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Mein Freund, den ich auf dem Nachhauseweg getroffen habe, erzählt mir großkotzig wie viel Geld er verdient, während ich die Einkaufstüte vom Aldi von links nach rechts bugsiere, damit mir nicht einer der Arme abfällt. Er meckert über den Stil des allgemeinen Bürgers, blickt dabei einigen Passanten verwegen in die Augen. Duelle gibt es dabei zum Glück keine. Verachtungswürdig hält er Billigproduzenten, H&M, IKEA und auch Aldi tauchen in seiner Rede auf. Ich bugsiere etwas vorsichtiger als zuvor meine Einkaufstüte von rechts nach links und sehe kurz auf meine Swatch. Zeter und Mordio bricht in mir aus, ich komme zu spät zur Arbeit.
„Am Samstag und dann auch noch abends! Ist ja abartig!“, spuckt mir mein Freund entgegen, der eigentlich ganz okay ist, manchmal, jetzt nicht. „Fänd ich voll zum Kotzen!“
Ich verabschiede mich reumütig, als ob ich mich für meine Arbeit schämen müsste. Ein „Ruf mich morgen mal an!“ hallt in der engen Gasse hinter mir her. Genervt von der Gesamtsituation (warme, feuchte Luft, schwere Einkaufstüte, Zeitdruck, nachher Arbeitenmüssen und nicht zu vergessen meine Begegnung mit Mr. Deine-Armut-kotzt-mich-an) stolpere ich die letzten Schritte zu meiner Einzimmerwohnung. Schwer erklimme ich die Stufen und packe die Einkäufe in den Kühlschrank, nicht sorgfältig oder geordnet, aber mit einer gewissenhaften Ruhe. Danach habe ich noch ungefähr zwölfeinhalb Minuten um in einen Roman weiterzukommen, den ich vor drei Wochen begonnen habe zu lesen. Auf Seite vierhundertundneun muss ich den auch schon wieder beiseite legen. Keine Zeit. Muss los! Schuhe an, Jacke schnappen, Schlüssel nicht vergessen und nicht die Treppen hinabstürzen. Obwohl! Wenn ich Glück hätte, würde ich mir nur etwas brechen und könnte mal meinen Versicherungstopf, den ich schon seit sechs Jahren füttere, endlich einmal nutzen. Unten heil angekommen – vielleicht doch besser so – laufe ich die gleiche Gasse zurück, in der ich zuvor aufgehalten wurde. Als ich auf der Hauptstraße meine Straßenbahn antuckern sehe, wird aus dem Laufen ein Rennen. Ich bemerke die unerträgliche Schwüle, als ich vor der Straßenbahn stehe und darauf warte, dass sich die Tür öffnet. Ich drücke den Knopf, erst wenn die grünen Lichtlein drum herum leuchten. Als sich die Tür 0,003 Sekunden später noch nicht geöffnet hat, wird ein seitlich von mir stehender Mann ungeduldig und drückt erneut den Knopf, als ob er sagen wolle „Nun geh schon auf!“, darauf sieht er mich flüchtig an, ich weiche seinem Blick aus, der vermutlich sagen will „So macht man das, Kleiner!“. Die Mechanik reagiert weitere 0,003 Sekunden später, der Finger einer alten Dame macht trotzdem noch einmal Druck auf den Knopf. Das Schauspiel amüsiert mich genauso sehr wie es mich aufregt und eigentlich langweilt es mich sogar schon wieder. Tolle Gesellschaft!
Aber erst jetzt würde es wirklich spannend werden. Denn noch stehe ich draußen in der frischen Luft, die schlagartig kühler geworden ist. Der Himmel ist auch nicht mehr annähernd blau. Dunkle Wolken befinden sich über der Stadt. Ich bin der einzige, den das beunruhigt. Alle anderen drängen sich entweder aus der Straßenbahn oder dort hinein. Ich bleibe stehen und bin von dem Naturschauspiel fasziniert. Vor einer Minute war noch Sommer. Jemand stößt mich, aber keiner will`s gewesen sein. Angewidert steige ich ein. Tür zu und los! Denkste! Da kommen noch drei, nein, vier Nachzügler, aber alle auf eine Weise verteilt, dass sich ein Stechen in meiner linken Schläfe bemerkbar macht. Ich hasse diese Prozedur. Mir fehlt mein Auto, aber in der Innenstadt ist das eine noch größere Katastrophe als dieses gezwungene Resozialisierungsprogramm. Musste die graue Bestie verkaufen, wollte mir von dem Geld so einiges leisten, nach Bezahlen der Schulden, die ich noch hatte, blieb noch genug für einen guten Urlaub oder einen passablen Roller übrig. Ich entschied mich für ersteres, dachte gutgläubig schnell das Geld für einen Roller zusammenzuhaben. Naja, falsch gedacht!
Mit einem Ruck startet die Straßenbahn durch. Ein Wunder das niemand stürzt, sich was tut und seinen Anwalt verständigt. Wir sind eben nicht in den Vereinigten Staaten von Amerika. Ein weiteres Wunder ist, dass wir dermaßen unsanft in Bewegung geraten und dann nicht einmal einen vom Wind getragenen Müllbeutel überholen können. Draußen ist es verdammt finster geworden. Aber Interesse dafür kann ich mir nicht leisten, ich kontrolliere die Uhrzeit und bete gleich darauf, dass ich pünktlich zur Arbeit komme. Eine perverse Angst treibt mich zur Verzweiflung. Wer meinen Chef kennen würde, würde mich verstehen. Das Wort Kompromiss ist ihm ein Fremdwort, das er nur im Ernstfall nachschlagen würde.
Dann passiert es. Wir stoppen, diesmal nicht abrupt, eher wie ein Ding, dem der Sprit ausgeht. Eine Durchsage: „Aufgrund einer technischen Störung, bitten wir Sie...“ Der Rest ist geschenkt.
Dadurch ist der Wahnsinn perfekt. Menschen sind genervt. Komische Laute der Empörung, Husten, Räuspern, keiner rührt sich. Ich muss hier raus. Ist ja nicht mehr weit zu meiner Arbeitsstelle. Ich gehe den Leuten so richtig auf den Sack, als ich verlauten lasse, dass ich bitte durch will, um aussteigen zu können. Trotzdem erreiche ich bald wieder die Freiheit. Mit einem mechanischen Schnalz schließt sich die Tür hinter mir wieder. Ein Packet Menschen befindet sich nun abholbereit in meinem Rücken. Beim überschreiten der Straße scheint mir Gott in die Suppe zu spucken. Die Straßenbahn hat wieder Saft und düst an mir vorbei. Einige Passagiere sehen mich leer und ausdruckslos an.
Als ob ich nicht schon genug Probleme hätte, verschlechtert sich auch noch das Wetter. Aus dem Wind hat sich ein ausgewachsener Sturm entwickelt, aber zum Glück regnet es nicht. Den Reißverschluss an meiner Jacke zieh ich aber dennoch hoch. Joggend renne ich auf dem Bürgersteig der Hauptstraße und bemerke anfangs nicht, dass sich weder auf der Straße noch auf dem Weg auch nur eine Menschenseele mehr befindet. Ich hab eben andere Probleme: Arbeiten, Rechnungen zahlen, Zeitmanagement, Freundschaften erhalten und ab und zu Hobbys nachgehen. Als mir der Wind Blätter und Zeitungspapier ins Gesicht schlägt, stutze ich schließlich doch und sehe mich um.
Zwar habe ich mich früher einmal mit Wetterphänomenen auseinandergesetzt, aber wer kann schon ahnen was dieses Aufeinandertreffen von kalter, trockener Luft und warmer, feuchter im Ernstfall bewirkt.
Ein Trichter schlingt sich vom Himmel zur Erde. Der Zeigefinger Gottes wirbelt so einiges auf. Festgenagelt staune ich hin und hergerissen zwischen „Nur weg hier!“ und „Ich will mehr sehen!“. Aufgeregt pocht mein Herz. Ich weiß, dass ich schleunigst reagieren sollte, aber die Panik rennt über meine Gedanken hinweg, wie eine Meute Hooligans bei einem Fußballspiel. Plötzlich macht der überdimensionale Staubsauger kehrt und fixiert mich wie ein wilder Stier, der Rot sieht, da verfestigt sich die Erstarrung in meinen Gliedern noch mehr. Der Atem stockt und wenn ich Glück habe bin ich erstickt bis mich der Sturm erreicht hat. Dreck und Staub wirbeln immer schlimmer. Wo bleibt mein Rettungsdienst, denke ich verzweifelt. Erst als mich ein heranfliegender Plastikmülleimer trifft und beinahe umwirft, fasse ich neuen Mut, nun, nicht wirklich Mut, eher der Wille zu Überleben und viel wichtiger die Pflicht. Muss zur Arbeit, hämmert irgendein Idiot wahnsinnig in meinem Hirn. Ich gehorche sogar, beginne einen Spurt. Seit der Schulzeit bin ich nicht mehr gerannt, aber ich kann es noch, hab es nicht vergessen. Wie Fahrradfahren nur ohne treten, schalten, die Möglichkeit elegant zu bremsen oder das Licht je nach Bedarf anzumachen, ach ja, und man sitzt – hat wenig mit Fahrradfahren zu tun so ein Spurt. Nach zehn Metern denke ich, dass ich nicht einmal von der Stelle komme, verlangsame mein Tempo und hechle angestrengt, fast weinerlich: „Scheiße!“ Ein „Das wars wohl jetzt!“ krieg ich nicht einmal mehr raus, weil meine Lunge brennt und sich trockene Spucke im Mund gesammelt hat. Ich jogge angestrengt weiter bis ich zu einer Brücke komme, dort steht ein Frau völlig perplex mit ihrem Hund, der den Sturm ankläfft.
Ja, bell ihn, weg, denke ich, Scheißköter.
Der Hund reißt sich von der Frau los, galoppiert wie ein Minipferd weg.
Mann, der wird’s schaffen, jammere ich immer langsamer werdend.
Die Frau taumelt rückwärts, den Blick auf etwas sehr Großes geheftet, dass hinter mir her ist.
„Passen Sie auf!“, sage ich noch und schon kippt sie über die Brüstung. „Shit!“
Instinktiv beschleunige ich meinen inzwischen trägen Schritt und schaue über die Brüstung. Sie liegt mit dem Rücken auf ein paar Gleisen. Sieht eigentlich noch recht in Ordnung aus, starrt aber unentwegt mit weit aufgerissenen Augen in den Himmel. Ich scheue mich zu sehen, was sie sieht. Davon hab ich genug, will nicht wieder von der Medusa zu Stein verwandelt werden.
Ich will ihr helfen. Aber wie? Der Wind wird auch immer schlimmer. An mir fliegen Kacheln und Holzlatten vorbei. Jetzt wird es ganz gefährlich, besser ich suche mir einen Schutz. Eine U-Bahn-Station wäre nicht schlecht. Bis ich die nächste erreicht hätte, wäre wahrscheinlich aber alles vorbei.
Dann, als mir der Gedanke kommt, mich unter der Brücke zu verstecken, wird es laut. Ich drehe mich um und erblicke die Front eines Busses, der halb fahrend, halb fliegend auf mich zurast. Er verfehlt mich nur knapp, kracht auf die Strasse und rutscht bis halb über die Brüstung. Wackelig balanciert er auf dem Rand der Brücke und dort soll er bleiben, denke ich, und mache mich wieder auf den Weg zu meiner Arbeitsstelle. Mein Gott schon sieben Minuten zu spät, jetzt wird’s aber Zeit.
„Hilfe!“, schreit die Frauenstimme unter der Brücke.
Ich könnte kotzen, bleibe wütend stehen und denke nach. Nicht viel Zeit zum Nachdenken, mahnt mich meine gute Seite, das ist die Chance ein Held zu sein. Ach, ich bin eher der Typ, der gafft, der redet, kein Macher, kein Handendelnder. I`m a Lover, not a fighter.
Sie schreit wieder, viel verzweifelter. Das zieht. Murrend, dreh ich mich um, seh dem Riesen stur in die Visage und checke die Lage. Ich entdecke am rechten Brückenrand eine Möglichkeit unbeschadet zu der Frau herunterzukommen, mach mir dabei tatsächlich nur die Finger etwas schmutzig und will mich gerade zu der Frau begeben, als der Bus kerzengerade auf sie plumpst. Ein Ton und sie ist zermatscht. Das haut mich um. Der Bus ist nur knappe fünf Meter von mir entfernt. Auf meinem Arsch gefallen starre ich ihn an und kann richtig erahnen was als nächstes passiert. Natürlich kippt er in meine Richtung. Mein Lippen zittern. Ich stöhne ein zischendes „Shit!“, für etwas kreativeres bleibt keine Zeit. Ach wie gerne, würde ich mit einem seitenlangem Monolog à la Shakespear sterben.
So dumm er ist, sein Drang zur Arbeit zu gehen, rettet mir das leben.
Ich krabbele wie ein Riesenbaby erbärmlich und ungeschickt zur Seite. Um so lange es dauert bis ich den Rums von dem Bus höre, um so lauter schreie ich, als ob ich dadurch mein Tempo beschleunigen könnte. Es scheppert und knallt. Darauf lass ich mich erschöpft auf den Bauch fallen, wende mich ein Weilchen später auf den Rücken und beobachte noch wie innerhalb von Sekunden aus dem Untergangsszenario wieder das Paradies wird – nur, dass die Verwüstung noch nicht weggeräumt und ab und zu Dinge wie Zeitungsfetzen, Glassplitter und Kühlschränke vom Himmel fallen. Sonnenstrahlen blenden mich, während es drei Sekunden sanften Regen gibt. Ich atme einmal tief durch, fühle mich erlöst, habe es überstanden. Ein euphorisches Gefühl steigt in mir auf und dann lache ich, nur um gleich wieder zu weinen.
Mein Handy klingelt. An der Nummer erkenne ich, dass es meine Arbeitsstelle ist. Ich nehme nicht ab. Wieso sollte ich nach diesem Albtraum... Dann nehme ich doch ab.
„Wo bleiben Sie, Herr K.?“, fragt mich mein Chef, den ich mir am liebsten mit Zigarre im Mundwinkel vorstelle.
Ich stocke. „Da war ein Sturm, da war sogar ein verdammt mächtiger Sturm...“
„Sparen Sie sich ihre faulen Ausreden. Bei uns hier gibt es weder Hitze-, noch Schnee-, noch Sturmfrei!“, motzt er mich an.

Drei Wochen später sitze ich mit einem Freund aus der Studienzeit in einer Konferenz. Wir kämpfen um Umweltschutz und so`n Kram. Nun ja, die kämpfen dafür. Mein Freund hat mich gelinkt, mir von Punsch und Kuchen und einer Party erzählt. Die sind mir suspekt, wollen den Planeten retten. Ich will nur mich retten, dazu brauchte ich Arbeit.
„Was hältst du davon?“, flüstert mir mein Freund zu.
„Hä?“, frage ich ihn überrumpelt.
Um ehrlich zu sein, ich sage ja zu Kapitalismus. Ich würde den Planeten ausbeuten, würde mir ein pervers großes Auto kaufen, dessen einzige Besonderheit der hohe Benzinverbrauch wäre. Ihr wärt mir dann alle egal. Ja, so sieht`s aus. Aber im Moment bin ich weder mächtig noch reich, muss mit der Straßenbahn fahren, unsere Arschlochgesellschaft ertragen und mich von meinem Chef tyrannisieren lassen. Da fällt es schwer noch Solidarität zu empfinden.

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Tag der Veröffentlichung: 10.12.2008

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