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Laute Sirenen ertönten. Sie weinten, sie rannten, doch sie wussten nicht wohin. Wohin sollte man auch rennen, wenn man Tränen in den Augen hatte? Tränen von Staub, Zerstörung, Hoffnungslosigkeit? Doch sie rannten, weiter und weiter. Irgendwann legte sich der Staub der Zerstörung. Doch was war mit den Tränen und der Hoffnungslosigkeit? Die Tränen sollten auch bald trocknen und wiederkommen. Aber die Hoffnungslosigkeit? Sie war der Krieg in sich selbst. Einem Krieg, dem diese beiden Kinder wohl hilflos ausgeliefert waren. Der zwölfjährigen Minia und ihrem kleinem, fünfjährigen Bruder Philippe.

Es geschah einfach von einer Minute auf die andere. Und niemand wurde gewarnt und niemand hatte gewarnt. Die Atombomben, welche mit voller Wucht die Welt zerstörten, sollten für viele Kinder ihr Warten auf eine Absolution werden, die aber nie erteilt wurde. Zumindest nicht in einer absehbaren Zeit. Wer sollte sie auch erteilen? Gott? Der die Erwachsenen zu Monstern machte und sie sich selbst zerstörten? Nein Vergebung gab es nicht. Es gab nichts. Keine Schule mehr, kein Zuhause, keine Nahrung und keine Eltern. Die beiden waren auf sich gestellt. Von einer Minute auf die andere, weil sie niemand warnte.

„Minia?“
„Ja Phillipe?“
„Wo ist Mama und Papa?“
„Ich weiß es nicht. Lass uns erst einmal hier in diesem Schuppen warten. Vielleicht findet uns ja jemand.“
„Und wenn nicht?“
„Dann suchen wir Mama und Papa.“
„Okay Minia, aber hier will ich nicht bleiben!“

Minia war sich nicht sicher, was passiert war und wie Ernst die Lage sein mochte, aber sie hatte kein gutes Gefühl. Es war noch helllichter Tag und so beschloss sie nach einer Stunde aus dem Schuppen hervor zu kriechen und zu schauen, was passiert ist.

„Du wartest hier Phillipe!“
„Nein ich will nicht, ich will nicht alleine bleiben!“, weinte er sofort.
„Ich bin gleich zurück. Warte hier und dann gehen wir beim nächsten Mal gemeinsam hinaus. Ist das in Ordnung?“
Schnief, schluchz – „Okay, aber bleib nicht lange weg!“
„Nein, ich bin gleich zurück!“

Minia blickte vorsichtig aus der Schuppentür hinaus, und sah auf die völlig verbrannten Felder. Es schien so, als wäre der Winter von einer Minute auf die andere hereingebrochen. Es schneite Staubregen. Minia ging ganz vorsichtig auf das vor ihr liegende Feld und schaute in die Ferne. In das Tal, wo einst ihre Stadt und ihre Heimat lag. Sie und ihr kleiner Bruder mussten mehr als eine Stunde gerannt und gegangen sein. Sie kannte sich in dieser Gegend kaum aus. Der Weg ins Tal hätte zuviel Zeit gekostet, um noch einmal vor Einbruch der Dunkelheit zum Schuppen zurückzukehren. Also gab es nur eine Möglichkeit. Sie musste Philippe mitnehmen.

„Philippe, komm schnell!“, schrie sie dem Schuppen entgegen.

Philippe eilte so schnell ihn seine Beine tragen konnten zu seiner großen Schwester und schaute sie fragend an.

„Wir gehen zurück in die Stadt und schauen wo Mama und Papa sind!“
„Ja ich will zu Mama und Papa. Und dann habe ich ganz viel Hunger!“, freute er sich.

Sie marschierten los und erreichten zwei Stunden später ihre total zerbombte Heimatstadt. Alles war zerstört. Kein Stein saß mehr auf dem anderen. Für die Kinder war es sehr schwer sich zu orientieren und ihr ehemaliges Zuhause zu finden. Doch nach vielen Minuten des Suchens, erreichten sie das Grundstück. Minia erkannte es nur daran, dass das Kennzeichen des Familienautos auf einem Steinhaufen lag und sie die Abkürzungen MP genau kannte. Sie stand für ihren und den Namen ihres Bruders.

Sie schauten sich genau auf dem Grundstück um. Doch ihre Eltern waren nirgendwo zu entdecken. Auch sonst war keine Menschenseele zu sehen. Minia und Philippe standen alleine da. Sie wusste, dass die Eltern diese Katastrophe nicht überlebt hatten und wurde ganz schwermütig. Doch das Weinen musste sie sich unter allen Umständen verkneifen. Ihr Bruder durfte von ihren Gefühlen nichts wissen.

„Wo ist denn Mama und Papa nun?“, wollte Philippe ungeduldig wissen und schaute dabei auf das zerstörte Haus.
„Mama und Papa sind weggefahren.“
„Aber du hast gesagt, dass du nicht weißt wo Mama und Papa sind!“, schluchzte er.
„Tut mir leid dass ich dich angelogen habe, ich weiß nicht wohin sie gefahren sind. Wir müssen solange warten, bis sie wieder heimkehren!“

Philippe schaute Minia ganz traurig an, aber verstand.

„Ich habe aber Hunger!“, schmollte er.

Minia hatte noch einen Apfel in ihrer Tasche und gab ihm Philippe.

„Wir müssen etwas zu essen suchen, bis Mama und Papa wieder da sind.“, beruhigte sie ihren kleinen Bruder.

Dann fingen sie an die Stadt nach etwas Essbarem abzusuchen. Doch weit und breit gab es nichts. Alles war verkohlt, verbrannt und zu Staub zerfallen. Es gab nur eine Möglichkeit für die beiden. Sie mussten nach anderen Menschen suchen, nach Hilfe, nach Existenz. So machten sie sich hungrig und völlig übermüdet auf dem Weg aus der Stadt. Aber auch nach zwei Stunden, sah alles gleich aus. Nirgendwo gab es eine Spur von Leben. Es wurde dunkel. Und mit der Dunkelheit machte der Hunger Platz für etwas in dem Moment viel Schlimmerem. Für die Angst. Sie legten sich unter ein Stück Wellblechdach. Beide kuschelten sich aneinander und versuchten halbwegs zu schlafen. Philippe schlief auch bald ein, doch Minia hielt stets ein Auge geöffnet. Als die ersten Sonnenstrahlen, durch die Risse im Wellblechdach eindrangen, erwachte Minia zuerst. Sie war so müde geworden, dass sie die Augen nicht mehr aufhalten konnte.

„Aufstehen Philippe! Wir müssen weiter!“, stupste sie ihren kleinen Bruder an.

Philippe murmelte und wollte nicht aufstehen. Er war noch sehr müde. Doch nachdem Minia ihn noch mal anstupste, stand er unwillig auf.

„Wir gehen weiter die Strasse entlang. Irgendwann finden wir etwas zu essen und bestimmt Menschen.“, beruhigte sie Philippe und auch sich selbst.
„Aber ich habe so einen großen Hunger!“, beschwerte er sich mürrisch.

Minia suchte in ihren Taschen und fand doch noch etwas. Es war ein halber Schokoriegel. Doch diesen ganzen, halben Schokoriegel gab sie Philippe nicht, sondern brach ein Stück ab und überreichte es dem strahlenden kleinen Mann.

„Oh danke Minia. Das war aber lecker!“, freute er sich, wie sich nur ein Kind freuen kann und strahlte dabei mit seinen großen Kinderaugen.
„Aber nun los Brüderchen. Wir finden nachher sicher etwas Leckeres!“

Sie marschierten zwei Tage und zwei Nächte. Überall sah es gleich aus. Überall diese große Zerstörung. Keine Menschen, nichts. Doch am dritten Tage hatten sie Glück. Sie waren völlig ausgehungert, übermüdet und schwach. Zum Glück konnten sie nicht verdursten. Denn neben der Straße entlang, gab es einen kleinen Bachlauf. Sie sahen von weitem ein intaktes Haus auf einem Berg stehen. Mit letzter Kraft rannten sie den Berg hinauf und blieben viele Meter vor dem Haus, hinter einem Baumstumpf stehen.

„Psst… Philippe! Wir schleichen uns an das Fenster dort heran und schauen, ob jemand zu Hause ist.“
„Psst… Minia. Okay.“

Beide schlichen an das Seitenfenster der Küche heran und schauten in das Haus. Niemand war zu erkennen. Dann schlichen sie um das Haus herum und schauten durch jedes Fenster. Kein Mensch war auszumachen. Zögerlich gingen sie auf die Veranda und drehten an dem Türknauf. Die Tür war nicht abgeschlossen. Also schlichen sie vorsichtig in das offene Haus.
Nachdem sie wirklich alle Räume abgesucht hatten, wussten sie dass dieses Haus verlassen war.

„Aber sei dennoch leise. Und schau immer wieder ob jemand kommt!“, befahl Minia ihrem Bruder, als sie sich dem Keller vorsichtig näherte.

Im Haus gab es keinen Strom mehr, sodass sie in einen total dunklen Keller starrte. Sie suchte in der Küche und in einem anderen Zimmer nach einer Kerze und Streichhölzern und wurde fündig. Damit ging sie ganz langsam die Kellertreppe herunter. Sie hatte Angst, aber sie hatte auch unendlich viel Hunger. Dann erklang ein Freudenschrei aus dem Keller.

„Juchuuuu!!!“
„Minia was ist denn?“, schrie Philippe von der Kellertür in den Keller nach unten.

Minia rannte die Treppe hinauf und hielt zwei Dosen in der Hand. In der einen Dose waren Ananasscheiben und in der anderen Dose Wurst.

„Endlich haben wir etwas zu essen gefunden. Los Philippe hilf mir einen Dosenöffner zu finden.“
„Jaaaa!!! Endlich haben wir etwas gefunden!“, freute sich Philippe über beide Ohren.

Sie brauchten in der Küche auch nicht lange nach einem Dosenöffner zu suchen und nach zehn Minuten waren nicht nur die Dosen geöffnet, sondern der Inhalt entleert und der Magen voll.

„Rülps. Upsss!“, entschuldigte sich Philippe.
„Macht doch nichts. So gut ging es mir schon lange nicht mehr.“, lachte Minia seit Tagen mal wieder.
„Mir ging´s noch nie besser.“, kommentierte Philippe seinen Zustand unbedacht.

Nachdem sie das ganze Haus auf den Kopf gestellt hatten und nichts mehr anderes zu essen fanden, legten sie sich auf das große Bett im Schlafzimmer des ersten Stockes zum Schlafen nieder. Am frühen Morgen wachten sie auf. Sie waren ausgeruht, dennoch knurrte der Magen ein wenig. Aber das ließ Minia ohne Sorge sein, da sie auch gestern schon etwas zu essen fanden und sie sich sicher war, das sie noch mehr finden würden. Philippe wachte auch auf und die beiden setzten ihre Reise auf der Suche nach Nahrung und Menschen fort.

„Minia?“
„Ja Philippe?“
„Warum warten wir nicht zu Hause auf Mama und Papa?“
„Ich weiß nicht wann sie wiederkommen und wir müssen essen.“, erklärte Minia.
„Aber vielleicht ist Mama und Papa schon zu Hause und haben was zu essen für uns.“

Minia konnte ihrem Bruder nicht erklären, das ihre Eltern wohl niemals mehr nach Hause kehren würden.

„Ich glaube, dass sie uns sehen werden, wenn wir auf dieser Hauptstrasse bleiben.“, beruhigte sie ihren Bruder.
„Okay, aber dann gehen wir nicht mehr in so ein Haus! Basta!“, befahl Philippe mit den Armen angewinkelt.
„Nein, das machen wir nicht mehr. Und wenn, dann bleibt einer an der Strasse und der andere sucht uns was zu essen.“

Sie gingen die lange Strasse weiter und tranken aus dem Bachlauf, doch ein weiteres Haus fanden sie nicht. Auch nach fünf Tagen nicht. Die Beine waren so schwer wie Beton. Sie waren völlig ausgehungert. Die Gegend in der sie waren, kannten sie nicht. Beide saßen an einem dicken, verkohlten Baumstamm eines einst mächtigen und schönen Baumes. Sie hatten keine Hoffnung mehr. Sie schliefen fast zwei Tage lang, dann setzte sich Minia auf und schaute ihren kleinen Bruder an. Er lag da, öffnete noch einmal die Augen. Wollte noch etwas sagen und starb. Minia trauerte leise. Sie war ausgetrocknet und es kamen nur trockene Tränen. Sie konnte ihren Bruder nicht mal mehr abdecken. Es gab nichts, womit sie ihn hätte abdecken können. Sie raffte sich mit allerletzter Kraft auf und eilte die Straße weiter. Nach einem Kilometer folgte die Straße in ein Tal. Sie ging weiter. Die grauen Bäume und verbrannten Felder, wichen langsam einem grün. Sie hörte von weitem schon Stimmen und als sie mit allerletzter Kraft die Ortschaft Bloomfield erreichte, brach sie auf einer Veranda zusammen. Die Leute trugen sie in das Haus und umsorgten sie auch zugleich. Nach zwei Tagen wachte sie auf, war noch ziemlich schwach und bekam sofort eine Suppe gereicht. Weitere zwei Tage später hatte sie wieder soviel Nahrung zu sich genommen, das sich ihr körperlicher Zustand stabilisierte.

„Wo ist Mama und Papa?“, war ihre erste Frage.
„Wie heißen deine Eltern, Kindchen?“, wollte die greisenhafte Dame in ihrem blauen Wollkleid wissen.
„Gregory und Lisa.“
„Und wie heißt du?“
„Ich heiße Minia Smithes.“

Der Mann der greisenhaften Dame stand neben Minia´s Bett und überlegte, als er die Namen hörte. Und sofort wusste er, wer die Eltern waren und wo Minia sie finden konnte. Nachdem Minia sich angezogen hatte, wurde sie in die große Turnhalle der Ortschaft gebracht, wo Opfer des Krieges Zuflucht oder nach überlebenden Angehörigen suchten. Minia erkannte ihre Eltern schon von weitem und rannte auf sie schreiend zu:

„Mama!!! Papa!!!“

Minia´s Eltern drehten sich um und konnten kaum glauben, dass sie ihre Tochter lebend sahen. Sie umarmten sich lange, bis der Mutter auffiel, dass Philippe gar nicht da war.

„Wo ist Philippe?“, wollte sie aufgeregt wissen.

Doch Minia schaute nur betrübt zu Boden und weinte leise vor sich hin. Da verstand die Mutter und brach in Tränen aus. Ihr Mann musste sie stützen und umarmen. Nach Minuten der Besinnung, wollte Minia´s Vater wissen, wo Philippe lag. Minia erklärte es ihm.

„Aber Papa, wieso habt ihr uns nicht zu Hause abgeholt?“, wollte sie wissen.
„Ihr wart auf dem Weg von der Schule nach Hause und ziemlich weit weg. Ich bin noch den Schulweg entlang gefahren und in die Schule hineingerannt. Doch ihr wart nirgendwo aufzufinden. Da wusste ich, dass du richtig entschieden hast und mit Philippe sicher weggelaufen bist, um Schutz zu suchen. Kurz bevor die Bomben einige Kilometer von unserem Zuhause fielen, wurden wir alle evakuiert. Ein Beamter gab uns Anweisungen mit dem Auto so schnell wie möglich hier her zu fahren. Ich wollte euch beide schon vor Tagen suchen, aber die Beamten haben es mir verboten und gesagt, ich soll wie die anderen hier warten. Also blieb mir keine andere Wahl. Tut mir leid mein Schatz!“, erklärte ihr Vater traurig.

Nach einer Stunde erreichten sie mit dem Auto, den Baumstumpf, vor dem Philipp lag. Es war kein schöner Anblick. Minia´s Mutter zerbrach in diesem Moment das Herz und sie hatte einen Kreislaufkollaps. Der Vater musste die Nerven behalten und legte seine Frau auf die Rücksitzbank des Auto´s. Danach trug er seinen toten Sohn auf den Beifahrersitz. Minia saß bei ihrer Mutter auf der Rücksitzbank. Da es noch keine Ordnung in dem total zerstörten Land gab, gab es auch keine offiziellen Beerdigungen und Abschiedsfeiern. Minia´s Vater hielt daher unweit einer schönen, grünen Wiese an und suchte eine geeignete Stelle unter einem Baum, um Philippe zu beerdigen. Philippe´s Mutter schaute regungslos zu, sagte kein Wort und Minia fiel auf, das ihre Mutter von jetzt auf gleich sich veränderte. Die Haare schimmerten nicht mehr blond, sie hatte keine glatte Gesichtshaut mehr. Nach der Beerdigung fuhren die drei in die Ortschaft Bloomfield zurück. Der Abend war ein stiller, leiser Abschied von Philippe. Am nächsten Morgen erkannte Minia ihre Mutter fast nicht wieder. Über Nacht waren ihre Haare völlig grau geworden und sie hatte tiefe Falten im Gesicht. Das Leben musste weitergehen. Nach einem Jahr war schon wieder einiges aufgebaut. Auch Minia´s Eltern hatten ein kleines Haus, mithilfe von anderen Bewohnern, aus dem Schutt des Krieges notdürftig errichten können. Der erste Radiosender ging auf Sendung. Der Reporter berichtete von einer globalen Vernichtung der menschlichen Spezies. Lediglich 100 – 200 Millionen Menschen hätten diesen Atomkrieg überlebt.

Drei Jahre später trug der Vater seine Tochter Minia zu Grabe und beerdigte sie neben ihrer Mutter im Garten des Hauses. Philippe hatte er damals noch hier her umgebettet.
„Liebste Lisa, meine liebsten Kinder. Ich werde euch bald folgen. Ich kann den Tag nicht früh genug herbeisehnen, an dem ich euch wiedersehen darf.“, weinte er mit dem gebrochenen Herzen eines alten Mannes und der Hoffnungslosigkeit. Auch er folgte seiner Familie vier Monate später und wurde von einem Nachbarn in dem Familiengrab beerdigt. So war es sein Wunsch.

Nach etwa fünfzig Jahren starb auch der letzte Mensch, an den Spätfolgen des atomaren Krieges.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 04.08.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle Menschen, die wissen das die Feder stärker ist als das Schwert! Ich wünsche uns Frieden für immer.

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