Er liebte es seinen Gedanken freien Lauf zu lassen. Sobald seine Füße über den weichen Waldweg liefen, war sein Kopf frei. Auf diese Art und Weise hat er schon viele gut versteckte Hinweise und Zusammenhänge in seinen Fällen erkannt. Patrick King war Leiter des Morddezernats. Gerade waren er und sein Team an einem besonders schwierigen Fall dran. Deswegen wollte Patrick heute Morgen bei seinem Waldlauf ein wenig nachdenken.
Es war noch früher morgen, die Sonne würde erst in einer Stunde aufgehen. Die Kälte versuchte durch seine Thermowäsche zu dringen. Durch den Nebel sah er nur die folgenden fünf Meter.
Alles um ihn herum war in undurchsichtiges Weiß gehüllt. Das stellte für Patrick kein Problem dar. Schließlich kannte er den Weg mittlerweile auswendig. Im Moment folgte er einer langen Geraden. Links begann sich der Wald zu erheben und auf der rechten Seite lagen die Wiesen und Äcker der Bauern aus dem Dorf.
Alles war ruhig. Patrick erhöhte sein Tempo ein wenig. Die einzigen Geräusche welche seine Ohren vernahmen waren das Knirschen der Turnschuhe beim Laufen und seine regelmäßigen Atemzüge.
Plötzlich peitschte ein Knall durch den frühen Morgen. Patrick blieb abrupt stehen. Daraufhin folgten zwei weitere Laute.
"Waren das Schüsse?", fragte er sich.
Seinen Instinkten folgend lief er in die Richtung, wo er meinte, dass die Schüsse ihren Ursprung hatten. Seine Idee ein Jäger könnte es gewesen sein verwarf er so gleich wieder. Warum sollte bei solch schlechter Sicht jemand auf die Jagd gehen?
Patrick holte nun alles aus sich heraus, angespornt durch einen weiteren Schuss im Nebel. Er lief eindeutig in die richtige Richtung, da dieser Schuss lauter klang, als die vorhergegangenen drei. Er lief zum Dorf, quer über die Felder.
Der aufgeweichte Boden ließ ihn nur schwer vorankommen. Alle paar Meter steckten seine Füße in den schlammigen Untergrund fest. Schließlich erreichte Patrick das in Nebel eingehüllte Dorf. Nichts tat sich in den wenigen Straßenzügen die hier existierten.
Die wenigen Lampen im Ort wirkten eher gespenstisch.
Das Handy wurde gezückt um den Schuss seinen Kollegen zu melden. Patrick stellte ernüchternd fest, dass er hier wie immer über kein Netz verfügte.
„Verdammt! Handy funktioniert nicht und meine Dienstwaffe habe ich sowieso nicht einstecken!“, ärgerte der Kommissar sich.
Woher kamen die Schüsse? Möglichkeiten gab es selbst in dieser 50 Seelengemeinde mehr als genügend. Also blieb erst mal nur eine Möglichkeit.
Nach Hause gehen und die Augen auf den Weg dorthin offen halten. Vielleicht sah er ja etwas Verdächtiges. In seiner Wohnung wollte er die Kollegen vom Revier verständigen und seine Dienstwaffe einstecken, um anschließend auf die Jagd zu gehen.
Nichts Verdächtiges konnte Patrick ausmachen. Der Nebel verschluckte alles und lies nichts erkennen. Keine Einschusslöcher, Verletzte oder gar Tote.
Zu Hause angekommen, schnappte er sich seine Dienstwaffe plus ein extra Magazin zum nachladen. Anschließend erledigte er den Anruf. Von diesem Augenblick an benötigte der erste Streifenwagen bestimmt einige Zeit um hier einzutreffen. Erst recht bei diesem Nebel.
Patrick trat durch seine Haustür ins freie. Sofort empfing ihn wieder der weiße kalte Dunst. Die Waffe entsichert und im Anschlag haltend wandte er sich Richtung Ortsmitte. Wieder ein Schuss. Mit einem Pfeifen schoss die Kugel ganz knapp an seinem Kopf vorbei. Eine Fensterscheibe splitterte hinter ihm.
Instinktiv warf Patrick sich flach ins feuchte Gras und robbte sich zu einem Busch, von dem er hoffte, dass dieser genügend Schutz bot.
*
„Wo hat er sich versteckt?“, dachte der Mann sich und fluchte in sich hinein während er sein Gewehr nachlud. So etwas durfte einfach nicht passieren.
„Warum kam er überhaupt schon so früh vom Joggen zurück? Hat er etwa die Schüsse gehört. Verdammt! Egal… Auf einen mehr kam es jetzt auch nicht mehr an.“
Er hob sein Gewehr. Legte es auf die Fensterbank und konzentrierte sich wieder auf den Busch.
Doch... da war niemand mehr. Sein nächstes Opfer war verschwunden. Der Augenblick des Nachladens wurde wie zufällig genutzt um zu verschwinden.
Der Mann legte das Gewehr wieder zur Seite und schielte aus dem Fenster, um zu sehen was draußen geschah.
Der Nebel machte es ihm nahezu unmöglich etwas zu erkennen.
Genau deshalb schoss er auch vorbei. Wegen dieses verdammten Nebels. Jetzt war es aber nicht an der Zeit sich darüber zu ärgern. Nun musste der Mann schnell handeln.
Patrick King, so wusste er, arbeitete bei der Polizei. Und mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit hat er in seiner Wohnung nach Verstärkung gerufen.
Bis diese Eintraf, musste King ausgeschaltet sein und er selbst verschwunden.
Er nahm seine Pistole und prüfte ob sie geladen war. Stieg über zwei Leichen und verließ das Haus in dem er Jahre lang mit einer Lüge gelebt hatte. Die dritte Leiche lag in der Dusche.
*
Patrick erkannte ziemlich schnell, dass der Busch kein geeignetes Versteck sein konnte. Also entschloss er sich seine Deckung zu wechseln.
Da er aber nicht wusste wo die Schüsse ihren Ursprung hatten, konnte er sich auch nicht entscheiden wohin er laufen sollte.
Entweder er fand ein Gutes Versteck wo er nicht zur Zielscheibe wurde und trotzdem einen einigermaßen guten Überblick behielt, oder er suchte sich etwas aus was ihn wie auf dem Silbertablett präsentieren würde.
Und das wäre dann fatal.
Patrick beschloss einfach loszustürmen, um dann spontan in ein geeignetes Versteck zu flüchten.
Er zählte in Gedanken bis drei.
„Eins, zwei, drei!“
Patrick stand auf und sprintete los. Seine Blicke suchten im Nebel nach einer passenden Deckung. Er wurde fündig.
Er duckte sich zwischen zwei Mülltonnen die an einer Mauer standen.
Patrick schob die Tonnen so zu Recht, dass sie genau so standen damit er dahinter nicht gesehen werden konnte, selbst aber gut sah was sich auf der Straße abspielte.
Er überlegte von wo die Schüsse kommen konnten.
Vielleicht ist ein Streit unter Nachbarn eskaliert? Nein. Das konnte nicht sein. Oder?
Er wusste, dass es bei einer Familie hier im Dorf einige schwerwiegende Probleme gegeben hatte. Dem Vater sprach man einiges an Aggressivität zu.
Und er besaß einen Waffenschein. Schließlich gehörte er dem Schützenverein an.
Die Puzzleteile fügten sich nach und nach im Kopf zusammen.
Im Dorf sprachen alle über die zerklüftete Familie.
Der Vater fand vor kurzem heraus das seine beiden Kinder nicht von ihm seien und er deswegen Rache schwor.
Vor wenigen Wochen ist er ausgezogen. Er ließ seine Frau und seine Kinder zurück. Aber eigentlich waren es ja gar nicht seine!
Alle dachten schon, dass mit dem ganzen Ärger Schluss sei.
Scheinbar war es das doch nicht. Heute wurde vermutlich das Rache Versprechen eingelöst.
Patrick wusste nun was er zu tun hatte. Er verließ sein Versteck und richtete seine Schritte zu dem Haus hin, wo er ein Blutbad vermutete.
Von diesem konnte man auch hervorragend auf ihn gezielt haben.
Sein Herz raste. Die Muskeln waren angespannt. Seine Waffe nach vorn gerichtet. Immer bereit zu schießen.
Schließlich setzte Regen ein, wurde stärker und Vertrieb den Nebel nach und nach, während sich Patrick vorsichtig dem vermeintlichen Tatort näherte.
*
Der Mann freute sich über seine Tat. Jahrelang wurde er belogen und betrogen. Sicher konnten die Kinder nichts dafür. Aber es waren eben nicht seine.
Sondern die Kinder von irgendeinem Kerl den er nicht kannte.
Sein Gewissen war rein. Die Welt wurde von einer Lüge befreit.
Vorsichtig spähte er um die Hausecke. Niemand zu sehen. Der Nebel löste sich durch den einsetzenden Regen auf.
Ob es dem Mann nun zum Vorteil gereichte stand in den Sternen.
Aber King hatte auch keine besseren Karten als er.
*
Einer Eingebung folgend wollte Patrick sich verstecken. Schließlich war er hier wie eine wandelnde Zielscheibe unterwegs.
Wieder sah er sich um. Der Regen wurde immer stärker. Ein richtiger Guss kam nun herab und machte die Sicht auch nicht besser.
Patrick wechselte auf die Straßenseite wo keine Straßenlampe vorhanden war. Dort waren einige Bäume die ihm ein bisschen Dunkelheit und Schutz boten, sollte der Schütze in ebenfalls suchen!
*
„Scheiß Regen!“, fluchte der Mann.
Nebel wäre ihm jetzt wieder lieber gewesen. Doch blieb ihm keine Zeit mehr. Er konnte nichts erkennen beim Blick um die Hausecke. Er sah die Lichtkegel der Straßenlaternen.
„ So dumm wirst du nicht sein, King!“
Sein Blick ging auf die andere Straßenseite. In die Dunkelheit.
„Wenn du so blöd bist mich zu suchen dann gehst du bestimmt durch die Dunkelheit und versteckst dich hinter den Bäumen! Aber nicht mit mir King!“
Der Mann schlich ebenfalls auf der dunklen Seite entlang.
Ganz durchnässt und vor Kälte zitternd setzte er ganz leise einen Fuß vor den anderen. Das nasse Gras machte es nicht einfach.
Es verwandelte sich zu einem schlammigen Untergrund.
Da tauchte vor ihm eine Gestalt aus dem Regen auf. Nur wenige Meter vor ihm. Er hob seine Waffe, zielte und drückte ab.
*
Patrick schlich vorsichtig weiter. Der Regen machte ihm zu schaffen. Er hatte immer noch seine Thermowäsche an und darüber seinen Laufanzug, aber er wog schwer durch die Feuchtigkeit die er aufsog wie ein Schwamm.
Ein Schatten zeichnete sich einige Meter vor ihm ab.
Patrick hob seine Waffe, zielte und drückte ab.
*
Beide Männer erkannten noch mit Schrecken, dass der jeweils andere ebenfalls abdrückte. Im selben Augenblick trafen die Geschosse ihr Ziel.
Alle zwei waren geübte Schützen.
Sei es durch den Beruf als Polizist bei dem einen, oder den Gewinn des Schützenkönigs beim anderen.
Patrick King wurde durch einen tödlichen Schuss in den Kopf zur Strecke gebracht.
Sein Kontrahent dagegen durch einen Schuss in die Nähe des Herzens.
Er verblutete mit qualvollen Schmerzen und hörte noch die Sirenen der herannahenden Verstärkung für King.
Ein Grinsen umspielte noch seine Gesichtszüge.
„Zu spät für dich King!“, dachte der Mann.
Der Tod stellte sich in diesem Augenblick ein.
Kurze Zeit später trafen die Kollegen des Morddezernats ein.
Die Polizisten fanden nur noch zwei Leichen im schlammigen Nass liegend.
Tag der Veröffentlichung: 15.04.2011
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