sehen zu können. Als sie an einer Lichtung den Wald verließ, erschrak sie. Sie sah einen Mann mit farblich abgestimmter Kleidung. Er sah sie nicht, blickte in eine völlig andere Richtung. Sie kroch hinter ein Gebüsch aus Dornen, viel zu hoch gewachsenem Gras und leuchtend grünem Efeu. Sie dachte, dass er, ein etwas breiterer Mann mit grüner Montur, sie suchen würde, doch nach einigen Minuten verschwand er wieder in den Wald hinein. Sie blickte ihm mit starren Augen nach, bis er hinter dem letzten Baum verschwunden war. Erst in diesem Augenblick fiel ihr auf, dass ihre Hände so nass geschwitzt waren, dass sie überall wo sie hin griff dunkle Abdrücke hinterließ.
Sie hörte immer wieder in ihrem Kopf wie ihre Oma, damals als sie noch bei ihr lebte, mit ihrer zittrigen Stimme ihren Namen „Sofia“ ins Ohr sprach. Dieser Gedanke munterte sie etwas auf. Sie war schon wieder auf dem Heimweg. Es war schon kälter geworden und sie fragte sich wie spät es wohl schon sei. Sie versuchte sich zu beeilen. Die Sonne stand schon tiefer als zuvor und der Wind hatte auch etwas nachgelassen. Die Sonne schien ihr golden, so golden wie sie sie noch nie gesehen hatte. Hoffentlich haben die Eltern den Streit vergessen, dachte sie und war ziemlich gut gelaunt. Trotz ihrer guten Laune machte sie die Tatsache traurig, dass sie diesen Weg ein letztes Mal gehen würde. Niemand denkt an sie, dachte sie sich. Nicht einmal ihre Freunde. Sie sah schon den Rauchfang des Hauses in dem sie die letzen fünf Jahre gelebt hatte. Die letzten Meter schlenderte sie nur noch durch den Kies. Sie fühlte erst an der Türschnalle wie kalt es inzwischen schon geworden war. Sie drehte sich noch ein letztes Mal zur Sonne um, die gerade kurz vor dem Untergehen war, und es sah so aus als ob sie auf den Bergen aufliegen würde, so tief stand sie schon. Im Haus zog sie routiniert die Schuhe gleich beim Eingang aus und ging in das Zimmer, das sie sich mit ihren zwei Schwestern teilen musste. Waren sie schon einmal da?, fragte sie ihre ältere Schwester. Sie verneinte, aber es wird nicht mehr lange dauern, meinte sie. Sekunden später klingelte es. Alle drei, wie sie im Zimmer saßen, erstarrten zu Eis. Sie hörten wie viele Füße die Treppe hinauf rannten. Es waren viele leichte Füße, keine schweren, wie die der Männer der Fremdenpolizei, die sie holen sollte um die ganze Familie in ihr Heimatland zurück zu schicken. Die Tür öffnete sich langsam. Ihre Freunde waren es, die sie ein letztes Mal sehen wollten und ihnen Geschenke mitbrachten. Für Sofia, war das die größte Freude die sie je erlebt hatte und sie brach in Tränen des Glücks aus.
Tag der Veröffentlichung: 16.01.2011
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