Cover

Der Winter
Von Mark Johnson

Der Winter war dieses Mal spät dran dachte ich, als ich wieder einmal einen langen Blick aus dem Fenster warf. Ich war nicht sehr in Eile, denn ich hatte ja eigentlich den ganzen Tag Zeit. Seit ich in Rente war hatte ich eigentlich sonst nichts weiter zu tun. Meine Frau war schon vor drei Jahren gestorben und mein Sohn und meine beiden Enkel kamen höchstens alle drei Monate einmal vorbei, weil sie doch so weit weg wohnten. Ich war nie der gesprächige und unterhaltsame Mensch gewesen wie meine Frau, sondern hatte immer viel gearbeitet, bis meine Firma plötzlich Konkurs anmelden musste. Nach neunundvierzig Jahren im Betrieb auf einmal arbeitslos und dann nach dem schnellen Tod meiner Frau auch noch allein. Es hatte mich in den letzten zwei Jahren viel Kraft gekostet, die Frage nach dem Warum für mich schlüssig zu beantworten.

Ein Eichhörnchen kletterte den Baumstamm hinunter, der in unserem Garten steht. Die ersten Schneeglöckchen spitzelten durch die Reste des Schnees und auf einmal brach plötzlich ein Sonnenstrahl durch die Wolken und tauchte den Garten in warmes, helles Licht.

Das Leben hatte wieder einen Sinn bekommen als ich gefragt worden war, ob ich nicht als Weihnachtsmann im örtlichen Kindergarten aushelfen könnte. Der alte Weihnachtsmann war überraschend krank geworden und auf die Schnelle war kein anderer aufzutreiben gewesen. Der Pfarrer hatte mich einfach am Sonntag nach dem Gottesdienst angesprochen und gebeten, ob ich diese Rolle nicht ausnahmsweise übernehmen könnte. Er sagte, er könne sich keinen besseren Weihnachtmann vorstellen als mich. Vom Aussehen kam ich dem Bild eines Weihnachtsmannes sehr nahe, wie ich zugeben musste. Aber innerlich war ich meilenweit entfernt von der Vorstellung den Kindern ein gütiger verständnisvoller Zuhörer zu sein und deren Wünschen und Sorgen geduldig anzuhören. Daher wollte ich einerseits den Wunsch des Pfarrers sofort zurückweisen, andererseits schämte ich mich ihm den kleinen Gefallen zu verweigern. Er hatte mir bei der Beerdigung meiner Frau so viel Trost gespendet und mich auch danach noch öfters besucht, daher hatte ich ein schlechtes Gewissen. Ich sagte ihm also, dass ich bis morgen Bescheid geben würde ob der Termin für mich passt, denn der Auftritt sollte ja schon am Mittwoch sein. Schon während ich langsam nach Hause lief, gingen mir tausend Überlegungen durch den Kopf, die sich auf das für und wider bezogen. Am nächsten Tag schließlich sagte ich dem Pfarrer nur aus dem Grund zu, weil ich nicht als undankbar dastehen wollte. Am Nachmittag desselben Tages holte ich auch gleich das Gewand und die weiteren Anweisungen ab. Ich ging gleich noch zum Kindergarten um den Auftritt für Mittwoch zu besprechen. Als ich ankam, hatten die Kinder gerade Pause und aßen ihre Brote. Schon lange hatte ich nicht mehr so viele Kinder auf so einem geballten Raum erlebt. Als ich sie sah, war ich richtig aufgeregt wie das klappen würde mit mir als Weihnachtsmann. Am Mittwoch um zehn Uhr sollte das Ganze also stattfinden. Ich hatte alles, den Text, das Gewand, nur der Mut fehlte mir ein bisschen.

Am Mittwoch war ich dann, wie vereinbart pünktlich um Zehn am Kindergarten. Die große Glocke wurde geläutet und alle Kinder waren auf einmal still und lauschten meinen Worten: Draußen vom Walde komm ich her, lasst euch sagen… sagte ich mit meiner tiefen Stimme und die Kleinen bekamen alle große Augen. Sämtliche Aufregung, die ich noch vor einer Minute gehabt hatte, war vorbei. Ich hörte den Kindern zu, die einzeln ihre Wünsche vortrugen und ihr kleines Geschenk in Empfang nahmen. Es fühlte sich gut an, bei diesen kleinen Menschen zu sein. Ich empfand so vertrautes Gefühl, als ob es meine eigenen Enkelkinder wären.

Die Nachbarin kam mit einem Stück Kuchen in der Hand auf meine Eingangstür zu. Ich winkte ihr freundlich zu und ging dann hinunter zur Tür um ihr zu öffnen. Das Leben hatte wieder einen Sinn, als ich das Leuchten in den Kinderaugen gesehen hatte.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 10.07.2011

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /