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Damals war ich der Meinung, ich hätte sie umgebracht, als ich den Stecker zog. Aber jetzt glaube ich das nicht mehr. Ich werde sie finden. Wahrscheinlich nicht diese Woche. Und auch nicht diesen Monat. Aber irgendwann.

Oft erinnere ich mich an die Zeit mit ihr. Zweiunddreißig Jahre waren wir verheiratet. Als wir uns kennen lernten, gab es noch keine PCs. Und dass es jemals so etwas wie das Internet geben würde, davon hatten damals noch nicht mal die Autoren von Science-Fiction-Filmen geträumt.
Und heute? Tausende von Satelliten kreisen um die Erde. In Sekunden kann man Daten rund um die Welt senden, ins Weltall und wieder zurück. Inzwischen kann man mit der Armbanduhr telefonieren, wie Captain Kirk damals im Raumschiff Enterprise. Beam me up, Scottie. Davon hatte sie immer geträumt. Ich habe ihr so eine Uhr gekauft. Ich wollte sie ihr zum dreißigsten Hochzeitstag schenken. Aber die Uhr liegt immer noch in meinem Schreibtisch. Ganz hinten, wo ich immer ihre Geschenke aufbewahre. Ich konnte ihr die Uhr nicht mehr geben. Schon damals, vor mehr als zwei Jahren, war sie nicht mehr ansprechbar.
Manchmal mache ich mir immer noch Vorwürfe. Ich hatte sie am Anfang unterstützt und gefördert. Aber wie hätte ich wissen sollen, wie das enden würde?
Ich selber hatte ihr den ersten Homecomputer gekauft. Zu ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag. Ich kann mich noch genau erinnern, wie ihre Augen leuchteten, als sie das riesige Paket auspackte.
Schon bald darauf besuchte sie ihren ersten Programmierkurs. Und ihr Lehrer behauptete, sie hätte wirklich Talent. Im Nachhinein betrachtet, war sie wohl wirklich gut. Die Beste!
Stundenlang saß sie vor dem Monitor und programmierte. Und ihre Spiele verkauften sich sehr gut.
Dann kam Windows und revolutionierte den Computermarkt. Plötzlich waren ihre Spiele für Homecomputer nicht mehr gefragt und sie kaufte sich einen richtigen PC.
Und schon bald hatte sie auch ihr erstes Modem. Sie konnte mit anderen Computern auf der ganzen Welt kommunizieren. Da hat es angefangen mit ihrer Entfremdung. Immer länger saß sie vor ihrem Computer, die Telefonleitung war ständig besetzt. Wenn ich mittags von der Arbeit nach Hause kam, saß sie mit rotgeränderten Augen vor dem grünlich flackernden Bildschirm. Sie begrüßte mich nur mit einem kurzen „Hallo„. Und auf meine Frage nach dem Mittagessen, antwortete sie nur „Ach, ist es schon so spät. Mach dir doch selber was, ich habe keinen Hunger.”
Ich hatte gehofft, das würde sich legen. Aber nachdem ich einige Monate zugesehen hatte, wie sie immer dünner wurde und ihre ganze Zeit vor dieser Kiste verbrachte, setzte ich mich zu ihr, um ein ernstes Gespräch zu führen.
„Das kann so nicht weitergehen”, begann ich.
„Stimmt”, antwortete sie, „so kann ich nicht arbeiten. Dieses Modem ist viel zu langsam. Da muss es doch etwas Besseres geben.”
„Das habe ich eigentlich nicht gemeint.”
„Was denn sonst? Wenn niemand ein schnelleres Modem erfinden kann, werde ich das halt selber tun.”
„Sieh dich doch mal im Spiegel an. Du bist abgemagert. Deine Augen sind rot und blutunterlaufen. Und wann hast du zuletzt deine Haare gewaschen?”
„Das ist ja kein Wunder, wenn ich immer so viel Zeit mit Warten auf diese blöde Verbindung verbringe.”
Ich wurde wütend, hätte sie schlagen sollen. Das hätte sie vielleicht wieder in die Wirklichkeit zurückgeholt. Ich konnte es nicht. Stattdessen ging ich einfach davon und ließ sie weiter an ihrem PC sitzen.

Im Laufe der Jahre schien sie immer mehr zu verfallen Im gleichen Tempo wie ihre Internet-Verbindung schneller wurde, wurde ihr Körper weniger. Später dann, als sie Breitband mit 600 kbit pro Sekunde hatte - was auch immer das heißen mochte - wog sie schätzungsweise noch knapp über vierzig Kilos.
Ich habe sie niemals essen sehen. Ich hatte keine Ahnung, wovon sie eigentlich lebte. Immer, wenn ich von der Arbeit nach Hause kam, saß sie vor ihrem PC und kommunizierte mit der ganzen Welt. Wenn ich sie ansprach, reagierte sie nicht.
Damals spielte ich mit dem Gedanken, ihren PC einfach vom Netz zu nehmen und irgendwo im Wald zu vergraben. Aber ich hatte Angst vor den Konsequenzen. Ich wusste nicht, wie sie reagieren würde. Heute bin ich der Meinung, ich hätte es tun sollen. Dann hätte es vielleicht noch eine Chance gegeben.

Ich ließ den Dingen also weiter ihren Lauf. Ich konnte ohnehin nicht mehr mit der technischen Entwicklung mithalten. Und die technische Entwicklung konnte nicht mit ihr mithalten. Schon bald meckerte sie wieder an der zu langsamen Internet-Verbindung herum. Man müsste etwas Besseres erfinden, sagte sie. Und sie machte sich das selbst zur Aufgabe. So war sie. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, tat sie alles in ihrer Macht Stehende, um es zu erreichen.
In den nächsten Wochen kamen jede Menge Pakete für sie an. Sie hatte die ganzen Sachen wohl im Internet bestellt. Ich war mir nicht sicher, ob sie überhaupt noch laufen konnte, selbst wenn sie es gewollt hätte. Ihr Körper bestand nur noch aus Knochen mit etwas Haut darüber. Ein Wunder, dass sie noch nicht an Unterernährung gestorben war.
Eines Abends kam ich wie immer von der Arbeit nach Hause und wollte ihr Hallo sagen, aber ihre Tür war abgeschlossen. Das hatte sie bis dahin noch nie getan.
Von drinnen waren seltsame Geräusche zu hören. Quietschen, Pfeifen, Schreien. Ich konnte das Geräusch nicht zuordnen. Ich hatte Angst. Angst um sie und was dort drin aus ihr werden würde. Meine Rufe beantwortete sie nicht.
Ich spielte mit dem Gedanken, die Türe aufzubrechen. Aber ich fürchtete mich davor, zu sehen, was aus ihr geworden war. Die Geräusche hatten aufgehört. Es war still in dem Zimmer. Ich spähte durchs Schlüsselloch, konnte aber nichts erkennen. Sämtliche Lichter waren gelöscht, die Fenster verdunkelt. Nur das blaue Flimmern des Monitors war zu sehen. Und auch das nur ganz schwach.
Später fingen die Geräusche wieder an. Diesmal waren es fast menschliche Laute, die aus dem Zimmer kamen. Eine Art Stöhnen. Es klang, als wäre sie verletzt. Oder noch Schlimmeres. Ich musste nachsehen.
Mit einem Brecheisen stemmte ich die Türe auf. Als ich das Licht andrehte, wurde das Stöhnen lauter. Mir stockte der Atem, als ich meine Frau sah - oder das, was von ihr übrig war. Sie saß an ihrem PC. Ihr Körper bestand nur noch aus Haut und Knochen. In ihrem Kopf steckten Kabel, die mit einem Gerät auf dem Tisch verbunden waren. Als ob sie ihr Gehirn direkt ans Internet angeschlossen hätte. Aber was mich vollends verrückt werden ließ, war der Bildschirm. Er zeigte ihr Gesicht. Nicht die abgemagerte Version von heute, sondern eine alte Version davon. Das Bild schien kurz nach unserer Hochzeit aufgenommen worden zu sein.
„Hallo, Karl”, sagte der Monitor zu mir. „Ich habe es wirklich geschafft. Ich bin richtig drin im Internet.”
Das Abbild der Frau, die ich einst liebte, gefangen in einer elektronischen Welt. Ich musste sie erlösen.
Es fiel mir wahnsinnig schwer, den Stecker zu ziehen, aber ich schaffte es. Sämtliche Geräte schalteten mit einem dumpfen Plopp ab und die Stille lastete schwer auf dem Raum. Ihr ausgemergelter, seelenloser Körper sackte zusammen, der Kopf schlug hart auf die Tastatur.

Damals war ich sicher, dass sie tot war. Aber jetzt - drei Jahre später - bin ich nicht mehr ganz so überzeugt. Vielleicht kann ich sie ja wieder finden. Wenn nur dieses Modem nicht so langsam wäre.

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Tag der Veröffentlichung: 07.12.2009

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