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1

Ein oder zwei Jahre bewohnte Kavell nun dieses im Jugendstil gehaltene Haus. Alles darin war in schlichten, aber eleganten Marmor gehalten. So und nicht anders hatte er es sich immer erträumt, pflegte er manchmal im Halbschlafe zu denken. Das Leben in dieser Höhe sollte ihm eigentlich nur als eine Art von Kur dienen, aber die Isolation hatte ihm stärker als nur kathartisch berührt. Er schätzte dieses kluge Leben. Natürlich fehlten ihm ab und an die Menschen um ihn herum, die miteinander und mit ihm redeten, die ihn plagten, aber auch zum Lachen brachten. Er lebte noch, aber er würde das Leben hier oben nicht mehr als, das eines Menschen bezeichnen – es war zu sauber und es fehlte ihm an schlechten Seiten. Dennoch trauerte er seinem alten Leben nicht mehr nach.
Alles hätte so gut sein können, wenn ihn der alte Wasserdämon nicht gefunden hätte. Möglicherweise war es zu anmaßend gewesen sich soweit über ihn zu platzieren. Kavell wollte – so glaubte er zumindest – den Wasserdämon immer vor Augen haben, damit er seine Schritte erahnen konnte. Doch... Nichts hatte er erahnt! Kavell hatte geschlafen, allzu lange hatte er in einem Trancezustand der Zufriedenheit gelebt.
Es muss Frühsommer gewesen sein, als Kavell überraschenden Besuch bekam. Die Klingel läutete ärgerlich laut und Kavell hätte sich am liebsten tot gestellt nur um nicht aufstehen zu müssen. Der Verzicht auf Personal tat ihm in diesen Moment wieder leid. Aber weswegen sollte er sich mit anderen Menschen belasten, mit denen er nicht ein Fünkchen gemeinsam hatte?
Im ersten Jahr – so erinnerte sich Kavell gerade – hatten ihn ein Koch, ein Buttler, zwei Putzfrauen und ein Chauffeur bedient. Nacheinander kündigte er sein Personal. Den Chauffeur nutzte er einen Monat nur dreimal, und das eigentlich auch nur, weil es ihm unangenehm war, ihn angestellt zu haben und ihm keine Arbeit geben zu können. Mit ihm fuhr er durch die engen Bergstraßen, um sich an der Schönheit der Region zu ergötzen. Leider bemerkte Kavell nur, dass er den schönsten Ort dieser Welt schon gefunden hatte – das Haus am Abgrund. Die erste Putzfrau entließ er zwei Wochen nachdem er dem Chauffeur dankend verabschiedet hatte, da er es leid war mit anzusehen wie sich die beiden Putzfrauen um seinen Dreck stritten. Die zweite Putzfrau, die sich des Sieges über die andere Putzfrau sicher war, entließ er weitere zwei Wochen später, da Kavell dieses eigensinnige Wesen nicht mehr ertragen konnte. Sie hatte zu allem etwas zu sagen und biederte sich ihm in jeder Gelegenheit an, da sie die Hoffnung hegte als einzige Frau im Haus irgendwann von ihm vergewaltigt oder dergleichen zu werden, um ihm sein Geld abzunehmen. Der Buttler, sein einzig wahrer Gesprächspartner während dieser Zeit, flüsterte ihm zu, wie diese nicht unattraktive Frau dachte und was sie ihm vom Wein berauscht erzählt hatte. Mit dem Buttler kam er bestens zu recht, weil er sich genau wie er schon seit Jahren mit der Literatur der Jahrhundertwende beschäftigte. Sie unterhielten sich lange Nächte im Bibliothekszimmer über die Lyrik Oscar Wildes, die Romane Thomas und Heinrich Manns und die Dramen Wedekinds und Schnitzlers. Es waren freundliche Nächte am Kamin samt Zigarre und einem guten Glas schottischem Whisky. Nach drei Monaten aber war man sich uneinig darüber, welche Bedeutung Franz Kafkas Kurzprosa zukommen sollte. Kavell vertrat die Meinung, dass es nur Konzepte seien für etwas, dass Herr K. wieder verwarf, da es dem Prager schließlich doch zu absurd erschien noch mehr Zeit damit zu vergeuden. Der Buttler stimmte dem nicht zu, meinte aber, dass er auch nur der Bedienstete sei und nicht mehr; also es sich nicht anmaßen sollte Kavell zu widersprechen. Das brachte Kavell in solche Rage, dass er seinem Buttler das noch volle Glas Whisky gegen die Brust schmiss und ihn als Wurm beschimpfte. Wieder ernüchtert erschütterte Kavell die Erkenntnis einen Freund erworben zu haben, der ihn nie als einen wahren Freund betrachten würde. Damit war der Buttler aus dem Haus Kavells verbannt. Mit dem Koch ging es auch nicht lange gut, auch wenn Kavell es zunächst genoss mit ihm überhaupt nichts bereden zu können. Es ähnelte einem Spiel, in dem der verlor, der zuerst sprach. Als der Koch aber nach zwei Monaten immer noch kein Wort zu Kavell gesprochen hatte, platzte ihm der Kragen und er schlug mit dem erst besten Ding, das er zur Hand hatte, nach ihm, wie er gerade das Essen im Wohnzimmer auf den Tisch servierte. Der Schürhaken brachte den Koch beinahe um. Die drei Millionen Schmerzensgeld, die Kavell bezahlen musste, waren das Mindeste.
Alleine regte sich Kavell nun nicht mehr auf und lebte sein besinnliches Leben fern ab der Welt.
Es läutete wieder...
Da es dem da draußen ernst war hineinzukommen, gab Kavell nach und stand auf. Vor der Tür stand ein junger Herr. Diesen musterte Kavell von oben bis unten und noch einmal von unten nach oben, bis er etwas sagte: „Kennen wir uns?“
„Du erkennst mich nicht?“, fragte der junge Herr mit einer freundlichen Miene und gar nicht beleidigt.
Kavell dachte nach, wer dieser Mann sein könnte. Fünf Freunde hatten ihn aus Kinder-, Schul- und Studienzeiten bisher ein- oder mehrmals besucht, aber dieser hier war keiner dieser Menschen.
„Ich bin ja eigentlich geschmeichelt, wenn ich mich in zehn Jahren, in denen wir uns nicht gesehen haben, dermaßen verändert habe!“ Der ironische Ton kam ihm bekannt vor – allerdings redeten alle Menschen seiner Generation mehr oder weniger in diesem Ton, der jedem Ernst abschwor.
Kavell sah sich seinem Gegenüber weiter voller Verbissenheit an. Die Kleider waren nichtssagend. Die Frisur ebenfalls. Das Gesicht sprach ihn überhaupt nicht an. Dieser Mann schien so schrecklich uninteressant. Lediglich ein hellbraunes in Schnurr gewickeltes Päckchen stach Kavell ins Auge und weckte sein Interesse. Wer konnte diese langweilige, aber sympathische Person sein?
„Hendrik! Hendrik Haller! Wir sind zusammen zur Schule gegangen.“
„Das sagen die, die mich besuchen, meistens und dann erinnere ich mich an sie. An dich erinnere ich mich aber partout nicht.“
„Demnach betreten wir Neuland, was die weitere Verfahrensweise betrifft.“
Es war schwierig diesen Ton zu deuten. War es Wut? Enttäuschung gemischt mit Hoffnung auf irgendwas? Was wollte Hendrik Haller andeuten?
„Ich könnte ja so tun, als ob ich dich erkennen würde und dich dann hereinbeten“, schlug Kavell vor und klang genauso undeutlich wie Hendrik. Zynisch? Ehrlich? Planlos? Peinlich berührt?
„Das könntest du!“ (Undeutbare Reaktion)
Es dauerte keine Sekunde, da hielt Kavell mit aufgerissenen Augen die Hand vor den Mund und keuchte. „Scheiße!“
Hendrik verdrehte lächelnd die Augen. „Ja?“
„Hendrik! Hendrik Haller! Scheiße, scheiße, scheiße! Das ist mir so peinlich, das musst du mir glauben! Das ich dich nicht gleich erkannt habe! Dabei hast du sogar noch die gleiche Frisur wie damals!“
Hendrik griff sich in die Haare und verlor etwas an Haltung.
„Aber du bist stark geworden! Warst früher doch nur ein halbes Hemd! Alter! Alter, was hast du so getrieben! Komm rein! Du musst mir alles erzählen!“ Und damit hielt Kavell dem nicht mehr fremden Hendrik Haller die Tür einladend auf.
„Geht doch!“, meinte Hendrik lachend, als er in das Haus eintrat.

2

Während Kavell in der Küche stand und einen Kaffee zubereitete, saß Hendrik aufrecht auf dem Sofa und sah sich fasziniert mit unruhigen Kopfbewegungen im Wohnzimmer um. Selbst als Kavell mit zwei dampfenden Tassen Kaffee den Raum betrat und sich vor Hendrik in einen großen dunkelbraunen Ledersessel setzte, konnte er es sich nicht verkneifen die Augen durch den Raum schweifen zu lassen. Kavell war irritiert ein Gespräch zu führen, wenn sein Adressat fern der Aufmerksamkeit war; doch Hendrik beantwortete jede seiner Fragen voll konzentriert, auch wenn es nicht den Anschein hatte. Kavell redete sich ein, dass sein alter Freund Hendrik wohl schon immer so gewesen war – hyperaktiv und wissbegierig.
Nachdem Kavell Hendrik alle Fragen gestellt hatte, die man in einer solchen Situation zu stellen pflegte, befürchtete er, dass jenes Gespräch im Off landen würde und hakte deswegen bei jedem Punkt weiter nach, der ihm halbwegs interessant erschien. Hendrik durchkreuzte aber immer wieder diesen Plan, indem er entweder „das wird dich nicht interessieren“ oder „darüber möchte ich nicht weiter reden“ sagte. Irgendwie gestand sich Kavell auch ein, dass tatsächlich nichts von Interesse war und gab die gezwungenen Gesprächsversuche rasch auf.
„Was hast du in Frankfurt gemacht?“
„Das wird dich nicht interessieren!“
„...“ Kavell wendete den Blick genau wie Hendrik zum Fenster hinaus; man konnte abfallendes Gebirge sehen. In dieser Haltung sprach er ruhig zu seinem Besuch: „Da hast du recht! Was geht mich das überhaupt an?“
Hendrik lächelte ihn nur stumm an. Unausgesprochen beschlossen sie zu schweigen und die Zeit in Ruhe zu genießen. Dabei dampfte der Kaffee und beim Trinken klirrte das Geschirr von Zeit zu Zeit überraschend laut. Normalerweise fühlte sich Kavell in einer solchen Situation mehr als nur unangenehm bedrängt. Doch Hendrik gab ihm das Gefühl, dass es schon richtig war, was sie taten – nämlich nichts.
„Du bist der angenehmste Besucher, den ich je hatte“, wollte Kavell berichten, sah seinen Gegenüber bei dem Gedanken auch schon erwartungsvoll an, beließ es dann aber bei einem leisen Lachen.
Um nicht unnötig das Nichts dieser Ruhe minutiös zu rekonstruieren, könnte man es mit einer weißen Gänsefeder vergleichen, die zu Boden sinkt, aber durch eine leichte Brise immer wieder in die Höhe getrieben wird. Auf und ab, auf und ab. Ein Treiben, das kein Ende kennt; aber jeder weiß, dass es enden wird – irgendwann.
Hendrik stand – wann auch immer – auf, lächelte Kavell beruhigend zu und ging mit geruhsamen Schritt durch das Haus, während Kavell amüsiert in seinem Sessel sitzen blieb und sich sogar noch mehr in diesen lehnte. Hendrik widmete sich erst dem Wohnzimmer, berührte einige Stellen an der Wand und ging dann die Treppe hinauf, um sich dort umzusehen. Er schien die Architektur in vollen Zügen aufsaugen zu wollen ohne sich dabei zu überfressen. Es dauerte beinahe eine Stunde bis Hendrik wieder im Wohnzimmer bei Kavell stand.
„Das ist ein sehr schönes Haus.“
Kavell bedankte sich höflich und stand auf. „Hast du dir alles angesehen?“
„Alle Räume, die mir zugänglich waren.“
„Willst du dich in den übrigen Zimmern auch umsehen?“
Hendrik stimmte dem zu und damit war es beschlossen, die verriegelten Räume wieder zu öffnen. Nachdem sie sich in den sieben Zimmern umgesehen hatten, begaben sie sich wieder in das Wohnzimmer, um sich endlich auf eine normale Weise zu unterhalten.
„Die Räume, die du gerade wieder geöffnet hast, gehen alle zur Ostseite hin. Wieso waren genau diese verschlossen?“
„Das ist eine Geschichte, die ich erst später bereden möchte. Besprechen wir erst etwas anderes.“
„Du willst nicht wissen, weswegen ich dich hier oben besuche ohne mich vorher anzumelden, oder?“ Hendrik klang dabei keineswegs verwirrt.
„Natürlich will ich das wissen! Aber ist es denn jetzt schon an der Zeit? Wohl nicht!“
Hendrik lachte. „Ja, mein Freund, wir verstehen uns noch genauso wie zu damaligen Zeiten“, sagte er und leitete umgehend zu einem anderen Thema weiter. „Wie kommst du hier oben so zurecht?“
Kavell lehnte sich, nachdem er einmal tief durchgeatmet hatte, schwer in den Sessel zurück und begann zu erzählen: „Alle zwei Wochen kommt ein Mann mit einem Lastwagen zu mir und bringt mir die Dinge, die ich hier oben benötige. Ich schicke ihm per Mail immer eine neue Liste, damit meine Ernährung auch ausgewogen bleibt und meinem akuten Geschmack entspricht.“
Hendrik lauschte zurückhaltend und ermutigte Kavell mit einer freundlichen Geste doch fortzufahren. Diese Haltung gefiel Kavell durchaus und er setze seine Erzählung fort: „Das Alleine-Wohnen war eigentlich nur vorübergehend als Kur gedacht, doch es kam anders – ich blieb, weil ich nie zuvor in meinem Leben unbeschwerter gelebt habe.“
Nun meldete sich Hendrik doch zu Wort; er rang regelrecht mit sich, gab aber den Kampf um das Schweigen auf und sprach: „Da wir in etwa im gleichen Alter sind, kann ich diese Aussage getrost machen, denke ich – du bist noch jung, kannst du überhaupt davon sprechen, dass dieses Leben“, er breitete kurz seine Arme aus „das wahre, unbeschwerte Leben ist?“
„Ich gehe die Dinge eben anders an.“
„Ich wollte dir nicht zu nahe treten“, entschuldigte sich Hendrik auf edle Weise.
„Das bist du nicht! Mir ist schon bewusst, dass ich auch einiges verpasse, wenn ich hier oben weiterleben werde, aber, als ich noch unten lebte, blieb mir keine Zeit mehr zum Denken mehr übrig – sie schwand von Tag zu Tag einfach so dahin. Ich gebe mich gerne den Gedanken hin und dafür brauche ich Zeit. Unten verlor ich die Zeit so wie feinen Sand, der einen durch die Hände flieht so gut man auch darauf achtet ihn nicht fallen zu lassen.“
„Da du es erwähnst, fällt es mir auf – die Uhren laufen hier langsamer.“
„Je mehr Menschen an einem Ort sind, umso mehr Leben befindet sich auch für gewöhnlich dort. Und je lebendiger ein Tag gestaltet wir, desto schneller vergeht er.“
„Aber möchtest du denn gar nichts mehr erleben?“
„Hendrik, ich bin ein sehr nervöser Mensch, der von der Welt dort unten zerfressen wurde wie die Frucht in der Säure.“
Kavells Gesprächspartner war nicht im geringsten mit dem Ergebnis des Dialoges zufrieden, schnaufte aber nur einmal durch und schwieg.
„Können wir nicht mal über dich reden?“, fragte Kavell und überließ Hendrik die ganze Gesprächsfläche.
„Es ist schon etwas seltsam, dass ich mit einem Anliegen wie diesem hier bin.“ Zum ersten Mal wirkte Hendrik für Kavell ein wenig unsicher. „Aber es ist mir wichtig, dass du darauf vorbereitet bist, falls du doch einmal wieder in der Stadt oder sonst wo auf mich stößt. Ich habe selbst schon...“
Kavell unterbrach ihn und bat doch endlich Klartext zu sprechen.
„Es geht um Corinna!“, stieß er heraus, als ob er einen Spruch aufgesagt hätte, um einen Bann zu brechen.
Der Name erzeugte bei Kavell aber nichts, stattdessen fragte dieser, wer das sei. Hendrik musterte ihn überrascht und war sich nicht sicher, ob Kavell ihn hereinlegen wollte.
„Du hast sie geliebt!“
„Ach, hab ich das?“ Kavell verzog eine halb interessierte, halb ironische Miene.
„Erinnerst du dich denn nicht mehr? Seit der Schulzeit... Es war nie leicht für dich... Sie war schon damals wunderschön!“
Die abgebrochenen Hinführungen brachten weder Hendrik noch Kavell weiter. Entmutigt ließ Hendrik den Kopf hängen und sagte beinahe lustlos: „Ich werde sie heiraten und hoffe, du bist damit einverstanden.“
Kavell fühlte sich etwas bedrängt durch das angebrochene Schweigen seines Freundes und musste nun etwas sagen – so war die Sitte. Aber was? Er konnte sich doch nicht einmal an seinen besten Freund Hendrik, geschweige denn an seine großen Liebe Corinna erinnern. Er beschloss kurz und gut zu lügen.
„Das mit Corinna ist lange her. Es tat weh von ihr abgelehnt zu werden, aber die Zeit hat diese Wunde geheilt. Ich fühl mich wohl mit dem Gedanken, dass du – als mein bester Freund – nun mit dieser unvergleichbaren Frau zusammenkommst. Ihr werdet bestimmt ein tolles Paar! Ich gönne es dir!“
Hendrik erhob den Kopf und konnte sein beruhigtes Grinsen nicht verbergen. Er war erleichtert.
Im Freudentaumel tranken sie einige Runden Brandy auf die wunderbare Corinna. Leicht benebelt entdeckte Hendrik auf einen weiteren Streifzug eine noch verschlossene Tür und bat den Hausherren auch diese noch zu öffnen. Gedankenverloren und glücklich tat Kavell Hendrik den Gefallen und sperrte sie auf. Mit einem Schlag drückte es ihm in der Magengegend, noch ehe Hendrik die Tür aufstieß, und er hätte diese Tür am liebsten wieder verschlossen. Vor seinem besten Freund verbot er sich aber die Stimmung zu drücken und tat weiterhin erheitert. Hendrik riss die Tür auf und ließ geballte Sonnenstrahlen ins Haus brechen. Ihnen beiden bot sich der Anblick eines Balkons, nach dem die Welt aufzuhören schien. Während Hendrik staunend nach draußen trat, klammerte sich Kavell mit seiner rechten Hand am Türrahmen fest, weil er sich so fühlte, als ob er frei fallen würde. Was hatte er getan? Wieso hatte er so leichtsinnig diese Türen wieder geöffnet? Sein Herz pochte wild und von Gefühlen übermannt wurde ihm schwindelig, dem Brechreiz nahe. Ihm fiel alles wieder ein.

3

Er war dreizehn gewesen, als er sie zum ersten Mal in der Schulklasse bemerkte. Es war ein seltsames Gefühl, jemanden zu sehen, den man kannte, aber nie zuvor auf diese besondere Weise gesehen hatte. Ganz plötzlich, aus heiterem Himmel traf ihn der Blitz. Oft sah er sich in Gedanken versunken sich vorne an der Tafel zur Schulzeit umdrehen – umdrehen, ganz langsam, ein unachtsamer Blick, fokusieren und Bumm! Es traf ihn. Corinna war gerade aufgestanden und blieb in seinen Augen hängen. Lange hatte dieser Moment nicht gedauert, aber es fühlte sich wie die Ewigkeit an. Als er endlich ein Wort sprechen konnte, denn das Staunen hatte sein Sprachzentrum und jeden Gedankengang lahmgelegt, sagte er zu diesem Mädchen, das er schon seit drei Jahren kannte: „Hi!“, vielleicht war es auch „Hallo!“, aber auf jeden Fall etwas Schlichtes, Einfaches, was sie mit derselben Begrüßung erwiderte, so als ob sie sagen wollte: „Ja, ich hab das auch gerade gefühlt. Du gefällst mir und ich hab es vor einer Sekunde erkannt.“
Jeder normale Mensch hätte sie angesprochen, aber dieses an sich einfache Anliegen fiel dem jungen Kavell so selten schwer. Er war noch so jung und unerfahren gewesen. Was wusste er damals schon von der Liebe? (Was weiß er heute schon davon?) Jedenfalls sprach keiner der beiden – auch Corinna blieb nach dem Startschuss stehen – den anderen an. Man soll denken: Damit hatte es sich ergeben. Doch dem war ganz und gar nicht so. Eine süße Qual begann nach diesem Tag, den Kavell sich immer wieder in Träumen vergegenwärtigte.
Die ersten vier Wochen wurde es ihm jedes Mal furchtbar heiß, wenn er seine Liebe erblickte. Sein Herz pochte und er fühlte ein wunderbares Gefühl in sich aufsteigen. Sein Geist war noch unbefleckt von Erfahrung und psychologischen Halbweisheiten. Er entdeckte pure, unbefleckte Liebe, so wie sie Dichter in Gedichten und Hymnen gelobt hatten. Wie sie dachte, weiß selbst heute niemand hundertprozentig zu sagen. Aber Kavell ist sich immer noch sicher, dass sie dasselbe gefühlt hat wie er. Möglicherweise war er auch ihre erste Liebe – aber das würde vielleicht zu weit gehen.
Kavell spürte schon, dass es sich um eine große Verantwortung handelte, falls er sich auf die Beschäftigung Liebe eingelassen hätte. Damit beschloss er für sich: „Ich bin noch zu jung, um mit ihr zusammen zu sein. Und seien wir doch mal ehrlich – will ich sie doch nur ficken! So ist es doch!“ Dieser Versuch der Unterdrückung scheiterte kläglich. Dennoch verliefen beinahe zwei Jahre der Schulzeit wieder beinahe normal. Man blickte sich verstohlen an und hatte immer einen Funken Hoffnung, dass der andere doch endlich einmal reagieren würde. Es passierte nichts – wirklich gar nichts, nicht einmal eine Aussprache. Hätten sie sich nicht jeden Tag gesehen, hätte man hier davon gesprochen, dass sich die Liebe wie ein flüchtiges Gas allmählich aus ihren Herzen verzogen hatte.
Nach zwei Jahren begann es dann von neuem. Erst dachte Kavell, es sei nur einseitig, aber als er einmal unvorsichtig durch seinen Blick alles ausgedrückt hatte, was er empfand – also Sehnsucht, Staunen und Lust, vielleicht sogar Gier – da begann auch von ihrer Seite das Spiel wieder von neuem. Spiel war vielleicht dafür der falsche Begriff, man konnte es kaum als solches bezeichnen, da sie beide den Regeln völlig unterworfen waren. Ob sie die Regeln überhaupt mit ihrem beschränkten Erfahrungsreichtum verstanden, bleibt auszuschließen – denn selbst erwachsenen Menschen bleibt dieses Spiel meist völlig rätselvoll. Die Qual mit der Kavell, der immer noch Jungfrau war, während seine Freunde mit Geschichten prahlten, lebte, war unbeschreiblich. Als sein bester Freund Hendrik Haller dann auch noch von der arroganten Corinna mit verachtenden Ton redete, war die Sackgasse perfekt – denn Hendrik wäre der einzige gewesen, dem er seine Gefühle Corinna gegenüber hätte beschreiben können. Damit war er seinen Hormonen total ausgeliefert und musste sich mehr oder weniger selber therapieren. Glücklicherweise kam er endlich in das Alter, in dem ein Mann begann ein Mann zu sein, indem er sich mit Freunden betrank. Die Zeit des schlechten Benehmens begann und Kavell kann dankbar dafür sein, dass er in einem solchen Zustand seiner lieben Corinna nie begegnet ist. Mit dem Bier und den Zigaretten kamen die chauvinistischen Allüren, die ihn mehr peinlich als cool erscheinen ließen, aber das wussten seine Freunde und er noch nicht. Ihre Chancen bei Frauen wurden nur vermindert und somit hatte Kavell es immer noch nicht geschafft mit einem Mädchen zu schlafen. Dabei wären das wohlmöglich seine besten Jahre gewesen. In dieser Verdrängungsphase nahm auch Corinna wieder von ihm Abstand, obwohl sie es sogar versucht hatte mit ihm etwas zu unternehmen – aber Kavell war zu verblendet gewesen es zu bemerken, er hatte ihre Zeichen nie rechtzeitig analysiert. Schlimm war es für ihn gewesen, sie später mit einem älteren Jungen durch die Straßen der Stadt Hand in Hand laufen zu sehen. Das erzeugte in ihm eine Verbitterung und Verwirrung, was einer Krankheit nicht ganz unähnlich war.
In der zwölften Klasse passierte es dann wieder. Sie beide waren wieder Singles – wobei er es auch immer geblieben war. Eine Zeit lang hatte er sich sogar eingeredet, dass es auch gut so war, denn er wollte nur Corinna haben, weil er sie auch wirklich liebte und das ja auch schon so lange schon. Bei jeder Möglichkeit im Unterricht versuchte Kavell sich so zu setzen, dass er in ihrer Nähe war – also, entweder in der Reihe neben ihr, vor oder hinter ihr. Das führte sogar soweit, dass er wegen ihr beinahe die Kurse, in denen er schlecht war, fortgesetzt hätte, nur um bei ihr sein zu können. Doch die Ratio überwog dieses Unternehmen der Notensabotage und damit wählte er einen Großteil der vermeintlich gemeinsamen Fächer ab. In den wenigen bleiben Fächern wie Geschichte und Englisch saß er dann aber in ihrer Nähe, brachte aber immer noch kein Wort heraus. Er hatte Angst zu versagen. Zu viel stand mittlerweile auf dem Spiel, schließlich redete er sich sein sexuelles Versagen ihretwegen ein. Doch, wer nichts setzt, gewinnt auch nichts. Ruen ne va plus! Und er hatte seine wenigen Chatons alle noch in der Hand – Mist ! Es lag nur an ihm, dass aus ihnen nichts wurde, denn sie versuchte es immer wieder, sprach ihn an und gab ihn Anregungen. Kavell stand unter Druck und trat die Flucht an. Jeder musste in diesen Jahren entweder gewusst haben, was er für sie empfand oder ihn für einen Spinner gehalten haben. Hendrik klärte er erst nach dem Abschlussball auf. Dieser tat überrascht, obwohl er es schon lange gewusst hatte.
„Corinna?“
„Ja! Gott, ich dreh wegen dieser Frau wohl noch völlig durch. Und heute ist vielleicht meine letzte Chance etwas zu tun. Entweder das oder ich betrinke mich maßlos.“
„Was willst du tun? Ihr alles sagen?“
„Meinst du, das wäre gut? Könnte doch peinlich enden!“
„Aber wenn du dich als Alternative sowieso maßlos betrinken willst, mein Freund!“
„Du hast mal wieder völlig Recht, Hendrik!“, lachte Kavell und lauschte seinem Herzklopfen gespannt. „Ich geh jetzt zu ihr rüber und sag ihr alles.“
Kavell atmete einmal tief durch, stellte sein Getränk auf den Cocktailtisch, an dem sie beide standen, ab, wollte zu ihr gehen, zögerte und nahm noch mal einen anständigen Schluck aus seinem gerade abgestellten Glas. Dann ging er und hörte hinter sich Hendrik sagen: „Viel Glück, Art!“
Corinna begrüßte ihn herzlich und sie unterhielten sich auf eine sehr angenehme, aber zurückhaltende Weise. Kavell war gerade im Begriff ihr seine Liebe zu gestehen, da tauchte Corinnas vermeintlicher Ex-Freund auf und reichte ihr ein Getränk. Sie bedankte sich und stellte Kavell vor. Die beiden jungen Männer schüttelten sich die Hände und wirkten fröhlich amüsiert – dabei waren sie sich beide über das Verhältnis zu der Frau, die zwischen ihnen stand, skeptisch. Kavell machte es stutzig den Ex dort auf der Abschlussfete zu sehen und vermute mit einem unangenehmen Druck in der Magengegend, dass die beiden wieder in Beziehung zueinander standen. Die Vorstellung, dass Corinna erneut mit diesen Zwei-Meter-Mann fickte, machte dem Melancholiker schwer zu schaffen. Oberflächlich blieb er locker-lustig, tief drinnen war er traurig-angespannt. Wie eine fragile Statue drohte er bei jeder weiteren Erschütterung zu zerbrechen. Bevor das passieren konnte, entschied er sich für einen taktischen Rückzug, um sich zunächst mit Hendrik zu beraten. Dieser entschied sich für vier Bier, fünf Tequila und unzählige klebrige Becher Bowle. Das nächste woran sich Kavell erinnern konnte, war ein schrecklich erniedrigendes Bild. Er lag ausgebreitet auf den Beifahrersitz von Hendriks Golf und im Radio lief ein Lied von Massive Attack. Zurückgelehnt öffnete er von den ersten Sonnenstrahlen geweckt seine Augen und erblickte Corinna mit dem Riesen an dem Wagen vorbeitrotten. Sie schienen ihn nicht zu bemerken und trotzdem fühlte es sich für den Verkaterten wie ein Versagen an, die beiden Glücklichen Hand in Hand an ihm vorbeigehen sehen zu müssen. Verbissen schloss er seine Augen wieder und wollte nur noch schlafen, wollte jede negative Stimmung wegschlafen. Es gelang nicht, stattdessen drängten sich ihm schlimme Kopfschmerzen auf, die ihn zu Fieberfantasien trieben: Schamloses Glück der Anderen, einsame Niederlagen bei ihm; Lachen, lautes Lachen, wütendes Lachen, Resignation, Verstummen, Zucken und schließlich Weinen – erlösendes Weinen.
Das war sein Abnablungsprozess von Corinna. Wie prophezeit trennten sich ihre Wege und sie hörten nichts mehr voneinander (zumindest zunächst nicht). Kavell begann offener mit sich und seiner Umwelt umzugehen. Entweder veränderte er sich oder er zeigte nach dieser Nacht endlich sein wahres Ich. Es folgten erste Beziehungen, neue Freundschaften, Reisen, Erfahrungen, Menschen, jede Menge Menschen und irgendwie auch das Glück zu leben. In drei Jahren holte er sein Leben nach und ließ es an nichts mehr fehlen. Während seinem Studiums lernte er eine wunderbare Frau kennen mit der er ewig hätte zusammen sein können. Doch so einfach sollte es für ihn nicht sein. Hendrik, der einer der wenigen Freunde aus der Schulzeit geblieben war, teilte ihm mit, dass ein Klassentreffen stattfinden würde. Ohne Bedenken sagte Kavell dem zu und machte sich keine weiteren Gedanken darüber. Er war zwar etwas aufgeregt, die alten Freunde – wenn man sie denn noch so nennen konnte – wiederzusehen. Es stellte sich als eine Veränderungsparade dar. Doch verlieren wir hier keine Zeit mit ausufernden Beschreibungen und einer Behandlung des „Was-machst-du-jetzt-so?“-Problems, welches sicherlich nicht uninteressant wäre, aber hier nur ein weiteres Mal vom Thema abweichen würde.
Das Treffen fand in einem Seehotel statt, was sich als äußerst hübsche Lokalität für einen solchen Anlass anbot. Als sich noch nicht viele im Hotel eingefunden hatten, entschieden sich Hendrik und er auf die Terrasse hinauszugehen. Die Winternacht war mild und der Schnee beinahe vollständig geräumt. Eine kleinere Gruppe von zu Frauen gewordenen Mädchen hatte sich dort auch schon versammelt. Kavell stimmte es fröhlich sie zu sehen und sich in seiner vollen Veränderung zu präsentieren. Charmant gab er nach einer allgemeinen Begrüßung Lisa Feuer, die ihm nach einem Zug an der Zigarette positiv überrascht in Augenschein nahm.
„Arthur?“, fragte sie, als ob sie es nicht glauben konnte, dass es ihn noch gab oder dass er so elegant wirken konnte.
„Ja, Lisa, der steht vor dir. Wie geht’s...“ Kavell konnte seine unbeschwerte Stimmung nicht halten und musste den Satz abbrechen, als er sah wie sich Corinna, nachdem Lisa seinen Namen ausgesprochen hatte, am Geländer lehnend zu ihm wendete. Sie lächelte ihm zu und wendete sich einer Frau zu, die er kannte, aber dessen Namen er vergessen hatte. Nachdem er mit Lisa und ihren Freundinnen ein paar Worte gewechselt hatte, überließ er Hendrik dieses Feld und stieß zu Corinna. Sein Schritt war kontrolliert, sein Puls ruhig, es war zu einfach. Sie unterhielten sich sofort, unbeschwert wie alte Freunde, die sich nicht verändert hatten und sich an ihre gemeinsame Vergangenheit erinnerten. Dabei war genau das Gegenteil der Fall: Sie beide hatten sich rapide verändert, vielleicht Kavell ein Stück weit mehr als sie, und eine gemeinsame Vergangenheit war quasi nicht vorhanden. Trotz dieser Defizite erlebte Kavell ein unvergleichliches Gespräch, das ihn vor Glück rührte. Als sich die ehemalige Schulklasse zum Essen drinnen versammelte, geschah aber etwas für Kavell verwirrendes. Corinna saß ihm ein Stück weit entfernt und als sie ihn nicht einmal ansah, blieb sein Blick bei ihr haften wie ein Magnet, der Eisen gefunden hatte. Für einen Moment verschwand er in einem Loch, aus dem er erst wieder heraussprang sowie Corinna seinen musternden Blick erkannte. Sein Atem wurde so schwer, wie schon lange nicht mehr, und als sich die wunderbare Frau zusammen mit zwei Freundinnen verabschiedete, hätte er am liebsten eingegriffen und das zu verhindern versucht. Es war wie damals zur Schulzeit, sein Schweigen und sein Drang zu reden rangen einen irren Kampf miteinander. Corinna verabschiedete sich bei einigen persönlich und sagte dann in die Runde „Ciao!“, worauf sie kurz zu ihm auflächelte und „Bis dann!“ sagte. Kavell lächelte nur schwach, so betroffen war er und hob die rechte Hand wie ein halbgelähmter Indianer, der „Houw!“ sagen wollte, aber nicht konnte. Ein kalter Schauer überlief ihn, der auf seiner Haut noch angenehm prickelte, nachdem Corinna schon länger verschwunden war. Etwas teilnahmslos verbrachte er noch ein wenig Zeit mit seinen alten Klassenkammeraden und verabschiedete sich erst spät. Er entschloss sich die umständliche Strecke über die Terrasse zu nehmen, um noch einmal an die Stelle zurückzukehren, an der er sich zum ersten Mal unbeschwert und ehrlich mit Corinna unterhalten hatte. Mit einem unerklärlichen Lächeln lehnte er sich gegen das Geländer genau in die Abdrücke, die die Wunderbare hinterlassen hatte, und tauchte seine Aufmerksamkeit in den ruhigen See. Das Wasser plätscherte vorsichtig gegen den massiven Stein.

4

Hendrik lehnte sich über das Geländer und sah in die Tiefe. „Ganz schön weit entfernt vom Meer, obwohl du quasi reinspringen könntest, Art!“ Er drehte sich zu Kavell um, der sich immer noch an den Türrahmen festklammerte, und zog, wegen des ihm gebotenen Anblicks, eine Augenbraue verwundert hoch. „Fühlst du dich nicht wohl?“
Kavell wurde seiner abstrakte Haltung bewusst und richtete sich nur noch seicht gestützt auf. Der Schwindel ließ die Erde wie im Tanz springen, während er dabei versuchte auf ihr stehen zu bleiben. Um seinen alten Freund aber zu beruhigen tat er ihm den Gefallen und ging zu ihm nach draußen auf die verhasste Terrasse. Doch nicht die Terrasse war Grund seiner Besorgnis. Es war das Wasser.
„Wie sieht das Meer aus?“, fragte Kavell im stockenden Gang.
Hendrik blickte noch einmal den Abgrund herunter und wandte sich sofort wieder seinem Kameraden zu. „Unruhig.“
„Das dachte ich mir. Es ist schon lange nicht mehr sanft gewesen. Es kommt einfach nicht zur Ruhe!“
Hendrik nickte, obwohl er nicht verstand und beugte sich wieder über das Geländer. Kavell tat es ihm gleich und versuchte sich zu beruhigen. Der Anblick der weit entfernten Fluten stimmten ihn schließlich ruhig und er konnte aufatmen. Lange hatte er sich nicht mehr getraut dort hinunterzusehen aus Angst seine Träume könnten sich bewahrheiten. Er fragte sich, ob sein alter Freund ahnte was in ihm vorging. Hendrik war aber zu sehr mit eigenen Sorgen beschäftigt.
„Ich liebe sie!“, sagte er seltsam still, das Meer betrachtend.
„Wen?“, fragte Kavell blöd, konnte sich aber dort draußen auch schwer konzentrieren. Die Vergangenheit, die Träume und die Hoffnungen alter Tage stürzten auf ihn ein. Wahnvorstellungen und Dinge, die nicht wirklich existierten sprangen ihn wie wilde Tiere an. Er schloss verstört die Augen und schluckte bitter.
„Corinna, wen sonst! Sie ist so wundervoll...“
„Wunderbar“, fügte Kavell entweder korrigierend oder kommentierend bei.
„Stört es dich?“
„Was?“
„Na, dass ich sie liebe!“ Hendrik wurde etwas lauter, so dass Kavell erschrak, sich besann und seinem Freund dann ruhig antwortete: „Ich denke, wir sind mit unserer Liebe nicht alleine.“
„Ich meine... Gönnst du es mir?“
„Du verlangst viel!“
„Was hätte ich sonst tun sollen?“
Mögliche Antworten geisterten ihm durch den Kopf. Erstens: Dich nie mehr bei mir blicken lassen und mich hier oben friedlich weiterleben lassen. Zweitens: Sie aufhören zu lieben, so wie ich es immer getan hatte – das wäre zumindest mir gegenüber loyal gewesen. Drittens: Nichts, so wie ich es immer getan hatte – stopp – das entsprach der zweiten möglichen Antwort. Drittens (nun wirklich): Dich für ihre Liebe umbringen. Dadurch wäre ich ihr auf deiner Beerdigung wieder begegnet. Wir hätten uns auf deiner Trauerfeier unterhalten. Aus Trost hätte ich sie über ein halbes Jahr des öfteren besucht. Wir wären Freunde geworden, wären zusammen in den Urlaub gefahren – nach Shanghai, Singapur oder so, zumindest wäre Asien angebracht gewesen, da wollte ich schon immer mal hin und am liebsten mit Corinna. Nach dieser Reise wäre etwas passiert. Wir verstanden endlich, dass wir zusammen gehörten – mehr als jeder andere zueinander gehören konnte. Wir küssten, wir fickten und wir liebten uns bis in den Tod.
Das hätte er Hendrik sagen sollen – ja! Stattdessen: „Was war noch mal die Frage?“
„Was ich hätte tun sollen?“
„Keine Ahnung!“, stöhnte Kavell unzufrieden, schmollte noch einen Moment, merkte schließlich, dass das so nichts brachte und machte eine Kehrtwendung: „Ach, vergiss einfach was ich die letzten Minuten zu dir gesagt habe! Du verstehst hoffentlich, wie schwierig dieser Überfall auf mich ist?“
„Natürlich!“
„Ja, und du weißt, dass ich ein nervöser Mensch bin.“ Er atmete einmal tief durch und lächelte seinen Freund an. „Mach dir mal keinen Kopf! Ich bin froh, wenn ihr glücklich werdet.“
Damit war die Sache bereinigt. Die beiden Freunde tranken noch zusammen ein Bier, während sich die Sonne dem Horizont näherte. Dann verabschiedete sich Hendrik, den Kavell zur Tür begleitete. Wieder alleine fühlte Kavell ein leises Unbehagen in sich aufsteigen. Mit einem flauen Gefühl im Magen betrat er noch einmal die Terrasse und schnappte nach frischer Luft. Der Wind zerzauste ihm die Haare, als er sich am Geländer postierte und vorsichtig erst die eine, dann die andere Hand auf die Stütze legte und sich vorbeugte. Staunend begutachte er das in Orange gefärbte Meer, dann die Felsen zu seinen beiden Seiten und erschrak beinahe eine wenig, sowie er sein Haus in dieser blutenden Farbe getaucht sah. Er konnte verfolgen wie sich das Orange in drohendes Rot verwandelte. Sein Haus grinste mächtig wie ein Teufel auf der Klippe und er fand keine andere Lösung als sich von ihm verschlingen zu lassen und hinter sich die Terrassentür zu schließen. Auf der Treppe zum Wohnzimmer kam ihm der Gedanke, dass Hendrik sein Päckchen liegen hatte lassen. Er schritt zum Sofa und fand es tatsächlich noch dort liegen. Sofort wollte er zur Tür eilen und Hendrik hinterher laufen, doch dieser musste längst über alle Berge nach Hause gefahren sein. „Was nun?“, dachte er und verschränkte die Arme ineinander. Er stellte Vermutungen auf, denn es könnte doch so gewesen sein, dass er ihm dieses Päckchen hatte schenken wollen. Wieso hätte Hendrik es sonst mit sich schleppen sollen? Es sollte bestimmt ein Geschenk sein. In all der Aufregung hatte es Hendrik vergessen ihm zu überreichen – ganz normal war ihre Begegnung ja nicht gewesen. „Naja, egal! Dann wird es wohl jetzt mein Eigentum sein!“, dachte er, wagte es aber nicht das kleine Paket zu öffnen. Aus Hunger trieb es ihn zunächst in die Küche, in der er sich ein Pfannengericht zubereitete. Durch den Aufbau dieser Etage konnte er von seiner Position aus ständig das Päckchen in Augenschein nehmen. Der Anblick dieses stillen Objekts beschäftigte ihn so sehr, dass ihm beinahe das Essen angebrannt wäre. Selbst bei der Mahlzeit drehte er sich immer wieder zu der Sofagarnitur um, auf dem das nicht mehr sichtbare Päckchen liegen musste. Nach dem Abwasch stöhnte er einmal laut und stürzte mit einem heftigen Schritt ins Wohnzimmer und hob das handliche Paket hoch und wog es. Es war nicht wirklich schwer, etwa ein Kilo, vielleicht weniger. Dann rüttelte er es, wie es kleiner Kinder zu tun pflegen; was aber nur wenig Erkenntnis über den Inhalt gab, da sich nichts in dem Paket bewegte oder auch nur ein Geräusch von sich gab. Braungrau mit einer rauen Schnurr umwickelt lag es in seinen Händen und entzog sich jeder Interpretation. Es war lediglich ein Paket handlicher Größe, das keinen offensichtlichen Nutzwert an sich besaß. Sein Inhalt blieb solange verborgen, bis man es öffnete. Ganz einfache Regeln! Und trotzdem wagte er nicht es zu öffnen – er wollte gerade mit einem Fingernagel das braungraue Papier, das es umgab zerreißen, da kam ihm der Gedanke, dass es möglicherweise ja doch nicht an ihn adressiert war. Sein Name stand nicht auf dem Päckchen und auch sonst gab es keinen Hinweis darauf, dass es für ihn bestimmt war – außer dass Hendrik es mit in sein Haus gebracht und dort hatte liegen lassen. Kavell entschloss sich eine Nacht darüber zu schlafen und Geduld zu zeigen, falls es nicht für ihn sein sollte, würde Hendrik sich schon melden.
Damit widmete sich Kavell der Nacht und seiner Literatur. Robert Walser stand auf dem Programm. Es war immer schön Autoren zu lesen, die verrückter waren als man selbst, dachte Kavell bei jedem gelesenen Satz amüsiert und ging nach zwei Stunden voller guter Laune schlafen.
Wie üblich ließ er seiner Fantasie freien Lauf, um ins Land der Träume zu reisen. Er dachte dabei keineswegs kritisch über den vergangenen Tag nach. Wild fing der Tanz an und Kavell begann sich ein wenig zu fürchten, als er fühlte wie sich sein Verstand verselbständigte und er die Kontrolle verlor – doch dann fing er es an zu genießen, denn er bemerkte, dass er wie ein Herr seinen Hund Auslauf gibt, nur an der Leine ziehen musste, um den Köter wieder zu sagen, wer Herr und Meister war. Also ließ er den wilden Sturm immer weiter laufen und gab sich ihm hin:
Hendrik stand auf der Terrasse vor seinem Haus, die urplötzlich von Schnee bedeckt war. Der Schatten, den Hendrik warf, erkannte Kavell schließlich als Corinna, die wie aus Wachs geformt wurde. Das Paar unterhielt sich fröhlich. Kavells alter Butler trat als nächstes auf die Bühne und sprach: „Ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich meine Sachen nun gepackt habe, und bereit bin zu gehen. Wenn Sie nichts mehr haben, dass ich für Sie tun kann...“ Er ließ den Satz ausklingen und wartete. Hendrik war nun zu Kavell geworden, sein Schatten nur sein Schatten seiner selbst und er winkte nur ab. Der Schnee war inzwischen wieder verschwunden, mit ihm der Butler – Corinna war längst nicht mehr zugegen. Die Sonne heizte stattdessen nun die Terrasse auf, so dass sich Kavell nicht mehr ans Geländer lehnen konnte. Er schrie auf – vor Schmerz und weil er etwas gesehen hatte. Was hatte er gesehen? Zu dem träumenden Kavell sprach der leidende: „Diese Seite muss mir verborgen bleiben!“ Damit änderte sich das Setting. Wir blieben in der Höhe, doch befanden wir uns nun im obersten Stockwerk eines dreißigstöckigen Hochhauses, darum herum vier andere erheblich kleinere Hochhäuser, ansonsten nur sehr viel Grünflächen und Felder. Weit entfernt eine vierspurige Straße, die etwa zehn Meter unter der Erde wie eine Klammschlucht verlief. Autos rasten auf ihr entlang, wurden immer schneller, bis sie nicht mehr als einzelne Fahrzeuge auszumachen waren. Kavell, der auf dem Hochhaus stand, staunte langsam atmend. Er erwartete etwas und wurde nicht enttäuscht. Eine schwere Wassermasse stürzte sich über die dahinrasenden Autos und verschwand wieder. Hinterlassen blieb eine verwüstete Schnellstraße. „Was war das?“, wollte Kavell ausstoßen, als die Woge von Wasser wieder wie ein Tsunami, der sich durchs offene Meer bewegte, über die Erde fegte. Kavell suchte halt und freute sich darüber in dieser Höhe sein zu dürfen, da die Woge dermaßen mächtig war, dass sie selbst aus dieser Entfernung verängstigend wirkte. Mal bewegte sich die Wasserwoge schneller, mal langsamer. Kavell war von dem Anblick der Naturgewalt fasziniert wie erschüttert. War das menschliche Leben doch nur ein Balanceakt auf der Drahtseil? Einmal am Seil gerüttelt und man stürzte herunter? Die Woge stoppte und bot einen Anblick, als ob jemand die Pausetaste bei einem DVD-Player gedrückt hätte. Das Wasser hielt sich mit aller Kraft erhoben und glänzte schön böse. Kavell neigte musternd den Kopf ein wenig zur Seite, die Woge tat es ihm gleich und bewegte sich langsam ein Stück zurück. Angst und Bange wurde es ihm, als er dies bemerkte und kontrollierte das imitierende Verhalten der Wassermasse. Neigte er sich nach rechts, neigte sie sich auch nach rechts, neigte er sich nach links, tat es ihm diese gleich. Kavell taumelte einen Schritt rückwärts und die Woge kam auf ihn zu.
Damit endete es.

„Ach, wäre das ganze Leben doch nur ein Traum, wie schön könnte man sich auf jeden weiteren Tag im Leben freuen!“, dachte Kavell nach dem Aufwachen und streckte sich in seinem großen Bett, nachdem er seinem aufgeregten Herzen einen Moment gelauscht hatte, um die vom Traum ausgelöste Aufregung noch einmal auskosten zu können.
Guter Laune und gestärkt vom Schlaf machte er sich am frühen Morgen in aller Ruhe zurecht. Auf dem Weg zum Frühstück pfiff er fröhlich ein Lied. Das Meer rauschte in aller Frühe schon laut, aber keinesfalls bedrückend. Kavell lachte entspannt, wie er seine Angst den Leib hoch kriechen bemerkte und schenkte der Terrasse beim Vorübergehen nur einen augenzwinkernden Blick. In der Küche machte er sich mit routinierten Griffen einen Kaffee, nach schon einem Schluck, fiel ihm wieder das Paket auf. Er überlegte nicht lange und entschied sich, es einfach zu öffnen. Was sollte ihm Hendrik schon vorwerfen? Er hatte es schließlich liegen lassen und ihm das Gefühl gegeben, als ob es ein Geschenk sei. Als er es vom Sofa erhob schien es leichter als zuvor zu sein, aber es war eindeutig noch dasselbe Paket. Er vergeudete keine weiteren Gedanken und riss es mit ein wenig ungeschickter Gewalt auf. Darin befand sich ein Fotoalbum in sehr schönem Design. Interessiert öffnete er dieses Buch und erkannte sofort einige verloren geglaubte Schulfotos darin wieder. Kavell nahm sich die Zeit und setzte sich auf das Sofa, um das Buch zu überblättern. Es freute ihn sehr dieses Erinnerungsstück in den Händen zu halten und selbst als er Corinna auf einigen sah, machte ihm das nichts aus – zunächst. Nach einigen Seiten hoffte er mehr von seiner ersten Liebe zu sehn, blätterte schneller und forschte in aller Hast jedes Foto verzweifelt ab. Nach etwa zwei Drittel des Album klappte er es mit feuchten Augen zu und ließ es auf seinen Knien verharren. Was war nur los mit ihm? War es ihm tatsächlich unmöglich diese Frau zu vergessen? Wo musste er denn noch hingehen, damit er nichts mehr von ihr hören würde?
Die Möwen kreisten ihre Runden am Fenster und krächzen immer öfter.
Bei dem Gedanken, dass er alle Chancen vertan und nun sein bester Freund seine genutzt hatte, keimte in ihm Wut auf – auf sich, auf Hendrik und auf Corinna. Was fiel der Welt eigentlich ein ihn so niederträchtig zu behandeln?
In der Zwischenzeit hatten sich immer mehr Möwen auf der Meeresseite seines Hauses versammelt. Entweder zogen sie ihre Bahnen oder saßen auf der Terrasse und quakten sich an.
Voller Feuer sprang Kavell mit dem Fotoalbum auf, rannte die Treppen zur Terrasse runter, öffnete die Tür und schlug und schrie wie ein Wilder im gleißenden Sonnenschein um sich. Einige Möwen erschraken, andere flogen unbeeindruckt davon, wieder andere sahen sich das Spiel auf der Terrasse nur verwundert an. Kavell ließ erschöpft das Buch fallen. Einige Fotos wurden dadurch aus dem Album geschleudert. Keuchend stand er nun da und stützte seine Hände auf die Oberschenkel, um sich zu erholen. Plötzlich rauschte das Meer bedrängend laut, als ob es zu ihm sprechen wollte. Kavell wischte sich mit einer Handfläche über die Stirn und ging einige Schritte zum Geländer. Wieder wollte er seine Hände abwechselnd auf den Marmor legen. Deswegen streckte er schon die rechte Hand aus, zog sie aber sogleich wieder zurück, als ihm ein kalter Schauer durch Mark und Bein lief.
Das Meer hatte sich über Nacht... Hatte er nur eine Nacht geschlafen oder waren es mehre Nächte gewesen? ...an sein Haus gedrängt. Keine drei Meter trennten Kavell und das Meer. Es war auf mächtige Weise angestiegen und hatte alles Leben unter der Höhe des Kurhauses verschluckt. Bei diesem ersten Gedanken bekam Kavell Panik. „Alles Leben futsch! Es muss... muss doch noch jemand leben! Ich kann nicht alleine sein! Das ist unmöglich!“, dachte er zitternd.
Das Telefon war tot, das Internet auch. Fernsehen gab es nicht mehr, nur ein Testbild zeigte sich mahnend oder drohend. Es verging kaum Zeit, da gingen Kavell auch schon die Ideen aus. Immer wieder blickte er zu seiner Terrasse und befürchtete das Meerwasser gleich übertreten zu sehen. Lange saß er nur ruhig da und versuchte zu denken, aber es gelang ihm nicht einen Plan zu entwickeln. Dann rannte er spontan zur Vordertür hinaus, wurde aber sofort besserem belehrt und kehrte in sein Haus zurück.
„Die Sinnflut muss gekommen sein!“, dachte er und lachte laut: „Wenn ich nun Vorbereitungen hätte treffen sollen, dann hättest du zu mir sprechen müssen!“ Damit blickte er in den strahlend blauen Himmel. Das Schreien tat ihm gut, darum schrie er erst drinnen, dann draußen. Bis er nicht mehr konnte fluchte und lachte er, worauf er wieder weinte und dann wieder lachte.
„Hysterie ist das Letzte, was ich jetzt brauchen kann! Ich muss klar denken können!“, lachte er weinerlich. „Ich muss mich besinnen“, besann er sich. „Es muss alles seinen Grund haben.“
Die Welt war ruhig geworden. So ruhig, dass sich in Kavells Verstand schon nach vier Stunden absoluter Einsamkeit ohne Ausweg der Wahnsinn breit machte. Aus Angst der Letzte zu sein, entschloss er sich, sich dem Meer endlich hinzugeben. „So hast du es doch immer gewollt, du Bastard!“ Wie eine Antwort kroch Meerwasser züngelnd auf die Terrasse. Kavells Leib begann unkontrolliert zu Zucken, schnell schloss er die Augen und zählte bis zehn, dann nahm er Anlauf und sprang einen eleganten Sprung über die Brüstung der Terrasse. Die Zeit schien sich ins Unendliche zu dehnen, dachte er, als er schon längst im Wasser hätte landen müssen. Gespannt öffnete er seine Augen und sah sich in die Tiefe stürzen. Hendrik beugte sich schreiend über die Brüstung und schien zu Tode erschrocken. Kavell verstand kein Wort von dem, was Hendrik ihm hinterher schrie, aber konnte sich schon seinen Teil denken: „Was machst du denn?“
Ja, was hatte er gemacht? Wo und wann war er überhaupt gewesen? Wo war er nun? Es gab nur drei Möglichkeiten für Kavell: Entweder träumte er einen Traum, lebte er in der Realität oder er verann sich wie so oft in seiner Erinnerung.
Der Sturz ins Meer beendete sein Leben und vielleicht war das auch besser so.

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Tag der Veröffentlichung: 03.03.2009

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