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Vorwort

Liebe Leser/Innen,

diese Geschichte ist fast ein Jahrzehnt alt und hat eine halbe Ewigkeit in der hintersten Ecke meines Computers Staub angesetzt.

Auf Wunsch vieler bookrix-Leser habe ich euch die Geschichte hier hochgeladen.

Leider hatte ich keine Zeit Korrektur zu lesen, deshalb entschuldige ich mich vorab für auftauchende Rechtschreib- und Ausducksfehler.

 

Viel Spaß

 

Liebe Grüße

 

Denise

 

 

In Zeiten wie diesen überleben wir nicht in unserer Realität.
Es vermag mehr als ein Gedanke, ein Gefühl, eine Idee oder jegliches Gut auf Erden um das Leben
zu lieben.
In einer Welt wie dieser sind menschliche Tugenden und Moralvorstellungen gleich der verwüsteten Städte unserer Zivilisation, nicht mehr als Steinruinen und ein Baum von tausend Bäumen, ohne ein Wald in Reichweite.
Wenn wir nicht wissen, womit alles begann.
Wie erkennen wir dann das Ende?
Und wenn das Ende mehr vermuten lässt als Finsternis und Tod.
Wenn der Anfang der Schlüssel zum Leben ist, das Ende einer Idee entsprungen ist, unsere Welten zu durchfluten weiß.
Warum sollte uns das Leben begegnen, wenn wir es vernichten?
Spielt es eine Rolle, dass wir eine Idee für das Überleben der Menschheit haben?
Gibt uns die Idee das Recht über Gut und Böse zu urteilen?
Wenn wir den Anfang unseres Lebens erkunden, womöglich finden wir dann die Antwort auf unsere Fragen.
Wann alles enden wird.
Wie alles enden wird.
Ob alles enden wird.

 

 

Kapitel 1

 

Mein Atem , ausgehaucht in der Finsternis dieser Welt, ist das einzige Geräusch aus der Wirklichkeit., ein Schall aus vergessener Tage schönster Gelächter und Tänze.
Es fühlte sich so an, als wäre ich niemals mehr diese Person, die ich zurück lassen musste. Und deshalb betrachtete ich unser neues Zuhause aus fremden Augen.
Niemand durfte in diesem Moment ahnen, dass dieses stille Mädchen ein Abenteuer erleben und ihre große Liebe finden würde. Niemand würde das auf den ersten Blick glauben.
Aber diese Geschichte beginnt genau an diesem Ort, der fremd und viel zu viel Hitze beherbergt.
Meine Mutter versucht zu lächeln, als sie den Wagen in dem kleinen Städtchen vor einer herunter gekommen kleinen Villa parkt.
„Willkommen zuhause, mein Schatz“, sie klopfte mir auf den Oberschenkel und stieg aus.
Ich betrachtete das Holzhaus skeptisch und bezweifelte, dass ein neues Haus und eine neue Umgebung gegen unsere Vergangenheit eine Chance hatte. Wahrscheinlich würde sie nur hübsch aussehen, doch die Wahrheit war, dass wir niemals wieder wir selbst sein würden und kein Ort uns zurück holen konnte.
Widerwillig stand ich auf und half meiner Mutter beim Ausladen der Kartons.
Erst spät abends ließen wir uns im Wohnzimmer auf dem verstaubten Sofa fallen und aßen bestellte Pizzen. In der Kleinstadt existierte tatsächlich ein italienisches Restaurant mit einem überfreundlichen Antonio, der mich an der Haustür herzlich begrüßte und Hilfe anbot, falls wir Hilfe benötigten. Ich bedankte mich höflich, würde allerdings niemals auf sein Angebot eingehen.
Es war kein Zufall, dass wir uns eine Kleinstadt im Nirgendwo als Fluchtmöglichkeit ausgesucht hatten.
Unauffällige Gegend, Anonymität und ein gesundes Klima, mehr brauchte ich nicht zum Leben.
„Und? Aufgeregt wegen morgen?“
Meine Mutter streckte sich neben mir auf dem Sofa aus und ich betrachtete ihren schlanken Körper neidvoll. Wie konnte ich mit meinem Zwergenkörper nur mit ihr verwandt sein?
„Nein. Ist ja nur Schule. Keine große Sache.“
„Du findest bestimmt ganz tolle Freunde, Schatz.“
Ich nickte nur, weil es mir ehrlich gesagt egal war.
„Ich gehe ins Bett.“
Ich nahm die leere Pizzaschachtel und brauchte sie hinaus zum Müll.
Dort betrachtete ich schweigend wie die Dämmerung langsam über das Städtchen kroch.
Tief durchatmend versuchte ich nicht nachzudenken, mich nicht zu erinnern und einfach nur im hier und jetzt zu sein.
So, wie ich es immer tat, wenn sich Panik in mir ausbreitete.
Es war vorbei. Und ich musste loslassen.

 

 

 

 


An meinen ersten zwei Schulstunden hatte ich Literatut und ich war angenehm überrascht. Sie nahmen gerade Romeo und Julia durch, meine Lieblingslektüre und das trug zum einen zu meiner guten Laune bei, außerdem saß ich neben einem sehr netten Mädchen namens Hilary, sie redet gerne und sprach aufgeregt über die nun anstehenden Veranstaltungen der Schule. Nach dem Literaturunterricht begleitete sie mich sogar in die Pause, was ich total nett von ihr fand. Als wir so durch die langen Flure marschierten, an hunderten von Schülern vorbei, stellte sie mir einige Jugendliche vor, deren Namen ich kurze Zeit später schon wieder vergaß.
Sie musste ziemlich beliebt in der Schule sein, alle mochten sie und sie strahlte über das ganze Gesicht, wenn sie die jungen Leute begrüßte und mich vorstellte.
Ich musste zu meinem Spind und sie zeigte mir den Weg, als wir den richtigen Spindschrank erreichten, blieb das Mädchen plötzlich stehen und hielt mich am Arm fest, ihre Miene war besorgt.
„Bist du dir sicher, dass du nicht vielleicht dein Spind tauschen möchtest?“
Ich verstand ihre Sorge nicht und schaute in die Richtung in die sie blickte. Etwas zehn Meter vor uns standen fünf groß gewachsene schlanke und sportlich aussehende Jugendliche, die miteinander lachten oder aber auch, wie ein eng umschlungenes Paar, miteinander knutschten. Schon beim Zuschauen wurde einem Übel, es fehlte nur noch, dass sie sich vor uns allen nackt auszogen. Die Jugendliche neben dem knutschenden Paar schien das nicht weiter zu stören, sie schienen bei guter Laune.
„Wieso sollte ich den Spind tauschen?“, fragte ich.
Natürlich wusste ich warum Hilary mir diesen Vorschlag gemacht hatte. Es war nicht zu übersehen, dass diese Truppe sich für etwas Besseres hielt.
Ich kannte solche Menschen, wie konnte ich auch nicht? Wenn einer aus deiner eigenen Familie sich solch einer Fassade unterzogen hatte, kommst du nicht umher, mit solchen Menschen Bekanntschaft zu machen, ob du willst oder nicht.
Doch ich wusste auch, was hinter diesen attraktiven Fassaden sich verborgen hielt. Ich hatte es bei meinem Bruder erlebt, bis zu seinem letzten Tage auf der Erde hielt er sich für Superman persönlich. Es tat weh sich daran zu erinnern, es tat weh sein Schmerz verzerrtes Gesicht und sein wimmernden Laut in Gedanken wahr zu nehmen. Ich merkte, wie meine Augen Tränen produzieren wollten und ich riss mich zusammen.
„Josch und die anderen Jungs sind auf unserer Schule die coolsten Junges, aber auch die größten Arschlöcher auf Erden. Am besten ist es, wenn man ihnen aus dem Weg geht“, erklärte Hilary.
Ich schluckte und blickte in Hilarys ernstes Gesicht, ich las Schmerz darin. Wahrscheinlich sprach sie aus Erfahrung, sie schien jedenfalls ziemlich beliebt zu sein und war es da nicht logisch auch mit einem der coolsten Junge der Schule zusammen zu sein, wahrscheinlich war sie das auch für eine kurze Zeit.
„Ich habe vor solchen Typen keine Angst mehr“, sagte ich und blickte sie dann beruhigend an.
„Ich hab früher mit solche Sorte von Junges bereits zu tun gehabt, wenn du sie einfach nicht beachtest, dann musst du vor nichts angst haben. Sie sind viel zu einfach zu beeinflussen, und wenn du dich unauffällig verhältst bemerken sie dich nicht einmal.“
Ich war geübt darin, für solche Menschen bedeutungslos zu sein, das Verhalten meines Bruders mir gegenüber hat mir solch eine Gabe gelehrt. Bleib ruhig und gelassen und vor allen Dingen beachte sie nicht, das sind die Regeln, an die man sich halten muss.
„Warte hier, ich verstaue nur meine Sachen, dann bin ich wieder da“, erklärte ich und spürte ihren Blick auf mir, als ich auf den Spind zu ging, an dem die Jugendliche lehnten und miteinander lachten und redeten. Ich bewegte mich unauffällig zu meinem Spind, blöd nur, dass die zwei Knutschenden daran lehnten.
Ich blieb mit verschränkten Armen vor ihnen stehen, doch sie bemerkten mich nicht, deshalb räusperte ich mich. Das schien die beiden in die Wirklichkeit zurück zu holen, sie blickten verwirrt in meine Richtung, immer noch eng ineinander verkeilt. Ich sah, dass die Hand des jungen Mannes unter dem Top des Mädchen steckte, toller Anblick echt. Ich unterdrückte ein Würggeräusch und blickte in die beiden hübschen Gesichter. Na ja eher gesagt in ein sehr hübsches Jungen Gesicht und in ein künstliches Frauengesicht.
„Autogramme gibt es später“, fuhr mich eine dunkle Männerstimme an, zwei dunkel blaue Augen blitzten mich unter Strähnen an. Das Mädchen verzog gehässig lächelnd ihre dicken Lippen. Es war mir nicht neu, dass solche Arschlöcher auch noch gut aussahen und immer ein gehässigen Ton anschlugen, was mich jedoch leicht verblüffte war, dass seine Schönheit nicht nur eine Hülle schien. Er strahlte pure Leidenschaft aus, die sein attraktives Aussehen unterstrich. Über seine Bemerkung zuckte ich nur die Schulter.
„Was Interessiert mich deine Autogrammstunde?I
ch möchte an mein Schließfach, das ihr belagert“, ich machte eine Handbewegung hinter sie.
Mein Kontern schien den Jungen leicht zu verblüffen und er löste sich von dem Mädchen, welches mich von oben herab betrachtete und zog sie mit sich etwas weiter zu seiner Clique. Ich schloss mein neues Schließfach auf und verstaute dort meine Sachen, als ich wieder abschloss, lehnte plötzlich ganz nahe mir gegenüber ein junger Mann mit braunen wuscheligen Haaren am Spind und betrachtete mich von oben herab.
„Was glaubst du hier zu suchen?“
Ich betrachtete ihn kurz, er trug wie der knutschende Junge eine durchlöcherte coole Jeans, und dazu ein einfaches T-Shirt, in seinem Fall blau.
„Ich suche gar nichts, ich hab nur ein paar Sachen in mein Schließfach getan“, sagte ich und wollte meinen Schlüssel vom Schloss ziehen, doch der Junge war schneller und ließ ihn in seiner Hand kreisen, während er die Augenbrauen hoch zog.
„Du scheinst neu zu sein, also hör zu Kleine, diese Fächer hier“, er machte eine langende Handbewegung zu dem Fächerschrank uns gegenüber: „Gehören uns, kapito? Solche Mädchen wie du haben hier nichts verloren, such dir ein anderes auf der anderen Seite, wo du übrigens auch hin gehörst.“
Ich blickte auf die andere Seite, wo die arme Hilary kreidebleich auf mich wartete.
„Schlüssel“, ich blickte den frechen Kerl abwartend an und hielt meine Hand hin, damit er mir meinen Schlüssel wieder gab.
„Vergiss es, verpiss dich lieber, sonst kann ich ungemütlich werden“, zischte er. „Ich habe keine Angst vor solchen Kerlen wie du es bist“, sagte ich, viel zu oft hatte ich mit solchen Kerlen wie er zu tun gehabt, ich konnte mich wenn nötig zu Wehr setzen.
Nun lachte er grimmig und seine Kumpels wurden nun auch aufmerksam und ich merkte ihre Blicke auf uns.
„Du scheinst nicht zu wissen, wenn du hier vor dir hast, Kleine.“
Ich blickte ihn unerschrocken an: „Und ob ich das weiß, und jetzt gibt mir meinen Schlüssel zurück“, entgegnete ich kühl. Der Kerl lachte rau und drehte sich zu seinen Kumpels herum. Das eben noch knutschende Paar stand neben zwei anderen Kerlen, der Kerl mit den schwarzen Haaren und dunkel blaue Augen meinte dann: „Gib dem Püppchen den Schlüssel zurück, Vic. Sie steht nicht auf dich.“
Alle anderen begannen zu lachen und der Kerl, der zuvor geredet hat, nahm Vic den Schlüssel ab und hielt ihn mir hin, blickte mich dabei durchdringend an.
„Und jetzt verschwinde, das nächste Mal werde ich ihm den Spaß nicht nehmen.“
Ich nahm barsch den Schlüssel und meinte sarkastisch: „Vielen Dank für deine Güte“, und eilte zu Hilary, die einem Herzstillstand wahrscheinlich nahe war.

„Unglaublich“, wiederholte Hilary zum zehnten Mal, während wir an einem Kantinentisch zu sechst saßen. Die anderen nickten zustimmend mit dem Kopf, während sie Spagetti aßen. „Dass du da überhaupt lebend davon kamst“, fügte Sara hinzu, ein schüchternes Mädchen.
„Wenn Josch seinen besten Kumpel Vic nicht aufgehalten hätte, dann wäre sie auch nicht lebend davon gekommen“, bedachte Hilary und tupfte sich mit einer Serviette den Mund ab.
Hatten sie denn kein anderes Thema mehr, als diese Arschlöcher? So wie ich das hier einschätzte, gab es in der Schule kein anderes Gesprächsthema, als diese verzogene Truppe von Jugendlichen.
„Was habt ihr heute Nachmittag vor?“, erkundigte sich Sara nun und ich war erleichtert, dass sie endlich ein anderes Thema anschlug. Ansonsten hätte ich mich wahrscheinlich auf der Toilette zurückgezogen.
„Wir könnten nach der Schule zum Strand fahren“, schlug Ina enthusiastisch vor. Alle waren begeistert und ich rührte gelangweilt in meinen Spagettis herum. „Hast du Lust mit zu kommen?“, fragte Hilary nun hoffnungsvoll. Alle blickten mich abwartend an. Ich wachte aus meinem Tagtraum auf: „Ähm ich weis nicht, ich muss noch Kartons auspacken und so“, erklärte ich. „Doch nicht bei so wunderschönem Wetterverhältnissen“, protestierte Sara ungläubig und wieder stimmten die anderen Mädchen zu. „Komm schon, das wird richtig toll“, meinte Hilary.
Ich fuhr mir zögernd durchs Haar und biss auf meine Lippe: „Ich weiß nicht Recht, ich kann meine Mutter nicht alleine auspacken lassen“, erklärte ich.
„Bring sie doch einfach mit, dann kommt sie auch nicht zum Auspacken“, schlug Sara vor und alle anderen warfen ihr einen vorwurfsvollen Blick zu, doch diese zuckte mit den Schultern.
„Warum nicht? Sie sieht noch total jung aus, sie würde gar nicht auffallen.“
Nun war auch ich verblüfft, woher konnte sie das wissen.
„Ich hab gesehen, wie sie dich an der Schule raus gelassen hat“, beantwortete sie unsere stille Frage.
Und wir müssen alle gleichzeitig anfangen zu lachen. Mir liefen Tränen aus den Augen, aber nicht vor Trauer, sondern aus Freude. Lange ist es her, dass ich so ausgelassen gelacht habe. Wir kriegten uns gar nicht mehr ein und Sara begann sogar mit Violetta, das Mädchen, das bisher still neben ihr saß, sich am Tisch zu balgen. Während wir so unbekümmert lachten, hatte ich das Gefühl, dass wir beobachtetet wurden. Schon immer hatte ich sehr gutes Gespür für solche Dinge.
Während ich weiterhin über Sara lachen musste, blickte ich unauffällig in alle Richtungen und dort etwas weiter rechts in der Ecke saß die angesagte Truppe von Jugendlichen. Der schwarzhaarige Junge namens Josch und sein Kumpel Vic blickten zu uns herüber. Schnell wandte ich mich wieder den Mädchen zu und wir beruhigten uns langsam wieder, nachdem uns die Köchin auch aufforderte verließen wir glucksend die Kantine.
Die Sonne schien heiß auf uns hinab, während wir über den Schulhof zum Oberstufengebäude gingen. In meiner weisen Tunika war mir schön warm.
Nach dem Nachmittagsunterricht gingen wir gemeinsam zum Parkplatz und ich winkte den fünf gut gelaunten Mädchen nach, die mit einem weisen Auto die Schule hinter sich ließen. Wir hatten uns also in einer Stunde am Beach Hil verabredet, Hilary hatte mir den Weg erklärt, den ich mit dem Wagen fahren musste. Na ja, blöd war nur, dass ich keinen Führerschein besaß, also kam ich nicht drum herum meine Mutter mit zu bringen.

„Du willst tatsächlich, dass ich mitkomme?“, fragte mich meine Mutter ausnahmsweise mal richtig gut gelaunt. Sie hat den Job in der Bank bekommen und schien gerade nur so vor positiver Energie zu sprühen, als sie an unserem neuen Heim parkte. Ich freute mich, dass sie nun auch mal ein positives Erlebnis erfahren durfte und half ihr mit dem Einkauf, den sie danach erledigt hatte. Voll bepackt mit zwei Tüten voller Nahrung marschierten wir in die moderne kleine Küche und stellten unsere Last auf der Anrichte ab. „Wieso nicht? Es ist schönes Wetter, es würde dir gut tun“, meinte ich ausweichend. Sie hob die Augenbrauen und räumte die Tüten aus, während ich Pizza in den Backofen schob.
„Wenn du meinst, wie sind die Schüler auf der neuen Schule so?“, erkundigte sie sich und räumte jede Menge Tiefkühlkost ein. Ich fragte mich, wer das alles essen sollte.
„Es gibt nette Leute und Arschlöcher, also wie in jeder anderen Schule“, bemerkte ich und türmte Joghurt im Kühlschrank aufeinander.
Sie lachte leise: „Sie scheinen ja einen sehr guten Eindruck bei dir hinterlassen zu haben.“
Ich zuckte mit den Schultern und meinte: „Ich geh mal hoch und zieh mich um, in einer halben Stunde müssen wir los Mam“, erinnerte ich sie und verließ die Küche.

Um sechs erreichten wir Beach Hill, nachdem wir uns zweimal verfahren hatten und Mam parkte etwas abseits. Ich betrachtete sie von der Seite, Sara hatte vollkommen Recht. Meine Mutter sah noch ziemlich jung aus und heute trug sie ein hell blaues Top und eine kurze Hose, es stand ihr mal wieder richtig gut. Ihr langes hell blondes Haar hatte sie zu einem Zopf gebunden. Aus ihrer Haarfarbe konnte ich schließen, das mein Dad, den ich nie kennen gelernt hatte, weil er kurz nach meiner Geburt verschwand, dieser Mistkerl, dunkle Haare besitzen musste, weil meine Haare beinahe schwarz waren und lockig. Vielleicht war er ja Brasilianer oder so, überlegte ich.
Wir stiegen aus, ich selbst trug ebenfalls eine Minihose und ein gelbes Top, unten drunter hatte ich meinen schwarzen Bikini an, den ich lange nicht mehr getragen hatte.
Mam trug eine Strandtasche und ich ihren Liegestuhl, der einiges an Gewicht besaß.
Dann erreichten wir den Strand, ich mochte das Gefühl von weichem Sand unter den Füßen. Wir kamen nur langsam vorwärts und dann erblickte ich die fünf Mädchen, die in der Sonne brieten und uns zu sich winkten.
„Echt cool, dass ihr kommt“, schrie Hilary erfreut und stellte die Mädchen meiner Mutter vor. Mam schien sie zu mögen, denn sie lächelte sie offen an. Und ich bemerkte die Blicke der Mädchen, die sie meiner Mutter zu warfen. Sie schienen von ihr echt beeindruckt.
Ich stellte meiner Mam den Liegestuhl auf, dann schnappte mich Hilary bereits und zog mich zum Wasser, die anderen Mädchen folgten uns jubelnd. Ich wollte protestieren, immerhin trug ich noch meine Kleidung, doch ich erhielt kein erbarmen und wurde ins Wasser gezogen.
Wir hatten unseren Spaß im Wasser, es war schön kühl und erfrischend. Wir schwammen eine Weile und spritzten uns lachend Wasser entgegen.
Wir mussten ziemlich lange im Wasser gewesen sein, denn als wir wieder zu unserem Strandplatz liefen, war meine Mutter verschwunden.
„Wo ist deine Mam denn hin?“, fragte Hilary. Sara schnappte plötzlich laut nach Luft und wir folgten ihrem Blick. Und ich glaubte, ich sehe nicht Recht, als ich meine Mutter auf dem Volleyballfeld etwas abseits sah. Ich meine, das wäre ja noch zu tolerieren gewesen, doch die Personen, mit denen sie spielte, kannten die fünf Mädchen nur zu gut und auch ich hatte heute einen ersten Einblick in ihre arrogante Fassade bekommen.
„Das gibt’s nicht“, seufzte Hilary laut und blickte mich vorwurfsvoll an, als könnte ich etwas für die Taten meiner ahnungslose Mutter.
Kopfschüttelnd legten wir uns auf die Handtücher: „Du hättest sie zu Hause lassen sollen“, bemerkte Hilary und ich nickte zustimmend: „Das hätte ich.“
Wir schlossen unsere Augen und brieten entspannt in der Sonne. Ich hoffte, dass meine Mutter unverzüglich wieder zu uns kommen würde.
Das tat sie dann auch, nach einer halben Stunde oder so. Sie strahlte und legte sich neben mich auf ihr Handtuch: „Ich habe gerade mit ein paar jungen Leuten Volleyball gespielt, hat richtig Spaß gemacht“, erklärte sie. Wir schwiegen und sie redete aufgeregt weiter, ich hätte ihr am liebsten gesagt, dass sie den Mund halten soll.
„Wow das war echt toll, ich hätte nicht gedacht, dass ich das noch kann.“
Dann bemerkte sie, dass wir alle schwiegen: „Was ist los?“ „Sie haben gerade mit den hinterhältigsten Menschen Volleyball gespielt, die es hier auf Erden wohl geben wird“, stellte Hilary nüchtern klar. Mam drehte sich zu mir herum und betrachtete mich besorgt: „Das sind also die Arschlöcher, die du zu Hause erwähnt hast?“
„Korrekt“, meinte ich und blinzelte wegen der Sonne. „Sie schienen mir ganz okay zu sein, vielleicht etwas verrückt, aber ansonsten“, überlegte Mam.
„Oh sie können auch für eine Weile ganz nett sein, so ist es nicht“ meinte Hilary sarkastisch. Es schien sie immer noch zu verfolgen, sie musste schlimmes mit diesen Kerlen durchgemacht haben. „Aber nach einer Weile finden sie einen langweilig und dann wirst du geschickt auf die Abstellliste manövriert.“
Stille, ich bemerkte den Blick meiner Mutter auf mir, sie beugte sich zu mir hinunter und flüsterte: „Sie sind nicht wie Fred, Schatz.“ Ich spürte, wie mich alles wieder einholte, als sie den Namen meines Bruders erwähnte. Schnell stand ich auf und meinte leise zu Mam: „Stimmt, sie sind nicht meine Brüder, da kann ich ja froh sein, nicht?“, damit entfernte ich mich im Trab von den Mädchen und meiner Mutter. Am Wasser joggte ich den Strand entlang. Ich lauschte dem Laut der Möwen und den gebrochenen Wellen des Meeres, während ich immer schneller wurde. Vergeblich versuchte ich meinen eigenen Gedanken davon zu laufen. Mein Atem ging nun schneller, ich spürte den Schweiß an meiner Stirn und den aufgewühlten Sand unter mir, wenn ich mit meinen nackten Füßen aufsetzte. Die Sonne ging nun langsam im Westen unter und der Himmel färbte sich rosa.
Doch mein Ziel war es an nichts mehr zu denken, also rannte ich noch schneller und tapste nun leicht im niedrigen Wasser herum. Eine angenehme Kühle glitt mein Bein hinab, während ich immer schneller lief. Es war wie eine Droge, ja genau, wie eine Droge, ich ließ mich in von ihr beherrschen und nahm nichts anderes mehr war, als diesen Rausch. Ich spürte, wie mein Atem immer schneller ging und meine Lunge nach Luft japste, doch ich ließ es nicht zu. Im Gegenteil ich rannte umso schneller, wirbelte Wasser und Sand auf und begann nun zu lachen. Genau so fühlte ich mich wohl, das war meine Heimat, das Laufen. Wie konnte ich nur jemals glauben, dass ich ohne diese Droge leben könnte? Das war einfach nur absurd, ich brauchte das Gefühl zu Schweben und wenn es nur ein paar Stunden vom Tag waren.
Wie konnte ich nur damit aufhören? Was hatte ich mir nur dabei gedacht?
Nun war ich soweit, dass ich rannte, immer weiter, immer schneller und mit immer weniger Atem. Doch ich lachte und konnte dabei sogar mit guten Gewissen an meinen verstorbenen Bruder denken. Wir haben nicht besonders viel gemeinsam erlebt, doch eine Sache, die haben wir alle beide für unser Leben gerne getan, das Laufen war unsere gemeinsame Heimat gewesen. Bevor er eine andere Droge entdeckte hatte, ist er mit mir beinahe jeden Tag gelaufen, so lange und schnell, bis wir uns lachend umarmten und uns versprachen dieses Gefühl von Freiheit immer in unseren Herzen zu tragen. Ab heute würde ich dieses Gefühl wieder in mir tragen, das versprach ich ihm, wo er auch immer sein mag, mein geliebter Bruder.
Ich rannte nun nicht mehr über Sand, sondern durch die Stadt, einige Menschen blickten mir hinter her, während ich Barfuss auf dem Bürgersteig an ihnen vorbei rannte. Ich wusste ungefähr die Richtung, in der ich musste um unser neues Haus zu erreichen. Je länger ich lief, desto weniger Gedanken wirbelten mir durch den Kopf, ja ich konnte beinahe sagen, dass ich an nichts mehr dachte, sondern nur das Gefühl von Freiheit genoss. Jeder Schritt brachte mich zwar wieder in die Fremde, doch ich war nicht alleine, wenn ich rannte. Mein Bruder war bei mir, ich spürte ihn so nah, als würde er lachend neben mir rennen. Ich liebe dich, Fred, dachte ich und rannte über eine nun für die Fußgänger grüne Ampel, beachtete die Menschen nicht, dir mir hinterher starrten und rannte nun durch den grünen Park.
Ich rannte an jungen und alten Menschen vorbei, die ebenfalls sich sportlich betätigten. Doch während es bei ihnen krampfhaft und lustlos aus, spürte ich die innerliche Freude, die mich beherrschte, wenn ich immer mehr an Geschwindigkeit zunahm. Ich spürte den harten Boden unter meinen nackten Füßen, doch nichts konnte mich davon abhalten stehen zu bleiben. Ich sprang über eine gespannte Hundeleine und über einen niedrigen Zaun, der den Park eingrenzte. Dann erreichte ich das Feld und zog das Tempo noch mehr an und erreichte unser Haus, das fremd in der Fremde stand. Als ich den Hof erreichte wurde ich langsamer und brach lachend auf der Wiese vor unserem Haus zusammen.
Ich spürte das Gras unter mir und schmiegte mich nun erschöpf daran, während mein Lachen nun einem Schlucksen ähnelte und letztendlich weinte ich bibbernd.
Die Sonne war untergegangen und es wurde etwas kühl, ich war geschwitzt und müde. Das Gefühl von Freiheit war wie weg geflogen und ich spürte meinen Bruder nicht mehr bei mir, was mich auch dazu brachte nun zu weinen.

 

Kapitel 2

 

„Ich meine, du bist nicht mehr aufgetaucht, Mia. Was glaubst, was für Sorgen wir uns gemacht haben, nachdem du einfach davon gerannt bist?“, meckerte Sara, während wir gemeinsam zum Oberstufengebäude gingen.
Es war Dienstag früh, Hilary hatte Sara und mich mit dem Auto zur Schule mitgenommen. Sara und Hilary hatten während der Fahrt zur Schule mich mit Vorwürfen überhäuft und nun klangen Saras Vorwürfe schon leicht besänftigend. „Tut mir Leid“, sagte ich nun schon zum zehnten Mal. Was ich ihnen jedoch zu Gute kommen lassen musste, war, dass sie mich nicht ein einziges Mal mit der Frage bedrängten, warum ich eigentlich abgehauen war. Wahrscheinlich hatten sie meine Mutter bereits danach gefragt und Mam hatte sie damit besänftigt, dass ich es ihnen sagen würde, wenn ich bereits sei. Aber vielleicht war ich nie dafür bereit meinen neuen Freundinnen zu gestehen, dass mein älterer Bruder wegen einer Überdosis Drogen elend verreckte. Wer war für so was schon bereit?
Nicht, dass es für Mam und ich mich überraschend kam, nein, das wäre eine ganz andere Situation. Mit den Drogenproblemen meines großen Bruders mussten wir uns Jahre lang herum schlagen. Irgendwann waren Mam und ich ratlos, wir drängten ihn zu einer Therapie, die er nie besuchte und auch unser gut Zureden ging an ihm vorbei. Er nahm nichts mehr war und war beinahe nie zu Hause gewesen, sondern hing Tag und Nacht mit seinen Freunden ab. Es gab am Schluss seines Lebens kaum noch eine Sekunde, in der er nicht Berauscht war. Hatte er die Droge intus, dann war er ein ganz anderer Mensch, der stahl, seine Mutter und Schwester beschimpfte und sogar gewalttätig uns gegenüber und anderen Menschen wurde. Ich weiß nicht, wie oft Mam ihn zum Ende hin von der Polizeistation abholen musste.
Aus dem liebenswürdigen, hübschen und lustigen Jungen wurde ein brutaler, arroganter und zynischer Mistkerl. Niemals werde ich seinen Gesichtsausdruck vergessen, als ich ihn vor unserem Haus auf dem Bürgersteig auffand und er seinen letzten Atemzug tat. Ich nahm seine Hand, die sich um meine verkrampfte und rief den Notarzt an. Doch der kam erst, nachdem Fred den letzten Atemzug getan hatte. Sie hätten für ihn nichts tun können, sagten sie später. Ich vergesse nie sein Blick, den er mir zu warf, bevor sie leer wurden. Voller Reue und Liebe hatte er mich angeschaut, als wollte er mir noch etwas Entscheidendes mitteilen wollen.
Niemanden hatte ich das erzählt, nicht einmal, dass er vor seinem letzten Atemzug gelitten hatte, ich wollte nicht, das Mam wie ich sein Leid mitbekommen musste.
Es war schon schlimm genug, das er leiden musste. Niemals werde ich den Druck seiner Hand vergessen, der so sanft war, als wolle er mir beweisen, dass er seine kleine Schwester für immer gern haben würde. Und als der Druck seiner Hand plötzlich verschwand, er verschwand mit der Seele seiner Augen und seinem schweren Atemzug. Plötzlich blickte ich auf einen leblosen Körper nieder, mein Bruder war fort und ich blieb zurück an diesem Ort, den ich vor langer Zeit, als noch alles gut schien, mein zu Hause nennen konnte. Plötzlich war alles so fremd und dunkel, nichts schien mir noch einen Sinn zum Leben geben und ich rief nach dem Namen meines Bruders, er solle mich auf keinen Fall alleine zurück lassen, doch er tat es und das, das verzieh ich ihm nicht, obwohl ich wusste, dass er es bestimmt gerne gewollt hätte.
„Erde an Mia“, Sara fuchtelte mit einer Hand vor meinem Gesicht herum. Ich nahm nun wieder die Umgebung war und bemerkte, dass wir uns im Oberstufengebäude vor dem Vertretungsplan befanden. Ich wischte Saras Hand vor meinem Gesicht weg und las etwas konzentrierter den Plan. Mit uns hatte man also kein Mitleid, nichts fiel aus, deshalb eilten wir leicht verspätet zu Chemie.
Doch zum Glück war der Lehrer noch nicht im Raum, als wir hinein traten und suchten uns etwas weiter hinten drei leeren Plätze. Wissenschaftsfächer waren wirklich nicht mein Ding und da ich auch noch ein halbes Jahr ausgesetzt hatte, war das nun doppelt schlimm. Während die anderen aufgeregt den Versuch starteten, der an der Tafel beschrieben war, saß ich mit Sara vor unserem und mixte etwas zusammen, was keine zwei Minuten später bedrohlich begann zu blubbern. Sara und ich sahen uns schweigend an und hatten alle beide die gleiche Idee. Wir schnappten uns jeweils ein Glas und füllten es mit Wasser und gossen es schnell über die nun schon stinkende Brühe. Fragt mich nicht, was genau wir überhaupt mixen sollten, jedenfalls sollte es weder blubbern noch eine gift grüne Farbe bekommen.
Herr Schmitz, unser Chemielehrer, verdonnerte uns beide zu zwei Hausarbeiten, weil wir die einzige Gruppe waren, die überhaupt nichts zu stünde bekommen hatte, weder praktisch noch auf Papier.
Als wir nach einer langen Predigt von Herr Schmitz aus dem Chemieraum die Flucht ergriffen, hielten sich bereits die Dreizehntklässler vor dem Chemieraum auf und wir wollten gerade an ihnen vorbei rauschen, als Herr Schmitz noch auf eine wirkliche „tolle“ Idee kam. „Meine Damen, kommen sie bitte zurück“, schrie er uns nach. Seufzend und mit leichten geröteten Wangen drehten wir uns zu ihm herum, wir hatten fast die Tür nach draußen erreicht, als Herr Schmitz durch den Flur schrie.
Wir drehten uns, auf das Schlimmste vorbereitet, zu ihm um, die Dreizehntklässler waren zum Glück schon im Raum. Ich hatte keine Lust, dass sie unser peinliches Abenteuer in Chemie heute mitbekommen, nicht das ich auf das Geschwätz anderer etwas gab, aber wie bereits erwähnt, hatte ich vor so unauffällig wie möglich zu sein.
„Kommen sie her“, er winkte uns zu sich, wir standen nun direkt vor der Chemietür. Musste er sich ausgerechnet diesen Platz suchen um uns noch weiter Inkompetenz in Person zu nennen? Außerdem hatte weder Sara noch ich den Wunsch irgendwann mal mit großer durchsichtiger Brille und einem weisen Kittel in einem Labor voller blubbernden Gefäßen zu verbringen. Wir wollten doch einfach nur unser Abi bestehen, mehr verlangten wir gar nicht.
„Sie beide“, er deute erst bedeutungsvoll auf mich, dann auf Sara: „Werden sich bis morgen jemand suchen, der ihnen in Chemie Nachhilfe gibt. Aber jemand der auch die Kompetenz besitzt. Sollten sie niemanden finden, werde ich das erledigen, habe ich mich klar genug ausgedrückt?“
Super, kaum eine Stunde Chemie und schon hatte ich meinen Chemielehrer davon überzeugt, dass ich vollkommen dumm war.
„Herr Schmitz, ich…“, setzte Sara an, doch er hob abwehrend die Hand: „Ein Tag und wählt eine Person, die ihnen tatsächlich helfen kann und jetzt geht, ich kann euer trübes Individuum nicht weiter ansehen.“
Damit verschwand er im Chemieraum und Sara und ich sahen uns sprachlos an.
Der Tag konnte eigentlich nur noch besser werden, dachte ich jedenfalls. Ich wusste bis dahin noch nicht, dass es noch ein Deut Schlimmer gehen konnte.
In der Mittagspause eilte ich voll bepackt mit den neuen Schulbüchern durch die Gegend, weil ich bisher nicht den Mut fassen konnte zu meinem Schließfach zu gehen, um meine Last etwas zu verringern. Jetzt jedenfalls führte kein Weg mehr daran vorbei, weil ich vor lauter Büchern nicht einmal mehr vor mich schauen konnte. Sara, die mich schon den ganzen Tag mit ihrem Selbstmitleid langsam in Rasche brachte, lotste mich lustlos und nicht besonders aufmerksam durch die Schülermenge in die Nähe meines Schließfaches, die letzten Meter zur „Grenze“ und darüber hinaus musste ich alleine gehen. Endlich erreichte ich das Schließfach und stellte den Turm von Büchern vor mir ab, dann schloss ich geschwind mein Fach auf und stopfte die Bücher hinein, die ich erst morgen wieder brauchen würde. Erleichtert schloss ich ab und nahm die nun nur noch zehn übrig gebliebenen Bücher wieder gestapelt in den Arm, auf atmend drehte ich mich herum und mir stockte der Atem. Okay, vielleicht konnte es doch noch Schlimmer kommen, dachte ich in diesem Moment. „Was hast du an dem Satz „Verpiss dich, das ist nicht deine Welt, nicht verstanden, Kleine?“ Vor mir stand der große braunhaarige Kerl von gestern und blickte mich leicht gereizt an. Leicht gereizt war vielleicht ein klein wenig untertrieben, wie auch immer. Ich wusste, dass ich nun auf keinen Fall passiv sein durfte, sonst würde ich gleich etwas mehr zu bedenken haben, als mein Chemielehrer und wo ich so schnell jemand finde, der mir Nachhilfe gibt.
„Du hast gestern deine Meinung bereits geäußert, ich hab es bestimmt nicht vergessen. Aber wie genau stellst du dir das vor, ich muss irgendwie an mein Schließfach kommen. Glaubst du mir macht das Spaß, dir immer dabei über den Weg zu laufen.“ Wahrscheinlich war das gerade ein deut zu aktiv, ein Gang kleiner hätte wahrscheinlich auch gereicht, bedachte ich, als ich seinen zornigen Gesichtsausdruck sah. „Ich warne dich Kleine“, meinte er drohend und machte einen schritt auf mich zu. Ich stand zwischen diesem Riesen und einem Schließfachschrank und fühlte mich nun leicht bedrängt. „Lass sie in Frieden, Vic. Sie hat dir nichts getan“, ein großer rot haariger Junge mit Brille stellte sich unterstützend neben mich. Das fand ich äußerst nett und mutig, aber wahrscheinlich hätte er sich da lieber nicht einmischen sollen. Vielleicht würde Vic, so hieß der Kerl also, davor zurück schrecken ein Mädchen zu schlagen, wer weiß, aber einen Jungen zu schlagen, das käme weniger verzweifelt rüber.
„Ach sieh mal an du hast einen Freund, Kleine“, Vic musterte den rot haarigen von Kopf bis Fuß arrogant. Der Gemusterte schien nun langsam der Mut zu verlassen, denn er ging rückwärts. Vic machte einen Schritt nach vorne und ich stellte mich ohne genauer darüber nach zu denken vor den Rothaarigen, immerhin hat er sich für mich stark machen wollen, obwohl sein Versuch die Situation eher noch verschlimmert hat. „Kleine, du bist mutig und dumm“, stellte Vic arrogant fest und packte mich am Arm und schleuderte mich zur Seite, so dass ich auf dem Hintern mit Schwung über den flachen Flur rutschte, bis ich gegen das gegenüber stehende Schließfach stieß. Nun wurden die anderen Schüler um uns herum auch aufmerksam, doch niemand schritt ein, als Vic auf den rothaarigen Kerl los stürzte.
Ich rappelte mich auf und wollte bereits zu Hilfe eilen, doch ich wurde fest gehalten, als ich mich umdrehte, sah ich Sara, die nur den Kopf schüttelte: „Lass es, du kannst eh nichts tun.“ Doch ich riss mich los und kam zu spät. Vic verpasste meinem Retter ein Kinnhaken, der Kopf seines Gegners klappte kurz nach hinten, dann ging der Kerl zu Boden. Schon wollte sich Vic wieder auf ihn stürzen, doch ich handelte schnell und wendete einen Griff an ihm an, den ich oft bei meinem Bruder benutzen musste, wenn er mal wieder von Sinnen auf jemand wie meine Mutter oder mich oder andere Menschen einprügeln wollte. In den letzten Monaten seines Lebens hatte ich den Griff verfeinert, so dass ich ihn schnell und sicher unter Gewalt haben konnte. Und ich hatte nichts verlernt, denn Vic japste nun, während ich seinen linken Arm hinter seinem Rücken so hielt, dass er sich kein wenig bewegen konnte, ohne dass er Schmerzen haben würde. „Hör auf“, sagte ich fest und blickte ihm dabei in die wilden Augen. In ihnen sah ich diese bekannte Verschleierung, diesen hetzenden, bemitleidenden Blick kannte ich nur zu gut.
Doch sein Blick ließ mich auch wieder erinnern, an die schlimme Zeit vor einem halben Jahr und länger vorher, als alles begann. Ich konnte mich nicht mehr richtig konzentrieren und er hatte sich mit einer Bewegung aus meinem gekonnten Griff befreit und packte mich an den Schultern und betrachtete mich. Nur zu gut kannte ich diesen Blick, Fred hatte mich nach diesem Blick immer schlagen wollen, ab und an war es ihm gelungen, wenn ich nicht schnell genug gewesen war. Ich bemerkte, wie mir die Tränen nun in den Augen standen. Nicht vor angst, sondern der Erinnerungen wegen.
„Vic hör sofort mit dem Scheiß auf!“, ertönte eine raue dunkle Stimme streng. Vics Kopf schoss herum, mich immer noch an den Schultern gepackt. Seine Finger hatten mich fest im Griff, ich spürte, dass er mein Blut abzwickte. So langsam hatte ich kein Gefühl mehr in den Armen. „Das Biest hier regt mich auf, ich hab ihr bereits gestern gesagt, sie soll sich verpissen“, blaffte Vic laut, die Zuschauer um uns herum nicht beachtend. „Verzieht euch, ihr habt für heute genug gesehen“, kommandierte die raue Stimme die Zuschauer weg. Und gleich darauf löste sich die menge auf und eilten zu ihren Klassen. Nur noch die „coole“ Truppe, die heute aus sechs Mann bestand, hielt sich mit meiner Wenigkeit und dem armen Jungen im Flur auf.
„jetzt lass sie schon los, Vic. Es reicht!“, Vic wurde an der Schulter gepackt und er löste nun endlich den harten Griff und ich rieb erleichtert meine Arme und blickte nun in das Gesicht, dessen Stimme so rau und dunkel wie die Nacht war. Es war Josch, der mir bereits gestern Gütigerweise aus der Patsche geholfen hatte.
Josch warf einen Blick auf den wimmernden Jungen auf dem Boden, dann blickte er Vic streng in die Augen, als wolle er ihn hypnotisieren: „Geht’s wieder Mann?“
Vic schien sich urplötzlich völlig beruhigt zu haben, sein Atem ging langsam und er hatte auch diesen irren Blick nicht mehr drauf. Josch ließ ihn los und kniete sich zu dem Jungen hinunter und berührte ihn an der Schulter: „Am besten gehst du zur Krankenschwester, Mark wird dich hin bringen.“ Ein braun gebrannter hünenhafter Kerl trat aus der Menge zu Josch und half mit ihm zusammen dem rothaarigen Kerl auf, der sich sogleich an Mark lehnte und gemeinsam verließen auch sie den Flur.
Josch blickte die anderen Junges an, die sich Vic annahmen und dann auch verschwanden. Dann schaute mich Josch an und hatte ich auch sein Gesicht und Augen zuvor einmal gesehen, so war es heute irgendwie noch intensiver, das Gefühl, dass er außergewöhnlich hübsch war und einen wunderschöne Persönlichkeit besitzen könnte, von der beinahe niemand etwas zu sehen bekam.. „Bist du noch ganz bei Trost?“, sein Brüllen hallte durch den langen leeren Flur und ich wurde durch sein Gebrüll schnell wieder in die Realität zurück geworfen. Niemals konnte dieser arrogante Kerl eine außergewöhnlich leidenschaftliche und nette Seite besitzen. Er war nicht mein Bruder, er war nicht Fred.
Seine blauen Augen hafteten zornig auf mir, ich öffnete den Mund, wollte etwas sagen, wusste jedoch nicht was, also bewegte ich meinen Mund wie ein Fisch, ohne dass ein Ton heraus kam. „Glaubst du ich habe das gestern aus Spaß und Laune heraus gesagt, dass du dich nicht noch mal hier in der Nähe aufhalten sollst?“, polterte er weiter. Hatte er sie noch alle? Was brüllte er mich so an, ich hatte wie jeder andere das recht durch diesen Flur zu gehen. „Seit wann ist es einem nicht erlaubt durch den Flur zu gehen? Steht das in den Schulregeln, hab ich was übersehen?“, fragte ich leicht ironisch und schulterte meine Schultasche, die auf dem Boden lag.
Er machte einen Schritt auf mich zu und hob warnenden den Zeigefinger und blickte mich dabei mit zornigem Blick an. Ich bekam Gänsehaut, ich hatte ziemliche angst vor dem Kerl, mehr als vor seinem Freund Vic, musste ich gestehen. Während dieser nämlich wegen den Drogen so unberechenbar gewesen war, war dieser ungemein gut aussehende Kerl bei Verstand und zornig: „Vorsichtig treib es nicht zu weit, auch meine Geduld geht zu Ende. Du wirst dich von uns fern halten, haben wir uns verstanden, Püppchen?“ ich blickte ihn leicht aufmüpfig an, während ich innerlich das Gefühl hatte, so schnell wie möglich von diesem Kerl weg zu wollen.
„Es stand nicht in meiner Absicht mich euch zu nähern, eure Schließfächer sind nun mal neben meinem, dafür kannst weder du, noch ich etwas. Also entschuldige, dass ich mich hier des Öfteren blicken lassen muss. Übrigens, nenne mich nicht Püppchen, ich bin vieles, aber das ganz bestimmt nicht, Hornochse“, damit brauste ich davon.
Auf dem Schulhof atmete ich erst einmal tief ein, dann bemerkte ich, dass ich bereits zehn Minuten zu spät für Philosophie war, fluchend rannte ich zu Haus A. Das kam bestimmt gut an, in der ersten Stunde Philosophie schon gleich verspätet auf zu tauchen, ganz toll!
Der Tag ging dann ganz vernehmlich und ohne weitere Unannehmlichkeiten über die Bühne. Mam war noch bei der Arbeit, als ich ins Haus trat. Deshalb machte ich mir weder die Mühe etwas zu kochen, noch hatte ich Lust auf meine Hausaufgaben, die konnten bis heute Abend warten. Nein, ich brauchte frische Luft um diesen beschissenen Tag aus meinem Kopf zu bekommen. Deshalb schlüpfte ich in meine Sportsachen und joggte eine Zeit lang planlos durch die grüne Landschaft.
Als ich zwei Stunden später wieder in die angenehme kühle Temperatur des Hauses trat, wusste ich bereits, nachdem ich einen Schritt über die Schwelle getan hatte, das Mam heute einer ihrer schlechten Tage hatte. Ihre Tasche lag wahllos auf dem Treter. Ich pflückte sie seufzend vom Boden und legte sie auf die weise Couch. Dann eilte ich hinauf in den zweiten Stock. Und dann hörte ich bereits das Schlucksen meiner aufgelösten Mutter. Geschwind war ich in ihrem großen hellen Zimmer, in dem sie auf ihrem Bett saß und vor sich hin weinte. Ich umarmte sie von hinten sanft und setzte mich schweigend hinter sie. Sie begann noch lauter zu weinen und ihr Körper schüttelte sich dabei. Nach einer Weile schlief sie müde in meinem Arm ein und ich deckte sie vorsichtig mit dem Laken zu, dann verließ ich traurig das Zimmer und ging in meines um mir frische Sachen zu schnappen. Nach der Dusche setzte ich mich unten ins Wohnzimmer und las für die Schule Romeo und Julia, doch ich schaffte gerade mal zwei Auftritte, als ich auch schon einschlief.

 

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 3

 

Ein lautes Poltern ließ mich von einer Sekunde zur nächsten aufschrecken. Kerzengerade saß ich umhüllt von einer Decke auf dem weisen, neue Sofa. Seltsam, dass es so gemütlich war, normalerweise mussten Sofas erst richtig alt sein, um gemütlich zu wirken. Zu meiner Überraschung hingegen, musste ich wohl gestern Abend hier eingenickt sein. Und meine Mutter hatte mich wohl zu gedeckt. Und wo wir gerade bei meiner Mutter waren, sie rannte wie eine Irre polternd die Treppe hinunter und rauschte am Wohnzimmer vorbei in die Küche, währenddessen schrie sie: „Wir sind zu spät, Mia. Zieh dich rasch an!“ Ich verdrehte die Augen, Mam übertrieb bestimmt mal wieder. Schon seit Jahren kam sie immer wieder mit dieser Masche um meinen Bruder und mich morgens aus dem Bett zu kriegen. Aber als ich meinen Blick über die Wohnzimmeruhr streifen ließ, war ich urplötzlich hell wach und sprang hektisch die Treppen zu meinem Zimmer hinauf, es war bereits viertel vor acht, um acht begann der Unterricht und ich würde garantiert zu spät kommen, aber hallo. Und wenn meine Mutter mich mit einem Düsenjet zur Schule bringen würde. Noch schlimmer war es denke ich mal für Mam, immerhin hatte sie ihren Job noch nicht all zu lange. Oben in meinem Zimmer angekommen schnappte ich mir eine Jeans und eine weise Bluse, schön neutral und auffällig war mein Motto. Heute morgen bestand mein Waschen darin, mir kurz Wasser ins Gesicht zu klatschen und meine Zähne mit Zahnpasta auszuspülen, dann warf ich meine Schulsachen wüst in meine Tasche, wohl wissend, dass ich in der kurzen Zeit kaum meine ganzen Sachen mit nehmen würde, die Hälfte lag bestimmt noch verteilt im Zimmer herum. Dann hetzte ich mit einem Kamm die Treppe hinunter und entwischte noch schnell aus der bereits zu fallenden Haustür. Mam stieg bereits in den Wagen und ich sprang schnell hinein und dann fuhr sie auch schon rasch auf die Straße und gab Gas, während ich mein Haar rasch etwas in manierliche Struktur brachte. Ganz gelang mir das aber nicht, seufzend warf ich den Kamm auf die Rückbank und als ich endlich Zeit hatte kurz Luft zu holen, fiel mir, auf dass ich gar keine Schuhe an hatte, ich war Barfuss!
Ich fluchte und Mam begann leise zu Glucksen, als sie erkannte, worüber ich mich ärgerte. Einerseits war ich wirklich froh, dass es ihr besser ging, ich hatte mich schon auf eine schweigende in sich gekehrte Mutter eingestellt. Anderseits jedoch fand ich die Situation überhaupt nicht komisch, wie sah dass denn aus? Barfuss zur Schule gehen? Zum Glück hatten Mam und ich letzte Woche Samstag uns die Fußnägel angepinselt und schön gemacht, so dass ich mich nicht ganz schämen musste, aber trotzdem. Wer ging schon Barfuss zur Schule, auch wenn es bereits heute morgen richtig heiß war und ich unsere Klimaanlage im Auto schätzte.
Griesgrämig sprang ich aus dem Wagen, als meine Mutter vor der Schule immer noch Glucksend anhielt und sprintete mit nackten Füßen über den Schulhof, der wie leer gefegt war. Der Unterricht musste nun schon seit einigen Minuten begonnen haben. Ich preschte ins Oberstufengebäude und hetzte die lange Treppe hinauf. Oben angekommen rannte ich auf meinen Deutschraum zu, der sich am Ende des breiten Flures befand. Ich eilte an einer Abzweigung vorbei und blickte ohne genau darüber nach zu denken nach links, wo ein anderer Flur angrenzte. Auf dem Flur hielten sich vor einem weiteren Raum Dreizehnklässler auf und unter ihnen befand sich dieser Typ namens Josch. Er war einfach die Wucht. Äußerlich, kein Wunder, dass ihm alle zu Füßen lagen. Was dachte ich da eigentlich, war ich nicht mehr ganz dicht? Natürlich sah er gut aus und konnte mit seinem Charme alle bezaubern, aber ich wusste, dass solche Sorte von Männern immer Arschlöcher waren und auch bleiben würden. Sie waren arrogant und selbstsicher, frech und überheblich. Während ich zu meinem Raum preschte, hing mein Blick weiterhin auf seiner Gestalt, ich konnte zwar alles nicht genau erkennen, erstens rauschte ich vorbei, zweitens waren sie zu weit weg, doch schien es so als unterhielten sie sich, jedenfalls hatten sie mich nicht bemerkt und darüber war ich nur zu froh. Noch mal eine Auseinadersetzung wie gestern musste heute wirklich nicht auf meinem Tagesplan stehen. Während ich seine Gestalt besah und zu meinem Raum strebte, viel mir ein ziemlich blöder Vergleich ein. Dieser Josch war wie ein Tier im Zoo. Solange man die Tiere hinter Gittern beobachten konnte, hier war es die Entfernung, solange waren sie echt faszinierend und niedlich. Aber auf freier Wildbahn, würde man einen Tiger wohl lieber nicht in die Quere kommen wollen.
Während ich also diesen arroganten Angeber mit einem Tier verglich, hatte ich nicht gemerkt, dass aus dem rechts einmündeten Flur eine weitere Person eilte und so stießen wir prompt ineinander und hielten uns gerade noch aneinander fest so dass wir unser Gleichgewicht wieder finden konnte. „Hupps“, rutschte aus mir heraus und ich blickte in zwei helle blaue Augen, die mich lächelnd betrachteten. Zu diesen netten Augen gehörte ein hoch gewachsener hell blonder Junge, der mich verschmitzt anschaute, während wir uns gegenseitig wieder ins Gleichgewicht brachten. Ich spürte seine Hände an meiner Hüfte und ich meine Hand an seiner, als wir nach etwas Torkeln endlich zur Ruhe kamen. „Tut mir Leid, ich war wohl zu schnell unterwegs“, meinte er immer noch leicht außer Atem. Auch er schien es eilig gehabt zu haben, vermutlich hatte er wie ich verpennt. „Schon okay“, brachte ich heraus und ließ ihn endlich los. Meine Güte, natürlich, der Unterricht. Für einen Moment hatte ich den völlig vergessen. „Bist du okay?“, fragte er und musterte mich besorgt. Ich torkelte leicht rückwärts und eilte Richtung meinem Deutschraum: „Alles okay“, meinte ich und erreichte endlich den Raum. Ängstlich klopfte ich an und schlüpfte dann in den Raum. „Schuldigung, hab verschlafen“, nuschelte ich unter den aufmerksam gewordenen Blicken der Schüler. Frau Berthold machte schweigend eine Handbewegung, dass ich mich hinsetzen sollte und kommentierte mein Verspäten nicht, wie es vielleicht einige anderen Lehrer getan hätten. Dankbar setzte ich mich neben Sara, die mich neugierig anblickte, doch ich gab ihr zu verstehen, dass ich noch her mir ihr darüber reden würde aber nicht jetzt.

Als die Schulglocke zur Pause klingelte packten wir unsere Sachen ein und machten uns auf den Weg hinaus, das schöne Wetter musste genossen werden. Sara, Hilary, Ina und ich legten uns etwas abseits auf die Wiese unter einen Baum, der nur leicht Schatten spendete. Inas Klopf lag auf meinem Schoß, während meiner auf Hilarys lag und Hilary ihren auf Saras legte. Sara wiederum lehnte am Stamm des Baumes und blätterte in der Schülerzeitung herum, die gerade von eifrigen jungen Schülern auf dem Schulhof verteilt wurde. „Wusstet ihr, dass Vic sich gestern Abend beim Fußballspiel gegen die Nix sein Bein gebrochen hat“, berichtete Sara ungläubig und las gespannt in der Zeitung. „Was für ein Weltuntergang“, seufzte Hilary leicht glucksend und Ina fiel mit ein. Sara blickte mich nun streng an: „was genau war eigentlich heute morgen los? Wieso bist du so spät gekommen? Hat dich einer von den Blödmännern aufgehalten?“ „Sag mal, habt ihr auch noch ein anderes Thema als diese Blödmänner?“, fragte ich und fing ein paar tadelnde Blicke auf. „Mam und ich haben verschlafen“, meinte ich dann gähnend. „Also ich stell mir immer meinen Wecker“, erklärte Ina nachdenklich. Ich wollte ungern zu geben, dass ich im Wohnzimmer eingepennt bin: „Meinen hab ich wohl überhört“, erklärte ich.
„Sagt mal, was ist eigentlich mir Rob los?“, fragte Hilary nun leicht verwirrt. Da ich den Typ nicht kannte, träumte ich weiterhin vor mich hin. „Wieso?“, hakte Ina nun schläfrig ein. „Er schaut die ganze Zeit zu uns rüber. Wer von euch ist das Luder?“, Hilary kicherte. Ich bemerkte, wie sich die anderen nun aufmerksam aufsetzten und diesen Typen betrachteten. Ich lag unberührt weiterhin mit dem Kopf auf Hilarys Schoß und überlegte, wo ich nun meine ganzen Bücher verstauen sollte, die sich zu Hause noch in mehreren geschlossenen Kartons befanden. „Seit wann schenkt uns einer dieser Typen wieder die Aufmerksamkeit?“, fragte sich Hilary verwundert.
„Leute wir müssen unbedingt mal was zusammen machen, was euch für ein paar Minuten von diesen Blödmännern ablenkt“, schlug ich nun leicht gelangweilt vor. Langsam wurde es echt nervig. Die Schülerinnen meiner alten Schule hatten sich niemals so lange über das Thema Junges ausgelassen. Oder hatte ich das nie mitbekommen, weil ich zu sehr Sorge um meinen eigenen Bruder hatte, der jeden tag eine neue Freundin angeschleppt hatte und abends immer voll gepumpt mit Alk und Drogen nach Haus zurück kehrte wenn er denn überhaupt zurückkehrte. Manchmal ging ich ihn suchen und kam ohne ihn erst um halb ein Uhr morgens zurück, ohne ihn. Schule war nebensächlich zu jener Zeit gewesen. Ich hatte wenig von meiner zehnten und elften Klasse mitbekommen, weil ich des Öfteren beinahe im Unterricht eingeschlafen bin. Vor Sorge hatte ich kaum schlafen können, vor Schmerzen, wenn er mir wehgetan hatte, nicht einmal körperlich, sondern Worte, die er mir ab und an, an den Kopf warf, waren schlimmer als die blauen Flecke gewesen.
„Wir könnten zu „Deongs“ gehen, eine kleine Tanzbar hier in der Stadt“, schlug nun Ina vor. Die anderen schienen mit ihrem Vorschlag ganz zufrieden, doch Hilary ließ sich nicht beirren: „Ich sage euch, er guckt immer noch zu uns herüber.“ Nun begannen die anderen Mädchen zu kichern: „Vielleicht hat er deinen Auftritt letzte Woche noch nicht vergessen“, gackerte Sara. Und die anderen begannen lautstark zu lachen. „Hei ich will auch mit lachen“, protestierte ich und setzte mich nun auf und mein Blick blieb an der Gruppe hängen, die etwas abseits sich unter einem anderen Baum bequem gemacht hatten. Unter ihnen war der Blonde, mit dem ich heute früh zusammen gestoßen bin. Dieser Kerl schaute auch zu uns herüber und als er meinen Blick wahrnahm, lächelte er spitzbübisch.
„Sag mal, schaut der dich die ganze Zeit an?“, Hilary rüttelte mich an der Schulter und ich blickte sie verwirrt an: „Was?“ „Na der Blonde Kerl da drüben, das ist Rob. Was läuft da zwischen euch?“, Hilary betrachtete mich aufmerksam. „Nichts“, sagte ich hastig, wie kam sie nur auf so was. „Also nach nichts sieht das aber nicht aus, so wie er dich anschaut“, bemerkte nun auch Sara glucksend. Ich warf ihr einen strengen Blick zu: „Ich weiß echt nicht, was ihr habt. Wir sind heute Morgen aus versehen ineinander gelaufen“, erklärte ich dann rasch, bevor sie sich selbst irgendeine absurde Geschichte zusammen reimten. „Na, das schien ihn wohl gefallen zu haben, er sieht immer noch rüber“, bemerkte Hilary nun ebenfalls belustigt. „Schaut da nicht die ganze Zeit hin“, zischte ich nun leicht hysterisch. Sie kicherten und schauten dann aber weg.
„Kommt, lasst uns rein gehen, die alte Henne wird nicht erfreut sein, wenn wir zu spät kommen“, meinte Hilary und wir rappelten uns auf. Henne nannten die Schüler hier Frau Hager, die etwas rund war und sich wie eine Henne bewegte, sie war unsere Geschichtslehrerein.

Die nächsten Schultage vergingen ohne weitere Problem, das lag zum einen daran, dass ich unseren Chemielehrer immer entwischte, er wollte sich erkundigen, ob ich nun jemanden gefunden hatte, der mir Nachhilfe geben konnte, Sara hatte nicht so viel Glück. Sie lief ihm buchstäblich in die Arme und hatte jetzt beinahe jeden Abend Nachhilfe bei Jost, einem begabten Mitschüler. Des weiteren lag es wohl auch daran, dass ich mich während der Pausen von meinem Schließfach fern hielt und auch den Ratschlägen meiner Freundinnen folgte und einige Orte fern blieb an denen mir Blödmänner über den Weg laufen konnten. Wie die anderen Schüler hatte ich nun gelernt, was es hieß eine Gruppe von „Coolen“ in der Schule zu haben, die ihr eigenes Territorium absteckten.
Es erleichterte jedoch meinen Schulalltag enorm, nicht mehr angst zu haben, meiner Vergangenheit über den Weg zu laufen, dafür war ich meinen neuen Freundinnen unendlich dankbar. Ich erreichte mein angestrebtes Ziel und war nun ein unsichtbares Mädchen für all die Menschen, die mir gefährlich auf allen Wegen werden konnten und hielt mich unter den schnatternden Mädchen auf, die für mich eine undurchlässige Schutzmauer vor männlichen Wesen darstellten.
So verging ein Monat, in dem ich mich in der Schule und zu Hause langsam einlebte.
Mam und ich hatten nun alle Kartons ausgepackt und unser Haus erweckte nun eine gemütliche und beinahe heimatliche Atmosphäre.
An einem Sonntagabend, der die fünfte Schulwoche auf meiner neuen Schule ankündigte, lag ich leicht geschafft auf einer Sonnenliege im Garten und las ein Buch, während die Nachmittagssonne warm auf mich nieder strahlte. Mam war mit ein paar Freundinnen Kaffee trinken, so genoss ich die Ruhe, vor dem stressigen Schultag morgen. Meine Hausaufgaben hatte ich gestern erledigte, was über meine gesellschaftlichen Bedürfnis viel aussagte. Klar hatte ich Freundinnen, aber wir hatten uns in der letzten Zeit ziemlich häufig gesehen, in der Schule und hatten uns beinahe jeden tag nach der Schule bei jemandem getroffen. Dieses Wochenende wollte Sara etwas mit ihrem schon eifersüchtigem Freund Kid machen, mit dem sie seit zwei Wochen ausging. Auch Hilary hatte sich einen gewissen Eliot geangelt und war mit ihm das Wochenende unterwegs. Und Ina, na ja, sie war ihre Oma besuchen, die etwas weiter weg wohnte.
Gähnend rappelte ich mich auf und tapste Barfuss ins Haus um mir eine kalte Cola aus dem Kühlschrank zu holen. Ich setzte sie an meinen Mund und ließ die kalte Flüssigkeit meinen Hals hinab fließen, gierig trank ich sie aus und stellte die leere Flasche in einen Korb, wo sich schon mehrere Flaschen übereinander türmten. Ich musste unbedingt einkaufen fahren. Mam hatte in letzter Zeit auch genug für ihre Arbeit zu tun und kam kaum noch zu etwas anderem. Was zum einen ganz gut war, weil ihre Trauerausbrüche jetzt immer seltener wurden, ob das ein gutes Zeichen war oder eher einen ziemlich schlimmen Trauerausbruch versprach, das wusste ich nicht. Ich konnte nur hoffen, dass sie im Moment glücklich war bei ihren neuen Freundinnen.

Und ehe ich mich versah klingelte mit Ohren betäubendem Lärm mein Wecker, der den Montag auf unsanfte Weise ankündigte.
Brummend warf ich mir ein Kissen auf mein Gesicht und als dieser verdammte Wecker immer noch weiter posaunte, warf ich mein Kissen danach. Er fiel mit einem Klirren zu Boden und endlich war es still im Zimmer.
Zufrieden legte ich mich auf die andere Seite und wollte noch ein wenig schlafen, nur ein paar Minuten.
„Mia, bist du wach?“, kam es vom Flur. Stöhnend setzte ich mich auf und kam nicht mehr drum herum mich aus dem Bett zu bewegen.
Eine viertel Stunde später, also um halb acht, saß ich gähnend in dem Wagen meiner Mutter und klickte belanglos auf den Knöpfen herum die zu dem Radio gehörten.
Mam war noch im Haus und suchte nach ihren Schuhen. Nach etwas fünf Minuten hatte sie sie wohl gefunden und eilte zum Wagen und setzte sich vor das Lenkrad und warf ihre Handtasche auf meinen Schoß. „Sie lagen unter meinem Bett“, bemerkte sie und fuhr auf die Straße.
„Tun sie das nicht immer?“, bedachte ich leicht gereizt. Meine Mutter zog die Augenbrauen hoch und warf mir einen verwunderten Blick zu.
„Schlecht gelaunt Schatz?“, ich hatte Mam von meinem Chemieproblem noch nichts erzählt, ich wollte nicht, dass sie sich über meinen Kram sorgen machte, sie hatte genug, worüber sie sich bereits den Kopf zerbrach. „Alles okay“, meinte ich und blickte schweigend aus dem Fenster. Es schien beinahe so, als würde die Sonne sie niemals mehr verabschieden wollen. Es war angenehm warm und ich hatte mir deshalb ein Top und kurze Hosen angezogen.
„Weist du, was du unbedingt brauchst?“, erkundigte sie sich mit einem hinterhältigen Grinse, das ich nicht oft zu sehen bekam. „Nein“, ich betrachtete sie neugierig. „Jemanden mit dem du mal richtig rum knutschen kannst, danach geht’s einem wirklich besser“, bekennte sie grinsend. Ich war so baff, dass ich sie eine Weile nur anstarren konnte. „Ja sicher“, ich hatte mich nun wieder etwas gefangen und klang sarkastisch. Sie hielt nun an der Schule und drehte sich zu mir herum: „Nein ehrlich, gibt es denn niemanden, der meinen hübschen Tochter verfallen ist?“ Ich verdrehte die Augen: „Das kommt davon, wenn man so viele Romanzen sich rein zieht“, bemerkte ich sarkastisch und stieg aus dem Wagen. Mam lachte und fuhr davon.
Ich schüttelte lachend den Kopf über meine Mutter und überquerte die Straße und ließ mir zeit mit dem Überqueren des Schulhofes, heute hatte ich etwas zeit.
Als ich das Oberstufengebäude erreichte trudelten bereits viele Schüler hinein. Gerade wollte ich den Flur treten, als mich jemand am Arm packte und zu einem der Bäume zog. Es war Sara und sie blickte mich verschwörerisch an: „Du glaubst nicht, was meine Ohren heute in der Frühe bereits vernommen haben“, begann sie nach Luft schnappend. „Sicher, dass ich das überhaupt wissen will“, bedachte ich und ging nun wieder Richtung Gebäude, Sara hielt ungeduldig mit mir Schritt.
„Du weist doch, dass wir nächste Woche unsere zwölfer Fahrt haben nach Attenheim“, bemerkte sie. Ja, das hatte ich leider mit bekommen und ich hatte mir das ganze Wochenende darüber den Kopf zerbrochen, wie ich dieser Fahrt entgehen konnte. Ich meine, wer wollte schon in einem abgelegen Ort wie Attenheim Urlaub machen, das war irgendwo im Hochsauerland. Wir würden wandern, Kanu fahren und schwimmen, wer wohl auf diese Idee gekommen war.
„Ist mir nicht entfallen“, meinte ich nickend und blieb vor dem Vertretungsplan stehen und las neue Infos. „Ich bin zufällig hinter zwei Motorradkerlen der Dreizehnten Klasse gegangen auf den Weg zum Schulhof und die haben ebenfalls über diesen Ausflug geredet. Glaubst du auch, was ich denke?“
Ich seufzte innerlich, sollte ich es ihr Wort für Wort aus der Nase ziehen?
„Kein Schimmer“, sagte ich und setzte mich nun wieder in Bewegung. Sie packte mich an der Schulter und blickte mich ernst an. „Unsere schönen tage dort haben sich verabschiedet Mia, capito?“ „Haben sie sich denn nicht schon mit der Info verabschiedet, wo wir diesen Urlaub machen werden?“, fragte ich sie nun leicht ärgerlich. Sie verdrehte die Augen und wir gingen weiter: „ja, das stimmt, aber da hatten wir auch nicht damit rechnen müssen, dass es noch schlimmer kommt“, sie sprach in Rätseln. Wir erreichten nun die Treppe und gingen langsam hinauf, ich wartete, dass sie weiter sprach, als sie es nicht tat, verlor ich nun die Geduld: „Spuck es aus Sara.“ Sie schien nun erfreut, dass ich endlich Interesse zeigte. „Herr Feinstrich und Frau Holp werden nicht mit fahren können, also haben sie Betreuer für die zwölf suchen müssen. Und wer bietet sich da nicht besser an, als die Schüler ein Jahrgang drüber, die ihr Abitur seit einem Monat hinter sich haben?“
Abrupt blieb ich stehen und warf ihr einen warnenden Blick zu: „Das ist echt nicht witzig Sara.“ Sie hob die Hände, als könne sie selbst nichts dafür: „ich sag nur das, was ich gehört hab.“ Fluchend setzte ich mich wieder in Bewegung und Sara schwieg bis wir Ina und Hilary erreichten, die Saras Bericht mit ebenso ernster Miene sich anhörten. „Das können die doch nicht machen!“, empörte sich Hilary lautstark. Unsere Mitschüler, die ebenfalls wartend vor unserem Matheraum warteten, blickten nun neugierig zu uns herüber. „Wollen die uns noch den Funken Spaß nehmen, den wir noch hatten, nachdem wir erfahren, wo es hin ging“, stimmte Ina nun ebenfalls zu. Herr Julien unser Mathelehrer eilte geschäftlich an uns vorbei zum Raum und schloss auf. Wir folgten ihm, nachdem die anderen Schüler nun vom dem Desaster mitbekommen hatten, wenn Hilary es wusste, dann wussten es keine Minute später alle. Deshalb war ich immer vorsichtig, was ich Hilary sagte.
Auch in Mathe konnten sich die Schüler nicht abreagieren und Herr Julien bemerkte nun, warum so eine miese Stimmung herrschte und er rief uns zur Ordnung und erklärte, dass wir überhaupt froh sein sollten, dass wir nach dem Ausfall von den Lehrern überhaupt fahren konnten.
Doch ich wusste auch, dass es viele Schüler gab, die sich darüber freuten, dass nun die dreizehner mit uns fuhren oder jedenfalls ein Teil davon. Und ich hoffte inständig, dass es nette Kerle waren.
Bevor die zwei Stunden Mathe zu enden gingen, kündigte Herr Julien an, dass nach der zehnten Stunde aller Schüler von der zwölf sich in der Mensa zusammeln hatten um das weitere für die Fahrt zu besprechen. Seufzend gingen wir aus dem Raum. „Es gibt ein paar, die freuen sich tatsächlich, dass uns die dreizehner begleiten“, brummte Hilary ungläubig. Wahrscheinlich waren es die Mädchen, dachte ich. Wie konnte man nur so oberflächlich sein?

Der Vormittag verlief ganz okay, wenn man von der schlechten Stimmung meiner Freundinnen absah. Ich hatte noch die Hoffnung, dass das alles ein Missverständnis war. Der Nachmittag hingegen hatte so einige Probleme für mich bereitgestellt.
Sara und ich standen mit den anderen Schülern vor dem Chemieraum und ich bereitete mich schon mal auf eine Standpauke von Herr Schmitz vor, immerhin hatte ich immer noch niemanden ausfindig machen können, der mit mir lernte. In den letzten Wochen war er krank gewesen und konnte deshalb mich nicht zur Schnecke machen, jetzt war er aber wieder da, nun ja, ich hoffte, er hatte es vergessen.
Doch als er an uns vorbeirauschte und die Tür aufschloss, lag sein Blick streng auf uns beiden. Seufzend folgten die Schüler ihm, Sara und ich eilten auf die hintersten Plätze und versuchten uns anzustrengen, was uns eigentlich ganz gut gelang. Natürlich erzielten wir bei dem versuch nicht das erwünschte Ergebnis, jedoch sprengten wir nicht beinahe den Raum in Luft, was wirklich schon ein Fortschritt war.
Am Ende der Stunde eilten die Schüler aus dem Raum und Sara und ich folgten schnell, doch Herr Schmitz pfiff uns zurück. Er blickte uns sehr streng an: „Ich habe gehört, dass sie Fortschritte machen Sara, sehr gut. Jost hat sie sehr gelobt. Sie dürfen also gehen“, Sara warf mir einen aufmunternden Blick zu und verschwand. Sehr nett wirklich, wie konnte sie mich nur mit diesem Kerl alleine lassen?
Er betrachtete mich streng: „Ich habe ihnen versichert, wenn sie niemanden finden, der ihnen hilft, werde ich das übernehmen und das werde ich.“ Somit öffnete er die Chemietür und rief: „Wollt ihr heute vielleicht noch erscheinen?“ Mein herz sank in die Hose, als ich nun checkte, wer hier jetzt unterricht hatte. Nicht gut, gar nicht gut.
Herr Schmitz wendete sich mir nun zu, während die Dreizehnklässler nun hinein kamen und sich lautstark über die Tische hinweg unterhielten uns ich auf einem Stuhl nieder ließen. „Hören sie, einer dieser intelligenten Gehirne hier, wird sich schon bereit erklären. Kommen sie nach der zehnten Stunde noch mal kurz vorbei“, sagte er und endlich konnte ich verschwinden. Ich passierte gerade die Tür, als mir jemand entgegen kam. Der jemand war durchschnittlich groß für einen jungen Mann, hatte schwarzes Haar, das strähnig über seine blauen Augen fiel. Er trug ein kurzes graues T-Shirt und eine Jogginghose. Ich trat vor der Tür zur Seite und blickte hinaus, er ging schweigend und mit einer Ruhe an mir vorbei, die mir der Atem nahm. Unglaublich wie gelassen und gleichzeitig aufreizend er sich bewegte. Leicht benebelt schritt ich aus dem Raum und eilte zu Philosophie. Ich bemerkte, dass ich die ganze Zeit meinen Atem angehalten hatte, was war bloß los mit mir? Seit wann reagierte ich so auf einen Jungen? Seit wann brachte mich überhaupt etwas aus dem Konzept?
Die letzten zwei Stunden vergingen wie im Flug, wie so vieles, wenn einem etwas Unangenehmes bevorsteht. Sara, Ina und Hilary quatschten die ganze Zeit, wir trennten uns auf dem Schulhof, sie gingen zur Kantine zum Treffen, während ich leider noch mal bei Herrn Schmitz vorbei schauen musste, während ich also zu Haus C eilte, hoffte ich, dass er ein nettes Mädchen für mich ausgesucht hatte. Aber wenn ich mich Recht erinnerte, war kein einziges Mädchen in der dreizehn in Chemie gewesen. Mit klopfendem Herzen betete ich also dafür, dass es jeder x beliebige nette Junge sein durfte, außer einen bestimmten und na ja seinen Kumpels.
Ich erreichte den Chemieraum, drinnen herrschte Stille, also klopfte ich kurz an und öffnete zögernd die Tür. Als ich hinein blicken konnte, hätte ich die Tür am liebsten wieder zu geschlagen. Genau, was hielt mich eigentlich davon ab? Ich hatte gar nicht bemerkt, dass meine Hand immer noch verkrampft an der Türklinge lag und ich wie erstarrt auf der Türschwelle stand. „Ach da sind sie ja, Mia. Kommen sie rein“, lächelte Herr Schmitz überglücklich, dass er jemanden gefunden hatte, der sich anbot einem zwölfer Schüler in Chemie zu helfen. Aber mir war nicht mehr zu helfen im Moment suchte ich vergeblich nach einer Tür in meinem Geist, hinter der ich mich verkriechen konnte. Ich trat ein, obwohl ich meinen Beinen den Befehl nicht direkt zu kommen lassen hatte. „Mia, das ist Jonasch, er wird dich wieder auf Fordermann bringen. Ehe du dich versiehst, bist du ein Chemieass, er ist der beste Schüler, den ich je hatte. Es hatte zwar eine Weile gedauert, bis ich ihn davon überzeugen konnte, einem Lieblingsschüler von mir aus der Patsche zu helfen, aber er hat sich dann doch überreden lassen“, plapperte er ungehalten und strahlte Jonasch, so hieß er also wirklich, an, der überraschenderweise lächelte. „Hallo, du bist also Mia?“, seine Stimme klang tief, dunkel und gleichzeitig wirklich warm. Diese Kombination verwirrte mich umso mehr. Um nicht wie ein Trottel da zu stehen, riss ich mich zusammen: „Das bin ich.“ Ich blickte sicherheitshalber Herr Schmitz an: „Herr Schmitz ich müsste los, wir haben noch ein Treffen in der Mensa wegen der Fahrt“, bemerkte ich. „Oh ja, geht nur“, entzückt ging er in den Nebenraum und ließ uns alleine zurück. „Ich muss los“, wiederholte ich und schaute ihn nicht an, sondern eilte zur Tür. „Ich muss zufällig auch zum Treffen“, bemerkte der Kerl leicht belustigt und schritt ruhig neben mir her: „Außerdem müssen wir noch eine Uhrzeit ausmachen, wann wir uns morgen in der Bibliothek zum Lernen treffen.“
Ich blickte gerade aus: „Ich hab morgen nach der zehnten aus“, meinte ich.
„Trifft sich gut, ich auch“, sagte er, ich hörte ein Lachen heraus und blickte ihn von der Seite an. Von nahem sah er unheimlich aus, also nicht wie ein Monster oder so, er war nur unglaublich männlich und schön. Das war einfach ungewöhnlich, er war ungewöhnlich. „Also um halb fünf in der Bibliothek?“, nun schaute er mich lächelnd an, sein Kopf zur Seite geneigt. Erinnerte er sich nicht mehr an mich? Musste er nicht wütend sein? „ich denke das ist okay“, brachte ich heraus.
Ich vernahm ein leises bezauberndes Lachen: „ja das denke ich auch.“ Endlich erreichten wir die Mensa und ich eilte rasch zu meinen Freundinnen.

Um halb sieben stieg ich aus dem Zug und machte mich durch die Kleinstadt auf dem Heimweg. Das Treffen hatte unsere Befürchtungen bestätigt, sechs Dreizehnklässler würden mit fahren und unsere Aufsichtsperson darstellen. Außer Josch, bestand die Truppe aus Chris, dem Freund von Josch, Rob, mit dem ich vor einem Monat zusammen gestoßen war, Ed, Daven und Alexandra. Na ja wenigstens ein Mädchen.
Während ich durch die dunkle Stadt lief dachte ich über die Ereignisse des Tages nach. Josch konnte also auch nett sein, was mich nicht einmal überrascht, obwohl es mich das nach meinen Erfahrungen mit ihm eigentlich sollte. Aber irgendwie hatte ich schon die ganze Zeit gewusst, dass in ihm noch eine Seite steckte, die einfach nicht nur ungewöhnlich schön war, sondern bezaubernd. Ich schüttelte meinen Kopf, was für Gedanken. Doch auch heute Abend beim Treffen hatte er sich verantwortungsvoll gezeigt, als sei er ein Mann, der auf verzogene Kinder acht geben konnte. Er hatte wirklich vertrauenswürdige Worte in dem Mund genommen und uns versprochen, dass es ein wunderschöner Urlaub werden würde.

Am nächsten morgen war ich leicht nervös, Mam bemerkte es zwar, sagte doch nichts. Ich konnte jedoch an ihrem Lächeln erkennen, dass sie sich ihren Teil dachte. Und im Moment war mir das lieber, als über meine wirren Gedanken zu reden.
Pünktlich begann der Unterricht und das angenehme luftige Wetter bescherte uns alle Freunde, als wir in der Mittagspause draußen auf der Wiese lagen und über belanglose Dinge redeten. „Wen hat Herr Schmitz nun eigentlich für dich ausgesucht?“, erkundigte sich Sara nun nebenbei. Als ich schwieg blickte sie mich mitleidig an: „So schlimm?“ „Kommt drauf an“, brummte ich.
Nun blickten mich die Mädchen abwartend an: „ich sage nur ein Wort. „Josch““, sagte ich. Die anderen schnappten nach Luft. Hilary schien völlig baff: „Josch gibt Nachhilfe? Seit wann das denn? Ich kenne viele Mädchen die ihn schon darum gebeten haben und immer hat er abgelehnt.“ Ich zuckte mit den Schultern, die anderen betrachteten mich musternd: „Wie genau hast du es vor sich auf seine Worte zu konzentrieren, wenn er so einen ungemein tollen Body hat?“, fragte sich Sara kichernd. „Darüber hat sie sich bestimmt keine Gedanken gemacht, so wie ich sie kenne“, lachte nun auch Hilary. Ich warf ihr einen finsteren Blick zu: „Glaubst du ich bin blind? Natürlich sehe ich, dass er unheimlich gut aussieht, aber ich denke, dass ich viel von ihm lernen könnte.“ Nun kicherten die Mädchen: „Fragt sich nur was. Ich hab gehört er kann unheimlich gut küssen“, bemerkte Ina mit hoch rotem Kopf.
„Ihr seid unmöglich“, meinte ich und nun begannen sie lautstark zu lachen und wir balgten uns auf der Wiese. Ich konnte nicht lange auf sie böse sein und stürzte mich auf die glucksend Sara, während siech Hilary Ina vornahm.
Als wir uns wieder etwas beruhigten hatten, richteten wir unsere Haare zu Recht. Was sich bei meinem langen lockigen Haar schwer gestaltete. Sara kicherte weiterhin: „Wenn du es von ihm gelernt hast, dann bring es doch auch mir bei, ja?“ Eine Weile versuchte ich ihre Worte zu verstehen, als mir dann dämmerte, was sie gemeint hatte, weil sie grinste. „Unglaublich“, meinte ich und richtete mich auf und klopfte Gras von meiner Jeans. Die anderen taten es mir gleich und wir gingen wieder ins Gebäude.

Nach der zehnten Stunde machte mich schnell fort, um den blöden Sprüchen meiner Freundinnen zu entgehen. Die Bibliothek lag im zweiten Stock von Haus C und war nicht besonders groß, besaß aber mehrere kleine gemütliche Räume mit Regalen und alten Tischen mit Stühlen, wo man ungestört lernen konnte. Oben angekommen ging ich an der Bibliothekarin vorbei, die am Eingang vor einer kleinen Theke stand und mich leise begrüßte. Hier oben war es angenehm kühl, eine Gänsehaut bildete sich auf meiner Haut. Fragt sich nur, ob das von der frischen Luft kam oder von was anderem. Lieber nicht dran denken, beruhigte ich mich. Doch ich musste an Saras blöden Kommentar denken. Aber ich war mir sicher, dass ich mich davor nicht fürchten musste, weil ich weder sein Typ war, noch umgekehrt. Er war einfach unglaublich gut aussehend und angesagt und ich war halt ich, und das war gut so.

Ich blickte in jeden einzelnen kleinen Raum, bis ich den letzten erreichte, der noch kleiner als die anderen sieben war. Es passten drei Anainder gereihten Regale hinein, in denen sehr alte Bücher standen. Ein kleiner Tisch stand vor einem Fenster. Drum herum standen zwei Stühle, auf einem saß er, seine Aufmerksamkeit auf ein Buch in seiner hand gerichtet. Unglaublich, dass er sich auf so was tatsächlich eingelassen hatte. Ich wusste nicht, wie ich mich bemerkbar machen sollte ohne ihn zu erschrecken: „Setz dich“, erklang eine dunkle Stimme, er blickte leicht grinsend von dem Buch auf. Ich ließ mir nicht anmerken, dass ich überrascht war, dass er mich ohne aufschauen bemerkt hatte.
Ich setzte mich auf den Stuhl gegenüber und packte meine Chemiesachen aus. „Die brauchst du heute nicht“, meinte er, während er mir den Rücken zu gekehrt hatte um das Buch in einem der Regale im sitzen zu verstauen.
Stirn runzelnd hielt ich in der Bewegung inne, meine Sache heraus zu holen, er blickte mich nun offen an. Ohne dass ich es kontrollieren konnte, flatterte wie blöd mein Herz. Er legte seine Hände verschränkt auf den Tisch und betrachtete mich, als suche er etwas Bestimmtes in meinen Augen: „ich hab Beziehungen und hab mir deine anderen Noten angesehen“, sagte er dann. Ich war baff, wie kam er denn dazu? „Ich denke nicht, oder genauer gesagt weis ich, dass es nicht am Lernen liegt, dass du es in Chemie, Physik und Mathe nicht schaffst“, klärte er überzeugt.
Ich zog die Augenbraue hoch und blickte etwas zur Seite, ich war total geschafft, dass sein ganzes Ich mich total außer Gefecht setzte. Normalerweise wäre ich bei so etwas nie ruhig geblieben, immerhin hat er sich ohne meine Erlaubnis meine Zeugnisse angesehen, wahrscheinlich hatte er sogar ein Blick auf meine Akte geworfen, aber ich hatte angst, ich könnte nur ein Stottern heraus bringen.
Ich schluckte und zwang mich dazu ihn anzusehen und dabei ruhig zu atmen: „Was genau willst du damit sagen?“ Er lächelte nett und betrachtete mich weiterhin, als wolle er in meinen Augen lesen: „Lehrer achten auf deine Leistungen, ihnen ist es egal, was für Beweggründe dich dazu bringen eine gute oder schlechte Note zu schreiben. Um dich also fit machen zu können, müssen wir ganz am Anfang deiner Geschichte beginnen“, erklärte er ruhig. „Anfang meiner Geschichte“, wiederholte ich und ich wusste, dass der Anfang wahrscheinlich das Problem verbarg, doch wollte ich das bestimmt nicht zu geben. „Der Anfang“, er nickte ruhig, ich spürte seinen Blick auf mir ruhen. „Um also den Haken an der Geschichte zu finden, müsstest du offen zu mir sein“, stellte er ruhig klar. Ich blickte auf, direkt in seine Augen: „Das kann ich nicht“, sagte ich ernst. Ich sah, dass er nicht überrascht schien, er nickte: „hab ich mir gedacht. Also lass mich erst offen zu dir sein.“ Nun war ich perplex, was meinte er damit?
„Komm mit“, er stand auf und schulterte seine Schultasche. Ich folgte ihm verwirrt. Wir kamen an der Bibliothekarin vorbei, die Josch einen schmachtenden Blick zu warf, mich beachtete sie nicht.
Er ging die Treppe hinunter und ich folgte ich. Erst, als wir Richtung Parkplatz liefen, zwang ich mich etwas zu sagen: „Wo wollen wir hin?“ „Ich will dir was zeigen, steig ein“, meinte er und sprang in einen gelben Sportwagen. Ich blieb stehen und blickte den Wagen misstrauisch an. „Mia komm schon.“ Ich atmete tief ein und stieg ein.
Er fuhr vom Parkplatz, während ich mich fragte, was nur mit mir los war.
War ich wie die anderen Mädchen seinem, Charme verfallen? Wie konnte ich mich nur in sein Wagen setzen.
„Hör zu, Josch oder Janosch, wie du auch immer genannt werden willst“, begann ich. Er blickte zu mir herüber: „Ich bin echt nicht eines von den Mädchen, die sich einfach in deinen Wagen setzen und ab geht die Post. Sag mir bitte, wo du hin willst.“ „Ich bevorzuge Josch“, setzte er an, leicht belustigt: „Und keine Bange, ich werde dich nicht verführen, ich habe vor dir etwas zu zeigen, das ich bisher niemandem anderes anvertraut habe. Ich hoffe damit, dein vertrauen vielleicht zu erlangen. Denn nur so kann ich dir aus deiner Schulkrise helfen.“
Ganz ehrlich, die Logik der Junges hatte ich noch nie verstanden, aber seine noch weniger. „Okay“, ich zog es ungläubig in die Länge. „Außerdem bist du nicht mein Typ, also keine angst, ich werde nicht über dich her fallen, wie dir das vielleicht deine Freundinnen verklickern wollen“, bemerkte er belustigt.
Ich errötete, niemals würde ich denken, er stehe auf jemanden wie mich: „Das hatte ich auch niemals gedacht, sonst wäre ich nicht in die Bibliothek gekommen. Du bist übrigens auch nicht mein Typ“, bemerkte ich ernst. Erst lachte er leicht, doch bei meinem Satz, schien ihm plötzlich das lachen im Mund stecken zu bleiben. Ich bemerkte seinen Blick, der mich verwundert musterte: „Das ist neu für mich“, bedachte er ernst. „Das kann ich mir vorstellen“, sagte ich und grinste etwas. Er fiel mit ein und eine angenehme Stille legte sich.
„Auf was für Typen stehst du denn?“, fragte er nun. „Auf keine“, antwortete ich ernst. Nun schien er ehrlich verblüfft: „Bist du…“, ich musste leise lachen: „Das hättest du wohl nicht gedacht, was?“, innerlich beschimpfte ich mich, dass ich ihn anlog, doch ich hatte mir ein gutes Ausweichmanöver ausdenken müssen.
Ich schaute ihn aus dem Augenwinkel an, er schien nachdenklich, dann meinte er: „Ich hab wirklich gedacht jede Frau auf den ersten Blick richtig einschätzen zu können“, meinte er. „Das kann niemand“, entgegnete ich sicher. „ich dachte, du seiest so ne Jungfrau, die sich ihr erstes Mal mit jemanden wünscht, der dich auch später heiratet und so“, bekannte er kopf schüttelnd. Ich versuchte weiterhin das Spiel mit zu spielen, obwohl ich nicht aus dem Staunen heraus kam. Er war unglaublich freundlich, wenn er wollte, okay mal abgesehen von dieser Bemerkung gerade.
Wir schwiegen, bis er plötzlich vor einem Friedhof halt machte und ausstieg. Überrascht stieg ich ebenfalls aus und folgte ihm auf einem schmalen Pfad, der zu einem niedrigen Eisengatter führte. Er stieg mit einer lässigen Bewegung drüber, ich tat es ihm etwas ungeschickt gleich und dann ging er direkt auf eines der kleinen Gräber zu und blieb vor einem weisen Grabstein stehen.
Ich stellte mich zögernd neben ihn und las die Inschrift: Gabriel Davids, geboren 1989, gestorben 2000.
„Wir spielten bei Grandpa in der Scheune verstecken und er fiel zehn Meter vom Heuboden in die Tiefe. Genickbruch, der Arzt sagte, er habe nichts gespürt“, erzählte Josch mit einer fremden rauen Stimme. Wir schwiegen eine Weile und blickten auf das kleine Grab, auf dem wunderschöne Blümchen wuchsen.
„War er dein Bruder?“
„Mein Zwillingsbruder“, entgegnete er und atmete tief ein. Ich bemerkte, dass er mich von der Seite anschaute. Mein Blick lag weiterhin auf dem Grab.
„Es tut mir so Leid, Josch“, versuchte ich meine Gefühle aus zu drücken, die ich gerade verspürte. „Das muss es nicht, ist jetzt beinahe zehn Jahre her. Zwar vermisse ich ihn jeden einzelnen Tag, doch das Leben geht weiter“, bekannte er ruhig.
„Ein Jahr ging ich nach diesem Unfall nicht zur Schule, deshalb bin ich ein Jahr älter als alle anderen in meinem Jahrgang“, sagte er. „Es muss schwer sein an dem Ort zu leben, der so viele Erinnerungen an einen Verstorbenen verbirgt“, immerhin konnte ich das alles sehr gut nachvollziehen. Ich spürte, dass er mich beobachtete, während er weiter sprach: „Meine Eltern, Geschwister und Freunde leben an diesem Ort, mit ihnen ist alles einfacher“, sagte er. „Hm, wahrscheinlich hast du Recht. Weg laufen ist nicht immer die beste Lösung“, überlegte ich.
„Tust du das denn? Läufst du weg?“, fragte er nun ruhig. Ich biss mir auf die Unterlippe und schaute einem Vogel zu, der sich auf eines der Grabsteine nieder gelassen hatte und sich putzte. „Ist schon okay, du musst es nicht erzählen“, meinte er dann verständlich.
„Vor einem halben Jahr starb mein großer Bruder“, begann ich nun zögernd.
Ich hatte keinen Schimmer, warum ich ihm das nun erzählte. Lag es vielleicht daran, dass wir vor dem Grab seines Zwillingsbruders standen?
„Er begann vor drei Jahren mit dem Mist Drogen zu nehmen. Plötzlich war er jemand ganz anderes, nicht mehr mein Bruder, der sich um mich kümmerte, mit dem ich Spaß hatte und über alles reden konnte. Auf einmal war da nur noch sein Körper, er selbst war gegangen. Am Anfang schien es so, als sei das nur so ne Phase. Mam und ich versuchten ihn abends immer nach Hause zu holen. Doch er blieb immer länger weg, manchmal kam er gar nicht mehr nach Hause. Mam holte ihn oft von der Polizei ab, froh, dass er wohl auf war. Wie man das auch immer bezeichnen sollte, wohl auf war er jedenfalls kein einzige Minute mehr. Zur Schule ging er nicht mehr und auch alles andere war ihm ziemlich egal.
Ab und an fiel er sogar in Ohnmacht, wir drängten ihn zu einer Therapie, doch er ging nicht darauf ein. Tja, drei lange Jahre ging das so, es wurde immer schlimmer, obwohl ich nach einer Zeit dachte, es ginge wirklich nicht mehr schlimmer. Fred hatte sich nicht mehr unter Kontrolle, rastete aus und einmal legte er unsere ganze Wohnung in Schutt und Asche, als ich von der Schule Heim kam, hatten Mam und er dann einen wirklich heftigen Streit. Ein Tag später starb er an einer Überdosis“, erzählte ich. Natürlich hatte ich nicht vor, Josch davon in Kenntnis zu setzen, dass ich dabei war, als er starb, dass ich ihn gefunden hatte und ich mit angesehen hatte, wie er leiden musste. Niemand sollte das je erfahren, denn das war einfach nur schrecklich gewesen. Wir schwiegen und starrten auf das Grab, dann machte Josch einen Schritt zurück: „Komm, lass uns gehen.“ Ich folgte ihm zurück zum Auto, als wir drinnen saßen herrschte erst mal Stille. Wahrscheinlich wusste keiner von uns beiden, was er sagen sollte. Nach unserer beider Geschichte war fiel zu verarbeiten und nach zu denken.
„Deshalb seid ihr also umgezogen“, bemerkte er nun in die Stille hinein. Ich nickte und blickte hinaus, ein leichter Wind wehte und bewegte die Weiden neben dem Friedhof, die Sonne ging unter, und war kaum noch zu sehen. Die Dunkelheit ließ nicht mehr lange auf sie warten. „Mam und ich konnten dort nicht neu anfangen, die Wohnung war nicht mehr zu bewohnen, nachdem Fred sie in Schutt und Asche geschlagen hat. Außerdem mussten wir von den Menschen weg, die uns immer bemitleidende Blicke zu warfen. An solch einem Ort konnten wir unser Leben nicht weiter leben. Also kaufte Mam ein Haus in eintausend Kilometer Entfernung.“
Ich hörte wie Josch mit den Autoschlüsseln in der hand klimperte: „Du läufst aber immer noch weg? Vor was?“ Ich fuhr mir nervös durch mein langes Haar und starrte weiterhin hinaus, der Wind wurde nun stärker. „Vor allen Dingen vor Dingen, die ich nicht selbst in der Hand habe“, sagte ich. Ich hörte sein Atem in der Stille, er ging regelmäßig, an dieses angenehme Geräusch könnte ich mich gewöhnen. Er war ganz anders, als ich gedacht hatte. Natürlich war er unglaublich gut aussehend und etwas überheblich, aber auch süß und freundlich, wenn er es darauf anlegte.
„Jeder geht mit einem Verlust anders um“, sagte er dann. Ich blickte ihn aus dem Augenwinkel an, sein Augenmerk war nach draußen gerichtet. Sein schönes schwarzes strähniges Haar war vom Wind leicht wuschelig, sein etwas gebräuntes Gesicht war kantig und selbstbewusst nach vorne gereckt.
„So ist es“, stimmte ich zu. Nun drehte er seinen Kopf in meine Richtung, seine Gesicht direkt zu mir gewendet erblickte ich leichte Sommersprossen auf seiner Nase, was ihn noch fiel unausstehlicher machte. Er war viel zu schön um war zu sein und ich war kein oberflächlicher Mensch. Seine Schönheit kam auch von Innen, was ihn umso attraktiver machte. „Was?“, fragte er nun leicht belustigt und zog eine Augenbraue hoch, während ich mein Blick abwendete. „Nichts“, sagte ich und hoffte, dass er meinen schnellen Herzschlag nicht hören konnte.
Ich hörte ihn mit der Zunge schnalzen, dann steckte er den Schlüssel ins Zündschloss und fuhr vom Parkplatz auf die Straße zurück. „Wo genau wohnst du?“, fragte er und ich erklärte es ihm. Als er vor meinem neuen Heim anhielt, packte ich nach meiner Tasche, die auf dem Rücksitz lag und meinte zu ihm, während ich aus stieg: „Du bist wirklich ganz anders, als ich vermutet habe.“ Ich hörte sein entzückendes Lachen: „Ich hoffe doch, dass das im positiven Sinne gemeint war.“ Ich schloss die Beifahrertür und hob noch mal kurz die hand, dann ging ich zur Haustür und schloss auf. Josch war bereits weg und ich lehnte mich nun mit der Stirn an die offen stehende Haustür. Meine Güte was hatte ich mich in diesem Kerl geirrt. Und es war für mich besser, wenn ich nun noch mehr darauf achtete, ihm nicht über den Weg zu laufen. Mein Herz machte bei seiner Anwesenheit Purzelbäume und das war überhaupt nicht gut. Wie konnte ich nur zu lassen, dass es das tat. Ich wusste doch nur zu gut, dass ich bei ihm nie eine Chance hatte. Er war der beliebteste, gut aussehende Typ auf der Schule, wahrscheinlich auf dem Planeten und ich halt nur ich. Aber nicht diese Tatsache ließ mein Herz schneller schlagen, sondern seine ruhige, bezaubernde Art, die Leidenschaft und Geborgenheit ausstrahlte zog mich in den Bann. Also lieber auf Abstand, dachte ich und ging nun entschlossen in die Küche und machte mir etwas zum Abendessen.
Als Mam um halb neun von der Arbeit kam, befand ich mich über der Kloschüssel gebeugt, Margendarm Grippe. Die Woche verbrachte ich also im Bett, oder genauer gesagt auf dem Teppich im Bad, weil der näher war als mein Bett. Ich fand, dass die Krankheit noch ruhig ne Woche hätte warten können, an diesem seltsamen Ausflug musste ich wirklich nicht mit machen.
Jedenfalls ging es mir am Sonntagmorgen wieder so gut, dass ich eine ganze Nacht geschlafen hatte. Als ich trotzdem gähnend in die Küche schlürfte erblickte ich einen halb nackten Mann der sich an unserer Kaffeemaschine zu schaffen machte. Er war groß, jung und außerdem trug er nur eine kurze Hose. Sein muskulöser Oberkörper war also nicht zu übersehen. Als er sich umdrehte, blickte er mich erfreut an und ich hätte am liebsten auf dem Absatz kehrt gemacht. Er konnte nicht viel älter als dreißig Jahre sein. „Hei, du bist bestimmt Mia, ich bin Jens“, er hielt mir seine linke Hand hin, weil er in der rechten zwei gefüllte Kaffeetassen balancierte. Ich beachtete seine ausgestreckte Hand nicht und starrte ihn kurz an, dann rannte ich, wie kindisch ich auch bin, wieder aus der Küche die Treppe hinauf in Mamas Zimmer, die in einem Laken gehüllt auf dem Bett lag und aus dem Fenster blickte. „Warum steht ein nackter Mann in unserer Küche?“, fragte ich und versuchte meine Stimme ruhig zu halten, während ich innerlich vor Wut beinahe zerberste. Leicht erschrocken blickte sie mich an, um die frühe Uhrzeit hatte sie mich wohl nicht auf erwartet. „Ähm Jens ist ein Arbeitskollege“, begann sie mit leicht errötender Wange.
Als ich immer noch wie versteinert vor ihrem Bett stand, kam nun der nackte Kerl hinein und setzte sich auf die andere Seite des Bettes neben Mam.
„Mia das ist Jens. Jens meine Tochter Mia“, meinte sie nervös. Jens warf mir einen Blick zu, der eine Mischung aus allem beinhaltete. Aber vor allen Dingen fühlte er sich in meiner Gegenwart in diesem Zimmer nicht Recht wohl und das war auch gut so. „Wie geht’s dir Schatz?“, versuchte Mam die Stille zu überbrücken. „Besser“, schnappte ich und verließ nun das Zimmer.
Ich dampfte in mein Zimmer, Hunger hatte ich jetzt keinen mehr, und begann nun für morgen zu packen. Jetzt konnte ich es gar nicht mehr abwarten so weit wie möglich von all dem hier weg zu sein. Was sich von einer Sekunde zur anderen verändern konnte, dachte ich. Aber das hatte ich ja auch schon vor dieser Entwicklung eben gewusst. Nicht das ich in der Illusion gelebt habe, Mam würde sich wie eine Nonne verhalten, natürlich hatte ich gewusst, dass sie sich Männer traf und auch mit ihnen schlief. Aber bisher musste ich mich damit nicht auseinander setzen, weil sie sie niemals mit nach Hause gebracht hatte. Eine stille Vereinbarung zwischen uns hatte es immer gegeben. Sie hielt ihre Männerliebschaften von mir fern und ich verhielt mich wie eine erwachsene und half ihr im Haushalt.
Das eben jedoch war allerdings gegen all unsere Abmachungen. Erstens hatte sie ihn mit nach hause gebracht, zweitens war er viel zu jung und drittens, drittens lief er halb nackt in unserer Küche herum und machte sich an der Kaffeemaschine zuschaffen, die ich gekauft hatte. Ich hätte es vielleicht noch überleben können, wenn er wenigstens anständig an gezogen gewesen wäre, aber seinen nackten Oberkörper würde ich wohl niemals vergessen. Und nicht zu vergessen, er war ihr Arbeitskollege. Außerdem hatte ich auch nicht viel mehr als ein kurzes Höschen und ein verknittertes Top getragen, von meinen anderen äußerlichen Problemen, die man morgens so hatte, mal abgesehen.
Während ich wild in meinem Kleiderschrank nach angemessener Kleidung wühlte, die man fürs Wandern, Kanu fahren und Klettern brauchte, klopfte es zaghaft an der Tür: „Schatz, kann ich rein kommen?“, erklang Mamas leise Stimme. „Nein“, antwortete ich, sie hatte ein recht auf eine ehrliche Antwort und die hatte ich ihr gegeben. Doch sie öffnete trotzdem die Tür und hob die Augenbrauen, als sie das Kleiderchaos sah, welches ich veranstaltet hatte. „Warum fragst du eigentlich, wenn du nachher sowieso das tust, was du willst?“, blaffte ich ungehalten und warf fünf paar Sportsocken in meinen bisher leeren Koffer. „Ich verstehe, dass du sauer bist“, begann sie und ich machte ein Geräusch, das nach einem tzzz und haa klang.
„Lass uns darüber reden“, schlug sie vor und begann meine Kleidung wieder ordentlich zu falten. „Ich wüsste nicht, was es da zu reden gibt, Mam. Immerhin kannst du tun und lassen was du willst in deinem Haus“, bemerkte ich kalt und warf nun fünf Sweatshirts in den Koffer. „Es ist unser Haus“, korrigierte sie mich.
„Wie du willst“, sagte ich achselzuckend und warf nun auf die Sweatshirts im Koffer zehn paar Unterhosen und vier BHs die ich mir neu zugelegt hatte. „Die kenn ich gar nicht“, bemerkte sie nun und nahm meinen schwarzen BH heraus.
„Wir haben alle unsere Geheimnisse“, meinte ich spitz und warf drei paar kurze Hosen und drei paar Jeans in den Koffer. Mam zog die Augenbrauen hoch und legte den BH zurück in den Koffer.
„Hör zu, Jens und ich werden jetzt verschwinden, irgendwo frühstücken und danach vielleicht ins Kino. Ich vermute, du willst uns nicht Gesellschaft leisten“, informierte sie mich. „Richtig vermutet“, ich stopfte noch meine Sandalen, eine blaue Regenjacke und jede menge Tops und T-Shirt in den Koffer und setzte mich dann drauf, um den Reisverschluss zu schließen. „Dann lass ich dich in Ruhe zu ende packen. Falls was ist, ruf mich am Handy an. Ich lasse Geld da, wenn du dir ne Pizza bestellen willst“, meinte sie im hinausgehen. „Ach und Hilary hat gestern Abend wieder angerufen, als du schon geschlafen hast. Sie wollte mir nicht sagen, was los ist, sie meint nur, du sollst sie anrufen. Wie auch schon die zehn Anrufe davor“, damit schloss sie die Tür und ich schloss wütend meinen Koffer.
Danach ging ich in den Flur und holte das Telefon, ich wollte Hilary nicht länger auf die Folter spannen, was auch immer sie wollte, es musste wichtig sein, weil sie die ganze Woche schon versucht hatte mich zu erreichen. Ich wählte ihre Nummer und schon nach dem ersten Piep Ton ging sie ran: „Na endlich, weist du wie schwer es ist, dich ans Telefon zu bekommen“, schimpfte sie erst mal, ohne sich mit einem höflichen hallo aufzuhalten, so war sie eben. „Tut mir Leid, war wie ans Bett gefesselt“, bekannte ich mich schuldig. „Schon okay, Schwamm drüber“, meinte sie schnell. „Wie geht’s dir?“, erkundigte sie sich nun. „Okay“, sagte ich. „Was ist los?“, ihr konnte ich wohl nichts vor machen. „Stress mit meiner Mutter“, antwortete ich knapp. „Kenn ich. Willst du vielleicht auch zu mir kommen, Sara uni na sind schon da. Wir übernachten heute bei mir und morgen früh fährt uns mein Dad zur Schule mit den Koffern“, schlug sie aufgeregt vor. Ich hörte das Gekicher der Mädchen im Hintergrund. Perfekt, dachte ich nur. Ich wollte hier so schnell wie möglich weg: „Aber unglaublich gerne, wann soll ich kommen?“, freute ich mich. „Na jetzt gleich. Du findest uns draußen im Garten, bis gleich dann“, sie legte auf und ich eilte ins Bad uns suchte meine Hygieneartikel zusammen, die ich meinem Kulturbeutel verstaute. Meine Shampoo, Duschgel etc. verstaute ich ebenfalls noch im vollen Koffer. Ich hatte noch einen älteren Rucksack in den ich ein paar Äpfel und eine Flasche Wasser für die lange Busfahrt morgen verstaute. Meine schwarze Sonnenbrille zog ich auf und dann stand ich auch schon start bereit in der Küche und trank eine Flasche Wasser leer. Mein Blick fiel auf die Magnetwand, die an der Tür hing. Schnell schrieb ich Mam eine Nachricht, dass ich bei Hilary übernachten würde. Dann schulterte ich meinen dunkel blauen Rucksack und zog meinen Trolli hinter mich her durch den Flur. Vor der Haustür standen meine Lieblingsschuhe. Eine Mischung aus Joggingschuhen und Wanderschuhen. Ich schnürte sie sorgfältig zu, blickte an meiner kurzen Jeans und dunkel blauem Top herunter, das ich mir eben noch angezogen hatte. Ich war bereit.

 

 

 

 

 

Kapitel 4

 

Natürlich schliefen wir bei Hilary nicht wirklich gut und lange. So dass Hilarys Dad uns Feuer unter dem Hintern machen musste, damit wir auch ja aufstanden. Wir lagen zu viert auf einer breiten Isomatte und als wir heute Morgen von Frank, Hilarys Dad aufgeweckt wurden, lagen wir ineinander verkeilt halb übereinander. Dieser Anblick brachte ihn zum lachen und uns um Stöhnen.

Um halb acht in der Frühe parkte Frank vor der Schule, wo bereits viele Schüler aufgeregt mit ihren Koffern bereit standen und miteinander laut redeten. Etwas gerädert stiegen wir vier aus und schulterten unsere Rucksäcke, während Hilarys Dad so nett war und unsere Koffer aus dem Kofferraum hievte.
Plötzlich stand dieser Rob neben Hilarys Vater, sie begrüßten sich herzlich, dann half er Frank die Koffer heraus heben. Als Rob meinen raus heben wollte, griff ich freundlich ein: „Schon okay, ich kann das schon“, Rob lächelte mich breit an und ließ den Griff meines Koffers bedeutungsvoll los und betrachtete mich mit hoch gezogenen Augen. Hilary, Ina und Sara gingen mit ihren Koffern bereits zu den Schülern und Frank redete mit einem älteren Lehrer, den ich nicht kannte.
Ich hob meinen Koffer unter der Beobachtung des grinsenden Typen aus dem Wagen. „Wenn ich gewusst hätte, dass du eine Feministin bist, wäre ich bestimmt nicht auf die Idee gekommen, einer jungen Frau wie dir zu helfen“, bedachte er ironisch. „Ich bin keine Feministin“, entgegnete ich leicht gereizt, was ihn nur noch mehr grinsen ließ. Er schloss den Kofferraum und lief neben mir her: „Ach nein? Dann bist du also stur?“ Ich warf ihm einen kurzen Blick zu, er schien sich echt zu amüsieren. „Vielleicht“, bekannte ich mich und er lächelte breit: „Schön, dass du mit fährst Mia, wird bestimmt witzig mit einer Feministin“, damit lies er mich in mitten der Schülermasse stehen. „Ich bin keine Feministin“, wiederholte ich grummelnd, eher zu mir selbst.
„Wer sagt das denn?“, fragte nun Hilary, die mich mit den anderen Mädchen umkreiste. Ich machte eine wegwerfende Handbewegung: „Egal, wann fahren wir los?“ „Sobald der Bus da ist“, sagte Hilary und setzte sich leicht missmutig auf ihren Koffer. Wir taten es ihr gleich, als Hilary plötzlich lachte. „Was ist?“, fragte Sara gespannt. „Ich hab nur gerade gedacht, dass es vielleicht doch gar nicht so schlecht, dass die dreizehner mit fahren. Überlegt doch mal, was können die uns schon verbieten?“ Die anderen vielen mit ein, während ich müde die anderen Schüler beobachtete. Sie standen nahe beieinander und tratschen angeregt miteinander. Jeder hatte einen Rucksack und einen Koffer bei sich. Manche trugen bereits abenteuerliche, lustige Kleidung.
Dann erblickte ich die angesagte Truppe bei den Motorradständen. Chris und Mark lehnten am Stahlzaun, der die Schule eingrenzte und Vic redete angeregt mit einer Brünetten, die in seinen haaren rum fummelte. Und Josch hielt Händchen mit seiner Blondine. Ich hatte ihn seit dem Erlebnis auf dem Friedhof nicht mehr gesehen und aufs Neue erstaunte mich seine Persönlichkeit. Ich mochte es, wie er sich bewegte, wie seine dunklen Haare etwas über die Augen fielen, wie er redete, mit einer Ruhe, die ihn umfing und nicht los zu lassen schien. Er trug eine durchlöcherte Jeans und ein schwarzes T-Shirt, das seinen schmalen und doch muskulösen Körper betonte. Ich sah, dass er ausgelassen über etwas lachte und ich fand ihn einfach nur unglaublich interessant. Er hob seine linke Hand zu seinem Mund, er rauchte also. Aber das auf eine Art und Weise die verboten sein sollte. So ruhig und abgeklärt, wie überhaupt alles was er machte.
„Alles okay bei dir, Mia?“, riss mich Hilary nun in die Realität zurück. Erschrocken blieb mein herz stehen und ich setzte mich auf schüttelte den Kopf, um klar denken zu können. Dieser Kerl zog ich mich in den Bann, das war vollkommen neu. Ich durfte ihn einfach nicht mehr ansehen.
„Mia, alles okay?“, wiederholte Hilary nochmals und rüttelte leicht meine Schulter.
„Ja ja, alles okay, muss wohl beinahe eingepennt sein“, stotterte ich leicht.
„So könnte man das auch nennen“, klang Saras Stimme belustigt. Ich blickte sie an, sie schaute zu der Truppe hinüber, die ich eben gemustert hatte.
„Sag nicht, dass du dich in Josch verknallt hast, Mia“, schnallte nun Hilary. Leicht geschockt, dass es wohl so offensichtlich war, wo ich eben hin geschaut hatte, schüttelte ich heftig den Kopf: „So ein Quatsch. Er ist nicht mein Typ.“ Während ich das sagte, korrigierte ich Hilarys Wortwahl, verknallt sein traf es nicht. Verknallt war man von zwölf bis sechzehn Jahre, oder wenn man von jemandem schwärmte. Aber was ich fühlte, wenn er in der Nähe war, das war was ganz anderes, ich wusste nur nicht genau was es war und ich wollte es auch gar nicht raus finden, weil ich mir schon denken konnte, was das war. Ina verdrehte die Augen: „Jedes noch anständige Mädchen findet Josch toll, dafür brauch sich niemand schämen, auch du nicht Mia.“
Ich wollte ihr gerade etwas entgegnen, als auch schon der Bus vor uns hielt, und die Schüler nach vorne drängten. Als wir so in der Masse gedrängt waren, viel mir auf, dass beinahe nur Junges aus unserem Jahrgang mit fuhren und da wir kein besonders großer Jahrgang waren, zählte ich gerade mal mit uns vier, zehn Mädchen. Wo waren denn die anderen alle hin? Die hatten sich doch nicht alle krank gemeldet oder? Hilary warf ihren Koffer vor die Füße des Busfahrers und quetschte sich durch die Menge um Sitze für uns zu belegen. In solch einem Fall war Hilarys Durchsetzungsvermögen echt klar im Vorteil. Nach einer Zeit erreichten wir die hinterste Bank des Busses, die Hilary frei hielt. Wir setzten uns zu viert nebeneinander und Hilary begann mit Ben zu streiten, der mit seinen Kumpels die hinterste Bank belegen wollte. Tja, Hilary war schneller gewesen. Der Streit ging so weit, dass Ben nun mit der Faust drohte und Hilary wohl auf ihn gesprungen wäre, wenn Alexandra nicht eingegriffen hätte: „Schluss jetzt, Ben setz dich mit den anderen auf die noch freien Plätze. Es sind nur dreißig Schüler mit gefahren, dann wirst du bestimmt noch einen Platz für dich und deine Freunde finden.“
Ben blickte sie von oben herab an, sie war um einiges kleiner, als unser Klassenclown. „Und warum sollte ich auf dich hören?“ Alexandra wollte gerade etwas erwidern, als plötzlich eine zweite Person sich einmischte: „Ben du setzt dich jetzt sofort auf deine vier Buchstaben, ansonsten kannst du gleich wieder aus steigen, verstanden?“ Josch stand ein paar Sitze weiter vorne im Gang und blickte Ben streng an. Dieser grummelte etwas vor sich hin und setzte sich mit seinen Junges nach vorne. „Das wäre nicht nötig gewesen, Josch, aber trotzdem danke“, sagte Alexandra und ging mit ihm wieder nach vorne. Wir vier hatten schweigend zu gesehen, wie der sonst großmäulige Ben sich von Josch zu Recht weisen ließ.
„Na, also ich würde sagen, langweilig wird uns nicht werden, wir haben ja so einige schöne Körper zu bewundern“, sagte Sara kichernd.
Ich verdrehte die Augen und lehnte mich an die Fensterscheibe und blickte hinaus. Nun setzte sich der klappernde Bus in Bewegung. Wir hatten nicht einmal einen modern eingerichteten Bus für die lange Fahr zur Verfügung gestellt bekommen. Ich meine, wenn man schon ans Ende der Welt fuhr, durfte man dann nicht einmal darauf hoffen, eine angenehme Fahrt zu haben?
Der Bus klapperte leise vor sich hin und hatte eine einschlafende Wirkung auf mich. Meine Freundinnen quatschten über die bevorstehenden sieben Tage, die wir damit zu bringen würden an steilen Bergen hoch zu klettern, durch das Nichts zu wandern und Kanu zu fahren. Ich nickte leicht ein und vernahm die lauten Stimmen nur noch im Hintergrund. Dann schlief ich letztendlich doch ein und nahm um mich herum nichts mehr war.
Ich lief lachend über ein hohes Feld, drehte mich in erschwindelnder Geschwindigkeit um mich selbst und ließ mich ausgelassen ins Gras fallen. Ich blickte auf, zu ihm.
Plötzlich wurde ich an den Schulter gerüttelt und ich wachte leicht benommen auf. „Mia, dein Handy. Himmel! Sag mal, du kriegst auch gar nichts mit, wenn du schläfst. Neben dir könnte wahrscheinlich ne Dampflok vorbei fahren und du würdest vergnügt weiter schlafen“, ereiferte sich Hilary. Verwirrt tastete ich in meinem Rucksack nach meinem immer lauter werdenden Handy. Einige neugierige Köpfe drehten sich bereits zu uns herum. Schnell nahm ich an: „Wie kannst du einfach weg fahren ohne mir bescheid zu geben“, erzürnte sich meine Mutter am anderen Ende. „Mam, ich sitze gerade im Bus, im Moment ganz schlecht“, bemerkte ich tonlos. „Ich hab mir Sorgen gemacht, du weist, dass hatten wir schon mal, dass mit den nicht nach Hause kommen, ich musste mich wieder daran erinnern und hab Panik bekommen“, sagte sie mitgenommen. „Schon okay, es ist alles okay, tut mir Leid Mam, aber ich musste einfach weg“, beruhigte ich sie. „Bitte mach das nicht noch mal mit mir“, bat sie und wünschte mir eine schöne Woche. Ich sollte sie anrufen, wenn wir ankommen. Ich beteuerte ihr, dass ich mich melden würde und warf das Handy zurück in meinen Rucksack.
„Deine Mutter“, erkundigte sich Ina, ich nickte und wir lehnten uns wieder gemütlich aneinander.
Ein lautes knacksen kam aus den Lautsprechern über uns: „Wir werden jetzt ne halbe Stunde Pause auf einer Raststätte machen. Bleibt in Gruppen zusammen und seid wieder pünktlich am Bus“, verkündigte Chris.
„Der hat echt ne sexy Stimme“, begeisterte sich Sara verträumt. „Oh Mann Sara, müssen wir deine Schwärmereien jetzt die ganze Zeit aushalten?“, meinte Hilary gespielt gereizt. Sara lächelte und blickte mich an: „Also ich fand es sehr interessant Mia beim Reden zuzuhören, während sie schlief. War sehr informativ.“
Ich bekam beinahe einen Herzstillstand, was redete sie da? Hatte ich etwas im Schlaf geredet? „Das war nun ein Witz“, lachte sie nun und die anderen vielen mit ein. „Du hättest mal dein Gesicht sehen müssen, Mia“, lachte Hilary. Einige Köpfe fuhren zu uns herum, während wir lautstark kicherten.
Der Bus fuhr von der Autobahn ab und hielt vor einer großen Raststätte, in der viel los war. Wir vier warteten bis alle anderen ausgestiegen waren, das war halt der Nachteil, wenn man ganz hinten saß, aber den nahmen wir gerne in Kauf.
Endlich befanden wir uns an der frischen Luft und machten uns auf den Weg zur Raststätte. Drinnen gab es Mittagessen und wir setzten uns an einen noch freien Tisch etwas in der Ecke und Hilary ging zur Theke und bestellte vier mal Kaffee, essen war nicht so unser Ding, weil wir ja noch ne ganze Weile im Bus sitzen würden.
Vielen unterschiedliche Menschen gingen ein uns aus, es gab das kleine Kaffe in der Raststätte, ein Markt, den man auf einer Tankstelle immer auffand. „Glaubst du Ashley vermisst ihren Josch schon“, fragte Ina nun und blickte nach rechts. Dort saßen die sechs an einem Tisch, jeder hatte vor sich eine Tasse Kaffee. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen ihn nicht mehr an zu schauen, aber nachdem ich erst mal in seine Richtung geschaut habe, konnte ich meinen Blick nicht mehr abwenden. Sie redeten gut gelaunt mit einander.
„Ich muss Alexandra was fragen“, sagte Hilary und stand auf und ging auf den Tisch zu, an dem die sechs Jugendlichen saßen, die für die nächsten acht Tage unsere Teamer sein würden. „Was muss sie denn mit Alexandra bereden?“, fragte Sara nun neugierig. Ich zuckte mit den Schulter und stand auf: „Ich geh mal auf die Toilette.“
Ich verlief mich ein paar Mal, bis ich endlich die Frauentoilette fand.
Gähnend wusch ich mir mit kaltem Wasser die Hände und klatschte mir Wasser ins Gesicht. Ich betrachtete mich in dem kaputten Spiegel kritisch. Konnte man so jemanden wie mich gern haben? Ich war nicht besonders braun, besaß beinahe schwarze Haare, die lockig meine Rücken hinab fielen. Meine Wangen waren leicht ausgeprägt, ich besaß eine kleine Nase, wie auch die kleinen Ohren. Meine Augen waren dunkel braun. Bevor jemand wie Josch mich interessant finden würde, würde ich eher im Lotto gewinnen. Und im Lotto zu gewinnen, das war unmöglich, jedenfalls für die Menschen wie mich, die überhaupt kein Lotto spielten.
Ich weiß, ich besitze eine sehr ausgeprägte Logik, ich musste über mein Gesicht bitter lachen. „Werde erst mal erwachsen“, wies ich mich zu Recht und trat mit gesenktem Kopf aus der Damentoilette. Ich hatte keine Lust, zu meinen gut gelaunten Freundinnen zurück zu kehren und eilte schnell aus der Raststätte an die frische Luft. Ich setzte gerade an, zum Bus zu gehen, als mich eine dunkle Stimme davon abhielt: „Auch wenn ich nicht gerade dein Typ bin, musst du mich nicht ignorieren“, erklang eine Männerstimme amüsiert. Ich drehte meinen Kopf nach rechts, dort stand Josch und rauchte auf seine ruhige Art eine Zigarette: „Hab dich nicht gesehen“, meinte ich und bemerkte, wie mein Herz anfing zu flattern. Er lächelte schief und blickte mich direkt an: „Das wiederum sollte mich überraschen, es passiert nicht oft, dass mich jemand so einfach übersieht.“ Er wusste also zu gut, wie er auf Frauen wirkte. „Wenn du vor hast begafft zu werden, leg doch ne kleine Dose vor deine Füße, vielleicht wirft man dir das Geld zu“, meinte ich sarkastisch und verschränkte meine Arme vor der Brust. Er grinste umso breiter, ich konnte ihm nicht länger in die Augen schauen und blickte mich hier draußen um. Einige Familien mit Kindern eilten in die Raststätte, junge Menschen kamen vorbei und kamen nicht umher Josch bewundert an zu gaffen, wie schon gesagt, er würde bestimmt jede Menge Geld verdienen, so als Statur.
„Wenn du mich dann bemerkst würde ich das bestimmt tun. Wirfst du mir dann auch etwas Geld zu?“, fragte er rau lachend. „Eher nicht“, bekannte ich steif.
Er betrachtete mich nun schweigend, während er ruhig an seiner Zigarette zog.
Mir war das unangenehm, dass er einem so offen musterte: „Lass das“, nahm ich meinen ganzen Mut zusammen. Er durfte schon wissen, dass er mich mit seinen Blicken nicht so attackieren konnte. Nun schmunzelte er wieder: „Du bist vielleicht leicht beseidet.“ „Quatsch, ich will einfach nur nicht wie eine Puppe gemustert werden“, entgegnete ich nun leicht gereizt. „Aber bist du das nicht, eine Puppe?“, er bedachte mich mit einem Blick, der mir der Atem nahm. Kein Sarkasmus noch Ironie lag darin, sondern eine Wärme, die mir die Röte ins Gesicht schießen ließ.
„Nein du Hornochse“, schnappte ich und marschierte zum Bus. Schon wieder diese Puppengeschichte. Wie kam dieser Blödmann auf die Idee, ich sei eine Puppe?
Vor dem Bus standen einige Junges und jaulten lachend, wahrscheinlich hatten sie wieder irgendwelche Dummheiten im Sinn. Ich setzte mich auf den Bordstein etwas abseits und betrachtete den Boden. Die Sonne schien heiß auf uns nieder.
„Hei, wo sind deine Freundinnen“, erkundigte sich eine andere etwas hellere Männerstimme. Rob setzte sich lächelnd neben mich. „Kaffee trinken, müssten jeden Moment kommen“, antwortete ich immer noch leicht gereizt.
„Schau mal, magst du?“, er hielt mir eine Tafel Schokolade hin, die bereits angebrochen war. „Sehr gerne“, meinte ich nun etwas besser gelaunt.
Er brach mir etwas ab und ich nahm es dankbar an. „Ich freue mich schon auf die Klettertouren“, gab er gut gelaunt zu und blickte mich gut gelaunt an. „Ich würde dich anlügen, wenn ich dir nun zu stimme“, erklärte ich und er lachte.
„Was hast du gegen Klettern?“, hakte er neugierig nach. „Abgesehen von der Höhe?“, fragte ich nun schmunzelnd. Mit Rob zu reden, war so einfach.
„Abgesehen davon“, meinte er. „Diese engen Schuhe, die man dafür tragen muss“, bemerkte ich. „Du bist schon mal geklettert?“
„Bis ich in die zehnte Klasse kam haben wir das beinahe jedes Jahr mit der Familie gemacht“, gestand ich.
„Warum hast du aufgehört?“
Ich blickte zu Boden und meinte dann: „Hat mit der Zeit nicht mehr hin gehauen.“
Wahrscheinlich hatte Rob gemerkt, dass ich darauf nicht genauer drauf eingehen wollte, denn er ließ es gut sein.
„Sag mal was hältst du davon, in meine Klettergruppe zu kommen. Chris, Josch, Alexandra, Daven, Ed und ich teilen euch jeweils immer zu fünft ein“, erklärte er. Ich lächelte: „Das würde ich gerne, aber wir Freundinnen würden gerne in eine Gruppe“, klärte ich. „Das wird bestimmt klappen“, meinte er zuversichtlich.
Wir saßen schweigend nebeneinander und beobachteten die anderen, die langsam zum Bus zurückkehrten. Als die drei Mädchen dann zu mir liefen machten sie große Augen, weil Rob sich mit mir gut gelaunt unterhielt.
Wir stiegen wieder in den Bus und ich bemerkte die neugierigen Blicke, die sie mir zu warfen. Als sich der Bus wieder in Bewegung setzte, flüsterte Hilary geheimnisvoll: „Was läuft da zwischen dir und Rob? Und jetzt sag nicht wieder, dass ich mir das einbilde, ich sehe doch, wie er dich anschaut.“
Ich verdrehte die Augen: „Da läuft nichts, wir haben uns nur unterhalten“, flüsterte ich. Nun war es an ihr die Augen zu verdrehen: „Sag mal bist du blind, Mia? Der steht auf dich!“, sagte sie nun lauter. Ich blickte rasch auf, aber niemand schien es gehört zu haben, die Lautstärke im Bus trug wohl zum größten Teil dazu bei.
„Schrei es doch gleich durch die Gegend“, zischte nun auch Sara vorwurfsvoll Hilary an. „Ich finde nur, Mia sollte langsam mal die Augen öffnen“, beschwerte sich Hilary. „Dass ist ihre Sache“, entgegnete nun auch Ina. Hilary zuckte mit den Achseln und spielte für die nächsten zwei Stunden die beleidigte Leberwurst.
Währenddessen herrschte im Bus eine Lautstärke, die die eindeutige Mehrzahl von Junges verdeutlichte. Die sechs anderen Mädchen saßen direkt vor uns und verhielten sich ziemlich still, mit ihnen hatte ich generell eigentlich nichts zu tun in der Schule, doch schienen sie glaub ich ganz nett zu sein. Die zwanzig Junges hingegen mussten des Öfteren gezeigt bekommen, wo die Grenzen waren. Und das übernahm entweder Josch oder Chris. „Jack, wenn du dich jetzt nicht etwas erwachsener verhältst, kannst du an der nächsten Raststätte aussteigen und dich von da abholen lassen“, stutzte Josch nun einen Jungen ein paar Reihen vor uns zurecht, der mit Gummibärchen durch die Gegend warf und immer einen lockeren Spruch auf dem Mund lag. „Geht klar“, sagte dieser nun ernst, Josch warf ihm einen warnenden Blick zu, der bei mir mal wieder Magenflattern bewirkte. Nicht, dass dieser Blick liebevoll war, aber er verdeutlichte die Kraft, die in Josch steckte.
Ich blickte wieder in mein Buch und versuchte nicht an diesen Kerl zu denken, was mir nach einer Zeit auch gelang, mehr oder weniger.
Ich nickte während ich las ein und mein buch fiel mir blöderweise aus der Hand. Als ich nach einigen Minuten wieder zu mir kam, suchte ich danach. Aber es lag weder unter dem Sitz noch auf dem Sitz. „Habt ihr mein Buch irgendwo herum liegen sehen“, erkundigte ich mich nun bei meinen Freundinnen, die zu dritt die Bravo lasen. Sie schüttelten den Kopf und ich fragte die Mädchen vor uns, doch auch die schüttelten den Kopf. Seufzend stand ich auf und ging langsam durch den gang und fragte jeden einzelnen. Als ich bei Ben angelangt war, wusste ich bereits, dass er hatte, weil er dümmlich grinste, als ich ihn nach dem Buch fragte. „Was gibst du mir dafür?“, fragte er und warf mir einen seiner Scanblicke zu. „Ähm nichts, es gehört mir“, und beachtete sein Blick erst gar nicht. Sonst hätte ich mich wahrscheinlich nur aufgeregt. „Wie wär’s mit einer schnellen Nummer in der nächsten Pause?“, fragte er geheimnisvoll. Ich versuchte mich wirklich nicht auf zu regen, aber langsam strapazierte er meine Nerven, die sowieso schon blank lagen: „Jetzt gib mir schon mein Buch Ben“, ich klang nun leicht gereizt. Was ihn nur noch mehr dazu anstachelte, mich auf die Palme zu bringen. „Okay, wie wär’s mit einem Kuss?“
„Du bekommst gleich was ganz anderes“, meinte ich Zähne knirschend.
„Mia setz dich wieder auf deinen Platz“, kommandierte Alexandra, die nun neben mich getreten war. „Habe ich vor, nachdem dieser Blödmann mir mein buch gibt“, entgegnete ich. „Ben gib Mia wieder ihr Buch und verhalt dich für die nächsten paar Stunden mal nicht ganz so kindisch“, sagte Alexandra.
„Erst will ich einen Kuss“, erwiderte dieser und betrachtete mich anzüglich. „Träum weiter“, keifte ich. „Ben gib ihr jetzt sofort das Buch“, wiederholte Alexandra nun ungeduldig. Auch sie machte sein dämliches Geschwafel langsam wütend. Willkommen im Club. „Süße, von dir lass ich mir gar nichts sagen“, meinte Ben.
Ich sah, wie Alexandra nach Luft schnappte, dann drehte sie sich um und ging. Super, echt toll und mein buch hatte ich immer noch nicht. „Bringen wir es doch einfach hinter uns, Kleine. Gib mir einen Kuss und du bekommst dein Buch.“
„Eher küss ich einen Frosch, als dich zu küssen“, entgegnete ich angeekelt.
Was bildete er sich eigentlich ein? „Ben, ich gebe dir zehn Sekunden in der du Mia ihr Buch zurückgibst, ansonsten war es das für dich, die nächste Raststätte wird deine sein“, verkündete eine dunkle Stimme neben mir. Ich zuckte merklich zusammen, als ich Josch nun sah, der neben mir stand und Ben streng anschaute.
Ben brummte etwas vor sich hin und kramte in seiner Tasche nach dem Buch und gibt es mir mit einem nun anzüglichem Blick: „Du wirst es noch bereuen mich nicht geküsst zu haben, Prinzessin.“ Ich lief rot an, weil Josch immer noch neben mir stand: „Wohl eher nicht“, meinte ich patzig und nahm ihm mein Buch ab.
„Wenn ich noch eine Beschwerde über dich höre, Ben, dann wirst du zurück fahren, haben wir uns verstanden?“, stellte Josch klar, während ich zurück zu meinem Platz ging.
Was Ben darauf erwiderte hörte ich nicht, denn ich setzte mich zu meinem Platz zurück und schlug mein buch auf und was ich darin fand, war wohl ein Scherz.
Auf vielen Seiten wurde mit rotem Filsstift herum gekrickelt. Wo waren wir denn hier, im Kindergarten? Dieser Blödmann hatte mein Lieblingsbuch voll gemalt. „Ist alle okay, Mia?“, erkundigte sich nun Ina, die neben mir saß. „Du hast ein ganz weißes Gesicht.“ Und das nicht umsonst, dachte ich. Das Buch war ein Geschenk von meinem Bruder gewesen, zum fünfzehnten Geburtstag, an diesem Tag hatte er mal keine Drogen genommen und wir hatten einen schönen tag miteinander verbracht. Es war der schönste Geburtstag in meinem Leben gewesen.
„Ich bring ihn um“, zischte ich und versuchte weiterhin ruhig zu atmen.
„Wen?“, hakte Hilary nun neugierig nach. „Ben, ich bring ihn um“, wiederholte ich und stand auf und ging durch den Gang zu Ben. Vor seinem Sitz blieb ich stehen und hielt ihm mein Buch vor die Nase: „Sag mir nur einen Grund, warum du so etwas schreckliches tun solltest, bevor du stirbst“, knurrte ich. Zuerst grinste er, als er jedoch meine ernste Miene sah, lachte er: „meine Güte, Prinzessin, das ist nur ein Buch. Wenn du willst, dann kauf ich dir ein neues.“ Eigentlich wollte ich nicht schreien, aber dieser Mistkerl brachte mich dazu: „Das ist nicht nur ein Buch, das ist das Buch! Ich habe nicht erwartet, dass du Hohlkopf irgendetwas über wertvolle Dinge weist, aber so was, so was niederträchtiges ist mir noch nie widerfahren, noch nie!“, brüllte ich, mein Atem ging schnell und ich bemerkte, wie meine Augen Tränflüssigkeit bildeten, die ich mit dem Arm schnell weg wischte. Nun lachte Ben nicht mehr, es schien ihm beinahe peinlich, dass nun alle Köpfe zu uns herum gefahren waren.
„ich sagte doch bereits, dass ich dir ein neues kaufe, wenn es dir so wichtig ist“, bemerkte er. Ich lachte zynisch: „Wenn du nur einmal vorne hinein geschaut hättest, dann hättest du vielleicht bemerkt, dass das ein Einzelxemplar ist, so etwas findet man nicht in jedem x beliebigen Bücherladen du Idiot“, zischte ich.
„Was ist hier schon wieder los?“, erklang Joschs Stimme von der Seite. Nun war ich so aufgebracht, dass ich nicht einmal zusammen schreckte, sondern Ben weiterhin erzürnt anstarrte. Wieder versuchten meine Augen Tränen zu produzieren, doch ich hielt verbissen dagegen.
„Meine Güte, ich hab ja nicht gewusst, dass sie solch einen Aufstand wegen einem alten Buch macht. Ich hab ihr ein paar Mal schon versichert, dass ich ihr ein neues kaufe“, erklärte Ben nun auch aufgebracht. „Und ich sage dir nun zum tausendsten Mal(ich übertrieb etwas, um meine Entrüstung kund zu tun), dass man nicht alles ersetzen kann, du Arsch“, knallte ich ihm zornig an den Kopf.
„Was hast du mit dem Buch gemacht?“, fragte Josch Ben nun ruhig. Er verdrehte die Augen: „ich hab ihr ein paar Notizen hinterlassen, damit sie es besser versteht.“ Er konnte also noch grausamer sein, seine Worte brachten mich beinahe um den Verstand. Am liebsten hätte ich auf ihn eingeschlagen und ihm die Schmerzen bereitet, die ich gerade fühlte. Ich biss die Lippen zusammen, drehte mich um und setzte mich auf meinem Platz zurück. Dann zwang ich mich ruhig ein und aus zu atmen, meine Freundinnen schwiegen besorgt. Ina nahm meine hand und drückte sie zur Beruhigung, doch mich konnte gerade nichts beruhigen. Zum Glück fuhr der Bus nun wieder auf einen Parkplatz, wo es einen Bürgerking und Mc Donalds gab.
Ich musste also lange geschlafen haben, es wurde bereits dunkel. Doch das alles interessierte mich nicht, ich steckte mein Buch in meinen Rucksack und eilte dann hinaus. Meine Freundinnenversuchten mir zu folgen, doch ich rannte auf den Mc Donalds zu und versteckte mich auf der Damentoilette, wo ich meinen Tränen dann freien Lauf lies. Wie konnte man nur so grausam sein? Was schmerzte mehr, als etwas beschädigt zu bekommen, was die einzige Erinnerung an einen geliebten Menschen darstellte? Mir fiel wirklich nicht vieles ein, was mir noch mehr wehtun könnte. Die nächste Viertelstunde hielt ich mich auf der Klobrille auf und versuchte keinen Racheplan gegen Ben zu schmieden. Am liebsten würde ich ihn Windelweich prügeln. Die Technik dazu besaß ich ja, immerhin hatte ich drei lange Jahre dafür trainiert, auch wenn es nicht gewollt war, so wusste ich mich zu wehren.
Nach einer Weile hatte ich mich wieder so im Griff, dass ich nicht mehr vor Wut weinen oder auf etwas einschlagen wollte. Ich stellte mich an einen der Wasserhähne und klatschte mir kaltes Wasser ins Gesicht. Tief ein atmend trat ich aus der Damentoilette und setzte mich zu meinen drei Freundinnen, die freundlicherweise etwas für mich mit bestellt hatten und mich nicht mit Fragen bedrängten. Also saßen wir schweigend am Tisch und aßen Hamburger. Ich nagte lustlos daran herum, als plötzlich Josch an unseren Tisch trat. Die Mädchen waren erstaunt, ich ignorierte ihn geflissentlich und nagte weiterhin an meinem Burger.
„Das was eben im Bus abgelaufen ist, war nicht gerade das, was man von einer beinahe erwachsenen Truppe erwartet. Wenn sich das also nicht plötzlich verändert, werden wir zurück fahren, aber das will keiner von uns. Deshalb wird sich jetzt etwas an der Sitzordnung ändern, das ist zwar Kindergartenkram, aber ihr lasst uns Teamer keine andere Wahl. Ina und Hilary, ihr sitzt zusammen, Sara, du wirst neben Erika sitzen. Und Mia, du“, es schien ihm zu missfallen, dass man ihn ignorierte: „Kannst du bitte zu hören, wenn man mit dir redet?“, er klang nun leicht gereizt. Ich legte meinen Hamburger auf den Tisch und schaute auf, aber nicht direkt in seine Augen, das brauchte ich im Moment nicht auch noch, ganz bestimmt nicht.
„Du sitzt neben Alexandra, während ich mich zu Ben setze.“ Ich zuckte mit den Schultern, stand auf und verlies einfach den Mc Donalds. Plötzlich schien mir alles keinen Sinn mehr zu machen, die Gleichgültigkeit holte mich wieder ein.
Ich sah Ben mit seinen Kumpels auf einer Bank unter einem Baum sitzen. Die Dunkelheit umhüllte die Landschaft immer mehr. Meine Füße trugen mich automatisch zu der Gruppe Junges, obwohl ich genau wusste, dass ich da jetzt nicht hin gehen sollte. „Mia, schön dass du zu uns kommst, hast du dich doch noch um entschieden?“, feixte Ben, während die anderen mich neugierig musterten. „Für was? Dass ich dich doch nicht umbringe? Tut mir Leid, dass ich dich enttäuschen muss, Ben.“ Die Junges jaulten nun lachend, doch ich fragte mich, wie lange noch.
Ben stand von der Bank auf und schlenderte auf mich zu, er versuchte wie eine Raubkatze aus zusehen, sollte ich ihm sagen, dass ihm das nicht gelang, sondern einfach nur bescheuert aussah? „Aber vielleicht küsst du mich zum Abschied, danach kannst du tun und lassen was du willst“, meinte er und blieb direkt vor mir stehen. „Du widerst mich an“, zischte ich. „Wir haben alle unsere Probleme, Schätzchen. Und ich muss zu geben, du bist auch nicht gerade mein Geschmack, aber man nimmt, was man kriegen kann.“
Ich blitzte ihn an und nun war der Moment gekommen, in dem ich ihn gerne eine verpasst hätte, aber Josch schien den Riecher zu haben, wo es Probleme gibt, oder aber er war mir gefolgt, wie auch immer. Jedenfalls stand er urplötzlich neben mir: „Ihr benehmt euch wie Kleinkinder. Ben ich hab dir eben schon die Leviten gelesen und dich gewarnt. Wenn du meine Worte nicht für voll nimmst, frage ich mich, ob ich dich nicht davon überzeugen sollte, dass ich mein Versprechen wahr mache und du unverzüglich nach Hause fährst. Und du“, nun wandte er sich mir zu. Mein Atem ging immer noch schnell, vor Zorn, im Moment war ich so geladen, dass mir ein zwei Stunden Lauf gut getan hätte: „Komm mit“, er packte mich beim Ellenbogen und zog mich autoritär von den Junges weg.
„Willst du dich umbringen?“, zischte er nun wütend. „Was glaubst du, was die mit dir gemacht hätten?“ Wir standen nun sowohl etwas weiter von den Junges, als auch vom Bus entfernt. Ich entriss mich aus seinem Griff an meinem Ellebogen und machte einen Schritt zurück: „Ich bleib freiwillig hier, ich werde nicht weiter mit fahren“, sagte ich fest und schaute zu Boden. Meine Arme vor der Brust verschränkt. Mein Körper zitterte leicht, ob vor Kälte oder innerlichen Schmerzen, wohl von beiden etwas. „Red keinen Stuss, und beruhig dich erst einmal. Das sind Idioten, ich versteh nicht, warum du dich so über sie aufregst“, sagte er nun zuvorkommender.
Ich machte meine Hand zu einer Faust: „Er hat mein Buch zerstört, das Buch, das einzige Erinnerungsstück meines Bruders. Weist du, wie weh das tut, so etwas wertvolles zerstört zu bekommen, es ist gerade so, als sei mein Bruder noch mal vor meinen Füßen gestorben“, meine Stimme brach und ich wischte mit meinem Arm geschwind ein paar Tränen weg. Stille, ich hörte seinen Atem, er ging leicht unregelmäßig. „Vor deinen Füßen?“, wiederholte er nun vorsichtig. Nun bemerkte ich, was ich da gerade eben von mir gegeben hatte. Ich schaute auf und blaue Augen blickten ungläubig in meine: „Ich hab ihn sterben sehen, okay? Ich hab gesehen, wie er gelitten hat, ich war bei ihm, niemand weis das, niemand sollte das je erfahren“, flüsterte ich zitternd. Wieder Stille und dann trat Josch vor mich, so nah, dass ich seine Körperwärme spürte: „Es tut mir Leid Mia, dass du das mit erleben musstest, dass muss schlimm gewesen sein. Aber du musst darüber sprechen, sonst wird es dich immer weiter verfolgen. Und das Buch, das ist nur ein weiteres Erinnerungsstück, es sollte nicht das Verbindungsstück zu deinem Bruder sein, das ist es bestimmt nicht“, vorsichtig legte er seine Hände auf meine Schulter. Ich spürte seinen warmen Atem auf meinem Gesicht, ich hatte meinen Blick gesenkt und versuchte nun langsam zu Atmen, die eben noch bestehende Wut verging langsam und Erschöpfung machte sich in mir breit: „Du musst nicht so nett zu mir sein“, flüsterte ich. Ich hörte ein leises dunkles Lachen, was mir Gänsehaut bescherte: „Vielleicht muss ich das nicht, aber ich möchte es.“
Ich schaute auf, in seine Augen, die mich verständnisvoll anschauten: „Du musst dich nicht dafür bestrafen, dass du lebst und dein Bruder mit elf gestorben ist“, sagte ich dann. „Er hätte nicht gewollt, dass du leidest“, damit machte ich mich von ihm los und ging in Richtung Bus. Meine Freundinnen warteten bereits besorgt auf mich. Ich setzte mich wie gewünscht mit meinem Rucksack zu Alexandra nach vorne. Als Josch an uns vorbei ging, tat ich so, als würde ich schlafen. Mit geschlossenen Augen nahm ich wahr, dass sich der Bus wieder in Bewegung setzte.

 

Kapitel 5

 

Mitten in der Nacht gab es plötzlich einen lauten Knall. Ich schreckte aus meinem Schlaf und öffnete zum Schrei meinen Mund, doch kein Ton kam heraus. Der Bus rauschte in mörderischer Geschwindigkeit auf einen Wald zu, der aus dicken Kiefern bestand. Es ging abwärts und die Kiefern kamen immer näher. Nun schienen die Stimmen der anderen Schüler wieder zu funktionieren und ich hörte sie laut schreien. Ich blickte zum Busfahrer, der leblos auf seinem Platz saß. Alexandra schüttelte ihn, während Chris versuchte zu bremsen, er saß halb auf dem Busfahrer. Doch nichts passierte, wahrscheinlich hatte der Bus zu viel Geschwindigkeit drauf.
Ich sah, wie Josch die Leute wieder auf ihre Plätze kommandierte, damit es nicht noch mehr Chaos gab. Ich sprang auf und wollte zu meinen Freundinnen, als der Bus einen Satz machte und noch einen zahn zulegte, weil es noch steiler den Abhang hinunter ging. Ich stolperte und hielt mich an einem Sitz fest. Als ich aufschaute, begegneten unsere Blicke sich. Josch schrie: „Mia, setz dich wieder hin“, doch ich versuchte zu meinen Freundinnen zu gelangen, die schrieen.
Ich wurde am Arm gepackt und zurück auf meinen Platz gesetzt. Als ich aufblickte, schaute ich direkt in seine Augen und dann ging alles schnell. Der Bus überschlug sich und das Gebrüll von jungen Menschen hallte durch den Bus. Ich griff noch in aller letzten Sekunde nach Joschs Hand und zog ihn neben mich auf den Sitz, als der Bus sich auch schon überschlug und wir durcheinander purzelten, keiner hatte sich angeschnallt, was wohl auch nicht viel gebracht hätte. Ich knallte im Dunklen gegen etwas Hartes, ich wollte schreien, doch ich konnte nicht, ich konnte nichts mehr. Ich sah nichts mehr, ich hörte nichts mehr, alles war so unwirklich. Ich spürte keinen Schmerz, meine Hand hielt etwas Warmes krampfhaft fest.
Der Bus überschlug sich immer schneller, der Hang wurde immer steiler und plötzlich stieß er der Länge nach gegen Widerstand und stille legte sich über das Gefährt, in dem sich mehr als dreißig Menschen befanden. Ich glaubte, ich fiel in ein schwarzes Loch und dann, dann schien nichts mehr zu existieren.

Ich hörte Getuschel, schmeckte etwas Eisiges auf meinen Lippen und fühlte mich wie betäubt. Als ich die Augen öffnete, drehte sich alles und mir war richtig übel. Deshalb blieb ich so verrenkt erstmal liegen.
Das nächste Mal, als ich erwachte, vernahm ich nun eine einzelne Stimme. Ich öffnete meine Augen, es drehte sich zwar nichts, aber mir war richtig übel. Ich starrte nach oben, oder war es unten? Nun fiel mir wieder ein, was passiert war und versuchte mich leicht aufzurichten. Nach einiger Anstrengung und unter Schmerzen schaffte ich es. Was ich zu sehen bekam, konnte man mit einem Schlachtfeld vergleichen. Mein Mund stand offen und am liebsten hätte ich mich übergeben. Überall Blut und mehr, ich kniff die Augen zu und versuchte den Brechreiz zu unterdrücken. „Mia? Lebst du?“, erklang die Stimme von Hilary. Ich nickte nur. „Hör zu, einige Leben noch, wir müssen sie hier raus schaffen, bevor die Kiefer nachgibt und wir in die Schlucht stürzen.“
Diese Worte ließen es nicht zu, weiterhin die Augen geschlossen zu halten. Ich öffnete die Augen und blickte in Hilarys, die sich an einem Sitz neben mir fest hielt und mich durch dringend anschaute: „Was wir jetzt tun, Mia, ist das Leben unserer Mitschüler zu retten. Was du zusehen bekommst, muss du für kurze Zeit ausblenden, du musst, verstanden? Nur so können wir die Lebenden rechtzeitig retten. Bist du dabei?“ Ich biss mir auf die blutende Lippe und nickte.
Hilary war blass, ebenfalls voller Blut, doch sie sah entschlossen aus: „Steh auf, wir haben nicht viel Zeit und beweg dich so vorsichtig wie möglich.“ Mit ihrer Hilfe stand ich mit leicht zitternden Beinen im schief liegenden Bus und öffnete meine Augen, ich blendete die blutenden Körper aus und nahm nun wahr, dass meine Hand immer noch etwas fest hielt. Ich blickte herab und fiel kraftlos auf die Knie. Dort lag Josch, ich war davon überzeugt, dass er tot war, sein Körper war voller Blut und ich hörte ihn nicht atmen. Ich legte zwei Finger auf seinen Puls am Hals und mein Herz machte Sprünge, als ich einen Puls wahrnahm: „Er lebt noch“, sagte ich und mit Hilarys Hilfe begannen wir ihn vorsichtig durch ein zerbrochenes Fenster hinaus zu transportieren. Wir legten ihn auf die Wiese und Hilary zog mich zurück zu dem Bus, ich konnte nur hoffen, dass er weiter atmete. Ich versuchte all die schrecklichen Bilder aus zu blenden und fühlte jeden einzelnen Puls zweimal um sicher zu gehen. Doch bisher hatte ich kein Glück, ich versuchte aus zu blenden, dass das Menschen waren, dass ich den Puls meiner Mitschüler überprüfte. Ich stieg über die leblosen Körper und biss mir auf die Lippen um nicht los zu schreien. Als Hilary mich zu sich rief. Sie hielt Sara in den Armen, ich schaute Hilary abwartend an, als sie den Kopf schüttelte, musste ich sie dazu bringen, weiter nach überlebenden zu suchen. Ich konnte kaum noch atmen, wir fanden auch Ina, aber auch ihr konnte man nicht mehr helfen. Während wir weiter nach Überlebenden suchten betete ich zu Gott, er solle uns die nötige Kraft geben die Lebenden noch rechtzeitig zu bergen. Am liebsten hätte ich darum gebeten, alles ungeschehen zu machen.
„Rob lebt noch“, rief Hilary mit gebrochener Stimme und wir transportierten ihn mit all unserer vorhandenen Kraft aus dem Bus und legten ihn neben Josch, dessen Puls ich mit klopfendem herzen überprüfte, doch er ging weiterhin, zwar etwas langsam, aber er hatte einen. Rob wachte zwar nicht auf, aber Hilary glaubte, dass er KO war.
Wir eilten zum Bus zurück und ich blendete all das Leid aus und suchte weiter. Wir transportierten Ben, sein Kumpel Jack und zwei von den Mädchen noch hinaus. Jedes Mal überprüften wir den Puls der anderen, wenn wir auf der Wiese waren. Rob war nun wach, er konnte sich zwar kaum bewegen, doch er überprüfte nun den Puls der Überlebenden außerhalb des Busses, während wir mit zittrigen Knien wieder ins den Bus kletterten und nach weiteren Lebenden suchten. Chris, Ed und Dave konnten wir noch bergen, aber alle anderen waren tot. Wir überprüften es noch mal und nahmen dann unsere Taschen mit, wer weiß, wie lange es dauern würde, bis man uns findet in dieser Einöde. Dann endlich mussten wir nicht mehr zurück in den Bus, der so viele schreckliche Bilder bereithielt. Wir schleppten uns gerade erschöpft und ausgelaugt den Hang hinauf zu den anderen, als es ein ohrenbetäubender Lärm gab und die Kiefer unter dem Gewicht des Busses nachgab und mit samt Bus in die Tiefe stürzte. Es haute uns von den Füßen und wir starrten hinab, die Schlucht war so tief, dass man den Bus nicht erblicken konnte. Und dann nahmen wir uns in den Arm und begannen leise und mit zitterndem Körper zu weinen.
Nach einer Weile rafften wir uns auf und gingen zu den Überlebenden, die nun unsere Hilfe benötigten. Als ich sah, wie Rob Joschs Herz massierte, rannte ich die letzten Meter zu ihm: „Was ist?“, fragte ich hysterisch. „Er hatte plötzlich keinen Puls mehr“, berichtete Rob mit brüchiger Stimme. Ich wischte seine Hand weg und begann Joschs Herz zu massieren und flößte ihm durch die Nase immer nach dreißig hieben Luft durch die Nase. „Durch den Mund, ansonsten bringt das nicht viel“, schrie Hilary, die sich um Chris kümmerte, der nun zu sich kam, während Rob die anderen überprüfte.
Ich sprang über meinen Schatten und flößte ihm nun durch die Lunge Luft zu. Nach einer Ewigkeit begann er endlich alleine zu atmen, und als ich mir sicher, war, dass er zurück war, brach ich erschöpft neben ihm zusammen und weinte leise.
Mir tat alles weh, als wären meine Glieder gebrochen, mein Atem ging schwer.
„Hier, deck ihn damit zu“, Hilary klopfte mir auf die Schulter. Ich nahm ohne zu fragen, wo sie die her hatte, die Decke und breitete sie über Joschs Körper aus.
Ich hab versucht den Notruf, Polizei oder Feuerwehr zu erreichen, hier ist kein Empfang“, erklärte Rob, während ich Josch sorgfältig zu deckte und er weiterhin den Puls der anderen überprüfte.
„Mia komm her, wir müssen sie nacheinander verarzten. Ich hab zwei erste Hilfe Koffer aus dem Bus holen können“, sagte sie und hier mir den einen hin. Ich nahm ihn an und kramte nach Verbandzeug. „Da wir kein sterileres Wasser haben, müssen wir hoffen, dass sich die Wunden mit normalem Wasser nicht all zu entzünden“, meinte Hilary nun geschäftsmäßig. Irgendwann würde sie vor Erschöpfung wahrscheinlich um fallen, aber bis dahin würde sie helfen, das stand fest.
Während ich zuerst Joschs tiefe Schnittwunde an der Wange nähte, zum Glück hatte ich da bei meinem Bruder schon etwas Erfahrung gesammelt. Vorsichtig machte ich den letzten Stich und reinigte die Wunde dann mit sterilem Wattestäbchen.
Gut, dass wir uns vorher mit Wasser unsere Hände gewaschen hatten. Mehr Bakterien brauchten wir hier wirklich nicht.
„Komm schon, Mia“, sie zog mich Arm von Josch weg und verarzten alle anderen auch. Ich nähte wunden, während sie verband. Als alle so gut wie eben möglich versorgt waren prüften Chris und Rob jeweils zwei Pulse, während Hilary und ich einen jeweils einen übernahmen. Ich saß neben Josch und betrachtete die ganze Zeit, sein nun nicht mehr blutende Schnittwunde. Sein Atem ging nun regelmäßig, zwar noch etwas schwach, aber ich glaubte, dass er über dem Berg war.
Hilary setzte sich müde neben mich und blickte Josch an, der eine friedliche Miene auf seinem Gesicht trug, während er immer noch nicht wach war. „Keine Ahnung, wie wir ihnen beibringen sollen, was passiert ist“, sagte Hilary nun.
„Ich weis es auch nicht“, flüsterte ich und strich zärtlich eine Strähne aus Joschs Gesicht. „Sara hatte also Recht, nicht wahr?“, Hilarys Stimme brach bei dem Namen unserer nun toten Freundin. Tränen liefen mir nun über die Wangen, ich konnte sie nicht länger zurück halten. „Ich bin nicht in ihn verknallt“, entgegnete ich. Hilary wollte gerade etwas sagen, doch ich kam ihr zuvor: „Es ist mehr als das.“
Wir schwiegen, immer mehr Tränen kullerten aus meinen Augen, Hilary nahm mich in den Arm und wir wogen uns beruhigend hin und her. Wir hörten wie Chris leise mit Rob sprach, doch wir hielten uns in den Armen und wollten nicht an die schrecklichen Bilder denken, die uns niemals mehr los lassen würden.

Es vergingen Stunden, bis sie alle nacheinander zu sich kamen und gleich darauf anfingen zu weinen, nachdem wir ihnen erzählten, was geschehen war. Die zwei Mädchen wachten zuerst auf, beinahe gleichzeitig und übergaben sich, nachdem sie uns mit Fragen überhäuften. Danach erwachte Ben, der nach unserem Bericht für ein paar Sekunden ohnmächtig ging. Die nun Wachen halfen uns über die anderen zu wachen, auch wenn sie schwach waren. Dave und Jack wachten ein paar Minuten später auf. Ed wachte eine Stunde später auf, die Sonne stand nun warm am Himmel und Josch hatte sich noch immer nicht bewegt. Ich entfernte mich die ganze Zeit nicht von ihm. Ach als die anderen etwas zu Essen zu sich nahmen und sich gegenseitig halfen, blieb ich neben ihm sitzen und betete für ihn und dafür, dass wir schnell gefunden wurden. Stunden vergingen, Chris kam immer wieder vorbei und klopfte mir dann auf die Schulter. Ihm schien es langsam besser zu gehen.
„Er ist stark, der schafft das schon“, sagte er nun, es begann dunkel zu werden und immer noch hatte man uns nicht gefunden. „Glaubst du, sie suchen nach uns?“, fragte ich Chris, der sich neben mich setzte und seinen Kumpel besorgt betrachtete.
„Dort in der Jugendherberge müssen sie seit gestern Abend wissen, dass wir nicht angekommen sind. Sie haben bestimmt bescheid gegeben, nicht mehr lange und sie finden uns“, meinte er zuversichtlich. Mir fielen die Augen vor Erschöpfung zu, doch ich wollte nicht schlafen. Ich wollte wach bleiben und bei Josch sein, außerdem hatte ich angst davor von diesem schrecklichen Erlebnis zu träumen, die Bilder am tage in meinem Kopf reichten um mich um den Verstand zu bringen.
„Komm ruhe dich ein bisschen aus, ich pass auf Josch auf“, meinte Chris und bot mir seine Brust zum Schlafen an. Ich wollte eigentlich ablehnen, doch mir war schwindelig, ich war müde, und mir war übel von allem. Deshalb lehnte ich mich dankbar an ihn und er schlang den Arm um mich. Keine Sekunde später schlief ich ein.

Kapitel 6

 

Ich spürte eine angenehme Wärme auf mir liegen und wollte das Gefühl bei behalten, deshalb lies ich die Augen geschlossen. Aber ich erinnerte mich urplötzlich was geschehen war und schlug meine Augen auf. Ich lag im Gras und die Sonne schien auf mich herab. Immer noch war mir schwindelig und übel, als ich mich aufrichtete.
Ich schaute um mich, Rob, Ed, die zwei Mädchen, Hilary, Jack, Dave und Ben redeten leise miteinander. Ich saß keine zwei Meter neben ihnen und sie nickten mir zu, als sie bemerkt hatten, dass ich auf wach. Ich schaute hektisch um mich, wo war Chris und vor allen Dingen wo war Josch? Was war hier los? „Wo sind die beiden?“, fragte ich mir rauer Stimme. Mein Atem ging schnell, ich hatte Halsschmerzen, am liebsten hätte ich mich übergeben, ich ging vom Schlimmsten aus.
„Sie versuchen irgendwo mit dem Handy empfang zu bekommen“, meinte Ben und hielt mir zögernd einen Apfel hin. Mein Magen knurrte zwar, aber mir so schwindelig, schlecht und gleichzeitig so voller Sorge, dass ich abwehrte und auf die Füße sprang: „Aber, gestern ging es ihm doch noch schlecht“, bemerkte ich und
betrachtete alle anderen genauer. Es ging allen gesundheitlich viel besser, als gestern.
Ich sah, wie sie einen Blick miteinander wechselten und Hilary ergriff dann das Wort: „Setz dich hin, Mia.“ Sie deutete neben sich. Verwirrt ließ ich mich mit zittrigem Knie neben ihr nieder. „Du hast ganze drei Tage geschlafen, du warst so erschöpft, dass wir dich schlafen ließen, natürlich flößten wir dir etwas Wasser ein, ansonsten wärst du verdurstet.“ „Ihr habt mich drei tage lang schlafen lassen?“, ich war außer mir. „ Wir dachten uns, dass dir das nicht gefallen würde“, bemerkte Rob nun. Es nagte an Fleisch, woher hatte er das? Als er meinen Blick sah, bot er mir auch etwas an, aber ich stand auf: „Wie könnt ihr mich drei tage lang schlafen lassen haben, ihr wusstet genau, dass ich mir Sorgen machte. Ich hatte Albträume, all die grässlichen Bilder schossen mir durch den Kopf, ich hab mir sogar im Traum Sorgen gemacht, wie könnt ihr glauben so meinen Kummer zu ersticken?“, keuchte ich, ich war total geschafft, trotz den drei Tagen Schlaf. Meine Psyche machte mich fix und fertig, ich war nahe dran am durch drehen, wegen all den Bildern.
„Ich habe angeordnet, dass man dich nicht aufweckt“, erklang eine dunkle Stimme hinter mir. Ich zitterte am ganzen Körper und drehte mich vorsichtig herum. Dort etwas weiter oben am Hang stand er neben ihm Chris. Sie hielten zwei Kaninchen jeweils in der Hand und ich rannte bei dem Anblick etwas abseits zu Bäumen, wo ich mich dann übergab. Da ich ja die letzten paar tage nichts gegessen hatte, hatte ich nicht besonders viel zum Erbrechen.
„Hier“, Hilary war mir gefolgt und hielt mir nun eine Flasche Wasser hin. Ich nahm sie verwundert, sie klärte meine stumme Frage: „Wir haben in der Nähe einen Bach gefunden, er scheint sauber zu sein“, erklärte sie. „Und wie du ja mit eigenen Augen gesehen hast, die Junges beweisen sich als gute Jäger. Gestern schon sind sie mit vier Kaninchen zurückgekehrt.“ Ich hob die hand und sie verstand, keine Kaninchen Gespräche. Ich trank gierig etwas Wasser und blickte in den dichten Wald, der vor mir lag. Hilary räusperte sich und ich schaute sie an: „Ich glaube, da will jemand mit dir reden.“ Sie blickte hinter sich und betrachtete die Truppe, die die Kaninchen nun über einem Feuer brieten. Ich runzelte die Stirn, als ich sah, dass Josch zwar neben Chris stand, jedoch zu uns herüber blickte.
„Mir ist immer noch schwindelig und übel, ich fühl mich nicht in der Lage so ein Gespräch zu führen, vor allen dingen nicht hier“, entgegnete ich rau.
„Mia, du solltest dir anhören, was er zu sagen hat“, meinte Hilary geduldig. Ich schaute sie an, ihr Gesicht war zwar blass und sprach Traurigkeit aus, doch war sie gesund und schien an kraft zu tanken. „Chris und ich haben uns auch ausgesprochen und na ja, wir sind wieder zusammen“, sagte sie dann. „Aber Hilary, nachdem was alles passiert ist“, begann ich zweifelnd und setzte mich erschöpft auf einen Baumstamm. „Und gerade das sollte uns lehren, dass wir nicht mehr vor uns hin schieben sollten, Mia. Alles kann so plötzlich vorbei sein. Sara und Ina werden niemals eine eigene Familie haben können. Wir haben uns immer gewünscht zusammen Kinder zu bekommen und sie gemeinsam aufwachsen zu sehen“, erzählte sie. Ich war total überrascht, wovon sie gerade redet. Wir waren gerade mal achtzehn.
„Also, spreche mit ihm, bevor wieder irgendetwas dazwischen kommt und eure Wege trennen könnte“, meinte sie. „Was soll er schon sagen? Ich bin nicht sein Typ“, sagte ich. „Und ich sage dir, hör dir an, was er zu sagen hat“, meinte Hilary geduldig.
„Komm, du musst Hunger haben, lass uns zu den anderen gehen“, sie nahm meine Hand und wir gingen zurück. „Nach dem Essen solltest du im See duschen gehen, du bist immer noch voller Blutspritzer“, sagte sie und zog mich zwischen sich und einem blonden Mädchen, das die Augen nicht von Josch lassen konnte. Meine Güte, nachdem was alles geschehen war, hatten diese dummen Hühner nur eines im Kopf.
Rob reichte mir etwas Fleisch, doch ich wehrte ab und nahm mir einen Apfel und begann darum zu nagen. Mein Blick gesenkt lauschte ich das Gespräch der anderen.
Sie klangen zwar fertig mit den Nerven, jedoch munterten sie sich gegenseitig auf.
Meine Augen fielen immer wieder zu, mir schwindelte und der Brechreiz wollte auch nicht verschwinden. Ich legte meinen Kopf leicht an Hilary, die ihren Arm um mich legte. Und schwups, war ich auch schon wieder weg. Jedoch wachte ich keine paar Minuten später wieder von selbst auf, ich kämpfte gegen den Schlaf ein.
„Mia, alles klar?“, klang Hilarys Stimme besorgt. Ich nickte: „Ich glaub ich muss ins kalte Wasser springen, dann geht es mir besser.“ Sie zog mich hoch, nahm ein paar Kleider aus meinem Koffer, den wir auch bergen konnten und dann eilten wir mit den anderen zwei Mädchen zum See und wir zogen uns aus und sprangen ins kalte Wasser. Die Sonne am Himmel war warm, und das Wasser angenehm frisch. Ich wusch mir das verkrustete Blut ab und Hilary hielt mir sogar Duschgel und Shampoo hin, dass ich überrascht annahm. Wie irreal, wir badeten im See und benutzten Shampoo. Nachdem ich mich wieder etwas sauberer fühlte, kletterte ich pitsch nass aus dem Wasser und trocknete mich mit einem Handtuch ab und zog mit Unterwäsche und eine kurze Hose und Sweatshirt, zwar war mir warm, doch der Schock saß immer noch in meinen Gliedern und ich brauchte so viel Wärme wie möglich. Dann lehnte ich mich an einen Baumstamm und betrachtete den See, in dem die Mädchen badeten und sich voll spritzten. Beinahe konnte man den Anschein bekommen, nichts wäre passiert. All die schlimmen Bilder in meinem Kopf würden mich jedoch jede Minute am Tage und in der Nacht daran erinnern, dass nichts mehr so sein wird, wie noch vor paar Tagen, vor dem Unglück. Ich fragte mich, warum man uns nicht schon längst gefunden hatte. Aber in dieser Einöde kein Wunder. Ich ließ meinen Kopf hängen und dachte an Mam und all die anderen besorgten Eltern. Vor allen Dingen an die Eltern, deren Sohn oder Tochter niemals zu ihnen zurückkehren würden, dieser Gedanke drückte mir die Luftröhren zu und ich versuchte gleichmäßig zu atmen.
Die Mädchen zogen sich nun auch an und gemeinsam kehrten wir zu der Truppe zurück. Die unterhielten sich gerade angeregt über einen Plan. „Wir sollten von hier weg gehen und ein Dorf oder so ausfindig machen. Nur so können wir es erreichen, dass man uns findet in diesem Nichts hier“, meinte Chris zu den anderen Junges, während wir uns nun mit nassen Haaren zu ihnen gesellten. Hilary setzte sich neben ihn und schlang die Arme um seine Hüfte, sie küssten sich kurz. Ich wendete mein Blick ab und setzte mich neben Hilary. Josch selbst saß auf der anderen Seite von Chris und stocherte nachdenklich im Feuer herum. Die anderen um das Feuer herum schwiegen ebenfalls grübelnd. „Du weist genauso gut wie ich, dass hier in der Umgebung niemand lebt. Wir müssten um die hundert bis zwei hundert Kilometer gehen und nicht einmal dann können wir uns sicher sein, dass ein Dorf hier existiert. Wir sind wo ganz anderes gelandet, als wir hin wollten“, bemerkte Rob nun. „Außerdem könne die Verletzten noch nicht so einen langen Marsch machen, sie würden wahrscheinlich nach der Hälfte in sich zusammen klappen“, stellte Ben klar.
„Ich frag mich immer noch was mir dem Busfahrer los war“, meinte die Blonde nun leise. Beinahe alle Blicke lagen auf mir und Hilary, wir waren die beiden, die das Innere des Busses nach dem Unfall gesehen hatten. „Wenn ihr glaubt, ich würde euch beschreiben, wie es nach dem Unfall aussah, dann muss ich euch enttäuschen. Wahrscheinlich hatte der Busfahrer einen Herzinfarkt“, schnappte ich und versuchte einen Brechreiz zu unterdrücken. Hilary legte ihre Hand auf meine Schulter: „Niemand würde das verlangen, Mia. So etwas Unmenschliches würde niemand verlangen“, versuchte sie mich zu beruhigen. Ich blickte Ben wütend an. „Da wäre ich mir nicht sicher.“ „Nach allem was passiert ist, fängst du wieder mit diesem Buch an? Das gibt’s doch nicht!“, brummte Ben nun wütend und blitzte mich an. Ich blickte ihn zornig an: „Ich krieg keine Luft mehr, ich muss hier weg“, ich stand abrupt auf ging mit zittrigen Beinen zu den Bäumen etwas abseits, wo ich mich auf einen Baumstamm niederließ. Abgeschirmt von Tannen, damit mich die anderen nicht sehen konnten, zog ich die Beine an meinen Körper und blickte starr ins Nichts. Ein Ast knackte hinter mir: „Ich möchte alleine sein. Ich weis nicht, warum man das nicht einfach akzeptieren kann“, blaffte ich und schaute nicht nach hinten. Plötzlich stellten sich meine Nackenhaare auf und mir wurde bewusst, dass die Jugendlichen von der anderen Seite gekommen wären, wenn sie mich hätten nerven wollen. Von dieser Richtung war das etwas seltsam. Mit angehaltenem Atem drehte ich mein Kopf nach hinten und meine Augen wurden groß. Dort, zehn Meter entfernt stand ein junger Mann, der total von Kopf bis Fuß mit Matsch und Laub beschmiert war, außerdem trug er zerrissene Kleidung, was ihn nicht gerade vertraulicher wirken ließ. Und wäre das nicht schon genug für mein eh schon misshandeltes Herz, hielt er ein scharfes dreckiges Messer in seiner rechten Hand, die er erhoben hatte. Sein seltsamer Blick ließ mir die Kälte den Rücken hinunter fahren. Ich stand abrupt auf und machte einen Schritt zurück. Wie er mich anschaute, als sei ich ein Stück Fleisch. Ich hielt die Luft an, dann schrie ich laut, so laut ich konnte. Mein Gebrüll hallte zwischen den Bäumstämmen wieder und ich schrie lauter, während ich langsam rückwärts ging.
Der Kerl kam nun schnell auf mich zu, er schüttelte leicht den Kopf: „Keine Angst, ich tu dir nichts“, meinte er mit rauer Stimme.
Das konnte er sonst jemanden erzählen, sein Blick sprach Bände.
Ich drehte mich nun endlich um und lief schreiend durch die Bäume in die Richtung, wo die Truppe von Jugendlichen sich aufhalten muss. Ich hörte schnell Schritte hinter mir. Ich blickte zurück, er holte schnell auf, weil ich kaum die Kraft fand zu rennen. Plötzlich lief ich gegen etwas Hartes, ich schrie auf und blickte auf, in zwei paar Augen, die mir das Herz flattern und meinen aufgeregten zu zerbersten Atem stocken ließ. Er blickte mich kurz prüfend an, dann schaute er grimmig über meine Schulter. Ich konnte hören, wie ein paar andere Junges zu Josch stießen und wie der Kerl hinter mir eine Vollbremsung hinlegte. Ich spürte zwei sehnige, starke Arme sich um meinen bebenden Körper schlossen. Ich lehnte mich nach Luft schnappend ohne weiter nachzudenken an ihn.
„Wer bist du?“, erklang seine Stimme laut an meinem Ohr, weil Josch so nah bei mir stand. „Wer seid ihr?“, agierte der seltsame Typ mit einer Gegenfrage. Ich konnte ihn nicht sehen, weil ich ihm den Rücken zu gekehrt hatte und von Josch gehalten wurde. „Solange wir nicht wissen, warum du einer unserer Mädchen einen Schrecken einjagen wolltest und ich hoffe mal, das war deine Absicht und nicht mehr, solange werden wir dir bestimmt nicht unsere Lebensgeschichte auftischen“, sagte Chris nun gereizt. „Ich bin Hektor“, rückte nun mit der Sprache raus.
Er wartete nun wohl darauf, dass die Junges sich auch vorstellten, da hatte er aber schlecht gedacht: „Und weiter? Was machst du hier im Nichts mit einem Jagdmesser in der Hand?“, Joschs Stimme klang forsch.
„Normalerweise würde ich im Moment Urlaub in Spanien machen, unser Bus hatte einen Unfall, ich bin der einzige Überlebende“, klärte er. Ich spürte, wie sich eine seltsame Stille nun über uns legte. Jeder war bei seiner Antwort erstarrt. Ich spürte auch, dass Josch erstarrte, seine Muskeln verhärteten sich.
„Scheint euch die Sprache verschlagen zu haben. Mir auch, unser Bus rutschte die Böschung hinab und ich konnte gerade noch heraus klettern. Bin schon seit gut zwei Wochen hier unterwegs und wandere ohne Plan durch die Gegend. Und was ist eure Geschichte?“, er klang geschafft und traumatisiert. Ich dachte nur, willkommen im Club.
„Wir sind ne Wandertruppe, haben uns aber verirrt“, log Chris. Ich fragte mich, warum er das tat, immerhin hatte dieser Fremde genau das gleiche Schicksal ereilt wir uns. Wieder stille, dann meinte Ben: „Was machen wir mit ihm, kann er sich uns anschließen“, die Junges hatten also eine stille Abmachung getroffen, nichts von dem Unfall zu erzählen und so tun, als wären wir eine Wandertruppe, interessant.
Toll, dass wir Mädchen da mit reden durfte, dachte ich leicht angekratzt. Fing ja schon gut an, irgendwo in der Wildnis gelandet und schon wurden die Frauen unterdrückt, super. Und ich wurde gerade von einem dieser männlichen Individuums in dem Arm gehalten. Beherrsch dich, dachte ich und versuchte mich nun aus seiner Umarmung zu lösen. Als er merkte, was ich vorhatte, ließ er mich los. Den Blick gesenkt schritt ich an den anderen Junges vorbei zu unserer Truppe, die aufgeregt etwas abseits miteinander tuschelten. Sie blickten mich abwartend an, doch ich schüttelte den Kopf und setzte mich neben Hilary, die über dem Feuer ein Hasen hängte. Wie gesagt, Steinzeitverhalten.

Die Junges kehrten mit dem Fremden zurück. „Das ist Hektor, er begleitet uns bei unserer Wanderung“, bemerkte Josch und warf uns einen viel sagenden Blick zu, die anderen verstanden auf Anhieb, dass Hektor nichts von dem Unfall erfahren sollte und das man ihm nicht trauen konnte. Sie stellten auch keine weiteren Fragen und Hektor setzte sich zwischen Dave und Ed, die ihn nicht aus den Augen ließen.
„Sagt mal, hat euch ein wildes Tier angefallen, oder warum seid ihre alle so verkratzt?“, bemerkte Hektor nun, sein Blick lag auf Josch, dessen Gesicht eine Schnittwunde aufwies, dann schweifte sein Blick zu den anderen, die auch nicht besser davon gekommen waren Sein Blick blieb nachdenklich an mir hängen: „Dir hat man wohl mehr zu gefügt, als körperliche Wunden, was?“ Ich senkte meinen Blick: „Das geht dich nichts an Mann, sei froh, dass du hier bleiben kannst, alles andere sollte dich nicht interessieren, verstanden?“, wies Josch den Neuen barsch zurecht. Als ich wieder auf blickte, zuckte der Fremde mit den Schultern und nahm einen Apfel entgegen, dem ihm Ben hinhielt: „Ist schon klar, ich tu euren Mädels nichts, entspann dich Mann.“ Ich sah, wie Josch einen Schritt auf Hektor zu machen wollte, doch Chris hielt ihn am Arm fest: „Ruhig Mann.“ Chris Blick war kurz auf mich gerichtet, dann lies er Josch los, der dem Neuen skeptisch beobachtete, während er sich neben Hilary ins Gras setzte. Chris quetschte sich zwischen mich und Hilary und legte einen Arm um sie.
So verbrachten wir den Tag damit, darüber zu diskutieren, wie es nun weiter ging.
Ich spürte den Blick des Neuen ab und an auf mir und wenn ich auf schaute, lächelte er mich aufmunternd an. Es war früh Abend, als ich es nicht mehr aushielt, von seinem mitleidigen Blick begafft zu werden. Deshalb stand ich auf, nahm Hilary an der Hand und zog sie zum See, wo wir uns auf dem Gras davor nieder ließen und schwiegen, während wir dem Gesang der Vögel lauschten und das Geplätscher des Wassers. „Sie machen sich bestimmt alle furchtbare Sorgen“, unterbrach Hilary die Stille. Ich wusste, dass sie die Familien meinte, die im Moment nicht wussten, wo wir waren und wie es uns ging. „Warum glaubst du, hat man uns bisher noch nicht gefunden“, überlegte ich laut. „Der Busfahrer muss in der Nacht mindestens drei Stunden in die verkehrte Richtung gefahren sein. Deshalb wissen sie im Moment wahrscheinlich überhaupt nicht, wo sie mit der Suche beginnen sollen“, meinte Hilary. Seufzend ließ ich meinen Kopf ins Gras sinken und versuchte eine Weile alles zu vergessen. Ich meine, eigentlich musste ich mich nun vor nichts mehr fürchten. Das schlimmste, was einem im leben passieren konnte, war mir passiert. Zuerst starb mein Bruder in meinen Armen und dann das hier.
„Du willst mir nicht darüber reden, was in dir vorgeht, oder?“, stellte Hilary nach einer Weile Schweigens fest. „Ich denke, ich muss dir das gar nicht erzählen, bei dir im Innern kann es nicht viel anders aussehen“, meinte ich tonlos.
„Wir werden das nie vergessen können“, stimmte sie mir traurig zu. „Niemals“, flüsterte ich. Wir schwiegen wieder und lauschten dem Rauschen des Windes, der die Blätter der Laubbäume bewegte.
„Ich denke ich lass euch mal alleine“, sagte Hilary plötzlich verhalten. Verwirrt hob ich meinen Kopf etwas an, als ich Josch erblickte, der Hilary noch etwas sagte, was ich nicht verstand, dann setzte er sich neben mich, während Hilary davon ging.
Eigentlich hatte ich keine Lust zu reden, ich wollte einfach nur schweigen und alleine sein. Und vor allen Dingen wollte ich nicht mit Josch alleine sein, ich brauchte Luft zum Atmen und einen klaren Verstand, alles beide nahm er mir, wenn er da war.
Ich lies mein Kopf wieder ins Gras sacken und blickte zum dunkel werdenden Himmel hinauf. Es sah nach regen aus.
Wir schwiegen uns an und ich bemerkte, dass der Wind stärker wurde. Eben noch war er sanft über meinen Körper gestrichen, nun bewegte er meine langen Haare, trieb Blätter durch die Gegend und zerrte an meinem Sweatshirt und kurzen Hose.
„Ich fühle mit dir“, sagte er dann mit seiner melodischen dunklen Stimme. Seine Stimme war einfach wunderschön, und was er da gerade gesagt hatte, erwärmte mich etwas. Ich setzte mich auf, blickte ihn aber nicht an, mein Blick auf See.
„Du weist doch gar nicht, was ich im Moment alles fühle“, bemerkte ich und versuchte einen ruhigen Klang bei zu behalten. Ich zog die nackten Beine an meine Brust und schlang meine Arme darum. „Ich denke, dass du es vor innerer Zerrissenheit selbst nicht mehr genau weist, was du zu fühlen hast“, bedachte er.
Mein Haar wehte im Wind, ich ignorierte die Tatsache, dass ich ganz verwuschelt sein musste. Ich holte leise Luft: „Du kannst mir nicht helfen. Niemand kann das.“
„Diese Antwort akzeptiere ich nicht“, er klang entschlossen.
Ich drehte meinen Kopf nun zu ihm, sein Haar stand ab, was ihn nur noch attraktiver machte und sein zerkratztes Gesicht war in Richtung des Sees gewendet. Er schien meinen Blick wahr zu nehmen und schaute mich nun ruhig an. Seine blauen Augen ließen mich nicht los: „Wir alle verdanken dir und Hilary unser Leben, Mia. Wir möchten, dass du weist, dass wir dir für ewig dankbar sein werden. Unsere Familien werden dir für immer dankbar sein.“ Natürlich, dachte ich, wie konnte ich nur einen Moment denken, er wolle etwas anderes, als sich bei mir zu bedanken? Was war ich naiv!
„Niemand schuldet mir einen Dank, das war selbstverständlich was ich getan habe und ich würde es wieder tun“, sagte ich tonlos. „Ich nehme deinen Dank an, also kannst du wieder zu den anderen gehen. Sie sind mir nichts schuldig und du übrigens auch nicht“ fügte ich hinzu, stand auf und ging zum See und warf Steine hinein. Enten schwammen im See herum, ich musste an den Park zu Hause denken, an dem mein Bruder und ich immer vorbei gejoggt sind. Damals, wo es noch Hoffnung in meinem Leben gab, damals gab es eine Zukunft.
„Ich möchte dir etwas geben“, meinte Josch fest und trat neben mich. In der Hand hielt er einen MP3 Player. Ich starrte ihn fassungslos an, wie konnte ich mich in ihm nur so geirrt haben? „Hast du nicht verstanden? Ich möchte nichts geschenkt haben. Siehst du denn nicht, dass mir das umso mehr Schmerz bereitet, wenn ihr so tut, als hätte ich etwas getan, wofür es den Nobelpreis gibt? Ich habe euer Leben gerettet, ja! Das jeder andere auch getan! Ich habe mich mit Hilary um eure Wunden gekümmert, auch das hätte jeder andere getan! Ich hatte eben das Los gezogen, im Bus aufzuwachen und all das Erleben zu müssen! Und ich bereue es nicht, wach geworden zu sein, ansonsten legen wir nun alle da unten in der Schlucht“, hatte ich mich nun in Rasche geredet. Er sollte mich alleine lassen! Ich wollte nicht, dass er in meiner Nähe war, ich ertrug es nicht! „Mia“, begann er und hielt beruhigend die Hände etwas in der Höhe, als wolle er ein aufgescheuchtes Huhn beruhigen, was mich umso mehr ärgerte. „Lass mich in Ruhe! Verschwinde! Schenk Hilary den MP3 Player, wenn du dann besser schlafen kannst. Du schuldest mir nichts, das einzige, worum ich dich bitte ist, lass mich alleine und…“, er packte mich nun wütend am Oberarm und stoppte so meine Worte: „Hör mir endlich zu!“, murrte er.
Ich war überrascht, dass er wütend war und hielt nun meinen Mund. Doch die Wut in mir drinnen, oder eher gesagt die Enttäuschung, dass ich bei ihm so falsch gelegen hatte, wütete in mir. Jeder hatte mir gesagt, dass er ein Arsch war, zu Beginn hatte ich das auch geglaubt, aber in letzter Zeit, da musste ich wohl blind gewesen sein.
„Was du da redest ist Irrsinn. Ich habe nicht vor dir meinen MP3 Player zu schenken, er gehört mir übrigens auch gar nicht. Also reg dich ab. Und deine Vermutung, dass ich mich dir gegenüber schuldig fühle, damit hast du nicht Unrecht! Aber ich lass mich nicht deshalb von dir anschreien. Wir alle sind dir dankbar, das ist halt so, wenn man das Leben gerettet bekommt! Und da kannst du dran auch nichts ändern, damit musst du Leben, dass wir alle in deiner Schuld stehen. Und ich werde mir von dir auch nicht den Mund verbieten lassen, wenn ich mich bei dir bedanken möchte!“, brüllte er nun und ich zuckte zurück. Doch er war noch lange nicht fertig: „Aber deshalb bin ich nicht hier, oder nicht nur aus diesem Grund. Die anderen trauten sich nicht, sich bei dir zu bedanken, also hab ich mich dafür bereit erklärt. Aber wie schon gesagt, deshalb bin ich nicht hier! Ich möchte, dass du dir etwas anhörst, also kannst du mir bitte diesen gefallen tun?“, er klang nun etwas ruhiger.
Ich schluckte, seine Standpauke war ziemlich heftig gewesen. Josch setzte sich aufs Gras und deutete neben sich. Zögernd setzte ich mich neben ihn und er hielt mir zwei Ohrstöpsel hin, die ich verwirrt annahm.
Als ich sie immer noch in der Hand hielt, nicht wissend, was er von mir verlangte, nahm er sie mir ab und stöpselte sie vorsichtig in meine Ohren: „Hör einfach zu, du musst nichts sagen“, meinte er nun ruhig.
Ein Klavier erklang, ein wenig später setzte eine dunkle Männerstimme ein, die mich zusammen zucken lies. Sie kam mir bekannt vor und erwärmte meine Seele. Die Stimme sang von dem Drang zu Fliehen und sich dann doch für das Rennen miteinander zu entscheiden. Ein Schlagzeug setzte mit Gitarre ein, während die Stimme des Sängers immer Leidenschaftlicher und melodischer wurde. Ein Mix zwischen Rock und einer schönen Melodie drang in mein Ohr. Doch mich interessierte alleine diese Stimme, die sowohl die etwas höheren, als auch die tiefen Töne mit einer Leidenschaft bezwang, dass mir Gänsehaut bescherte.
Mein Herz klopfte wie wild, während ich gebannt dieser Männerstimme lauschte, welche mit einem Ton Gefühle ausdrückte, die manch ein Mann in seinem ganzen leben niemals gezeigt hatte. Während ich dieser Stimme lauschte, bemerkte ich gar nicht, dass ich alles andere ausblendete. Plötzlich waren da keine schrecklichen Bilder in meinem Kopf, die Vergangenheit war für kurze Zeit ausgeblendet und auch der Junge neben mir, schien mich im Moment nicht zu interessieren, sondern seine Seele, die er mit seiner Stimme offenbarte. Das Lied klang mit der Melodie des Klaviers aus und dann, dann war es still. Ich räusperte mich und nahm die Stöpsel aus meinem Ohr. Ich versuchte ruhig zu sprechen: „Du singst in einer Band“, stellte ich fest. Am liebsten hätte ich ihm gesagt, dass er unglaublich gut sang und dass der Song wunderschön war, was noch bei weitem untertrieben war. Noch nie hatte mich ein Song so gefesselt, wie dieser.
Er nickte, sein Kopf leicht abgewandt, er hatte wahrscheinlich etwas anderes erwartet: „Wir spielen seit wir klein sind und basteln an neuen Songs herum. Für diesen Song hast du mich inspiriert.“ Als er das sagte, wusste ich noch weniger, was ich nun tun sollte. „Du schreibst Songs?“, fiel mir nichts Besseres ein.
„Auch, ja“, antwortete er knapp. Joschs Kopf war immer noch leicht abgewandt ich zeigte wohl nicht die Reaktion, die er sich gewünscht hätte.
Ich schluckte: „Der Song war echt schön.“ Stille, dann gab ich nach: „Du hast eine sehr schöne Stimme, sehr fesselnd.“ Nun drehte er seinen Kopf mir zu, seine blauen Augen blickten fesselnd in meine: „Hast du nicht gehört, was ich grade gesagt habe? Du hast mich für diesen Song inspiriert. Noch nie habe ich in einer meiner Songs die Geschichte eines Mädchens als Inhalt genommen.“
Ich blickte auf meine Hände, die ineinander verschränkt waren: „Du weist doch, dass…“, „Dass ich nicht dein Typ bin, ja das weiß ich“, bemerkte er leicht säuerlich.
Nun saß ich ziemlich in der Patsche, ich fuhr mir durch mein langes Haar, den Blick immer noch gesenkt gehalten. „Aber kann ich mich denn so täuschen. Ich meine, ich spür doch, dass da was zwischen uns ist. Es macht mich wahnsinnig nicht zu wissen, wo genau ich bei dir bin. Manchmal glaube ich, dass du mich ganz gerne hast und dann, dann stößt du mich mit einem einzigen Wort deinerseits so weit wie möglich von dir“, erklärte er ungeduldig. Ich saß wirklich ziemlich tief in der Patsche, wie sollte ich da nur wieder raus kommen? Ich konnte ihm einfach nicht die Wahrheit sagen, ich meine, ich war nicht eines der Mädchen, in der sich ein Typ wie er sich verliebte, wenn überhaupt verliebte, wahrscheinlich kannte er Liebe nicht einmal.
„Kannst du vielleicht auch mal etwas sagen? Jetzt wo du reden sollst, bringst du mich mit deiner Schweigsamkeit in den Wahnsinn“, er klang nun wieder etwas zornig. Josch hatte ziemliches Temperament, was man auch in seinen Songs wahrnahm. Ich biss mir auf die Lippen und raufte mir das Haar, den Blick weiterhin gesengt, was ich ihm jetzt zu sagen hatte, dafür brauchte ich mein Gehirn. Und das würde fehlen, wenn ich ihn anschaue.
„Damals auf dem Friedhof“, begann ich nun mit zittriger Stimme. „Da hast du von deinem verstorbenen Zwillingsbruder geredet, du hast mir deine schwere Vergangenheit anvertraut, das hat mich total überrascht. Ich habe nicht damit gerechnet, dass du jemandem wie mir so etwas Persönliches anvertraust. Mit der Friedhofgeschichte hast du all meine Vorurteile dir gegenüber, über den Haufen geworfen. Auf einmal warst du kein Arschloch mehr, ich fand dich wirklich okay, vielleicht leicht arrogant und überheblich, aber okay“, meinte ich. Erstaunlich, dass er noch nichts gegen meine Ausdrücke einzuwenden hatte.
„Na ja, das machte die Sache irgendwie komplizierter, weil ich dir dann auch meine Geschichte anvertraute. Ich hab von anderen Schülern diese negative Einstellung dir gegenüber, vor allen Dingen die verletzten Mädchen, mitbekommen und fragte mich, was genau soll ich denn jetzt glauben?“
Stille, ich atmete tief ein: „Bevor du mir deine Geschichte anvertraut hast, fand ich dich einfach nur Ätzend, du hast mich an meinen Bruder erinnert, als er sich nicht mehr um mich geschert hatte. Na ja, und als du angenommen hast ich sei, du weist schon, lesbisch, da hab ich dich in dem Glauben gelassen“, stockte ich.
Die Stille, die sich nun zwischen Josch und mir legte, war ziemlich unangenehm.
„Und du hast mich in diesem Glauben gelassen, weil..?“, er klang ziemlich wütend.
„Weil ich das für das Bessere hielt“, meinte ich nun knapp. Wieder Stille, ich spürte, dass Josch mich nun mit strafenden Blick attackierte, aber ich schaute weiterhin auf meine Hände: „Ist dir vielleicht Mal in den Sinn gekommen, dass das nicht nur deine Sache ist?“, polterte seine Stimme nun. „Hör auf mich so an zu schreien“, entgegnete ich geringschätzig: „Ich wusste es halt nicht besser, außerdem was spielt das für eine Rolle?“ Ich hörte seinen schnellen Atem, der sich langsam wieder beruhigte: „Meine Güte, ich dachte die ganze Zeit, ich hätte mich in eine Lesbe verliebt“, erwiderte er barsch. „Weist du, was das für ein Beschissenes Gefühl war, zu glauben, dass man nie die Chance bekommen wird, demjenigen zu zeigen, wie viel Bedeutung derjenige in seinem Leben angenommen hat? Hast du vielleicht mal darüber nachgedacht, oder hast du nur an deine eigenen Vorteile gedacht, nachdem du mich in diesem Glauben liest?“ Mein herz pochte so schnell, dass es wahrscheinlich gleich heraus fällt. Er liebte mich? Aber er kannte mich doch gar nicht und außerdem, seit wann verliebte sich jemand wie er in jemanden wie mich?
„Hör endlich auf mich anzuschreien, du Hornochse“, warnte ich ihn und versuchte seine Worte zu ignorieren, weil sie mein herz nur wieder Hoffnung geben würden und ich ertrug es nicht noch mal, dass es beschädigt wurde, nicht von solch einem Kerl. Ich stand entschieden auf und wollte zu den anderen zurückgehen.
„Wo willst du hin?“, er packte mich am Arm und drehte mich zu ihm herum: „Willst du nicht verstehen, was ich dir die ganze Zeit sagen möchte?“, fragte er barsch und ließ mich nicht los. Seine Augen blickten unnachgiebig in meine.
„Du willst das doch gar nicht“, entgegnete ich überzeugt. „Woher willst du wissen, was ich möchte, wenn du mir nicht zu hörst?“, stellte Josch klar und hielt mich weiterhin mit seinen Augen in Bann. Ich wendete meinen Blick von ihm ab: „Du hast einen Schock“, sagte ich. „Wir alle stehen unter Schock“, erklärte ich. Nun lachte er bitter: „Sag mal raffst du es nicht?“ „mach dich nicht über mich lustig“, zischte ich nun böse. Er hörte sofort auf zu lachen und blickte mich ernst an: „Der Song, den habe ich vor zwei Wochen geschrieben, okay? Stand ich da unter Schock?“
Da hatte er ziemlich gut argumentiert, ich befreite mich aus seinem Griff und blickte ihn unentwegt an. Die Dunkelheit hatte sich nun ausgebreitet, so langsam konnte man nur noch Umrisse erkennen. Doch der Mond am Himmel spendete so viel licht, dass ich Josch gut sehen konnte, wie er da stand. Sein Blick ruhte unnachgiebig auf mir. Sein Gesicht, das fein braun gebrannt war, seine Narbe, die er seit drei tagen nun trug und die sich seine linke Wange hinab zog. Was ihn seine Schönheit jedoch nicht raubte, im Gegenteil, es machte ihn nur noch Einzigartiger.
Er trug ein leicht zerrissenes T-Shirt, das leicht mit Dreck bedeckt war. Seine sehnigen, schönen Arme waren angespannt und ich sah, dass er seine rechte hand zu einer faust geformt hatte.
Seine männlichen Beine steckten in einer grauen Jogginghose und er trug blaue, mit genommene Joggingschuhe. Die Wärme kroch Stück für Stück meinen Körper hinauf, unter seinem Blick war mir so heiß, dass meine Wangen glühten und ich kaum noch Luft bekam. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass sich so ein ungewöhnlicher Junge für mich interessierte, dass er in meinem Leben eine Rolle spielen wollte. Das war so unglaubwürdig, als würde ich im Lotto den Jackpot
gewinnen, obwohl ich gar nicht spielte und es scheinbar unmöglich war, überhaupt den Jackpot zu gewinnen. Und er war eindeutig ein Jackpot, er war viel wertvoller als das und das bereitete mir ziemliche angst. Ich hatte noch nie solche Gefühle für jemanden empfunden.
„Josch? Mia?“, hallte es laut von weiter weg durch die Dunkelheit. Josch blickte in die Richtung, von der man nach uns rief. „Wo seid ihr Leute?“, rief nun eine männliche Stimme etwas näher. Josch blickte mich an und ich folgte ihm zu den anderen zurück. Als wir so nebeneinander her zurück zu den anderen gingen, die besorgt nach uns riefen, spürte ich, dass etwas zwischen uns war, dass mehr Bedeutung hatte, als alles, was ich bisher erfahren hatte. Es musste Liebe sein, doch wie konnte es sein, dass er so etwas für mich empfand?
„Wo habt ihr die ganze Zeit gesteckt?“, Chris kam auf uns zu und warf uns einen vorwurfsvollen Blick zu. „Es fängt leicht an zu regnen und zu stürmen. Der Neue meint, hier in der Nähe, gäbe es etwas, wo wir uns unterstellen könnten“, berichtete Chris uns, während er Josch einen fragenden Blick zu warf. Josch agierte mit einem Blick, der meinen ganzen Körper gefrieren lassen würde, hätte er mir gegolten.
„Mann, kann ich was dafür, dass gleich ein Unwetter anbricht“, meinte Chris stoffelig. Wir packten unsere Sachen zusammen und folgten dem Fremden.
Hilary lief neben mir, sie trug wie den Rucksack und eine Decke. Ab und an warf sie mir einen musternden Blick zu, den ich ignorierte.

 

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 7

 Nach einer Zeit begann es dann auch schon zu regnen. Und nach paar Minuten waren wir alle bereits von oben bis unten hin platsch nass. Doch der Fremde hatte uns nicht getäuscht, nach einer halben Stunde erreichten wir eine alte Hütte, die schon seit Jahren leer stehen mussten. Erleichtert eilten wir hinein und der letzte schloss die Tür. Gleich darauf begann dann auch schon das Gewitter mit einem lauten Knall. Der Regen rauschte auf das alte Dach und lies die Dielen knirschen. Während das Unwetter draußen die Oberhand nahm, legten wir unsere Schlafsäcke aus, Chris und Josch machten am alten Kamin Feuer. Hilary und ich lagen mit Erika und Svenja, so hießen die beiden anderen Mädchen, in einer Ecke und kuschelten uns erschöpft und gleichzeitig erleichtert in unsere Schlafsäcke. „Augen zu für die männlichen Wesen“, rief Hilary tot ernst und begann in ihrem Rucksack nach trockner Kleidung zu kramen. Die Junges setzten sich Augen verdrehend um einen alten Holztisch herum und unterhielten sich über irgendwas, während wir uns im Schlafsack etwas Trockenes anzogen. Natürlich war auch die neue Kleidung bereits nass geworden, weil der Regen durch den Rucksack gedrungen ist, aber immer noch besser als Patsch nass.
Wir versuchten uns gegenseitig mit Handtüchern die Haare trocken zu reiben, was nicht gerade gelang. Müde, nass und nervös zog ich meinen Schlafsack bis zu meiner Nasenspitze und blickte zur Holzdecke. Das Licht, welches das Feuer im Kamin etwas spendete flackerte an der Decke wieder. In der Hütte selbst war es leicht dunkel. Ich schloss erschöpft meine Augen und lauschte den aufgeregten Stimmen der Mädchen und den ruhigen Männerstimmen in der ferne.
Von den unterschiedlichen Klängen, das Feuer knisterte leise, fiel ich in einen traumlosen Schlaf.
Ich wachte auf, alles um mich herum war fast dunkel, nur das Feuer, welches noch ein wenig im Kamin flackerte, spendete so viel Licht, dass ich die Umrisse der anderen Mädchen erkennen konnte. Und dann bemerkte ich auch schon, was mich aufgeweckt hatte, meine Blase, na super, tolles Timing. Ich hörte, wie der Regen weiterhin auf das Dach prasselte, kein Deut hatte er nachgelassen. Seufzend drehte ich mich leise nach links: „Hilary“, hauchte ich. Als sie sich nicht bewegte wurde ich ungeduldig und wandte mein Gesicht zu ihr: „Hilary“, flüsterte ich nun.
Als sie immer noch fest schlief, gab ich es auf und verhielt mich ruhig, aber meine beschissene Blase ließ mir auch nach zwei Minuten keine Ruhe. Nun hörte ich leise dunkle Männerstimmen, die sich unterhielten. Ich schaute immer noch in Schlafposition zu dem Holztisch auf der anderen Seite, dort saßen zwei Männer und unterhielten sich leise, die Nachtwache also. Schön, dass wir Mädchen mal wieder mit einbezogen wurden. Ich entschloss mich, nach dem ich meine Blase erleichtert hatte, mich für den Nachtdienst zu melden. Immerhin war ich eine Feministin, dachte ich sarkastisch. Ich schälte mich leise aus meinem Schlafsack und zog mir einen weiteren dicken Pulli über, Barfuss stieg ich über Ben und Jack, die vor unseren Füßen lagen. Dann musste ich einen großen Schritt über die ebenfall tief schlafenden Teamer Dave und Ed machen. Und mir viel auf, dass Josch und Chris nun übrig blieben, die wohl Wache schoben. Na toll, besser konnte es echt nicht laufen.
„Was hast du vor?“, ertönte die Stimme von Chris. Ich blickte auf, nachdem ich über die beiden Junges gestiegen war. Josch saß Chris gegenüber, er betrachtete mich wie Chris autoritär: „Ich muss mal“, meinte ich knapp und griff nach der Tür. „Du kannst da jetzt nicht raus“, entgegnete Chris streng. „Ich muss aber!“, zischte ich. Vielleicht konnten sie es anhalten, aber ich nicht. „Ich hab wirklich keine Lust nass zu werden“, bemerkte Chris nun schlecht gelaunt. Er saß am Tisch und warf mir einen finsteren Blick zu, als ob ich etwas für die Probleme meiner blase könnte.
„Du sollst da auch nicht raus, ich muss da raus“, konterte ich und wollte die Tür öffnen, doch Chris war nun an der Tür und hielt den Griff fest. „Glaubst du denn, wir lassen dich da alleine hinaus?“ Ich verdrehte die Augen: „Meine Güte, ich will doch nur meine Blase erleichtern.“ Er sah mich entschlossen an: „Entweder Josch oder ich, such es dir aus, und wir lassen uns auch nicht umstimmen.“ Ich blickte ihn ungläubig an, dann schaute ich aus dem Augenwinkel zu Josch, der mit dem Rücken an der Wand lehnte und seine Arme verschränkt hatte.
Ich schaute ihn abwartend an, nach einer Weile registrierte er wohl, was ich von ihm wollte und rutschte ruhig von der Bank und kramte in seinem Rucksack herum und zog einen weiteren dicken Pulli über sein Sweatshirt. „Na dann, viel Spaß“, bemerkte Chris ironisch und gab Josch einen Klapps auf den Rücken, als der nun zu uns trat und entschlossen die Tür öffnete. Mir wehte ein kalter Wind entgegen, ich fröstelte und folgte Josch nach draußen, der Regten prasselte auf uns nieder. „Am besten gehst du hinter die Hütte, da ist etwas Windgeschützt“, rief Josch gegen den Wind. Er lehnte sich keine Miene verziehend an die Wand der Hütte und drehte den Rücken zu mir, während ich um die Ecke ging und mich hin hockte.
Die Tatsache, dass Josch an der Wand der Hütte, also hinter der Ecke stand, beschleunigte die Prozedur nicht gerade, im Gegenteil. Ich fror mir den Arsch ab, bis ich es endlich geschafft hatte an Sonnenblumen zu denken, damit ich nur etwas vergaß, dass ich hier draußen nicht alleine war. Sonnenblumen fand ich einfach schön, sie waren so schön gelb und erinnerten einem an die Sonne, sie waren groß – ihr seht, ich versuchte mich abzulenken und es gelang mir nicht besonders gut- irgendwann hielt es meine Blase aber nicht länger aus und erleichterte sich und dafür war ich ihr unendlich dankbar, eine Minute länger und ich wäre zu einer halb nackten Statur eingefroren. Der Regen prasselte heftig auf mich nieder, ich zog mir wieder ordentlich die Hose hoch, die Pitschnass war, ich konnte gerade noch ein Fluch unterdrücken und marschierte um die Ecke. Dort stand Josch immer noch den Rücken zu gekehrt an der Hütte lehnend. Er war kaum nass, weil das Dach der Hütte etwas Schutz brachte. Ich hingegen war patsch nass. „Bin fertig“, sagte ich und marschierte an ihm vorbei. Er folgte mir schweigend zurück in die Hütte. Drinnen diskutierten gerade Hilary und Chris leise am Tisch miteinander: „Hast du gesehen, wie es draußen regnet? Was habt ihr Frauen nur mit eurer bescheuerten Blase?“, keifte Chris. Hilarys Blase hatte sie wohl auch aufgeweckt. Hilary schenkte mir ein Lächeln, dann wandte sie sich wieder Chris zu: „Was ist nun? Ich muss wirklich dringend!“ Ich hörte Chris seufzen, dann verschwanden sie nach draußen.
Josch lies sich auf die Bank plumpsen, auf der eben auch gesessen hatte und lehnte sich wieder an die Wand. Ich stand unsicher herum, blickte zu meinem Schlafsack, dann zum Feuer. Am besten setzte ich mich davor und ließ meine nassen Sachen erst mal trocknen, weitere trockene Sachen hatte ich nicht. Ich setzte mich im Schneidersitz vors Feuer und blickte zu den Schlafenden. Plötzlich hockte sich Josch in mein Blickfeld vor mich: „Hier, zieh das an“, er hielt mir einen seiner Pullis hin.
„Danke aber ich glaub, ich…“, setzte ich an: „Du bist nass, willst du dich erkälten? Zieh es an, Mia“, er blickte mich ernst an. Ich nahm den Pulli an und er setzte sich mit dem Rücken zu mir an den Tisch. Mein Blick huschte über die schlafende Jugendliche, dann schlüpfte ich schnell aus meinem nassen Oberteil und zog diesen warmen Pulli an, der nach einem angenehmen Duft roch. Zuerst konnte ich diesen sinnlichen Geruch nicht einordnen, warum auch, Männern war ich noch nie sonderlich nahe gewesen. Klar meinem Bruder, aber bei ihm war das anders gewesen und einen Vater hatte ich nie gehabt und einen Freund schon gar nicht. Also war ich nie in den Genuss dieses benebelten Duftes gekommen. Ich musste mich beherrschen nicht an dem Stoff zu schnuppern und legte meine nassen Pullis vor das Feuer, so dass sie schnell trocken wurden. Aber sie konnten sich ruhig Zeit lassen, im Moment fand ich es ganz gemütlich in diesem etwas zu großem Pulli.
Unschlüssig blieb ich am Kamin stehen, wusste nicht, ob ich mich zu Josch setzen sollte, oder wieder zurück in meinen Schlafsack setzen sollte. Als auch schon die zwei Streithähne wieder zurück in die Hütte kamen. „Zufrieden Hilary? Bist du für heute Nacht zufrieden gestellt?“, meckerte Chris schlecht gelaunt. Wenn Männer müde waren, konnten sie sich wie kleine Kinder verhalten. „Meine Güte, leg dich hin und schlaf“, meinet Hilary belustigt und zwinkerte mir zu: „Josch und Mia können ja die Nachtwache fortsetzen.“ Dafür hätte ihr am liebsten den Hals umgedreht, aber bevor ich etwas erwidern konnte, schlüpften Chris und Hilary gemeinsam in sein Schlafsack und flüsterten leise miteinander. War das überhaupt erlaubt? Immerhin war Chris ein Teamer, auch wenn wir nicht zu unserem Ausflug ins Hochsauerland gekommen waren.
Ich tapste zum Tisch und setzte mich Josch gegenüber, der an der Wand lehnte und ins Feuer blickte. In seinen Augen spiegelte sich das Licht des Feuers sein schönes Gesicht wurde vom Licht angeblendet. Die Bank war ziemlich unbequem, ich rutschte nervös hin und her um eine etwas angenehme Position zu finden und gab es dann auf und kam nicht umher, Josch mal wieder an zu schauen. „Deine Schürfwunde sieht schon viel besser aus“, meinte ich dann leise, damit ich die schlafenden nicht aufweckte. Er wandte sich mir zu, er schien ziemlich müde, aber seine Augen funkelten warm und erwärmten mich von Innern heraus. „Sie scheint nicht entzündet zu sein, nachdem ich sie genäht hatte, habe ich mit einer Entzündung oder so gerechnet“, plapperte ich leise, mein Blick auf sein graues Sweatshirt geheftet, damit ich nicht noch mehr erhitzte. Das Feuer und der dicke Pulli erwärmten mich bereits auf 31 Grad Celsius. Natürlich waren zehn Grad ihm zu zurechnen. „Redest du nachts immer so viel?“, erklang seine Stimme nun dunkel und belustigt.
Ich spüre, wie meine Wangen erhitzten, als hätte ich Fieber. Ich bemerkte seinen intensiven Blick auf mir und versuchte den Klos hinunter zu schlucken, der sich in meinem Hals breit machte. „Manchmal“, hauchte ich und meine Wangen wurden noch wärmer, weil sich mein „Manchmal“ wie ein Piepsen angehört hatte.
Ich hörte den ruhigen Atem der Schlafenden, irgendjemand schnarchte leise.
„Du kannst dich ruhig schlafen legen, ich
übernehme die Nachtwache, ich kann sowieso nicht schlafen“, meinte ich und betrachtete meine Finger, die feucht ineinander verschränkt waren, ich hoffte, dass er sich hin legte, damit ich mich wieder abreagierte, sonst würde ich gleich einen Hitzeschlag erleiden, ganz sicher.
„Du hast deinen teil für dieses Erlebnis bereits geleistet, außerdem werde ich nicht zulassen, dass du hier alleine Wache hältst“, erwiderte er mit entschlossener Stimme.
Ich blickte ihn aus dem Augenwinkel an, er bemerkte meinen Blick und schmunzelte nun leicht. Ich holte Luft und legte mich auf die unbequeme Holzbank und starrte zur Holzdecke. „Ich dachte, du könntest nicht schlafen“, kam es von der anderen Seite des Tisches. „Kann ich auch nicht“, beteuerte ich und unterdrückte ein Gähnen.
Plötzlich lugte über dem Tisch ein schwarzer Haarschopf hervor und gleich darauf Joschs Gesicht. Sein Gesicht war nicht gerade sehr weit von meinem entfernt. Seine Arme lagen angewinkelt auf dem Tisch und auf seinen Armen lag sein Kinn, er betrachtete mich nachdenklich. Unter seinem Nachdenklichen Blick wurde mir so warm und gleichzeitig war ich nervös. Ich hielt den Atem unwissentlich an, als er plötzlich grinste, und bei mir ging die Sonne auf: „Atmen“, flüsterte er dann dunkel.
Ich bemerkte, dass ich die ganze Zeit den Atem angehalten hatte und atmete nun kontrolliert ein und aus. Wir blickten uns schweigend an, mir trieb es die Hitze ins Gesicht und er, er grinste nur schief. Keine Ahnung wie lange ich es so ausgehalten hatten, jedenfalls war mir nun so heiß, dass ich mich mit zittrigem Körper aufsetzte und meinen Blick über all hin schweifen ließ, nur nicht zu ihm.
„Puh, warm hier“, ich fuhr mir mit der Hand durchs Gesicht, als eine andere Hand meine Bewegung abrupt stoppte. Ich blickte ihn überrascht an, er hielt vorsichtig meine Hand vom Gesicht weg. Ich sah, dass er sich mit dem ganzen Oberkörper über den Tisch gelegt hatte. Sein Gesicht war meinem ganz nahe, ich spürte sein Atem auf meinem eh schon erhitzten Gesicht. Dann ließ er mich los und schwang sich leise mit den Beinen über den Tisch und saß nun auf dem Tisch mir zu gewandt. Ganz sachte berührte er mit seinen Händen meine erhitzten Wangen und lächelte. Ich wollte etwas sagen, doch er deute mit dem rechten Daumen an, dass ich nicht sprechen solle. Und dann beugte er sich ganz langsam mit seinem Gesicht zu meinem, immer näher kam er mir und ich spürte sein Atem, ich wusste, dass es an der Zeit war, sich los zu reisen, doch ich tat das Gegenteil, ich schloss meine Augen und sprach: „Ich weis nicht, ich hab das noch nie…“, stotterte ich und bewegte leicht mein Gesicht zu einem Kopf schütteln, doch seine Hände hielten mich bestimmt fest, als er mein Stottern stoppte: „Bschtt“, hauchte er dunkel. Ich hörte seine Worte nicht nur, sondern ich spürte sein Atem auf meiner Haut. Keine Sekunde später lagen sanfte Lippen auf meinen geschlossenen Augenliedern und ich schnappte nach Luft, ich konnte es nicht fassen, dass sich seine Lippen auf meiner Haut so wunderschön, anfühlten, so süß, so sanft, so einzigartig. Ich konnte es nicht fassen, dass seine Lippen überhaupt auf meiner Haut lagen.
Meine Hände lagen schlapp in meinem Schoß, als wären sie betonschwer, ich hätte sie nicht anheben können.
Seine Lippen bewegten sich nun zärtlich auf meine Augenlieder, ich hörte mein eigenes Herz so laut schlagen, er musste es einfach hören, es polterte wie Hufschläge in meinem Innern. Mein Atem war laut, es war mir peinlich, doch ich konnte nichts dagegen tun, denn ich verfolgte gedanklich seinen Lippen, die nun ganz langsam und zärtlich aufwärts zu meiner Stirn wanderten und kleine Gänsehautküsse hinterließen, dann wanderte er in Zeitlupe meinen Nasenrücken hinunter. Ich muss nicht erwähnen, dass mein Herzschlag unaufhörlich schnell Schlug und mein Atem sich nicht beruhigte im Gegenteil. Meine Augen zuckten, als er dann beinahe meine Lippen erreichte, er verharrte zwischen meine Lippen und Nase und bewegte seine Lippen, als flüstere er etwas, doch kein Laut entrang ihm. Wie versteinert ließ ich es zu, dass er mir bei diesem Verharren einen erstickten Laut entlockte, der mich so erschreckte, dass ich die Augen aufriss und mir schwindelig wurde.
„Schließ die Augen“, hauchte er und ließ von der Stelle zwischen Nase und Lippen ab und setzte an, meine Augenlieder wieder zu küssen, aber ich schloss meine Augen nicht, sondern blickte in seine sinnlich schönen Augen: „Du, ich…“, stotterte ich unbeholfen, seine linke Augenbraue hob sich leicht belustigt. „Du hast mich dazu gebracht zu Stöhnen“, zischte ich nun ungehalten, meine erhitzten Wangen waren siedend heiß und seine warmen großen Hände machten die Sache nicht gerade kälter. „Schließ die Augen“, wiederholte er mit seiner musikalischen Stimme und beugte sich langsam wieder zu meinem Gesicht. Ich wollte nicht, dass er mich noch mal dazu brachte, so einen Laut auszustoßen, der mich selbst erschreckt hatte, aber seine blauen Augen brachten mich dazu, meine Augen wieder zu schließen.
Nicht wie erwartet, trafen seine Lippen auf meine zuckenden Augenlieder, stattdessen ließ er seine Hände zu meinem hals hinab wandern, so dass seine maskulinen Hände mein Hals vorsichtig umfassten. Seine Daumen streichelten zärtlich meine Haut und dann legten sich seine Lippen auf meine linke Wange und bewegten sich zärtlich und dann spürte ich die Spitze seiner Zunge auf meiner Haut, es entlockte mir ein kleinen Laut, den ich bisher auch noch nie von mir gehört hatte.
Mein Nacken tat weh, weil sich mein Kopf plötzlich ebenfalls so unnatürlich schwer anfühlte. Seine Hände fuhren wieder langsam meinen Hals hinauf, während er meinen Lippen mit seinen Millimeter nahe kam. Seine linke Hand schob sich in meinen Nacken um meinen Kopf zu halten, während seine Rechte mein Kinn entlang fuhr. Ich fragte mich, worauf ich mich da konzentrieren sollte, wenn er mich an sämtlichen Stellen so zärtlich anfasste.
Dann lagen seine Lippen auf meiner rechten Wange und glitten sanft hinab zu meinem Mundwinkel. Seine Zungenspitze hinterließ eine Spur von Hitze und seine Lippen verköstigten meine Wange umso mehr.
An meinem Mundwinkel hielt er inne und schien auf etwas zu warten, denn er verharrte dort. Was wollte er? Meine Erlaubnis?
Doch das schien er nicht zu verfolgen, Josch fragte nicht um Erlaubnis. Plötzlich spürte ich seine Zungenspitze an meinem Mundwinkel, sie kitzelte und ich zuckte mit den Lippen. Doch das schien ihm nicht zu langen, er wurde drängender und dann öffnete ich leicht den Mund, ein Stöhnen entkam mir, als ich ihn öffnete.
Dann hauchte er zärtliche kleine Küsse auf meine Oberlippe. Ich wollte, dass er mich endlich richtig küsste, doch er schien mich quälen zu wollen. Seine Zunge strich über meine zittrige Unterlippe und seine rechte Hand fuhr meinen Kiefer auf und ab. Ich versuchte meine Hände zu erheben und seinen Kopf zu umfassen, doch sie waren so schlaff. Ungeduldig wurde ich nun etwas aktiv und versuchte mit meinen Lippen seine zu erreichen, meine Augen waren jedoch geschlossen, so dass ich immer nur die Luft schmeckte und zweitens entwich er mir geschickt.
Ich formte mit meinen Lippen seinen Namen, kein laut kam aus meinem offenen Mund. Er hauchte einen Kuss auf einem Mundwinkel, und ich versuchte ihn nicht wieder entkommen zu lassen, doch er entwich wieder geschickt, ich hörte ihn dunkel kichern. Ich gab auf und fragte mich gerade, wie lange er das Spiel noch spielen wollte, er brachte mich damit um den Verstand, als seine Lippen letztendlich sachte auf meinen lagen. Anfangs schmiegten sich seine Lippen ganz liebevoll auf meine, sie bewegten sich vorsichtig. Doch dann wurde sein Kuss drängender und seine Zunge spaltete meine Lippen, sodass ich seinen köstlichen Mund nun noch intensiver schmecken konnte. Seine Zunge erforschte zärtlich meinen Mund, spielte mit meiner Zunge, seine Zähne begannen mich noch mehr in den Wahnsinn zu treiben, in dem sie mich zwickten und dann auch leicht zu bissen, was mich nach Luft schnappen ließ. Unsere Münder waren aufeinander fixiert und mein ganzer Körper brannte Flammen. Ich hatte vergessen, wo wir uns befanden, was alles geschehen war und das wir nicht alleine waren. Ich drängte mich zwischen seine Beine, seine Füße standen auf der Bank, auf der ich saß, während wir uns leidenschaftlich küssten. Seine Hände lagen nun beide um mein Genick und drängten mein Gesicht an seines. Mit aller Kraft legte ich meine Hände auf seinen Oberschenkel, hielt meinen Oberkörper und alles andere jedoch etwas auf Abstand von ihm, so dass ich nun auf den Knien vor ihm hockte.
Er hatte gerade vor mich zu sich heran zu ziehen, seine Hände wanderte meinen Rücken hinab, als ich mich mit einem seufzen von ihm los machte und mit erhitzten Körper auf stand und ein paar Schritte zurück machte: „Ich glaub, ich kann doch schlafen“, mein Atem ging schnell und etwas lauter als sonst. „Lass dich von zwei anderen Junges mal ablösen, auch du brauchst deinen Schlaf“, hauchte ich peinlich berührt, dass ich mein Atem nicht beruhigen konnte und stieg über die Junges zu meinem Schlafsack, ohne Josch noch einmal anzusehen, wer weis, was ich dann noch alles von mir gegeben hätte. Die Laute heute Nacht waren peinlich genug gewesen.
Total benommen und benebelt schlüpfte ich letztendlich in meinen Schlafsack und schloss die Augen. 

Kapitel 8

Ich hörte leises Gemurmel und ich spürte den harten Holzboden unter mir, doch ich wollte in diesem schönen Zustand zwischen Schlaf und Aufwachen verharren, wenigstens für ein paar Minuten. Ich versuchte herauszubekommen, ob es immer noch regnete, doch ich hörte den Regen auf dem morschen Dach nicht, es musste aufgehört haben. Ich bemerkte jedoch auch in meinem Schlafsack, dass der Regen die Luft gereinigt und die Temperatur der Luft um ein paar Grad gesunken hat, sodass meine Wangen und Nase leicht kalt waren. Brummend drehte ich mich auf meine linke Seite, als ich das Kichern von mehreren Mädchen vernahm.
Abrupt schlug ich meine Augen auf und drei paar amüsierte Augen blickten mich an. Die Mädchen lagen also auch noch im Schlafsack, Hilary schien es in der Nacht wohl doch noch hier hin verschlagen zu haben, vermutlich schnarchte Chris.
„Morgen“, trällerte Hilary. Ich zog mir schlecht gelaunt meinen Schlafsack übers Gesicht und vergrub mich darin, doch keine Chance, plötzlich wurde der Reisverschluss aufgezogen und frische Luft erreichte meine nackten Beine: „Komm schon, aufstehen, wir gehen schwimmen. Soll morgens Wunder wirken“, bemerkte nun eine fremde Stimme, einer der Mädchen muss sich nun getraut haben zu sprechen. Ich schlug leicht gereizt den Schlafsack von meinem Körper und setzte mich murrend auf, meine Haare standen bestimmt zu Berge und mein Gesicht glich einem Zombie. Vielleicht war eine Erfrischung am Morgen wirklich nicht so schlecht.
„Du siehst aus wie eine Vogelscheuche“, bemerkte Hilary entzückt. Toll, das hatte ich jetzt echt gebraucht, danke Hilary, dachte ich sarkastisch.
Ich fuhr mir hektisch übers Haar, während mein Augen über die leeren Schlafsäcke der Junges huschten. „Ein paar sind Kaninchen jagen, andere gehen ihrem Morgensport nach“, bemerkte Hilary. „Wer drauf steht“, sagte das blonde Mädchen namens Svenja Schulter zuckend. „Na ja, ich meine, wir stehen ja auf ihre durchtrainierten Körper“, bedachte das andere Mädchen, das musste Erika sein. Sie kicherten wie Gänse, aber sie schienen ganz okay. Vielleicht etwas albern, aber wer war das nicht?
„Auf geht’s, kommt schon!“, machte uns Hilary Feuer unter dem Hintern und suchte ihre Sachen zum schwimmen heraus. Murrend krabbelte ich auf dem Holzboden zum Kamin, wo meine zwei Pullis nun trocken lagen. Na wenigstens eine Sache, die glatt lief, dachte ich erleichtert und stellte mich nun auf meine Füße.
Ich schlüpfte in meine Schuhe und gemeinsam gingen wir aus der Hütte, jeder mit Handtücher und einigermaßen frischen Sachen voll gepackt. Die frische Luft draußen tat richtig gut, nach den langen warmen tagen der letzten Zeit. Ich fragte mich, wie lange wir eigentlich schon hier waren. Vier, fünf tage, oder war es schon eine Woche. Das Zeitgefühl schwindet leicht, wenn man kein funktionstüchtiges Handy hatte oder ein Wecker.
„Morgen Mädels“, grüßten uns Dave, Ed und Rob, Ben die an uns vorbei hetzten. Ich schaute ihn neugierig nach. „Die sind verrückt“, bemerkte Hilary, bei dem Anblick, dem man uns bot. Die Junges hatten sich ein Meter hohe Hindernisse aus Holz im Abstand von fünf Meter aufgestellt, worüber sie nun wie von der Tarantel gestochen sprangen und am Ende Liegestütze machten. Svenja tippte sich nickend auf die Stirn. Ich schüttelte ebenfalls über die vier Männer den Kopf, also waren Chris, Jack, Hektor und Josch jagen, interessant.
Wir gingen zum See etwas weiter weg und zogen uns dann schnell aus und sprangen mit einem Schrei ins Wasser, die Temperatur des Wassers hatte sich ebenfalls ziemlich abgekühlt, obwohl die Außentemperatur schon um die zwanzig Grad sein musste. „Weis jemand ungefähr, wie lange wir hier draußen schon sind“, warf ich in die Runde, während wir durcheinander schwammen. „Ne Woche bestimmt“, überlegte Hilary ernst. „Jedenfalls ist es jetzt gerade um halb zehn herum, hab eben noch auf mein Handy geschaut“, informierte Svenja uns, während sie einen Schwimmzug nach dem anderen machte. „Die Sonne hat heute keine Lust heraus zu kommen“, meinte Hilary. Doch obwohl die Sonne sich hinter den Wolken versteckte, wurde es schon wieder warm, zwar nicht so, wie die letzten Tage, aber angenehm war. Ich hatte genug vom Wasser und watete aus dem Wasser, als Hilary hysterisch rief: „Nicht bewegen, nicht bewegen“, am liebsten wäre ich jetzt aus dem Wasser gerannt, wegen ihrem hysterischen Schrei. Himmel, wenn sie einen dazu bringen wollte, auf der stelle zu verharren, sollte sie auf keinen Fall sich so anhören, als würde man jeden Moment sterben, wenn man einen weiter Schritt tut.
Ich blieb aber abrupt stehen: „Wenn das ein übler Scherz sein soll, dann dreh ich dir eigenhändig den Hals um“, knurrte ich nun nervös.
„Beweg dich auf keinen Fall von der Stelle, kam es nun auch von einem der anderen Mädchen und das soll schon etwas heißen. Also verharrte ich weiterhin und blickte starr nach vorne, ich hatte das Gefühl, mich nicht weiter beherrschen zu können, wenn ich wüsste was los war. Das Wasser reichte mir gerade mal noch zur Wade, ich spürte die Blicke der anderen Mädchen: „Meine Güte starrt mich nicht so an, was ist los?“, keifte ich mit zittriger Stimme. „Schlange“, kam es aus Hilarys Mund ganz vorsichtig. Bei diesem Wort wäre ich am liebsten Schreiend aus dem Wasser gerannt, aber ich bewegte mich kein Millimeter. „Worauf wartet ihr, aus dem Wasser“, meinte ich tonlos. Ich bemerkte nun, wie sich dieses Viech mein Sprunggelenk umschlängelte. Die anderen wateten mit einem großen Abstand an mir vorbei zu Ufer und wickelten sich hektisch mit einem Handtuch ein. Die Schlange bahnte sich nun langsam an mein Bein hinauf, mein Herz schlug mir bis zum Hals, ein erstickter Schrei hallte in meinem Innern wieder: „Irgendeine Idee, wie ich aus dieser Situation heraus komme“, fragte ich so ruhig wie möglich, meine Stimme überschlug sich.
Die drei starrten mich mit großen Augen an, hätten wohl nie mit dieser Reaktion meinerseits gerechnet. „Nur nicht bewegen“, wiederholte Hilary ängstlich und machte einen Schritt zurück: „Wo willst du hin“, meine Stimme klang rauchig und brach am Ende, weil die Schlange nun meinen Oberschenkel hinauf kroch. „Hilfe holen“, sagte sie. „Spinnst du? Ich brauch nicht noch mehr Gaffer!“, zischte ich aufgebracht. Meine Güte, ich war nackt und eine widerliches schleimiges Vieh kroch gerade an meinem nackten Körper hinauf! „Die können mir genau so wenig helfen, wie ihr!“, keifte ich zittrig, ich war den Tränen nahe. Wieso musste mir das immer passieren? „Sucht nach einem Stock oder so“, kommandierte ich dann und holte tief Luft. Die Schlange hatte nun einen Bereich meines Körpers erreicht, der für niemanden zugänglich war, für niemanden und schon gar nicht für eine Schlange!
Sie verharrte dort zu meinem Glück im Unglück nicht und schlängelte sich nun um meinen Bauch, meine Arme waren wie versteinert seitlich ausgestreckt.
Hilary schien innerlich mit sich zu ringen, ob sie nicht doch Hilfe holen sollte oder meiner Bitte nachkommen sollte, während die Mädchen nach einem Stock oder ähnlichem suchten.
Hilary schaute mich ängstlich an: „Hilary, sie können mir genauso wenig helfen“, wiederholte ich und versuchte die Tränen zu unterdrücken, die heraus wollten. Am liebsten hätte ich laut meinen ganzen Schreck heraus geschrieen, der mich umklammerte. „Sie wissen vermutlich, was zu tun ist“, entgegnete sie und dann, dann rannte sie los. „Komm sofort wieder zurück!“, schrie ich ungläubig.
Die Schlange hatte nun meine Brüste erreicht und schlängelte sich darum, ich fragte mich, wann ich hysterisch davon laufen würde. Vielleicht gleich? Sofort?
Mein Atem ging laut und immer schneller, während ich nicht daran denken wollte, was dieses Viech gerade machte und dass Hilary, diese dumme Pute, gerade vorhatte, mein Leben zu zerstören! Ich meine, jedenfalls was noch davon übrig war. Mein Stolz war noch übrig und den wollte sie mir nehmen, das würde ich nicht zulassen, deshalb fasste ich einen Entschluss.
Ganz vorsichtig umfasste ich mit meinen Damen und Zeigefinger die fünf Zentimeter dicke Schlange und zog sie von meinem Körper, sie zischte, doch biss mich nicht, dann legte ich sie mit zittrigen Fingern ins Wasser und dann, dann rannte ich schreiend aus dem Wasser zog mir schreiend Unterwäsche an und lief einfach los, ich musste laufen, so schnell, so weit ich konnte. Es war so warm, dass es mir nichts ausmachte durch den Laubwald zu preschen mit nur Unterwäsche an, die ich ganz neu gekauft hatte. Der Schrei, der in mir saß, rannte ich mir von der Seele. Ich lief einfach gerade aus, übersprang Wurzeln, spürte den weichen Waldboden und das zerbrochene Holz unter meinen nackten Füßen. Natürlich waren da niedrige Äste, die mich aber wenig störten. Sie peitschten über meinen Körper und hinterließen gewiss Striemen, doch was war das schon gegen all die Schmerzen, die ich bisher erleben musste? Dagegen waren die Äste angenehme Arme, die mich streichelten, na ja, das war vielleicht etwas abstrakt, aber durch meinen Kopf schossen im Moment nur solche seltsamen Gedankengänge, während ich immer schneller wurde und immer weiter lief. Mein Atem ging schnell, ich glaubte zu ersticken, doch je schneller mein Atem ging, desto befreiender fühlte ich mich.
Ich huschte an den nahe stehenden Bäumen vorbei und versuchte an später nicht zu denken.
Keine Ahnung wie lange ich durch den Laubwald preschte, keine Ahnung ob es bereits Mittag war oder vielleicht schon Nachmittag, jedenfalls lies ich mich irgendwann erleichtert und zugleich erschöpft auf einen Baumstamm nieder und starrte in den ruhigen Wald. Nur das Zwitschern der Vögel und das Rauschen des Windes, der die Bäume zum tanzen brachte, vernahm ich. Und natürlich meinen prasselnden Atem, der sich nun wieder beruhigte.
Ich dachte über die Zukunft nach, die uns hier erwarten würde, falls man uns nie finden würde. Was für ein Gedanke! Niemals meine liebenswerte Mutter zu sehen, sie in den Arm nehmen zu können. Doch eins war endgültig, es stand fest, wir Überlebenden konnten nichts dagegen tun. Wir würden miterleben, wie es nach dem Unfall in unserer Welt sein würde. Es wird uns prägen und uns zu einem anderen Menschen machen. Wir hatten Freunde, Kameraden verloren, so etwas würde einen für immer verfolgen. Wenn wir also gefunden werden würden, würde auf uns die Trauer der Verstorbenen warten und Erleichterung derer, die unsere Familie sind. Doch zwischen all der Trauer und Erleichterung würden wir uns verloren fühlen, wahrscheinlich wird uns alle ein unsichtbares band verbinden, dass für ewig bestehen bleibt, denn wir hatten überlebt, wir hatten mit erleben müssen, was Schmerz und Verlust bedeutet. Und wir waren es, die in unsere Welt zurückkehren, welche nun so ganz anders ist, wie so vor dem Unfall zu sein schien.
Seufzend strich ich mir durch mein nasses Haar und schaute an meinem Körper hinunter und zuckte leicht zusammen. Er war über und über mit Striemen bedeckt und an meinem linken Oberschenkel war ein Bluterguss, die Schlange musste sich dort ziemlich fest umschlungen haben. Ich bibberte bei diesem Gedanken und machte mich auf den Rückweg. Der Wald schien nicht enden und der See nicht in Blickfeld erscheinen wollen. Hatte ich mich etwa verlaufen? Das konnte nicht sein, ich ging genau den Weg zurück, welchen ich umgekehrt genommen hatte. Ich beruhigte mich und hielt mir die Äste vom leib, während ich durch den Wald schritt und darüber nachdachte, was wir nun tun sollten. Wir mussten was tun, das stand fest. Niemand von uns wollte in der Wildnis sein Leben lang leben! Das stand einfach außer Frage, ich meine, wer konnte auf eine warme Dusche, auf die Schule – ein guter Witz – und den komfortablen Dingen überleben, auf die wir Menschen zur heutigen Zeit einfach angewiesen waren? Wie zum Beispiel Rasieren, keine Ahnung wie es die Junges schafften, dass ihnen kein Bart wuchs. Ich schätzte mal, sie benutzten die Klinge ihrer Taschenmesser, sehr einfallsreich. Vielleicht sollte ich mir mal eins ausleihen, wenn ich so über meine Körperbeharrung den Kopf zerbreche. Aber hallo? Mädel, geht’s noch? Es gibt wichtigeres worüber man sich in dieser Situation den Kopf zerbrechen sollte, schimpfte ich mit mir. Ich kam nur langsam voran, weil ich nun darauf achte, nicht mehr all zu doll von fiesen herab hängenden Ästen misshandelt zu werden. Eigentlich sollte mich das nicht mehr die ganze Aufmerksamkeit kosten, was machten ein paar Striemen auf meinen verkratzten Körper noch?
Vielleicht konnte ich, wenn ich wieder zu Hause war, mich bei einer Geisterbahn bewerben, die würden mich bestimmt mir offenen Armen empfangen. Während ich verärgert mich durch die Äste zwang und über den Sinn des Lebens nachdachte, übermannte mich nun die Ungeduld. Ich boxte mich durch das Gestrüpp und erreichte nach einer halben Ewigkeit den See, wo meine Sachen noch lagen. Und daneben saß eine aufgelöste Hilary, die sofort aufsprang und mich weinend in den Arm nahm: „Da bist du ja.“ Mir stieg die Angst auf, war etwas passiert, war jemand verletzt, hatte ich etwas nicht mit bekommen? „Was ist los?“, ich machte mich besorgt von ihr los und schlüpfte in meine Hose und Sweatshirt, ich bemerkte ihren Blick, der meine Striemen mit großen Augen betrachtete. Dann blickte sie mich wütend an: „Was los ist?“, schrie sie aufgebracht. Ich zuckte bei diesem unerwarteten Ausbruch zusammen. „Du fragst tatsächlich, nachdem du den ganzen Tag weg bleibst, was los ist? Sag mal, tickst du noch richtig“, brüllte sie voller Wut.
Oh war das so lange gewesen, hatte ich gar nicht bemerkt, überlegte ich. „Kannst du mir mal sagen, was das eigentlich sollte? Ich hol Hilfe und plötzlich bist du nicht mehr da, wie vom Erdboden verschluckt. Und ich bin vom Schlimmsten aus gegangen, ich dachte du liegst irgendwo im Wald, gebissen von dieser doofen Schlange“, schrie sie immer noch, sie konnte sich überhaupt nicht beruhigen.
„Hilary“, begann ich nun ruhig, doch sie ließ mich überhaupt nicht zu Wort kommen, sie hob drohend den Finger: „Warte nur, bis die Junges mitbekommen, was du dir geleistet hast, die suchen nämlich schon den ganzen Tag nach dir, wenn sie nachher wieder kommen, dann bekommst du bestimmt ne ordentliche Standpauke, dass sage ich dir. Wie kannst du nur so egoistisch sein und einfach mal für ne Weile spazieren gehen, ohne bescheid zu sagen, und dann noch alleine? Bist du Selbstmordgefährdet? Nachdem was alles passiert ist. Verspürst du den Zwang dich in Gefahr zu begeben, oder was!“, bellte sie weiter. Nun wurde ich auch ziemlich wütend: „Ich hatte eine Schlange an meinem nackten Körper, eine Schlange“, schrie ich sie an. „Weist du was das für ein beschissenes Gefühl war? Ach nein, das kannst du mir ja nicht sagen, weil du noch nie eine Schlange am Körper hattest! Aber lass dir gesagt sein, es war einfach nur widerwärtig. Und als du dann auch noch auf die bescheuerte Idee kamst „Hilfe“ zu holen, wie du es so schön nennst, habe ich schnell gehandelt! Danach musste ich laufen, um nicht verrückt zu werden.“ Wir schauten uns zornig an, sie aus Sorge, ich, weil sie tatsächlich die Junges geholt hatte zur „Hilfe“. „Wir sind keine schwachen Neandertaler Frauen, Hilary. Wir können auf uns selbst acht geben, willst du den Junges das Gefühl geben, sie müssen sich um uns auch noch Sorgen? Sie haben genug Sorgen im Kopf, wir haben genug Sachen, über die wir uns wirklich Gedanken machen sollten“, meinte ich nun etwas ruhiger. Sie blitzte mich erbost an: „Ich hatte nicht vor gehabt, sie als unsere Beschützer spielen zu lassen, aber wir sind eben schwächer als sie, dass müssen wir in diesem Nichts einsehen, nur so können wir alle überleben.“
Ich gab ein tzz von mir und schlüpfte in meine Schuhe, als plötzlich Svenja, die Blondine, auf uns zu eilte, und große Augen machte, als sie mich erblickte: „Die Junges sind zurück und sie meinten, sie hätten sie nicht gefunden. Wie auch wenn sie hier ist“, sagte Svenja und musterte mich weiterhin. „Geht’s dir gut?“, diese Frage war an mich gerichtet. „Könnte nicht besser sein“, meinte ich ironisch und wir setzten uns in Bewegung.
Als wir aus dem Wäldchen traten und auf die Hütte zu gingen, erblickte ich die Truppe auch schon. Zuerst bemerkte uns nur Rob, der die anderen auf uns aufmerksam machte. Und plötzlich lagen alle Blicke auf uns, während wir nun auf sie zu traten. Ich spürte, dass die Stille nichts Gutes zu bedeuten hatte.
„Wo warst du?“, Chris blickte mich streng an. „Nachdenken“, antwortete ich knapp.
Ich sah in seinem Gesicht ein Zucken, wahrscheinlich hätte er mich am liebsten geschüttelt und mir Dinge an den Kopf geworfen, doch er hielt den Mund und blickte mich einfach nur düster an. Dann meinte er im ironischen Ton, der jedoch gleichzeitig scharf klang zu den anderen: „Keiner von uns wird demnächst Nachdenken gehen, bevor er nicht bescheid gesagt hat, vor allen Dingen nicht alleine, und nicht den ganzen tag.“ Ich hörte, wie da anderen murrten, natürlich war das nicht ernst gemeint gewesen, was Chris da von sich gegeben hatte, es war nur eine Stille Warnung für die Leute wie mich gewesen, die vielleicht im Sinn hatten für kurze Zeit zu verschwinden. Plötzlich trat Josch neben Chris, er musste sich im Hintergrund gehalten haben. Sein Blick verhieß nichts gutes, er lag zwar ruhig auf mir und ließ mein Herz flattern, doch ich konnte das Flackern darin nicht übersehen.  

Kapitel 9

 

„Leute, auf geht’s Holz sammeln, heute Nacht wird es bestimmt wieder kalt. Alle Mann standen vom Feuer auf, welches brannte, darüber hing noch etwas Fleisch. Sie musste zu Abend gegessen haben. Als sich alle nun auf den Weg machten, wollte ich bereits mitgehen, doch irgendetwas sagte mir stehen zu bleiben, denn Josch hatte sich kein Meter bewegt, er stand vor mir, schwieg und ich spürte die Spannung zwischen uns. „Hütte“, er deutet auf das Häuschen hinter sich und kehrte mir dann den Rücken zu, etwas mulmig war mir nun, während ich ihm folgte. Wieso ließ ich mich eigentlich herum kommandieren? Wahrscheinlich wollte ich ihn nicht noch mehr verärgern, er schien schon wütend genug zu sein, seine Rückenmuskeln zuckten leicht. Als ich einen Schritt in die leere Hütte machte, knallte er die Tür zu und gab mir einen Schubs, so dass ich gegen die nun geschlossene Tür stolperte.
Josch stellte sich wie eine zweite Wand vor mich auf, ein paar Zentimeter Platz ließ er zwischen unsere Körper, was ich eindeutig zu wenig fand, vor allen Dingen, wenn sein Atem etwas schneller ging und er eindeutig wütend war.
Seine hand stemmte er über meinen Kopf, die andere an seiner Hüfte, er war leicht über mich gebeugt. Er sah völlig fertig aus. Dann legte er los: „Willst du uns in den Wahnsinn treiben? War das deine Absicht? Herzlichen Glückwunsch, das ist dir voll und ganz gelungen, Mia“, knurrte er. Sein Atem berührte mein Gesicht, ich war mehr als nervös, am liebsten wäre ich davon gerannt.
Ich setzte an, etwas zu sagen, doch ich hatte keine Ahnung, was ich sagen sollte. Plötzlich tat es mir wirklich Leid, dass ich ihnen so viel Sorge bereitet hatte. Anscheinend hatte auch er sich Sorgen gemacht. „Kannst du vielleicht mal was von dir geben, nachdem du den ganzen Tag spurlos verschwunden warst und wir dich überall gesucht haben“, blaffte er nun ungehalten.
Ich schluckte und schaute zu Boden, meine Haare fielen mir etwas übers Gesicht: „Tut mir Leid“, flüsterte ich dann. „Was besseres fällt dir nicht ein“, er klang unglaublich forsch. Nun war ich wütend, ich blickte zornig auf: „Josch, eine Schlange, ich wiederhole um es zu verdeutlichen. Eine Schlange umschlang meinen nackten Körper. Ich war am durchdrehen, ich war völlig von der Rolle. Am liebsten hätte ich alles heraus geschrieen, aber das ging ja dummerweise nicht. Als ich mich von diesem Vieh befreit hatte, da konnte ich nicht anders als laufen. Ich wäre verrückt geworden, wenn ich es nicht getan hätte, ich wäre durchgedreht, mein eh schon misshandelter Verstand hätte sich verabschiedet“, entgegnete ich laut.
Ich betrachtete seinen Hals um ihn nicht direkt anschauen zu müssen, ich sah, dass sein Atem sich langsam wieder beruhigte.
„Hat sie dich verletzt“, fragte er nun ruhiger. Ich stutzte, dann schüttelte ich den Kopf: „Nein.“ „Bist du dir sicher“, hakte er ungeduldig nach. Ich blickte in seine dunkel blauen Augen, sie schauten mich fragend an: „Sie hat mich nicht gebissen, wenn du darauf hinaus willst.“ Er blickte mich weiterhin durchdringend an: „Hat sie dir sonst etwas getan, was du jetzt nicht vor mir zugeben willst“, drängte er.
Ich schaute zu Boden: „Mal davon abgesehen, dass sie mich nackt gesehen hat und an Stellen war, die na ja, du weist schon, es war einfach unangenehm und Ekel’ erregend“, murmelte ich und mein Gesicht wurde leicht rosa.
„Okay“, flüsterte er nun verständnisvoll und so sanft, dass es mir die Stimme verschlug. Dann lagen seine Hände plötzlich an meiner Taille und er schaute mich sanft an: „Alles ist okay, du bist hier, es ist vorbei“, flüsterte er. Und dann tat ich etwas, was mich selbst verwunderte. Ich beugte mich langsam vor und küsste seine Schürfwunde an seiner linken Wange. Und er schmeckte einfach fantastisch, noch nie hatte ich so etwas Schönes schmecken dürfen. Ich hörte einen leisen Seufzer, der nicht von mir kam, sondern eindeutig von Josch. Überrascht löste ich meine Lippen von seiner Haut und schaute ihm ins Gesicht, unsere Gesichter waren Millimeter voneinander entfernt. Seine Augen waren geschlossen und er sah so sinnlich und wunderschön aus. Sein Mund stand leicht offen, sein Atem ging etwas schneller, seine Brust hob und senkte sich leicht. Ich war überrascht, dass ich der Grund für diese Geste seinerseits war. Mein herz hüpfte wild und mein eigener Atem vernahm ich. „Ich wünschte mir, du wärst das am See gewesen und nicht die Schlange“, brachte ich mit zittriger Stimme hervor. Er schlug seine Augen auf und pure Leidenschaft drückten diese zauberhaften Augen aus, ich hörte mich nach Luft schnappen und mein Körper erwärmte sich um zehn Grad.
Dann drückte er mich ganz sachte mit seinem Körper gegen meinen an die Tür. Er fühlte sich so wunderschön an und so warm. Seine Lippen legten sich auf meinen Hals, dort wo mein Puls heftig Schlug, während er meine Hände mit seinen verschränkte. Er tanzte mit seinen Lippen über meinen Hals, ich japste leise und schloss die Augen, was stellte er bloß mit mir an. „Lass mich niemals wieder diese Sorge um dich haben, wie heute“, bat er leise, während er mein Kinn hinauf fuhr.
Als ich nichts sagte, biss er sanft in mein Kinn und ich schlug die Augen auf und blickte in seine: „Okay“, raunte ich ergeben. Dann küsste er mich sachte und vorsichtig. Nach einer Weile wurde er drängender und wir küssten uns stürmisch und entlockten dem anderen ein Stöhnen. Die Wärme, die sein Körper an meinem absorbierte erwärmte mich umso mehr. Er ließ meine linke Hand los, ich legte sie vorsichtig zwischen unsere Oberkörper an seine linke Brust, dort wo sein Herz schnell schlug. Er wanderte während unsere drängende Küsse meine Hüfte die Seite hinauf, berührte leicht die Seite meiner Brust und wanderte wieder abwärts.
Ich war von seinen Küssen und angeschmiegten Körper wie von Sinne, doch als seine Hand plötzlich auf meinem Po lag, wusste ich nicht mehr, wie man beim Küssen noch atmet, mir wurde schwindelig. Wahrscheinlich wäre ich zusammen geklappt, wenn es nicht plötzlich an der Tür, an der wir lehnten, geklopft hätte: „Josch? Kommt raus, wir müssen was Wichtiges besprechen“, Chris war mein Retter. Ich schlüpfte zwischen Joschs warmen Körper und der Tür weg, als auch schon die Tür aufgerissen wurde, mein Gesicht brannte immer noch wie Feuer. „Alles okay?“, Chris trat ein und blickte uns beide leicht verwirrt an. Chris schien die Spannung in der Hütte zu spüren und war nun leicht verlegen: „Hab ich euch gestört?“
Ich räusperte mich: „Nein gar nicht“, stimmte ich einen lockeren Ton an und quetschte mich an ihm vorbei zur Tür hinaus. „Ganz tolles Timing Mann“, hörte ich Josch sagen, während ich zu Hilary und den anderen ging, die das gesammelte Holz neben dem brennenden Feuer stapelten und sich dann wieder drum herum setzten. „Hei“, meinte ich und setzte mich zu ihr, „Bist du noch sauer?“ Sie stapelte ihr gesammeltes Holz vorsichtig auf dem Haufen und blickte mich dann an: „Nein, irgendwie kann ich dich auch verstehen“, erklärte sie ernst.
„Setzt euch alle um das Feuer, wie müssen was ernstes bereden“, meinte Chris laut. Und die anderen setzten sich zu uns, nachdem alle saßen begann Chris, neben ihm saß ein nachdenklicher und ernst drein schauender Josch: „Seit dem Unfall ist jetzt ne ganze Woche vergangen. Bisher haben wir keinen Mucks von irgendjemand außerhalb dieser Wildnis gehört. Hektor meint, dass es ein paar hundert Kilometer von hier es bestimmt ein Dorf gibt, weil er bei seiner Tour, vielleicht vier oder fünf Stunden von hier entfernt, ein paar Kühe gesehen hat. Da wir nun alle so gesund sind um laufen zu können, spielen wir, also Dave, Ed, Rob, Josch und ich, eure Teamer, mit dem Gedanken dort hin zu wandern.
Wir schätzen, dass wir ungefähr fünf, sechs Tage unterwegs sein werden. Wir dürfen natürlich nicht unsere körperlichen Grenzen vergessen. Wir alle haben etwas sehr schweres erlebt, wie es der Zufall will, ist ein zweiter Bus verunglückt und Hektor stieß zu uns. Wir sind körperlich nicht in dem Zustand, in dem jeder einzelne von uns sich normalerweise befindet. Deshalb würden wir es verstehen, wenn einige von euch lieber im Schutz der Hütte bleiben würden. Aber…“, „Willst du damit sagen, dass wir hier womöglich für ewig fest sitzen werden, wenn nur einer von uns sich nicht bereit erklärt die Tour mit zu machen?“, erklang Bens Stimme laut.
Ein Schweigen setzte ein, dann ergriff Josch das Wort: „Genau das will er damit sagen, Ben. Und darüber wird auch nicht diskutiert, wir sind für euch Jüngere verantwortlich und werden es nicht zu lassen, dass euch noch irgendetwas passiert. Keine Alleingänge mehr“, sein Blick schweifte über die Jüngeren und blieb an mir hängen. Ich senkte den Blick, ich wusste, worauf er hinaus wollte.
„Aber das ist doch völliger Mist“, beklagte sich Jack nun. „Wenn einer der Mädels sich in den Kopf gesetzt hat hier in der gemütlichen Hütte zu bleiben, soll sie doch.“ Ich kochte nur vor Wut, was war er für ein Mistkerl, wie kam er auf so was?
„Wer sagt, dass wir hier bleiben wollen“, keifte Hilary empört. Jack starrte sie erbost an: „Na weil ihr halt Mädchen seid und lieber gemütlich in der Hütte bleibt, als sich der Realität zu stellen!“ Ich sah, wie Hilary am liebsten auf gesprungen wäre und diesen eingebildeten Kerl eigenhändig niedergeschlagen hätte und ich hätte ihr liebend gerne dabei geholfen: „Schluss jetzt“, polterten Chris und Josch gleichzeitig.
Doch auch ich musste noch etwas sagen, das war doch alles nicht wahr: „Wenn wir solche Mädchen wären, dann wärst du Jack jetzt nicht unter uns, sondern legest verblutet und zerstückelt in der Schlucht“, zischte ich. Die Stille, die darauf folgte, war unerträglich lange und ich hörte, wie die Mädchen und einige jüngere Junges, unter ihnen auch Jack, nach Luft schnappten. „Also reis dich gefälligst zusammen und streng dein Gehirn an. Weder Hilary, noch Svenja oder Erika werden etwas dagegen sagen, wenn wir von hier verschwinden und platsch nass werden, sollte es regnen und das wird es ganz bestimmt. Und ich bin die letzte von allen, die euch davon abhalten wird, denn ich musste heute genug Demut erleben, das reicht für das ganze Leben“, zischte ich. Wieder Stille, ich spürte alle Blicke auf mir ruhen, während ich meine Beine zu meinem Oberkörper zog und meine Arme darum schlang, natürlich konnte ich jetzt die Bilder nicht zurück drängen, sie schwirrten unaufhörlich herum und brachten mich um den Verstand.
„Nachdem wir das nun geklärt hätten“, meinte Chris leicht sauer. „Könnten wir nun darüber reden, wann wir losgehen wollen und wer für wen verantwortlich ist. Josch und ich haben entschlossen, dass jeweils ein Junge für ein Mädchen zuständig ist, damit es hier kein Chaos gibt, niemand soll verloren gehen und niemandem soll noch etwas zu stoßen.“ Hilary und ich blickten uns ungläubig an, dann klang sie sich wütend ein: „Was soll das heißen, jeder ist für ein Mädchen zuständig? Wo sind wir denn hier? Wir leben im 21. Jahrhundert Chris, wir wissen schon gut auf uns selbst zu achten.“ „Schatz, natürlich werde ich derjenige sein, der auf dich acht gibt, also führ dich nicht so auf“, bemerkte Chris ungeduldig. „Das ist mir schnurz piep egal, hier geht’s ums Prinzip. Wir konnten bisher auf uns aufpassen und das tun wir auch in Zukunft. Wir brauchen keinen Bodyguard“, entgegnete sie zornig.
Chris blickte seine Freundin nun wütend an, es fehlte nur noch, das Dampf aus seinen Ohren kam: „Wir sind in der Wildnis, Hilary! Du kannst das nicht mit zu Hause vergleichen, sieh es endlich ein, wenn wir überleben wollen, muss jeder seinen Platz haben!“, brüllte er nun und ich hörte, wie die anderen Junges ihm zustimmten. Sogar Josch nickte leicht: „Ohne Ordnung werden wir es nicht schaffen, wir wollen auch nicht weiter darüber diskutieren. Wenn es um eure Sicherheit geht, werden wir uns nicht umstimmen lassen. Svenja wird sich an Dave halten und Erika an Ed.“
„Was ist mir ihr“, Jack nickte in meine Richtung. „Kann sie etwa alleine auf sich acht geben, ich übernehme das gerne“, meinte Ben nun und warf mir einen schmunzeln zu. Ich setzte bereits zu einer spitzen Bemerkung an, aber Josch fuhr da zwischen: „Sie gehört zu mir“, die Worte klangen wie eine stille Warnung und eine Drohung.
Niemand sagte etwas, sie waren bestimmt überrascht über Joschs Worte. Ich selbst war auch verblüfft, dass er das sagte. Es schien ihm wirklich ernst zu sein, ich war so verlegen, dass ich nicht aufschauen konnte. „Ihr seht, eine gewisse Ordnung besteht bereits und ich warne euch, versucht nicht darin herum zu pfuschen. Wir sind auf uns alleine gestellt und brauchen keine Intrigen unter uns, es ist so schon schwer genug. Wann wollt ihr aufbrechen?“, sagte Dave nun.
Es wurde nun wild durcheinander geredet, ich spürte Hilarys Blick auf mir ruhen und schaute fragend auf. „Wieso erzählst du mir eigentlich nie etwas“, flüsterte sie beleidigt und stieß mich mit dem Ellebogen an.
„Später“, flüsterte ich nervös zurück und sie kicherte leicht. Irgendwie tat es gut, ihr Kichern, es machte alles normaler und in der Situation, in der wir uns befanden, war wirklich nichts Normales dran.
„Seid mal alle still, so kommen wir nicht auf den gleichen Nenner“, brüllte Chris nun und das Gere ebbte ab. „Wie ich das sehe, sind wir alle der Meinung, morgen früh wäre der perfekte Zeitpunkt von hier zu verschwinden. Wie viel Uhr haben wir jetzt Ed?“, fragte Chris. Ich wusste gar nicht, dass irgendjemand von uns noch eine funktionstüchtige Uhr hatte. „Halb sieben“, bemerkte der sonst eher stille Ed.
„Dann packen wir unsere Sachen zusammen und legen uns schlafen, damit wir morgen genug Kraft haben“, meinte Chris nun. Die anderen schienen mit diesem Vorschlag einverstanden und erhoben sich bereits: „Nehmt nichts mit, was nicht unbedingt sein muss“, erinnerte Chris sie und dann machten sich alle in die Hütte oder sammelten ihre Habseligkeiten draußen ein.

Hilary zog mich am Arm von de Feuerstelle weg, wo Josch und Chris noch angeregt miteinander redeten.
Hilary hielt erst an, als wir am See waren, dann ließ sie sich ins Gras plumpsen, ich setzte mich nervös neben sie. Am liebsten wäre ich nicht einmal in die Nähe dieses Sees gegangen. „Entspann dich, die Schlange war bestimmt ne Ausnahme, außerdem sind wir ja nicht im Wasser“, bemerkte Hilary ungeduldig. Sie hatte gut reden, sie musste sich nicht die ganze Zeit an diese schleimige Haut erinnern. Ich zitterte und mir rieselte Gänsehaut den Rücken hinunter. „Also, wie kommt’s?“, fragte Hilary gespannt. „Wie kommt was? Das der Himmel blau ist, das Meer ebenfalls und die Sonne gelb?“, fragte ich genervt. Ich hörte sie seufzen: „Nein, dass mit Josch. Seit wann läuft da was zwischen euch? Ich dachte er sei nicht dein Typ.“
„Da läuft nichts“, antwortete ich zögerlich. „Das kannst du sonst wem erzählen, aber doch nicht deiner besten Freundin“, meckerte Hilary aufgebracht. „Ich sehe doch, wie er dich anschaut und dass du darauf reagierst, ich meine, das würde ein Blinder erkennen“, stellte sie klar. Ich fuhr mir durchs Haar, das verknotet war, das Bürsten würde heute ziemlich lange ausfallen, wenn ich sie überhaupt noch auseinander bekam. Wenn ich je nach Hause zurückkommen würde, dann muss ich sie bestimmt abschneiden, weil sie dann nicht mehr zu retten waren, wie so vieles.
Meine Schweigsamkeit machte Hilary machte Hilary wütend: „Gut, wenn du es nicht erzählen möchtest“, schnappte sie. „Ich weis es selbst nicht, was da zwischen uns ist“, meinte ich dann wahrheitsgemäß. „Meine Güte, man kann auch alles verkomplizieren, Mia. Er steht auf dich und du auf ihn. Was ist da nicht zu verstehen?“, erklärte sie ruhig.
Meine Wangen wurden heiß und ich rieb mir die Stirn: „Ich denke, es ist wirklich mehr als das, und deshalb ist es nicht so einfach zu handhaben, verstehst du?“ Ich rupfte Gras und blickte auf den hell blauen See.
„Habt ihr euch geküsst?“, fragte Hilary nun. Ich räusperte mich und schlang die Arme um meinen Bauch. Als ich nichts sagte, zog Hilary ihren eigen Schluss daraus: „Und ist er so gut, wie man es sich in der Schule erzählt?“ Die Schule, dieses Wort bereitete mir Bauchschmerzen, wenn ich an Joschs Rolle in der Schule dachte.
Es war einfach grotesk, dass wir uns geküsst hatten, wo er doch mit einem hübschen Mädchen zusammen war und ein angesagter Typ war.
„Das ist es nicht“, meinte ich leise. „Das ist es nicht, was mich an ihm so fasziniert“, entgegnete ich ernst. Hilary hielt für kurze Zeit ihren Mund, dann lachte sie plötzlich leise: „Mädchen, du hast dich in einen Jungen verliebt, der dir das Herz brechen wird, sobald wieder Realität herrscht.“ Zwar taten mir ihre Worte sehr weh, doch wusste ich, dass sie Recht hatte. Ich hatte nie daran gezweifelt, dass Josch sich nicht zu mir bekennen würde, wenn wir uns wieder im Alltag befanden. Vielleicht würde er nett zu einem sein, aber das war es auch schon und konnte man es ihm verübeln? Nein, das tat ich nicht, ich verstand ihn sogar.
Wir schwiegen, vermutlich hätten wir so eine Weile neben einander sitzen können und einfach nur den See betrachtend. Doch nach einer Zeit rief man unseren Namen, es war Zeit: „Komm, lass uns schlafen, bevor wir nicht mehr dazu kommen“, Hilary nahm meine Hand und gemeinsam kehrten wir zur Hütte zurück.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 10

 

In der Hütte herrschte Unordnung, weil jeder nach etwas Bestimmtes noch suchte.
Als ich zu meinen Sachen trat, lag mein ganzer Rucksack ausgekippt dar. BHs, Unterhosen, Hosen, Pullis, Sonnenbrille, Shampoo, Zahnpasta und Bürste, lagen zerstreut auf meinem Schlafsack. Auch Hilary erging es nicht viel besser. Empört suchte ich nach meinem Portmonee, in dem jede Menge Geld, mein Führerschein, Personalausweis und andere wichtige Dinge drinnen waren. Erleichtert atmete ich aus, als ich ihn unter meinen Pullis fand. Dann bauten Hilary und ich uns vor Ben und Jack auf, wir wussten bereits, wer für das Chaos verantwortlich war: „Was bildet ihr euch eigentlich ein?“, zischte Hilary nun, nachdem sie um sich geschaut hatte und keinen Teamer in der Hütte finden konnten, gut so, dann konnten wir denen endlich mal unsere Meinung geigen.
„Bitte?“, fragte Jack und versuchte so aus zu schauen, als wisse er nicht, warum wir aufgebracht vor ihnen standen. Er und Ben packten gerade kniend ihre Sachen zusammen. „Ihr habt unsere Sachen durchwühlt“, meinte ich aufgebracht.
„Kannst du das auch beweisen?“, Ben schaute uns herausfordernd an. Ich glaubte, ich hätte mich verhört. Wie konnte man nur so egozentrisch sein?
„Beweißen? Was, dass ihr Arschlöcher seid?“, keifte ich. Ben sprang auf seine Füße und kam mir ganz nah: „Pass auf was du sagst, Kleine. Sonst kann ich ganz schön mies werden.“ „Ei Mann lass sie lieber in Ruhe, du weist doch, dass sie zu Josch gehört“, Jack klang leicht nervös. „Ich gehöre zu niemandem“, meinte ich erhitzt. Was bildeten die Kerle sich eigentlich ein? „Wir wollen wissen, warum ihr unsere Sachen durchwühlt habt“, klang sich nun Hilarys zornige Stimme ein.
„Weil wir nach unseren Handys gesucht haben“, erwiderte Ben und warf ihr einen geringschätzigen Blick zu. Nun war klar, was die Deppen gedacht haben. „Wollt ihr uns damit sagen, dass ihr gedacht habt, wir hätten sie euch geklaut?“, Hilarys Stimme zitterte vor Zorn. Gleich würde sie wie eine Rakete abgehen. Ich legte eine hand auf ihre Schulter und blickte die zwei Junges erbost an.
„Und, habt ihr eure Handys gefunden“, ich versuchte meine Stimme ruhig klingen zu lassen, was mir sehr schwer viel. „Haben wir“, antwortete Ben aufmüpfig.
„Wo waren sie?“, zischte Hilary. „In unseren Pullis“, meinte Ben Schulter zuckend.
„Habt ihr nicht vor euch dafür zu entschuldigen, erstens unsere Sachen durchwühlt zu haben und zweites beschuldigt zu haben“, bellte sie.
„Entschuldigung, eure Hoheit“, Ben machte ein Knicks und das war für Hilary zu viel, sie stürzte sich auf ihn, und entwischte mir um haaresbreite. Mit einem lauten Schrei knallten die Beide auf unterschiedliche Schlafsäcke und es brach das Chaos aus. Ich versuchte Hilary aus dem Schlamassel heraus zu bekommen und wurde dann von Jack überwältigt. Wir wälzten uns in dem Chaos der nun durcheinander geratenen Schlafsäcke. Er versuchte meine Hände zu fassen, die seine Handgelenke umfassten. Unsere Beine waren ineinander verkeilt, als wir so über die Schlafsäcke kullerten und uns gegenseitig einen Hieb verpassen wollten. Es gelang mir ihm in den Magen zu boxen, er sollte mich los lassen, doch er wälzte sich auf mich und hielt nun meine Hände fest und so ging das die ganze Zeit. Ich versuchte ihn letztendlich zu beißen, doch wir wälzten uns so schnell herum, dass ich es einfach nicht schaffte ihn von mir los zu bekommen. Ich hörte das Keuchen von Ben und Hilary, die auch miteinander kämpften. Doch ich hatte keine Zeit zu gucken, wie es bei ihnen so Stand, ich war damit beschäftigt, mir von Jack die Luftröhre nicht abdrücken zu lassen. „Mistkerl“, schrie Hilary nun aufgebracht, vermutlich hatte sie gerade eine Gewischt bekommen oder Ähnliches. Ich hörte Ben darauf laut Aufkeuchen, sie hatte wohl auch ihm eine verpassen können. Bei mir sah das etwas anders aus, Jack war etwas sportlicher gebaut als Ben und schien sehr viel Kraft zu haben. Zwar entwischte ich seinen Hieben, aber ich konnte mich aus seiner Umklammerung nicht befreuen. Keuchend wälzten wir uns über Rucksäcke, Schlafsäcke und Kleidungen, als ich Schritt hörten. Das mussten also die anderen sein. „Cool!“, hörte ich Hektor entzückt schreien. Und ein: „Scheiße“, stammte von einer anderen Stimme, vermutlich Robs. „Hol Chris und die anderen“, stieß er hervor. Dann versuchte er wahrscheinlich Ben und Hilary auseinander zu bringen, denn Jack und ich kämpften immer noch, ohne Unterbrechung. „Aber“, entgegnete Hektor verblüfft. „Mach schon“, kam nun die erstickte Stimme von Rob. Er schien sein Schaff mit den anderen beiden zu haben. Ich war kurz unkonzentriert, was Jack ausnutzte, er biss mir in die Unterlippe, sodass sie anfing zu bluten. Noch wütender als zuvor versuchte ich mich von ihm los zu machen um im einen Kinnhaken zu verpassen, doch wir wälzten wieder herum, unsere Arme und Beine ineinander verheddert. Wir fechteten mit den Händen, wehrten ab und griffen an.
Dann hörte ich mehrere Schritte, die durch die Hütte hallten. Zwei Männer griffen in unseren Kampf ein, wir wurden aus unserer Umklammerung gerissen und auf die Beine gezogen. Keuchend und mit funkelten Augen blickten wir uns. Ich bemerkte nicht, dass meine Unterlippe ziemlich blutete, ich setzte bereits an, wieder auf diesen Mistkerl zuzustürmen, der mich böse angrinste. Doch Arme hielten mich davon ab, überhaupt noch einen Schritt zu tun, sie lagen um meinen Bauch und gaben mir keine Bewegungsfreiheit mehr: „Hört sofort auf, alle!“, bellte Joschs Stimme nahe hinter mir. Er war es also, der mich davon abhielt, mich noch mal auf Jack zu stürzen. Ich setzte keinen weiteren Versuch an, mich auf Jack zu stürzen, versuchte mich jetzt aber aus Joschs Armen zu befreien. Er ließ mich so weit los, dass seine Arme nicht mehr unnachgiebig um mein Bauch rum lagen, doch er hielt meinen Arm fest und zog mich am Ärmel zum Tisch, wo er mich auf eine Bank drückte: „Bleib sitzen“, brummte er und ließ mich dann los um Daven zu helfen, der mit Jack seinen schaff hatte. Daven selbst war nicht besonders groß für einen Mann, und Jack überragte ihn um einen halben Kopf. „Schämst du dich nicht Mann? Ein Mädchen anzugreifen, das ist erbärmlich“, polterte Josch, während er ihn am Genick umfasste und ihn auf die andere Seite des Tisches setzte. „Bleib ja sitzen“, warnte er und warf ihm einen drohenden Blick zu. Dann blickte er zu Chris und Rob rüber, die die beiden Streithähne schon auseinander gebracht hatten und sie nun zum Tisch führten. Hilary ließ sich neben mich auf die Bank plumpsen. Als ich ihr Gesicht sah, zuckte ich zusammen. Meine Güte, Ben hatte sie ganz schön zugerichtet. Aber als sie mich anschaute, lächelte sie leicht: „Da sollen sie noch einmal sagen, wir wären zart beseidet.“ Ich konnte nicht Recht darüber lachen, ich fand Hilarys Anblick einfach nur gruselig, wahrscheinlich sah ich nicht einmal viel besser aus, das machte mir angst.
„Ihr benehmt euch wie kleine Kinder!“, herrschte Chris uns an, während die anderen entweder an seiner Seite standen, oder auf dem Boden saßen. „Oder besser gesagt, wie Tiere. Meine Güte, wo bleibt denn euer Stolz? Seit wann schlägt man Mädchen? Und seit wann verhält man sich überhaupt so bescheuert? Kann mir das mal jemand sagen?“ Ich ließ den Kopf hängen, Chris hatte natürlich vollkommen Recht, dazu hätte es gar nicht kommen dürfen. Wir haben uns wie Tiere verhalten und dazu kommt noch, dass ich Hilary eigentlich nur davon abhalten wollte, sich auf Ben zu stürzen. Dieser blöde Jack hatte sich auf mich gestürzt, von hinten, einfach so!
Und dann war alles aus dem Ruder gelaufen, die Sicherung ist bei mir durchgeknallt! Meine ganze Wut hatte ich an ihm ausgelassen und jetzt fühlte ich mich keinen Deut besser. „Will sich vielleicht irgendeiner dazu äußern?“, hallte Chris unnachgiebige Stimme durch die Hütte. Ich schaute kurz auf und sah Josch, er lehnte an der Tür, die Arme ineinander verschränkt, sein Blick lag auf mir. Als ich zu ihm schaute, betrachtete er mich wütend und nachdenklich zugleich. Schnell senkte ich meinen Blick wieder.
„Ben und Jack haben unsere Taschen durchwühlt“, meinte Hilary aufgebracht. „Wieso habt ihr das getan?“, fragte Chris fachmännisch, ich spürte, dass ihm dieser Kinderkram gewaltig auf den Senkel ging.
„Wir dachten, sie hätten unsere Handys versteckt“, antwortete Ben ernst. Eben hatte sich das aber noch anders angehört.
„Das hätte ihr entweder Josch oder mir sagen können, dann hätten wir uns darum gekümmert“, klärte Chris ungeduldig. „Auch in dieser Situation hat niemand das recht in anderen Privatsphäre herum zu schnüffeln“, fügte er forsch hinzu.
„Geht klar“, sagten Jack und Ben gleichzeitig. „Habt ihr eure Handys gefunden?“, hakte Chris nach. Die beiden nickten: „Sie hatten sie doch nicht. Wir wollten uns schon bei ihnen entschuldigen, aber da ist Hilary auch schon auf mich los gestürzt, wie ne Irre“, log Ben munter. Bevor Hilary sich wieder darüber aufregte, schaltete ich mich schnell ein und blickte Chris an: „So war das nicht. Hilary ist nicht auf sie losgegangen, weil sie sich entschuldigen wollten. Chris hat uns verspottet, nachdem er meinte, er müsse sich für nichts bei uns entschuldigen. Das hat Hilary so aufgeregt. Ich wollte sie davon abhalten, sich auf Ben zu stürzen, als Jack mich von hinten überwältigte und dann na ja sind die Sicherungen durch geflogen, bei uns allen“, erklärte ich ruhig. Ich war einfach nur geschafft und wollte schlafen.
Ich bemerkte nun, dass meine Lippe blutete, seufzend leckte ich das Blut weg, doch das half nicht besonders viel. Chris blickte mich aufmerksam an, als wolle er checken, ob ich auch wirklich die Wahrheit sagte, dann wandte er sich den Junges zu: „War das so, wie Mia es gerade geschildert hat?“
Stille, dann: „Was wäre, wenn es so gewesen wäre?“, Ben schaute Chris fordernd an.
Chris Hand schnellte auf den Tisch, es gab einen lauten Knall: „Was soll noch passieren, bis du klar im Kopf wirst, Junge? Sollen wir erst alle drauf gehen, bis du nachher nur noch alleine da stehst? Oder was versuchst du mit deiner ständigen Rebellion zu bewirken?“, polterte er und ich zuckte zusammen.
Nun fing eines der zwei Mädchen auch noch an zu weinen, na super. Chris Blick blieb an Hilary und mir hängen. Da Hilary im Moment nicht in der Lage war, jemanden anderes zu trösten, rutschte ich von der Bank und setzte mich neben Svenja, ihr Körper vibrierte, während sie leise weinte. Erika saß hilflos daneben und war kreidebleich, auch sie schien die Nerven zu verlieren. Tröstend legte ich einen Arm um Svenja und zog sie an meine Brust. Sie wimmerte leise und lies sich von mir umarmen. Ich flüsterte ihr ruhige Worte zu, während Chris nun weiter redete: „Ich hab es schon mal gesagt, nur gemeinsam können wir aus dieser Situation kommen. Es ist gleichgültig, wer nun angefangen hat, es ist zum Donnerwetter egal, warum ihr euch nicht leiden könnt. Im Moment spielen solche Kindereien keine Rolle, weil es um das Leben jedes einzelnen geht. Deshalb haben Josch und ich uns dafür entschieden, dass wir jedem Mädchen ein Junge zu teilen, um etwas klar zu stellen. Wir wollen keinen Streit untereinander, wir brauchen ne Ordnung, wie in einem Rudel, nur so können wir verhindern, dass wir aufeinander losgehen. Keine Ahnung wie lange wir ab morgen durch die Gegen irren, bis wir ein Dorf finden, wo man uns helfen kann. Aber gemeinsam können wir es schaffen. Seht euch an, wir leben alle, wir haben durch die Hilfe zweier tapferer Mädchen, ein Busunfall überlebt. Aber nicht alle haben es geschafft. Nicht einmal die hälfte von uns hat es geschafft. Und wenn ihr euch weiterhin so verhaltet, bleib von uns auch nur die Hälfte übrig, wollt ihr das?“, fragte Chris auffordernd und sein Blick wanderte über die Jugendlichen.
Stille, nur das Schlucksen von Svenja, die ich weiterhin beruhigend im Arm hielt, hörte man, ein einheitliches Schweigen, das Erschöpfung, Kummer und vielleicht noch etwas Hoffnung ausdrückte. „Nein“, sagte dann Ben laut. „Natürlich wollen wir das nicht, es tut uns Leid, wir werden uns zusammen reisen“, meinte er ernst.
„Dann beseitigt alle Mann dieses Chaos hier und legt euch schlafen, morgen früh geht es los“, kommandierte Chris und zusammen mit Josch, Daven, Ed und Rob verlies er die Hütte.

Wir machten uns an die Arbeit die zerwühlten Schlafsäcke wieder richtig hin zu legen und Hilary und ich suchten unsere Sachen zusammen und stopften sie schweigend in unseren Rucksack. Als ich mich bereits in den Schlafsack legen wollte, viel mir ein, dass ich Joschs Pulli noch hatte. Ich nahm den Pulli, den ich neben meinem Rucksack gelegen hatte und stieg über Jack und Ben, die zu unseren Füßen lagen. Da ich nicht geringste Ahnung hatte, wessen Schlafsack nun ihm gehörte, stand ich unschlüssig vor den ganzen Schlafsäcken: „Joschs Schlafsack ist der dunkel blaue“, bemerkte dann Svenja schüchtern. Ich nickte dankbar und brauchte mich nicht zu fragen warum sie das wusste, immerhin war Josch der Schwarm aller Mädchen, egal wo und wann. Wahrscheinlich hätte auch die Welt untergehen können, und die Mädchen hätten noch Schlange bei ihm gestanden.
Ich legte seinen Pulli auf den Schlafsack, daneben stand ein dunkel blauer Rucksack, den man fürs Wandern benutzte. Ich räusperte mich und ging zu meinem Schlafsack zurück. Noch rechtzeitig, denn keine Minute später, wir alle lagen Mucks Mäuschen still in unseren Schlafsäcken, kamen die anderen Junges auch schon herein und begaben sich leise und flüsternd zu ihren Schlafsäcken.
Ich lag auf der Seite und hatte meinen Schlafsack bis zur Nasenspitze gezogen. Hilary lag mir zu gewandt ebenfalls auf der Seite und betrachtete mich. Dann robbte sie leise noch näher zu mir, sodass unsere Schlafsäcke nahe aneinander lagen: „Und, wie hast du dich gegen Jack geschlagen?“, sie schmunzelte leicht. Unglaublich, dachte ich, Hilary war echt na ja, ungewöhnlich. „Er hat mich gebissen“, flüsterte ich und deutete auf meine blutige Lippe. Sie verzog das Gesicht und zeigte auf ihr Feilchen am Auge: „Er hat auch eins“, bemerkte sie grinsend. Ich verdrehte die Augen, als sich ein Schatten über uns legte. Chris stand neben uns und blickte mit strengem Blick auf uns hinab: „Mädels, ich sagte schlafen, nicht quatschen.“ „Machen wir doch gleich“, entgegnete Hilary und warf ihm einen anschmachtenden sexy Blick zu. Ich musste leise prusten, als ich sah, was für eine Wirkung das auf den armen Chris hatte. Er schien nun leicht verlegen, was ich bei ihm noch nie gesehen hatte: „Schon klar. Willst du nicht bei mir schlafen“, er sah hoffnungsvoll zu ihr hinunter. „Du hast gerade gesagt wir sollen schlafen, Schlaui. Glaubst du wir schlafen, wenn ich bei dir schlafe?“, säuselte sie und lächelte siegssicher. Nun schien Chris vollkommen verloren, er fuhr sich mit der Hand durchs Haar und brummte noch etwas, dann ging er zu seinem Schlafsack zurück. Hilary kicherte und ich fiel mit ein, der arme Kerl. „Du bist unmöglich, Hilary. Der Arme“, meinte ich leise.
„Der hält das schon aus“, flüsterte Hilary. Ich dachte über ihre Worte nach. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich es schaffte einen Mann dazu zu bringen ihm den Kopf zu verdrehen und mit ihm zu spielen, ich hatte über so etwas keine Macht und schon gar nicht den Mut. Sie schien meine Gedanken erraten zu haben, denn sie schmunzelte leicht: „Wenn du willst bring ich dir ein paar Tricks bei.“ Oh nein, alles aber das nicht, dachte ich. „Vielen Dank, aber ich denke so viel Mut hätte ich nicht“, entgegnete ich leise. Hilary betrachtete mich nachdenklich, dass grinste sie: „Na da wäre ich mir nicht so sicher, komm mal mit“, sie machte ihren Reisverschluss auf und dann meinen. „Wolltest du dir deine Haare nicht noch kämmen?“, fragte sie lächelnd und holte meinen Kamm aus meinem Rucksack.
„Hilary“, zischte Chris nun leicht sauer. „Braucht ihr eine Extraeinladung zum Schlafen? Legt euch sofort wieder hin.“ „Ja gleich, wir müssen uns nur noch unsere Haare kämmen“, flüsterte sie, ich hörte Chris stöhnen, der Arme.
Sie begann meine Haare zu kämmen, anfangs musste sie erst einmal die ganzen Knoten raus bekommen, tja, irgendwann hing der Kamm im Haar. „Sag mal, war das geplant“, zischte ich ihr nun leicht angesäuert zu. „Natürlich nicht“, meinte Hilary leise. Sie zog an meinem Haar herum, doch die Bürste hing an meinem Haar und da ich sehr langes Haar hatte befand sich die Bürste etwas in der Mitte meines Rückens. Nach fünf Minuten fluchte Hilary leise und Chris verlor die Geduld: „Himmel noch mal, wenn ihr euch nicht sofort hin legt, bekommt ihr Hilfe dabei“, drohte er zischend.
Hilary lies sich nicht beirren und konzentrierte sich darauf meine Haare von dieser beschissenen Bürste zu befreien: „Wird schon, ganz ruhig, ich hab das gleich“, sie klang eher so, als wolle sie sich selbst beruhigen. Ich versuchte ruhig zu bleiben, doch ich merkte, wie ich langsam wütend auf sie wurde. Nach weiteren fünf Minuten hing die Bürste immer noch in meinem Haar, Hilary versuchte sich zwar nichts anmerken zu lassen, doch ich sah, wie nervös sie war, ihre Hände flatterten über meine Haare, als könne sie so mein Haar retten, aber da war nichts mehr zu retten.
„Okay“, sie zog das Wort in die Länge und ich wusste, was das für mich bedeutete. Ich zwang mich nicht zu weinen, als ich eine Nagelschere aus meinem Kulturbeutel nahm und sie ihr wortlos reichte. „Bist du dir sicher?“, flüsterte sie schuldig. Ich holte tief Luft und blickte sie wütend an: „Nein natürlich nicht, aber hast du einen anderen Vorschlag?“, flüsterte ich wütend. „Jetzt reicht’s“, zischte Chris entschlossen und riss den Reisverschluss seines Schlafsackes auf und sprang auf die Beine, mit großen Schritten kam er auf uns zu und stieg über die Schlafenden. „Ihr werdet jetzt sofort schlafen. Hilary du legst dich zu mir, sonst wird das nichts!“, bestimmte er und stand nun abwartend da. Als er die Szene nun registrierte, die Bürste in meinem Haar, die Schere in Hilarys Hand: „Was wird das? Ihr habt doch wohl jetzt nicht ernsthaft vor euch gegenseitig die Nägel zu schneiden?“ Hilary bedachte ihn mit einem wütenden Blick: „Ich muss Mia die Haare abscheiden“, mir bereiteten diese Worte Herz flattern in negativem Sinne. „Kann das nicht wann anders gemacht werden?“, zischte Chris ungläubig. Hilary verdrehte über die Logik ihres Freundes den Kopf: „Wir würden sie gar nicht abschneiden, wenn es nicht nötig wäre, Chris. Aber der Kamm hängt in ihrem verknotetem Haar fest“, sie wies bedeutungsvoll auf den Kamm in meinem haar. Chris schaut nicht einmal hin, ihm schien das alles total Irrational: „Und wenn sie sonst was im Haar hätte, das ist egal. Morgen wandern wir den ganzen tag und wenn ihr beide euch beschwert, weil ihr müde seid, dann werden wir darauf keine Rücksicht nehmen und jetzt haltet wenigstens den Mund, wenn ihr schon nicht vor habt zu schlafen, es gibt nämlich einige in dieser Hütte, die wollen schlafen“, damit drehte er sich um und legte sich wütend wieder in seinen Schlafsack. Hilary blickte ihm finster nach, dann wendete sie sich mir wieder zu: „Okay bringen wir es hinter uns, danach kümmere ich mich um ihn“, sie neigte den Kopf in Chris Richtung. Ich fragte mich, wie sie den verärgerten Chris wieder hinbiegen wollte.
„Okay, fang schon an“, ich schloss meine Augen. Sie räusperte sich leise: „Wo genau soll ich ansetzen?“, sie klang nervös. Ich dachte kurz darüber nach und entschied mich schnell: „In der Höhe meiner Schulter“, ich schluckte schwer, als ich das sagte.
„Okay, dann wollen wir mal“, meinte Hilary, sie klang nun hoch konzentriert, während ich die Augen zusammen kniff und mein Atem schneller ging, mein herz pochte mir bis zum Hals. „Keine Sorge, ich hab die Haare meiner kleinen Schwester schon öfters geschnitten“, bemerkte Hilary leise. Ihre Worte hatten auf mich eher keine Wirkung, ich fragte mich, wie ihre Schwester nun aussah.
Und dann knirschte die Schere und ich holte tief Luft, als plötzlich dort, wo normalerweise Haare lagen, plötzlich nur noch Luft war. Auf meiner Schulter hatten bisher immer Haare gelegen, seit ich denken konnte, waren sie da gewesen. Deshalb waren sie auch so lang, ich hatte immer nur die Spitzen schneiden lassen.
Ich versuchte das monotone Geräusch der Schere nicht zu beachten und dachte an Sonnenblumen, an wunderschöne Sonnenblumen und an den Geruch des Meeres. Und an den Geruch von heißer Schokolade. Ein Bad wäre nicht schlecht, dachte ich. Und natürlich ein angenehmes Bett zum rein kuscheln, im Gegensatz zu diesem harten Boden, auf dem wir mit unseren Schlafsäcken lagen. Nach einer Weile blendete ich tatsächlich alles um mich herum ab und dachte an Mam, daran, wie es ihr gerade ergehe. Und ich ließ es auch zu, an die Zukunft zu denken, mit meiner Mutter. In ein paar Tagen würden wir ein Dorf erreichen und dort würde man uns helfen können, bestimmt. Immer noch mit geschlossenen Augen vernahm ich nun den Regen, der auf das alte Dach prasselte, ich war in der Realität zurück und Hilarys Stimme erklang ruhig: „So, also ich denke, das ist mir ganz gut gelungen.“
Kälte breitete sich auf meinen nun für mich nackt anfühlenden Nacken, Schulter und Rücken aus. Ich traute mich nicht, die Augen zu öffnen und die Hände an mein Haar zu heben. „Du kannst dich entspannen, es sieht wirklich gut aus“, erklang ein weitere Mädchenstimme. Ich öffnete die Augen, Erika betrachtete mich aufmunternd: „Ehrlich, Hilary hat das sehr gut hinbekommen.“ Ich drehte mich zu ihr herum, die etwas Schwarzes in den Händen hielt, mein Haar. Meine Güte, wie lang es gewesen war. Das musste um die achtzig Zentimeter sein, die sie da in der Hand hielt. Sie bemerkte meinen Blick und wollte es mir hinhalten, doch ich wehrte ab: „Werfe es weg“, meine Stimme klang erstickt, während ich in den Schlafsack schlüpfte und kein einziges Mal mit der Hand nach meinem Haar gefühlt hatte.
Ich zog den Schlafsack über das Gesicht und drehte mich zur Seite und versuchte nicht zu weinen, doch ein paar Tränen kullerten über meine Wange. Was würde ich noch alles opfern müssen? Was mussten wir noch überstehen, bis wir gerettet wurden?
Ich hörte die beiden miteinander flüstern, doch ich stellte meine Ohren auf Durchzug und versuchte vor allen Dingen das Gefühl zu ignorieren, dass die Spitzen meiner Haare mich an der Schulter kitzelten. Und dass mein Haar nicht mehr über meinen Rücken fiel. Immer mehr Tränen stahlen sich nach draußen und ich wischte sie mit meiner Hand weg. Müde schloss ich meine Augen und versuchte mich zu beruhigen, kontrolliert atmete ich ein und aus. Mein herz beruhigte sich wieder und langsam wurde ich schläfrig.

Kapitel 11

Doch Hilary schien nicht von mir ablassen zu wollen, sie stupste mich von der Seite an, ich ignorierte es und tat so, als würde ich tief schlafen.
Doch sie gab nicht nach und stupste mich nochmals von der Seite an. Mein Geduldsfaden riss: „Lass mich gefälligst in Ruhe, du Närrin. Mein Fass ist bis oben hin voll“, zischte ich, ihr immer noch den Rücken zugewandt.
Als sie mich dann noch mal anstieß fuhr ich abrupt herum und meine Augen wurden groß, als ich sah, wer mich die ganze Zeit angestoßen hatte.
Ich hatte völlig falsch gelegen, nicht Hilary riss meinen Geduldsfaden, sondern ein hübscher zerstrubbelter Junge im Schlafsack, der mich anschmunzelte. Seine blauen Augen funkelten, er schien meine Laune amüsant zu finden, was sie nicht gerade linderte. „Was machst du denn hier?“, ich blickte ihn skeptisch an. Er schmunzelte: „Hilary hat mit mir den Platz getauscht, sie schläft neben Chris und ich schlaf neben dir, hast du damit ein Problem?“ „Wenn du mich schlafen lässt, sehe ich da kein Problem“, murrte ich und versuchte weiterhin regelmäßig zu atmen, seine Anwesenheit machte mich nervös. Er lachte leise: „Geht klar. Übrigens sieht gut aus“, ich bemerkte, dass sein Blick auf meinen Haaren lag. „Das musst du nicht sagen, echt, ich werde es überleben“, meinte ich und legte mich auf den Rücken, damit ich ihn nicht anschauen musste. Wie sollte ich eigentlich neben ihm schlafen, kann mir das mal jemand verraten? Mein Herz pochte bis zum Hals und eine unangenehme Hitze stieg mir den Kopf hoch. „Ich sage das, weil ich es so meine, nicht weil ich dir damit einen Gefallen tun wollte“, flüsterte er nun ernst.
Ich schwieg und lies mir seine Worte durch den Kopf gehen, dann sagte ich: „Danke.“
Ich schloss meine Augen und verdrängte den Gedanken, dass Josch nicht mehr als ein Meter von mir entfernt lag. Ich hörte sein Atem und die Schmetterlinge in meinem Magen machten sich bemerkbar. Tränen stiegen mir ins Gesicht, weil ich ihn so mochte, ich mochte alles an ihm. Sein Lächeln, seine regelmäßiger Atem, seine Stimme, seine Bewegungen, sein Lachen. Es war einfach unglaublich, da eine große Anzahl von Gefühlen durch mich hindurch schossen, nur wenn ich sein regelmäßiger Atem höre, der mich in den Schlaf wiegen konnte.
„Mia?“, seine dunkle Stimme weckte mich aus meiner Trance und ich bemerkte, dass ich weinte, schnell wischte ich es weg und schloss meine Augen wieder. „Hm?“, murmelte ich. „Was ist deine Lieblingsfarbe?“ Auf diese Frage war ich nun baff, ich drehte mein Gesicht zu ihm, er blendete mich mal wieder mit seiner Schönheit.
Seine Miene war ernst und zärtlich, als er mich anschaute. Er schien die Frage wirklich ernst zu meinen. „Gelb“, antwortete ich zögernd. Josch blickte mich weiterhin abwartend an. „Sonnenblumen sind gelb“, murmelte ich nachdenklich. „Die Sonne an sich ist gelb, alles Warme hat einen Hauch von gelb“, flüsterte ich und starrte zur Decke hinauf.
„Und deine?“, fragte ich nun neugierig. Hatte ein Junge wie er überhaupt eine Lieblingsfarbe?
„Blau“, murmelte er. „Lieblingsgeruch?“, hakte er ruhig nach.
Ich bemerkte, wie meine Wangen sich noch mehr erhitzten, auf keinen Fall konnte ich ihm sagen, was ich am liebsten roch, da musste ich schnell etwas anderes finden.
„Kakao“, meinte ich nach einer Zeit des Schweigens. „Und du?“, jetzt war ich aber wirklich neugierig. Gab es einen Geruch, den dieser Junge am liebsten mochte? Und wenn, was konnte es sein? Vielleicht sein Aftershave, wenn er so etwas benutzte. Oder der Rasen des Fußballfeldes.
„Du“, kam es von ihm dunkel. Ich glaubte mich verhört zu haben, hatte er tatsächlich „du“ gesagt? Mein armes Herz schlug so wild, dass mein Atem kurz aussetzte, bis ich mich dann wieder einigermaßen beruhigt hatte. Wenn er das, was ich gerade mit meinen Ohren vernommen habe, wirklich gesagt hatte, was sollte ich dann sagen?
Immerhin hatte ich die zweite Frage nicht wahrheitsgemäß beantwortet.
Ich schluckte und räusperte mich dann, während ich weiterhin zur Decke blickte: „Du riechst nach einem Gemisch von all dem was ich gerne rieche. Schokolade, Baumrinde, Rauch, frisch gebackenes Brot, Sonnenblumen, ja vor allen Dingen Sonnenblumen“, flüsterte ich zögernd.
Eine Weile sagten wir nichts, dann setzte er seine Fragerei mit rauer Stimme fort: „Hobbys?“ Darüber brauchte ich nun wirklich nicht lange nachdenken: „Lesen, ganz viel lesen und Laufen. Mit meiner Mutter Kuchen backen, Romanzen gucken und dem Sonnenuntergang zu schauen.“ Er setzte bereits an, seine eigene zu nennen, aber ich war noch nicht fertig: „Ich bin noch nicht fertig“, entgegnete ich leise. Er lachte leise, dunkel und musikalisch, was mir Gänsehaut bereitete. „Okay“, hauchte er amüsiert. Stille, mein Mut hatte mich verlassen. „ich dachte, du seiest noch nicht fertig“, flüsterte er neugierig.
Ich holte tief Luft: „Es ist noch ein neues Hobby dazu gekommen“, meinte ich stockend. „Ich höre gerne Musik, deine Musik.“
Stille, ich hörte sein regelmäßiger Atem: „Gitarre spielen, Freunde treffen, Kino, Fußball spielen, Snowboard fahren und dich anschauen.“
Wieder Stille, dann bat er mit ruhiger Stimme: „Erzähl mir etwas, was niemand anderes sonst von dir weis.“ Seine Bitte lies mich lange Nachdenken: „Du weist es bereits“, flüsterte ich dann mit rauer Stimme. Mein Blick lag weiterhin an der dunklen Decke. „Dein Bruder?“, murmelte er dann fragend. Ich nickte leicht mit dem Kopf: „Ich hab niemandem erzählt, dass ich bei ihm war, als er litt und starb, das weist nur du“, flüsterte ich.
„Jetzt bist du dran“, erinnerte ich ihn. „Etwas, das sonst niemand über mich weiß, hm… Ziemlich schwierig für jemanden, der immer im Rampenlicht steht“, flüsterte er nachdenklich. Er klang nicht ein wenig überheblich, sondern stellte nur fest.
„Du weist es bereits“, wiederholte er dann meine Worte. Ich runzelte die Stirn und fragte mich, was er damit meinte. „Was weis ich?“, murmelte ich.
„Erinnerst du dich, auf dem Parkplatz an der Raststätte, was du mir da gesagt hast?“
Ich dachte nach und dann fiel es mir plötzlich ein: „DU bestrafst dich selber dafür, dass dein Bruder tot ist und du lebst“, hauchte ich. „Ja“, murmelte er dunkel.
Ich wendete mein Gesicht ihm zu: „Tu das nicht“, flüsterte ich. Wir sahen uns einfach nur an, ich bittend und er schien fasziniert. „Was war das peinlichste bisher in deinem Leben?“, während er diese Frage stellte, blickte er mich so ernst an, dass ich in seinen Augen zu versinken drohte. Schnell schaute ich wieder an die Decke.
Ich dachte stark nach, doch mir viel beim besten Willen nichts ein, oder vielleicht doch? „In der fünften Klasse stand ich auf meinen Biolehrer. Wir experimentierten mit Kaulquappen und als er an meinem Tisch zu stehen kam, sprang ein kleiner Frosch, er hatte sich von einer Kaulquappe in einen Frosch gewandelt in meinen Ausschnitt. Ich bin schreiend aus dem Raum gerannt und hab mir meine Bluse vom Leib gerissen. Mein Lehrer war mir in den Flur gefolgt und na ja, ich stand halbnackt vor ihm, war echt ziemlich peinlich.“ Als er nichts sagte, blickte ich ihn an. Joschs Blick ruhte nachdenklich irgendwo über mir, dann sah er mich an: „War bestimmt ein schöner Anblick.“ Ich musste leise kichern und errötete noch mehr: „Du hättest den Blick meines Lehrers sehen sollen. Sein Gesicht färbte sich wie eine rote Tomate und sein Blick. Er schien überall hin zu schauen, nur nicht zu seiner halb nackten Schülerin.“ Ich betrachtete Josch aus dem Augenwinkel, er schmunzelte etwas, doch seine Augen, sie sahen so nachdenklich aus. „Und du? Hast du jemals etwas Peinliches erlebt oder passiert einem angesagten umschwärmten Typ wir dir nichts Peinliches?“, meinte ich leicht ironisch. Er lächelte schief, was mein Herzschlag für kurz aussetzen lies. Er schaute mich nun spitzbübisch an: „Wo denkst du hin? Den coolen Typen passiert sogar häufig etwas Peinliches, doch niemand scheint es als Peinlich zu sehen, weil es mir ja passiert und das ist dann einfach nur grass. Kennst du das Wort grass?“ Ich nickte schmunzelnd, während er den Coolen in seinem Innern offenbarte und lächelte. „Dieses Wort wurde extra für die Peinlichkeiten eines Individuums wie mir erfunden“, berichtete er theatralisch ernst. Ich lachte leise, Josch konnte richtig witzig sein, wenn er wollte. „Also was ist es?“, hakte ich geheimnisvoll nach. „Wenn ich es dir erzähle muss ich dich leider umbringen“, bemerkte er und blickte mich gespielt ernst an. „Dann töte mich später, ich möchte es wissen“, hauchte ich. Es schien ihn zu überraschen, dass ich sein Theater mit spielte und es freute ihn. Grinsend stemmte er sich auf seinen rechten Ellebogen und legte seinen Kopf auf seine Hand und blickte mich mit flackerndem Blick an: „Was bekomme ich dafür?“ Verblüfft lies mein Schmunzeln nach, was meinte er damit? „Ich hab für meine Antwort auch nichts bekommen, ich dachte, das wäre eine Antwort gegen die andere“, flüsterte ich. „Was kann ich dafür, wenn du für deine Antworten nichts nimmst?“, meinte er unschuldig. Ich verdrehte die Augen und stemmte mich ebenfalls auf den Ellebogen und legte meinen Kopf auf die Hand: „Was willst du denn?“ Er zog eine Augenbraue hoch, sein Schmunzeln wurde schiefer, was ihn einfach nur niedlich aussehen ließ.
„Lass dich überraschen.“
„Woher soll ich wissen, dass dein Wunsch die Grenzen meiner Prinzipien vielleicht übertritt? Dann kann ich ihn dir nicht erfüllen“, flüsterte ich.
„Prinzipien? Wie sehen die aus“, er klang neugierig und hielt meinen verlegenen Blick stand. Ich blickte ihn eine Weile schweigend an, mit meinen Prinzipien würde ich ihn garantiert abschrecken. Ich hätte nicht damit anfangen sollen.
„Lassen wir das“, währte ich ab. „Du lenkst ab.“ „Deine Prinzipien, gegen meine Peinlichkeit“, schlug er ernst vor und hielt mir seine Hand hin. Ich fand das keine besonders gute Idee und betrachtete seine Hand skeptisch: „Ich weis nicht, kann man mit so jemandem wir dir überhaupt ein Tauschgeschäft eingehen? Nachher hast du sowieso mehr davon, als ich, darauf könnte ich wetten“, bemerkte ich.
„Finde es raus“, er zwinkerte mir zu und raubte mir damit die Luft zum Atmen. Musste er immer so niedlich sein? Seine Hand immer noch ausgestreckt, blickte er mich abwartend an. „Ich hoffe, ich bereue das nicht“, murmelte ich und nahm seine Hand kurz. Wow, sie war einfach nur männlich und warm. Schnell zog ich meine Hand aus seiner etwas größeren und räusperte mich, während ich seinem Blick auswich. „Achte Klasse, Schwimmunterricht“, begann er in ernstem geschäftsmäßigem Ton, der mir beinahe wieder ein Lächeln entlockte. „Ich hatte mir eine neue Schwimmhose zugelegt und stolzierte stolz zwischen Vic und Chris an den kichernden Mädchen im Schwimmbad der Schule vorbei. Wir reihten uns hintereinander auf und sprangen mit ein paar Saltos vom zehner. Chris und Vic waren schon unten, als ich an der Reihe war. Ich lief an, rutschte auf dem Brett ab und blieb mit meiner Hose hängen, na ja, ich plumpste unglücklich ins Wasser und meine Hose hing immer noch am Brett oben. Chris musste sie mir holen und ich wage mich seit dem nicht vom zehner zu springen und Schwimmbäder besuche ich nur noch, wenn meine Hosen richtig sitzen.“ Nun musste ich leise kichern, seine Geschichte war wirklich nicht weniger peinlich als meine, nur dass er wahrscheinlich nicht mal in die Peinlichkeit geraten ist, rot an zu laufen, weil er ja cool war, während ich weinend zur Toilette gerannt bin und mich den ganzen Tag nicht mehr blicken lassen habe, dass hatte ich ihm natürlich nicht erzählt und von mir würde er es garantiert auch nicht erfahren.
„Hm muss dein Stolz ja für ne Weile abgenommen haben“, meinte ich süffisant. „Im Gegenteil, ich war der Typ, bei dem die Mädchen nun nur noch mehr Schlange standen, denn wer kann einem Casanova wie mir nur widerstehen, mit oder ohne Badehose“, er zwinkerte mir geheimnisvoll zu. Ich fand, dass er leicht überheblich klang und deshalb bemerkte ich trocken und mein Lächeln unterdrückend: „Weist du, ich hätte das bestimmt nicht sehr sexy gefunden, anständige Mädchen legen Wert auf Badehosen.“ Er grinste frech: „Ach ja, und was genau findest du sexy?“
Ich schluckte und meine Wangen erhitzten sich, ich wandte den Blick ab: „Kein Kommentar. Ich bin dir keine weitere Antwort schuldig“, erinnerte ich ihn nervös.
„Wir hatten eine Abmachung“, spielte er sich empört auf.
„Ich hab dir bereits erzählt, was mir Peinliches passiert ist, mehr musst du nicht wissen“, sagte ich schnell und legte mich nun wieder auf den Rücken und schaute zur Decke hinauf. „Komm schon, einer deiner Prinzipien“, drängte er neugierig.
„Keine Schokolade am morgen“, meinte ich dann, das war etwas, was er ruhig wissen konnte. Ich hörte ihn amüsiert stöhnen: „Wau, das haut mich echt vom Hocker“, kommentierte er. „Ich hab nicht gesagt, dass sie spannend sind“, stellte ich trocken klar. „Haare föhnen“, offenbarte er mir eine von seinen. Ich runzelte die Stirn: „Haare föhnen? Du föhnst dir nie die Haare?“ Na ja kein Wunder, dass sie immer strubbelig waren, obwohl sie schön aussahen, eben Jungenhaare, aber sie sahen so faszinierend aus. „DU scheinst mit Männerprioritäten ja nicht besonders vertraut zu sein“, stellte er klar. Ich zog die Augenbrauen hoch: „Wo wir bei Priorität Numero zwei wären. Keine Männer, bis ich mir im Klaren bin, was man an ihnen eigentlich faszinierend finden sollte. Ich finde mit meiner Mutter lebt es sich ungemein einfach und angenehm. Keine stinkenden Sportsacken rum fliegen, kein Aftershave“, zählte ich auf: „Keine dummen Kommentare über unsere morgendlichen Erfrischungen, über die dritte Decke im Bett und die Wollsocken an den Füßen und das Fußwippen, wenn man …“, „Fußwippen?“, unterbrach er mich belustigt. „Ja das Fußwippen, mein Bruder meinte immer, dass ich mit diesem Wippen verdeutlichen möchte, dass ich mit meiner Größe nicht einverstanden bin, so ein quatsch“, bemerkte ich murrend. Ich hörte ihn kehlig kichern und dann meinte er: „Du scheinst echt nicht viel von Männern zu halten. Wir werfen keine stinkenden Socken durch die Gegend und wir besprühen auch nicht die Wohnung mit unserem Aftershave. Woher kommt diese Fantasie?“ „Ich hatte einen großen Bruder“, war meine einfache Antwort und mein Herz tat etwas weh, doch ich versuchte an ihn nicht zu denken, es war schon schwer genug in dieser Wildnis.
Stille, dann: „Hast du das Wippen bei keiner deiner Freundinnen gesehen?“, fragte ich vorsichtig und überrascht. Ich vernahm seinen ruhigen Atem, anscheinend wollte er mir darauf keine Antwort geben, was ich vollkommen nachvollziehen konnte. Es ging mich auch nichts an, ich fragte mich gerade, wieso mich das überhaupt interessierte. „Ich hab mir ehrlich gesagt nie die Zeit genommen die Frauen besser kennen zu lernen, ich hab mehr Wert auf na ja auf körperliche Dinge gelegt“, meinte er ernst, er klang nachdenklich. „Du hast so etwas bei deinen ganzen Frauen nie beobachten könne?“, ich war baff. Nicht dass ich mir vorgemacht hatte, dass Josch seine Frauen näher kennen lernen wollte, nein, aber zumindest das muss er doch gesehen haben, bevor oder nachdem sie, na ja, wie auch immer. Das war echt heftig, ich schluckte.
„So ist es irgendwie nicht“, sagt er ernst und mit Nachdruck. „Und du? Ich meine, kann das bei dir jemand beobachten?“ Fragte er mich nun ernsthaft, ob ich einen Freund hab oder hatte? Am liebsten hätte ich ihn angelogen und von hunderten geschwärmt, was ihm nicht einmal etwas aus gemacht hätte.
Ich räusperte mich: „Mein Bruder stellte nicht gerade das beste Bild von Männern dar. Er war ab und ganz okay, aber wir schienen immer aneinander vorbei zu sprechen und dann, als es vorbei war, da haben Mam und ich den stillen Kompromiss geschlossen „keine Männer“ mehr, jedenfalls keine, die in meinem Leben eine Rolle spielen sollten“, meinte ich am Ende gereizt und dachte an den halb nackten Typen, bevor ich abreiste, war er gerade bei ihr? Schon bei dem Gedanken wurde mir übel.
„Und davor“, fragte er geduldig und lies sich nichts anmerken. Es musste ihm doch bestreben seine männlichen Kumpane zu vertreten, immerhin hatte ich mich nicht gerade positiv über sie geäußert. „Davor war ich gerade mal vierzehn gewesen und hab mir über so etwas keine Gedanken gemacht, mein Bruder war damals immer für mich das gewesen, was wollte ich da mehr?“ Wieder legte sich ein Schweigen, ich hörte ein Schnarchen, dass aus der anderen Ecke kam: „Wir sollten jetzt schlafen“, bemerkte ich gähnend und kuschelte mich noch mehr in den Schlafsack.
„Also keine Männer bis in alle Ewigkeit“, meinte er plötzlich ernst.
„Genau, vielleicht geh ich ins Kloster“, kommentierte ich. „Das ist echt traurig, weist du das? Du vergisst vollkommen die positive Seite an uns“, bemerkte Josch nun gereizt. War ja klar, dass er da vollkommen anderer Meinung war, immerhin war er ein waschechter Mann. Ich dachte angestrengt nach: „Und die wären?“
Ich hörte etwas rascheln und plötzlich blickte ich in Joschs ernstes wunderschönes Gesicht, seine Haare standen kreuz und quer ab, er hatte sich über mich gebeugt, während ich nun noch tiefer in den Schlafsack rutschte. „Vor noch keine zehn Minuten hast du gesagt ich rieche gut“, hauchte er dann, sein Kopf weiterhin bewegungslos über meinem gebeugt. Zehn, fünfzehn Zentimeter trennten sein Antlitz mit meinem erhitzten Gesicht. „Hm, das muss ich wohl gesagt haben“, murrte ich. Typisch dass Mann sich so etwas behalten konnte. „Außerdem klopft dein Herz schneller und du läufst an wie eine reife Traube“, bemerkte er flüsternd.
„Das kann auf keinen Fall schlecht sein“, fügte er mit bedeutungsvoller Miene zu, seine Stimme klang so zart dunkel und mein Atem stockte leicht.
„Ich hab mir sagen lassen, dass man von einem Herzstillstand sterben kann“, konterte ich leise. „Aber nicht, wenn dein Herz für mich aussetzt“, entgegnete er sanft. „Wer sagt, dass mein Herz wegen dir schneller schlägt, vielleicht habe ich immer so einen hohen Blutdruck“, erwiderte ich, er sollte sich auf keinen Fall etwas einbilden. Er zog eine Augenbraue hoch und näherte sich meinem Gesicht, während sein Zeigefinger auf meinem Hals lag, dort wo mein Puls nun raste: „reicht das als Demonstration oder muss ich dich erst küssen, was ich übrigens sehr gerne tun würde“, er lächelte schief und arrogant auf seine unwiderstehliche Art.
Ich schluckte und spürte seinen warmen Atem auf meinem Gesicht: „Okay, okay, ich gebe ja zu, dass mein Herzschlag auf dich reagiert, bilde dir ja nichts darauf ein.“
Er entfernte sich mit seinem Gesicht etwas und hielt dann inne, seine Augen klitterten: „Weist du, es ist seltsam, normalerweise betteln die Frauen bei mir um einen Kuss und du, du scheinst auf keinen Fall von mir geküsst werden zu wollen. Was mich Widerrum noch mehr fasziniert.“
„Wir müssen schlafen“, murmelte ich und zog mir meinen Schlafsack bis zur Nase hoch. „Nacht Josch“, flüsterte ich und schloss meine Augen.
„Nacht Puppe“, raunte er sanft, ich hörte ein Rascheln, er musste sich in seinen Schlafsack zurückgezogen haben. Er mit seinem Puppengerede, dachte ich. Wie kam er bloß darauf mich Puppe zu nennen? Ich war keine Puppe, noch nie gewesen und ich werde es auch nicht sein. Als ich eine Weile still da lag, drehte ich leise den Kopf zu ihm herum und schlug die Augen auf. Was ich zu sehen bekam war einfach sehenswert und hatte etwas Besonderes an sich. Josch hatte seinen Augen geschlossen, sein Atem ging ruhig und ich betrachtete sein gebräuntes Gesicht, auf seiner Nasenspitze tanzten Sommersprossen, am liebsten hätte ich über sein Gesicht gestrichen, stattdessen nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und beugte mich mit dem Gesicht leise und vorsichtig über ihn. Mein Gesicht berührte beinahe seins, mein Atem hatte ich angehalten, dann küsste ich ihn auf den Nasenrücken, ganz vorsichtig und zärtlich. Langsam löste ich meine Lippen von seiner schönen Haut, als sich warme Arme um meinen Bauch schlossen und er leise murmelte, er schien noch weggetreten und im halb schlaf: „Nicht, zieh dich nicht zurück.“ Ich hielt inne und schaute auf sein Gesicht herab, seine Augen waren immer noch geschlossen, doch seine Arme umfingen mich zärtlich und ließen nicht locker.
„Was, ich muss schlafen“, meine Stimme klang nervös. Ganz sachte zog er mich an seine Seite, so dass ich in meinem Schlafsack an ihm lag. Ich wusste nicht recht, wo ich meinen Kopf hinlegen sollte und entschied mich dann nach einem Zögern für seine Schulter. Ich spürte seine Wärme neben mir, die sich auf mich übertrug, seine Arme lagen weiterhin zärtlich um meinen Bauch. Ich seufzte begehrlich und sog seinen Duft ein, während der Schlaf mich übermannte.

 

 

Kapitel 12

 

Leicht orientierungslos erwachte ich gähnend und bemerkte, dass ich nicht in meiner gewohnten Schlafposition lag, sondern auf dem Bauch lag, und dass der harte Holzboden irgendwie sich angenehm warm anfühlte und weniger so hart wie zuvor.
Die Illusion, dass ich auf dem Boden lag, wurde mir dann aber schnell genommen, als ich ein leichtes Pocken unter meiner rechten Hand fühlte und dass ein warmer Atem über mein Hals fuhr. Verwirrt blinzelte ich und öffnete die Augen und erblickte einen schönen Hals. „Morgen Schlafmütze“, raunte eine dunkle Stimme in mein rechtes Ohr. Ich schreckte auf oder versuchte es jedenfalls, denn zwei starke Arme hielten mich umschlungen: „Keine angst, alles okay“, meinte die dunkle Stimme beruhigend. Ich blickte erschreckt in zwei paar dunkle Augen, die zu seinem tollen Gesicht gehörten, auf dem ein schiefes Lächeln lag: „Hei.“ „Hei“, bekam ich nur heraus. Nun hörte ich auch aufgeregte Stimmen im Hintergrund und alles bekam nun einen Sinn. Jedenfalls beinahe alles. Ich wusste nun, dass wir uns noch in der Hütte befanden und gleich aufbrechen würden um Tagelang in der Wildnis herum zu wandern in der Hoffnung ein Dorf zu finden. Was ich mir jedoch nicht so leicht erklären konnte, war, dass ich halb auf dem begehrenswertesten, süßestem, hübschesten und attraktivsten Junge der Schule oder besser gesagt des Universums lag.
„Hast du gut geschlafen?“, fragte Josch leise. „Ganz okay“, meinte ich und versuchte mich nun aufzurichten, er folgte mir und so saßen wir dicht neben einander, er mich immer noch sanft umschlungen. Sein Blick lag sanft auf mir: „Alles okay?“ Ich nickte und befreite mich vorsichtig aus seinen Armen und schälte mich aus meinem Schlafsack. „Das gibt’s doch nicht, bekomm ich nicht mal einen Gutemorgenkuss“, beschwerte er sich belustigt. Ich beachtete sein Gerede nicht und begann mein Schlafsack nun in den Sack zu stopfen. Die anderen waren damit bereits fertig und sammelten die restlichen Sachen ein, während sie miteinander tratschten und Josch und mir ab und an einen neugierigen Blick zu warfen. Ich bemerkte, wie ich wieder rot wurde. Meine Güte, sie hatten gesehen, wie nahe wir beisammen gelegen hatten.
„Hab ich was falsch gemacht“, erklang seine Stimme hinter mir sanft und überrascht zu gleich. Nachdem ich den Schlafsack im Sack hatte, wand ich mich ihm zu. Er saß auf seinem Schlafsack, seine schwarzen Haare standen in jeder Richtung ab, sein Pulli war zerknittert, seine Hose wahrscheinlich auch, aber seine Beine steckten noch im Schlafsack, seine blauen Augen waren fragend auf mich gerichtet. Ich musste beinahe über seinen verschlafenen niedliches Aussehen grinsen, doch ich besann mich: „Das was da letzte Zeit zwischen uns war, das sollte sich nicht wiederholen, es ist nicht richtig“, bemerkte ich mit Nachdruck und wand mich meinen Sachen wieder zu. Plötzlich lagen wieder zwei Arme um meinen Bauch und ich wurde im sitzen nach hinten gezogen. Dann lehnte ich mit dem Rücken an einer Brust, warme Lippen berührten flüchtig meinen Hals, ich saß zwischen Joschs Beine, seine Arme um meinen Bauch gelegt, sein Atem an meinem Gesicht: „Wie kann es falsch sein dich umarmen zu wollen? Warum soll es nicht richtig sein, wenn ich dich am liebsten für immer festhalten würde um deinem Herzen zu lauschen und deine Haut zu schmecken? Warum sollte das falsch sein?“ Mein Atem ging stückweise, während ich mich von ihm los zu machen versuchte, ich spürte andere Blicke auf uns ruhen: „Lass mich los, Josch“, murmelte ich ungeduldig. „Sag mir warum dass nicht richtig ist, Mia? Sag mir warum du mir erst das Gefühl gibst, dass du mich gern hast und dann plötzlich mich so weit wie möglich von dir weg haben möchtest“, befahl er ernst und ließ mich nicht los. Ich zitterte leicht, weil ich diese Leidenschaft in ihm schon immer erahnt hatte und nun spürte ich sie in ihm, seine Stimme, sein Körper seine Bewegungen verdeutlichten es, doch es änderte nichts an der Situation.
„Ashley, hast du deine Freundin vergessen die zu Hause auf dich wartet und sich Sorgen um dich macht? Du kannst sie nicht vergessen haben! Und das verlang ich auch nicht. Lass mich bitte los“, ich machte mich nun endlich von ihm los, schnappte meine Sachen und ging aus der Hütte.

Nachdem wir eher schweigend alle gemeinsam am Feuer Fleisch gegessen hatten ging es auch schon los. Es konnte nicht später als fünf sein, die Sonne ging langsam auf, die Luft war angenehm kühl und erfrischend. Der Gesang der Vögel war zu hören und unser Atem, während wir nun durch das Nichts wanderten. Manche redeten leise miteinander, aber sonst war es eigentlich noch ziemlich still, jeder schien mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt zu sein und außerdem müde von allem. Hilary und ich bildeten schweigend das Schlusslicht. Sie schien genauso zum Schweigen aufgelegt zu sein und so genossen wir diese stille Kommunikation. Die zwei Mädchen Svenja und Erika vor uns hatten wohl auch keine rechte Lust etwas zu reden und schwiegen im Einklang. Die Jungs vorne schienen ganz aufgeweckt, aber sie sprachen mit gedämpfter Stimme, vermutlich waren auch sie leicht erschöpft und ließen es sich nicht so sehr anmerken wie wir mit unserem Schweigen.
Nach einer Zeit liefen wir automatisch und setzten einen Füße routinemäßig auf den anderen, während wir unsere voll bepackten Rucksäcke trugen, in denen wir einige Sachen aus unseren Koffern herein gestopft hatten, die wir ja zurück lassen mussten.
Der morgen verging wie im Flug und nachdem wir zu Mittag etwas Obst von Bäumen gepflückt hatten, aßen wir im gehen.
Eine Pause legten wir erst am späten Nachmittag ein, Hilary und ich plumpsten erschlagen auf das trockene braune Gras und tranken gierig an unseren Flaschen. Die zwei anderen Mädchen setzten sich uns gegenüber, so dass wir einen kleinen Greis bildeten, während die Jungs sich in einem eigenen Greis setzten und mit einander redeten. Sowohl Hilary als auch ich brauchten etwas Abstand von dem vielen Testosteron, welches uns in letzter Zeit viel zu viel umgeben hatte.
Schweigend lagen wir auf dem ausgetrocknetem Gras, die Mittagssonne neigte sich zwar nun etwas nach Westen, doch sie strahlte weiterhin eine ungemeine Hitze aus, sodass ich meine Sonnenbrille nicht absetzte und den Schweiß von der Stirn wischte.
Nach einer Weile ging es dann auch schon weiter, nur keine Müdigkeit vor weißen war das Motto der Junges. Es musste spät abends gewesen sein, als Svenja müde in sich zusammen brach, damit war dann klar, dass für diesen Tag genug gewandert worden war. Zwar sagten die Männer nichts, als sie ihre Schlafsäcke ausrollten, doch konnte ich ihre Ungeduld spüren. Sie wären am liebsten noch ein paar Kilometer weiter gegangen, doch sie sagten nichts. Ich wusste nicht Recht wie ich dazu stand, zwar taten meine Füße höllisch weh, doch ich wollte so schnell wie möglich von hier weg.
Wir Mädchen rollten ebenfalls unsere Schlafsäcke aus und vergruben uns darin, links und rechts schliefen die Junges. Ich war froh, dass Josch und ich den ganzen Tag nichts miteinander zu tun gehabt hatten, ich brauchte Abstand, denn ich wollte mir keine falschen Hoffnungen machen.
Es war nach so einem Tag nicht schwer einzuschlafen. Viel zu früh brach der nächste tag an.

Hilary weckte mich ungeduldig. Seufzend kletterte ich aus dem Schlafsack und rollte ihn mechanisch zusammen, meine Augen noch halb geschlossen.
Und so erging es mir auch in dieser Frühe beim Wandern, weil ich kaum die Augen offen behalten konnte, stolperte ich ab und an über meine eigenen Füße und Hilary konnte mich gerade noch davor bewahren nicht flach auf das Gesicht zu fallen, sie lief zu meinem Glück neben mir. Wir bildeten wie auch den tag zuvor das Schlusslicht und redeten nicht viel miteinander, die Kraft sparten wir uns lieber für das Wandern auf, dass mir immer unsympathischer wurde. Ich denke, sollte wir je wieder nach Hause gelange, würde keiner von uns, jedenfalls die Mädchen, noch mal auf die Idee zu kommen wandern zu gehen, nach dieser Strapaze hier.
Schlimm war eigentlich nicht das stundenlange gehen, sondern, dass die Jungen viel mehr Ausdauer zu haben schien als wir. Die Sonne ging nach einem langen pausenlosen Tag unter und wir waren immer noch auf den Beinen, wir Mädchen eher taumelnd als sonst was. Erst als Hilary einfach ihren Schlafsack auf den Boden warf und meinte, sie würde jetzt keinen Schritt mehr weiter gehen, trollten sich die Junges gereizt und wir aßen etwas Obst, Obst würde ich ebenfalls nach diesem Erlebnis für ne Weile den Rücken zu kehren, und gingen dann schlafen. Auch an diesem tag redeten ich kein einziges Wort mit Josch. Zwar spürte ich seine Blicke ab und an auf mir ruhen, doch er verstand meine Körpersprache, ich wollte nicht mit ihm reden, ihm nicht mehr nahe sein, nur so ertrug ich es und konnte einen klaren Kopf behalten.
Da wir bisher kein Wasser gesichtet hatten um trinken nach zu füllen oder uns etwas zu waschen, tranken wir sparend und versuchten es zu ignorieren nun schon seit längerem kein Wasser mehr am Körper gespürt zu haben.

Wir mussten nun schon seit etwas fünf Tagen unterwegs sein, doch kein Dorf war in Sicht und auch keine Kühe. Die Junges waren gereizt, wir Mädchen ebenfalls, doch wir versuchten das nicht an jemand anderes aus zu lassen, während sie sich nicht einmal die Mühe gaben es an sich zu halten. Chris putzte die arme Svenja an am sechsten tag runter, weil sie unsere Wanderung mit dem Grund, sie müsse mal, abbrach. Chris knurrte sie an, dass sie ihn nicht nerven und noch ein par Stunden inne halten solle, danach weinte Svenja und ich beruhigte sie mal wieder, während Hilary ihn sich vornahm. Sie hatten einen heftigen Streit den wir anderen natürlich mit bekommen mussten, niemand hatte mehr Privatsphäre, schon seit langem nicht mehr. Jedenfalls durfte Svenja dann ihre Blase erleichtern gehen, während die Junges ungeduldig warteten und wir Mädchen uns hin setzten und uns gegenseitig die wunden Füße verarzteten.
Nach einer Woche Wandern verklang dann auch der Streit zwischen Hilary und Chris, sie waren viel zu erschöpft um sich noch zu streiten und auch die anderen Junges ließen ihre schlechte Laune nicht mehr an einem anderen aus, es schien, als würde auch bei ihnen langsam die Kraft nach lassen. Wie Chris vor dieser Wanderung uns gewarnt hatte, wir alle hatten nicht nur körperliche Verletzungen erlitten, die uns nicht gerade voller Kräfte sprühen ließ, auch innerlich hatten wir viel einbüßen müssen, was uns unsere Kraft stahl.
Nach einiger Zeit zählte ich die Tage nicht mehr, die Strahlen der Sonne verbrannte unsere Haut, doch unsere Haut gewöhnte sich daran, zwar war es ziemlich heiß und wir schwitzten schon nach ein paar Schritten, doch sie war auszuhalten. Die Schmerzen an den Füßen und an anderen Stellen des Körpers ließen die Hitze in den Schatten stellen, doch auch die Schmerzen waren erträglich, nach einer Zeit.
Dann irgendwann meinte Chris, dass wir ein tag Pause einlegen würden um wieder etwas zu Kräften zu kommen: „Wir sind jetzt bereits seit zwei Wochen unterwegs, mal die Woche außer acht gelassen, die wir am Unfallplatz verbracht haben“, sagte er ernst. „Wie ihr gesehen habt gibt es da hinten eine Quelle um trinken auf zu füllen und euch zu waschen. Heute setzen wir aus, morgen geht es weiter, also ruht euch aus und schlaft“, damit sprinteten wir Mädchen zuerst zu der Quelle im Wäldchen, entledigten uns unsere dreckige Kleidung und sprangen erleichtert ins Wasser.
Nachdem wir uns gewaschen hatten, zogen wir uns andere Kleidung an und füllten unsere Flaschen auf und kehrten dann zu den Junges zurück, die dann zur Quelle gingen.
Der Tag verging so schnell, dass ich nicht glauben konnte, dass wir überhaupt für einen tag gerastet hatten. Ich legte mich nach dem angenehmen Bad schlafen, spürte Blicke auf mir ruhen, weil ich die einzige war, die im Schlafsack lag und schlief, während die anderen mit einander redeten und Obst aßen. Die unterschiedlichen Stimmen, der sanfte Wind, der die Blätter an den Bäumen rascheln ließ, wog mich in einen erschöpften Schlaf. Ich spürte, dass eine raue Hand meine Haare von der Stirn schoben, meine Haare, die nur noch bis zur Schulter ginge, über diese Tatsache hatte ich mir seit der anstrengen Wanderung keine Gedanken mehr gemacht.
„Mam“, murmelte ich, die Hand strich sachte über mein Haar ich lächelte leicht, wie schön wäre es, wenn das meine Mutter wäre. Ich fasste nach der hand und hielt sie leise seufzend fest, sie war größer als meine, ich fühlte es und sie war warm. Sie schloss sich um meine und hielt sie sanft fest. Ich konnte mir in meinem dämmrigen Schlaf denken, wer meine Hand hielt, doch ich wollte sie nicht los lassen, wollte nicht, dass er sich von mir entfernte, ich mochte ihn so sehr: „Ich hab dich lieb“, murmelte ich gähnend. Und damit er auch wusste, dass ich von ihm sprach und nicht von meiner Mutter, fügte ich hinzu: „Ich hab dich lieb, Josch.“ Die große Hand umfasste meine fester und ich spürte seine Lippen sachte auf meiner Stirn: „Und ich dich erst“, hörte ich ihn rau flüstern.
Und dann schlief ich ein, meine Hand in seiner.

Als ich aufwachte, hörte ich bereits die anderen Stimmen leise durcheinander reden. Ich schlug die Augen auf und setzte mich gerädert auf, der Schlaf war schön gewesen, traumlos und angenehm, doch an meiner Erschöpftheit hatte sich nichts geändert, ich war platt wie eine Flunder. „Morgen und aufstehen“, hörte ich Hilarys Stimme neben mir. Sie rollte ihren Schlafsack auf und stopfte ihn nun in den Sack. Seufzend tat ich es ihr gleich. Die anderen schienen schon weiter und aßen noch etwas Obst. Als ich zu Josch blickte, wäre ich am liebsten zu ihm gegangen und hätte ihn umarmt. Er stand mit Chris etwas abseits und redete angeregt mit ihm. Er machte sich wohl nicht mehr die Mühe seine Haare zu bürsten, sie standen wie immer ab, seine Kleidung war verknittert vom Schlafen, er trug ein blaues T-Shirt und seine graue Jogginghose, die lässig an seinen schmalen Hüften hingen. Er war ziemlich dünn, auch vor diesem Erlebnis war er dünn und muskulös gewesen, doch jetzt konnte man seine Hüftknochen etwas mehr heraus stehen sehen, nicht das ihn das unattraktiver machte, aber es besorgte mich. Alle anderen hatten ebenfalls wegen Mangel an Ernährung und der tagelangen Wanderungen abgenommen, sie sahen geschafft aus. Ihre Miene wiesen deutlich die Ungeduld und Hoffnungslosigkeit aus, die von Trotz geprägt war und so lange sie das in sich trugen, würden wir weiter kämpfen. Und ich hatte wahrscheinlich abgenommen, doch selbst konnte man das ja schlecht einschätzen.
Die Wanderung ging weiter, die Sonne war wie immer unser Begleiter und die Füße waren zu unserer Erleichterung betäubt. An diesem Tage blieben wir dicht beisammen, Hilary und ich schlossen nicht wie gewohnt das Schlusslicht, sondern ein schweigsamer Ben und Jack gesellten sich zu uns. So liefen wir beisammen über staubigen Untergrund, und ab und an konnten wir auch ein paar einsame Bäume stehen sehen, die vertrocknet waren.
Alles schien wie an jedem dieser Tage zu sein, doch am frühen Abend, wir hatten bisher keine Pause gemacht und wollten nun eine einlegen, rief plötzlich Chris von vorne: „Das gibt’s nicht! Der Wahnsinn!“, er klang total aus dem Häuschen und ich hörte die Männer aufgeregt reden, während sie stehen blieben und wir uns nun neugierig zu den Vorderen drängten.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 13

Was wir dann zu sehen bekamen war einfach ein Wunder. Seit gut zwei Wochen wanderten wir durch die Gegend und endlich schienen wir Hilfe gefunden zu haben. Wir standen auf einem Berg und vielleicht zwei Kilometer in südlicher Richtung lag ein kleines Dorf, in dem Menschen lebten. Natürlich lebten in einem Dorf Menschen, du dumme Nuss, dachte ich. „Josch und ich werden runter gehen und Hilfe erbitten, ihr bleibt alle hier und rührt euch nicht von der Stelle. Dave, Rob, Ed, ihr bleibt hier“, damit machten sich die beiden auf den Weg den Berg hinunter und wir waren alle sprachlos, dass wir es womöglich geschafft hatten.
Hilary nahm mich hüpfend in den Arm und lachte erschöpft, wo sie die Kraft her nahm noch zu Springen war fraglich. Die anderen Mädchen sprangen ebenfalls neben uns in die Lüfte, während die Junges sich eher einen Klaps gaben und dann darüber nachdachten, ob sie erst was essen sollten, wenn sie zu hause ankamen, oder erst mal ne kalte Dusche nehmen wollten, typisch.
Ungeduldig warteten wir auf dem Berg, es wurde spät Abend, bis sich etwas tat. Wir sahen, wie ein Traktor mit langem Hänger nun aus dem Dorf fuhr und langsam den Pfad zum Berg hinauf tuckerte.
Erst nach einer halben Ewigkeit kam er vor uns zum stoppen. Ein Mann Mitte dreißig und einem Dreitagebart saß am Steuer, während Josch und Chris vom Wagen kletterten: „Das ist Ulrich, er bringt uns mit seinem Traktor hinunter ins Dorf, alle auf den Wagen“, berichtete Chris knapp und schon waren die Junges dran, ihre Sachen zügig auf den langen Hänger zu werfen. Ohne uns zu beschweren, ließen wir Mädchen es zu, dass man unsere Sachen ebenfalls hinauf in den Hänger warf. Die Junges kletterten auf den Hänger und wir taten es ihm gleich. Als wir alle saßen und nichts zurück gelassen hatten, gab Chris dem stillen Ulrich das Zeichen, dass er los fahren konnte. Während wir aufgeladen hatten, hatte er uns mitleidig beobachtet, wahrscheinlich sahen wir ziemlich schlimm aus, na ja, drei, bis vier Wochen im Nichts, das war ein kein schönes Erlebnis gewesen, im Gegenteil, es hatte uns alles abverlangt. Nun tuckerte der Traktor mit Anhänger den Berg hinab, wir saßen eng aneinander gedrängt auf dem Wagen und hörten Chris Bericht zu. Neben mir saß Hilary und Ben, der kein Mucks von sich gab. „Als wir am Dorf ankamen erschreckte sich eine junge Frau über unser Aussehen und ein Mann jagte uns mit einer Pistole aus dem Dorf. Wir konnten ihn davon überzeugen, dass wir nichts Schlimmes in Sinne hatten und Schüler waren, die einen Busunglück überlebt hatten, danach arrangierte man einen Traktor mit Hänger und wir fuhren gleich wieder zu euch hinauf. Die Dorfbewohner sind wohl gerade zusammen gerufen worden und sie bereiten für uns einige Sachen vor, der Bürgermeister hatte uns versichert, dass er sofort bei uns an der Schule bescheid sagen würde, bevor wir zu euch zurück kehrten.“ „Wir sollten bescheid geben wer noch lebt“, meinte Dave dann. „Die Eltern der Verstorbenen sollten das so schnell wie möglich erfahren.“ Chris nickte zustimmend: „Der Bürgermeister meint, dass er nur kurz anrufe um überhaupt bescheid zu sagen, wo wir uns nun befinden, damit man schon einen Bus schicken kann. Wir sind übrigens in Hohenheim, das ist drei hundert Kilometer südlich von Attenheim“, bemerkte Chris ernst. Wir tauschten viel sagende Blicke. „Was wird jetzt, wie lange wird das dauern, bis wir heim können“, erkundigte sich Ben.
„Für heute Nacht wird uns eine Scheune zur Verfügung gestellt, wenn alles gut geht ist morgen früh der Bus da, bis dahin müssen wir bescheid geben, wer noch lebt. Es wäre wirklich besser für die Familien, wenn sie wissen was auf sie zukommt und damit meinte ich nicht nur die Toten. Die junge Frau von vorhin hat sich zu tote erschreckt, wir alle sehen mitgenommen aus, sie sollten wissen, was wir erlebt haben“, Chris blickte mich nun direkt an.
„Nein“, kam es plötzlich laut von einer anderen Richtung. Alle Blicke fuhren zu Josch herum, der auf der Kante des Wagens saß und Chris zornig anschaute: „Wenn du das von ihr verlangst, Chris, dann wirst du auch mit meinem Widerstand rechnen müssen.“
Die beiden Freunde starrten sich schweigend an, die Spannung zwischen ihnen war nur zu deutlich, auf dem Wagen legte sich ein unangenehmes Schweigen, während sich die beiden jungen Männer unbeirrt weiterhin anblickten, als würden sie am liebsten übereinander her fallen. „Ich werde der Polizei haargenau erklären, was Hilary und ich gesehen haben, aber sonst wird es niemand erfahren“, stellte ich energisch klar und blickt Chris an, dessen Blick immer noch auf Josch lag.
„Was anderes hätte ich auch nicht von ihr verlangt Mann, und jetzt komm mal runter“, knurrte Chris Josch an. Dieser sprang plötzlich auf und setzte an sich auf seinen Kumpel zu stürzen, doch Rob und Daven sprangen ebenfalls auf und stellten sich zwischen die beiden Streithähne, die sich nun taxierten.
„Hört doch auf. Wir sind gerettet, will das nicht eure Hormongesteuerte Köpfe hinein“, keifte Hilary nun aufbrausend.
„Ihr atmet jetzt alle beide tief ein und benehmt euch wie zwei Erwachsene. Niemand will euren Frauen etwas, okay?“, übernahm nun Daven das Wort.
Hilary verdrehte die Augen und ich fragte mich, ob ich mich „euren Frauen“, mit einbeziehen musste, na ja, es war nicht abzudanken, dass der Streit zwischen den zwei Männern mit meiner Wenigkeit begonnen hatte.
„Frauen“, wiederholte Hilary angesäuert. „Und ihr sagt, wie würden uns wie Tiere benehmen, echt, das ist einfach nur Steinzeitkram.“ Dave warf ihr einen warnenden Blick zu und Hilary hielt grummelnd den Mund, während ich mich schuldig fühlte, dass die beiden Freunde sich so zornig anstarrten.
„Setzt euch, es ist verständlich, dass wir etwas extrem empfindlich im Moment reagieren, immerhin haben wir ein ganzen Monat in dieser Öde verbringen müssen, aber vergesst euch nicht“, bemerkte Daven und die beiden Männer setzten sich mit einer finsteren Miene.
Endlich erreichte der Traktor das Dorf und wir wurden leicht durchgeschüttelt, wegen dem Kopfsteinpflaster. Als der Traktor samt Hänger durch das Dorf fuhr standen die Dorfbewohner an ihren Haustüren und Gärten und blickten dem Gefährt neugierig hinterher, in dem eine Truppe Jugendlicher saß, die ziemlich mitgenommen aussahen, ja das war en wir, mitgenommen.
Nach einer Weile bog der Traktor in einem kleinen Hof ab und kam mit einem Stottern zum Stehen: „Einige Frauen werden gleich vorbei kommen und sich um eure Verletzungen und Hunger zu kümmern“, sagte Ulrich nun. Die Junges sprangen aus dem Wagen und wir Mädchen schoben die Rucksäcke und Schlafsäcke nach vorne, damit sie sie nehmen konnten. Rob war so nett und half uns dann auch noch runter, wahrscheinlich hätte ich das auch gut alleine geschafft, aber ich war zu müde um mir sein blödes Gelaber über Feministinnen an zu hören.
Ulrich öffnete eine Tür, die zur Scheune führte: „Ihr könnt euch auf dem Heuboden bequem machen, der Bürgermeister wird nachher vorbei schauen, wenn ihr euch ausgeruht habt.“ „Ich bedanke mich bei ihnen für uns alle hier, dass sie uns helfen“, Chris nahm Ulrichs Hand. „Wir haben in den letzten Wochen sehr viel durch machen müssen und schätzen die Hilfe des Dorfes.“ Der Mann nickte: „Es ist selbstverständlich, dass wir euch jungen Menschen helfen“, damit stieg er wieder auf seinen Traktor und tuckerte davon.
„Dann mal hinein in die gute Stube“, meinte Chris erschöpft und ging voran. Wir folgten ihm müde. Zum Heuboden gelangte man über eine schmale Treppe, wir schulterten unsere Rucksäcke und kletterten hinauf, oben angekommen suchte sich jeder ein Plätzchen zum ausruhen. Hilary gesellte sich zu dem immer noch schlecht gelaunten Chris um ihn aufzumuntern und die zwei anderen Mädchen hielten sich an Dave und Ed. Zögernd blickte ich zu Josch, der in einer Ecke auf dem Boden lag, seine Sachen hatte er einfach ins heu geworfen. Er lag auf dem Rücken und starrte an die Ecke, auch er schien sich noch nicht beruhigt zu haben. Obwohl ich mir im Klaren war, dass das vielleicht keine gute Idee war, ging ich zu ihm und setzte mich neben ihn ins Heu. „Hast du dich plötzlich doch entschieden mich zu beachten“, kam es barsch von ihm. Ich hatte keine angst mehr vor seiner forschen Art die er ab und an zur Tage legte um die Leute auf Abstand zu halten, ich wusste, dass das reiner Selbstschutz von ihm war. Er hatte ziemliches Temperament das so seine Reize hatte, aber auch ziemlich nerven aufreibend sein konnte. „Du weist warum es für uns beide besser ist, wenn wir auf Abstand gehen“, bemerkte ich ruhig.
„Du meinst, warum es für dich besser ist“, korrigierte er mich gereizt. Ich biss mir auf die Lippen um nicht vorschnell etwas zu sagen, was ich vielleicht gleich darauf bereuen würde. Ich fuhr mir durch mein nun Schulter langes Haar und seufzte, als ich das erkannte, für einen kurzen Moment. „Nein, für uns beide ist es das Beste, wenn wir auf Abstand gehen. Du würdest dich nach einer Zeit mit mir langweilen, Josch. Und ich, na ja, wahrscheinlich bin ich für jemanden temperamentvollen Kerl wie du es bist nicht geeignet“, meinte ich immer noch ruhig.
Er setzte sich mit einer Bewegung auf und blickte mich mit seinen blauen Augen forschend an: „Wer hat dir das denn eingeredet? Ich würde mich niemals mit dir langweilen, das ist unvorstellbar. Jeden Tag überraschst du mich aufs Neue mit deiner Reaktion, die so anders sind, als die ich kenne. Und was mein Temperament anbelangt, niemand kann mich zähmen, jede Frau wird damit Probleme haben, so ist das halt, und du wirst damit zu Recht kommen, weil du deinen eigenen Kopf hast und dich nicht untergraben lässt“, bemerkte er ernst.
Ich wich seinem Blick aus: „Mag sein, dass ich damit umgehen kann, aber da ist immer noch die Schule, die Leute dort. Ashley. Du bist doch nicht mit ihr zusammen, weil du keine andere haben könntest, Josch. Sie bedeutet dir etwas“, sagte ich ernst.
„Ich bin ein Arsch“, sagte er, es klang wie eine Tatsache, die nicht zu ändern ist. „Ich kann ein eingebildeter Blödmann sein, Mia, aber du hast mir klar gemacht, dass ich diese Maske nicht brauche um geliebt zu werden. Du bist der Grund warum ich aufhören möchte, mich selbst dafür zu bestrafen, dass mein Zwillingsbruder tot ist und ich lebe. Weil du da bist und ich dich liebe“, er legte seinen Zeigefinger unter mein Kinn und hob es sachte an, so dass ich ihn anschauen musste. „Ich liebe dich“, raunte er. „Und wenn es gegen deine Prinzipien ist, Männer zu lieben, wenn sie beliebt sind, dann musst du schleunigst diese Prinzipien über Bord werfen, weil ich nicht ablassen werde, ich werde nicht weg gehen und du wirst nicht fortlaufen.“
Ich wischte seine Hand weg und stand auf: „Du kennst mich nicht, Josch. Vermutlich würde ich weglaufen“, sagte ich und setzte mich zu Ed, Daven und den zwei Mädchen.
Die Frauen verarzteten unsere Wunden gaben uns Spagetti zum Essen, wir schlangen es hungrig in uns hinein, bis wir Magenschmerzen hatten. Es musste später Abend sein, als sie dann gingen und uns alleine ließen. Chris ging mit einem Dorfbewohner mit und redete mit dem Direktor unserer Schule, er musste darüber unterrichtet werden, wer noch lebte und was nun passiert war. Erst ne Stunde später kam er zurück.
Hilary und ich legten uns mit den zwei anderen Mädchen in eine Ecke und schliefen alle gleichzeitig ein.
Die Junges bleiben auch nicht länger auf, sie konnten sich gar nicht schnell genug hinlegen und schon fielen ihnen die Augen zu.

 

 

 

Kapitel 14

 

Den nächsten morgen konnten wir alle kaum erwarten, also wachten wir in der Frühe auf und redeten leise miteinander. Lange her, dass wir so aufgekratzt waren.
Der Bürgermeister des Dorfes besuchte uns in der Frühe und berichtete uns, dass unser Bus die ganze Nacht unterwegs war und in etwas einer halben Stunde hier sein würde. Erleichtert frühstückten wir und konnten gar nicht genug bekommen. Die Junges stritten sich um das letzte Brötchen, bis Hilary es sich schnappte und es auf aß, damit wäre das dann auch geklärt.
Als der Bus dann an der Scheune halt machte, waren wir bereits start bereit. Wir standen mit unserem Gepäck vor der Scheune und konnten es gar nicht abwarten in den gemütlich Bus zu steigen, obwohl jeder von uns in Erinnerung hatte, was das letzte Mal passiert war, als wir mit dem Bus fuhren. Hektor würde ein paar Stunden mit uns fahren und dann an einer Raststätte abgeholt werden, auch er hatte mit seinem Schuldirektor telefoniert.
Hilary sprang voran in den Bus und hielt mir einen Platz beinahe ganz vorne frei, wir saßen also hinter den Teamer, ich wusste, warum sie vorne sitzen wollte, sie wollte nahe bei Chris sein. Mir wäre es zwar lieber gewesen, wenn wir nicht so nahe bei Josch sitzen würden, doch ich gab kein Laut von mir, denn ich hatte den Sitz am Fenster und nicht am gang bekommen und darüber war ich froh. Ich lehnte mich ans Fenster und schloss müde die Augen. Nachdem alle drinnen saßen, wir hatten ja nicht besonders viel Gepäck dabei, ging es los.
Es legte sich eine angenehme Stille im Bus und ich hörte nur ab und an das Gemurmel der Junges. Ich freute mich schon auf meine Mutter und meine Großeltern, wahrscheinlich würden Oma und Opa auch da sein, bestimmt.
Ich schlief nicht gut, weil ich von dem Busunfall träumte und ich schrie im Traum, als der Bus in Richtung Schlucht rutschte.
Jemand rüttelte mich an der Schulter, das passte nicht ganz in den Traum. Ich schreckte auf und schlug die Augen auf. Stille lag im Bus, als ich mich umblickte, begegnete ich die Blicke der anderen: „Mia, alles okay?“, Hilary sah mich besorgt an. „Du hast plötzlich laut geschrieen“, meinte sie. „Nur ein Traum“, meinte ich eher zu mir selbst um mich zu beruhigen, es ist nicht noch mal passiert.
„Soll ich mit Josch tauschen“ schlug sie mit besorgter Miene vor. Ich schüttelte den Kopf und flüsterte: „Nein schon okay.“
Sie runzelte die Stirn langte sie über den Sitz vor sich und gab einem schwarzen Schopf einen Klaps auf den Hinterkopf: „Was hast du meiner Freundin angetan?“ Oh nein, das war nicht gut, dachte ich, während sich sowohl Chris als auch Josch nun zu uns umdrehten. „Sag mal, geht’s noch?“, fuhr Josch sie an und auch Chris blickte seine Freundin missverständlich an.
„Du hättest von Anfang an deine Flossen bei dir behalten sollen, Josch, Du kannst jede Frau haben, sie fliegen alle auf dich, aber lass ja Mia zu frieden, sie ist viel zu gut für dich“, meinte Hilary zornig. Josch zeigte ihr den Vogel und meinte dann leicht angesäuert: „DU hast kein Schimmer was du da schwafelst, Hilary, deshalb halt dich da raus. Und im Übrigen, ich glaube Mia kann sich ganz gut alleine behaupten.“
„Wahrscheinlich würde sie das auch, aber wer kann deinen Spielereien schon widerstehen, he? Mal darüber nachgedacht?“, zischte sie. „Hilary, das ist schon…“, okay, wollte ich sagen, doch sie fuhr mitleidig dazwischen: „Du kannst ja nichts dafür, niemand macht dir einen Vorwurf, dass du auf diesen Vollidioten rein gefallen bist, er sieht immerhin ziemlich heiß aus, dass ist seine Geheimwaffe, der kann niemand widerstehen.“ „Halt deine Klappe, Hilary“, fuhr Chris sie nun an. „Er hat nicht mir ihr gespielt.“ „Ja sicher“, meinte Hilary Augen verdrehend. „Er hat nicht versucht mich zu begrabschen oder mit mir zu spielen“, sagte ich dann ernst.
Das schien Hilary nun doch aus ihrem Zorn zu reisen, sie blickte mich an: „Nicht? Was soll das dann zwischen euch die ganzen Wochen gewesen sein? Liebe? Du glaubst doch nicht, dass dieser Kerl lieben kann?“
Ich ließ betrübt meinen Kopf sinken. „Jetzt hast du ihr auch noch Flausen in den Kopf gesetzt“, meckerte Hilary aufgebracht.
„Ich habe nichts getan“, zischte Josch nun. „Und ich ignorier jetzt dein blödes Geschwatzt, es geht mir auf den Senkel“, knurrte er und redete leise mit Chris.

Und so war das Thema auch für diesen Moment abgeschlossen. Müde hielt ich meine Augen halb auf und blickte aus dem Fenster, die Landschaft zischte an uns vorbei und hinterließ einen Nachgeschmack, denn in dieser Öde hatten wir uns vier Wochen befunden.
Mein Kopf sank an die Fensterscheibe und ich schlief wieder ein, diesmal ereilte mich kein Traum, es war ein schwereloser Schlaf.

„Am besten ist es, wenn wir sie schlafen lassen, sie ist so blass“, hörte ich eine weibliche Stimme, sie schien so weit weg, oder empfand ich das nur so, weil ich nicht ganz wach war, sondern so im Nichts herum pendelte.
„Sie muss was essen, sie hat seit Wochen nicht mehr richtig was gegessen“, bemerkte eine andere Stimme, eine männliche dunkle Stimme ernst.
„Aber vielleicht ist es wirklich besser, wenn sie schläft“, erwiderte die andere Stimme. „Wir können ihr etwas mit bringen“, schlug nun eine andere tiefe Stimme vor.

 

 

 

 

 

Kapitel 15

 

Now everybody,
has a right to be living their lives...oh
but we're a long, long way long way from paradise.
If there was freedom tell me why everybody wants to fight...oh
'cause we're a long, long way a long way from paradise.
You might be strong enough,
you might be rich enough,
you might be blind enough:
to push it all aside.
No matter what you do,
it keeps come back to me and you.
Refrain:

Give a little bit of love and you get it back,
give a little bit of pain, you call it a trap.
For every little thing that you say or do, give a little bit of love and it´ll come back to you.
You got your reasons,
but are you sure they're reasons to be right?...oh
'cause we're a long, long way a long way from paradise.
We must be strong enough,
we must be brave enough,
we waited long enough now it´s time to say goodbye.
We got some rules to bend,
too many lessons to be learned.
Refrain x 2
Ohhhh....
I believe in peace and harmony,
you got to believe in love
before you can be free
so take a hand
everybody make a friend
I want you to believe in love
like I believe
Give a little bit of love...love
a little bit of pain...pain
give a little bit of love...a little bit of love
Refrain x 2
(Joana Zimmer - I believe (give a little bit))
Ich wusste nicht so Recht, ob ich nach diesem Lied lachen oder eher doch weinen sollte, während meine Füße im Takt auf Waldboden trafen und ich den Duft von Kiefer in mir aufnahm. Ich entschied mich letztendlich für keines von beiden, sondern beschleunigte meine Schritte und rannte nun beinahe durch den Wald, der das Dorf umsäumte und den ich in letzter Zeit besser kennen gelernt hatte. Leichter Regen prasselte auf mich nieder und durchdrang unausweichlich meine dürftige Kleidung. Eine leichte Gänsehaut bildete sich auf meiner Haut, als sich Wasser über meinen Nacken bahnte. Ich fuhr mir durch mein feuchtes zusammengebundenes Haar und atmete langsam ein und aus und versuchte mit dieser Übung mein Herz etwas zu beruhigen. Ich hatte mal wieder ziemlich übertrieben, war nun schon seit zwei Stunden unterwegs und ich wusste genau, dass ich da meinem Körper etwas zu mutete, aber ich konnte einfach nicht aufhören.
Statt mich nach dem Erlebnis auszuruhen, hatte ich mir ein Tag später meine Sportsachen geschnappt und mich auf und davon gemacht, um ja nicht länger bei meiner Mutter im Haus mich aufhalten zu müssen, die nun eine feste Beziehung mit dem halb nackten Kerl in der Küche führte. Es lief tatsächlich nicht so, wie meine Mutter es sich erträumt hatte, nachdem ich wieder zurück war und wir Schüler nach diesem schrecklichen Erlebnis eine Woche frei bekommen hatten, um alles verarbeiten zu können. Im Gegenteil, Mam und ich waren uns bereits nach zwei Tagen so in die Haare gekommen, dass nun ein vornehmes Schweigen zwischen uns herrschte, ihren Liebhaber beachtete ich einfach nicht. Erstens musste er dann nicht jeden Moment damit rechnen, dass ich ihn aus dem Haus jagte und zweitens musste ich mich selbst nicht an seinen nackte Gestalt erinnern, die er mir vor einem Monat unfreiwillig präsentiert hatte. So waren wir beide aus dem Schneider und konnten so tun als sei nichts geschehen und der andere existiere gar nicht. Natürlich war das leichter gesagt, als getan. In der Praxis scheiterte ich schon nach einem Tag und warf diesem armen Kerl so einige unschöne Dinge an den Kopf, danach hatte ich meine Sportsachen geschnappt und war einfach ein paar Stunden weg gewesen.
Wie auch heute, am sechsten Tag unserer freien Woche. Mit Hilary hatte ich ab und an Telefonkontakt, aber ansonsten war ich eigentlich nicht wirklich informiert, wie es den anderen gerade ging und wie sie das Erlebnis versuchten zu verarbeiten.
Ich lauschte der weiblichen Stimme und konzentrierte mich ganz auf den Text, während ich nun aus dem Wald ins Dorf joggte. Als ich dann am Haus ankam wurde ich langsamer und ließ mich dann geschafft auf den Rasen vor der Haustür fallen. Mein Atem beruhigte sich langsam und die Musik erschien mir nun etwas zu laut, deshalb zog ich mir die Kopfhörer von den Ohren und legte sie neben mich. Ich hörte nun das Gezwitscher der Vögel und den Regen, der auf die Blätter der Laubbäume in unserem Garten prasselte. Es störte mich eher weniger, dass er auch auf mich hinab rauschte. „Findest du nicht, dass es etwas zu nass da unten ist?“, fragte eine tiefe männliche Stimme vorsichtig. Ich verdrehte die Augen und raffte mich auf, mein Blick lag nun auf einem Mann Mitte vierzig. Luke, so hieß der Kerl, stand unter dem Dach der Terrasse und blickte mich mitfühlend an. Sein Blick mochte nett gemeint sein und vielleicht sorgte er sich tatsächlich, doch dieses Verhalten konnte ich überhaupt nicht gebrauchen. Ich hasste Mitleid noch mehr als Heuchelei.
„Es ist nur Regen“, brummte ich und ging an ihm vorbei, ohne ihn an zu sehen. „Tschüss“, sagte er noch, doch ich schloss ohne ein weiteres Wort die Haustür und marschierte die Treppe hinauf um mich zu duschen. „Mia?“, erklang es von unten. Meine Mutter hatte also mitbekommen, dass ich wieder da war, na super. Als ich nicht antwortete, sondern einfach die Tür vom Bad schloss und mich auszog, klopfte sie ungeduldig an die Tür: „Schatz? Alles okay?“ Ich stöhnte leise, wie oft hatte sie diese Frage in der Woche schon gestellt? Natürlich ging es mir nicht gut! Meine Güte, wem ging es nach solch einem Erlebnis schon gut? Ich ignorierte ihre Frage geflissentlich: „Es regnet“, meinte ich nur um irgendetwas zu sagen, damit meine Mutter etwas zu frieden gestellt war und nicht verzweifelte. Eine aufgelöste Mutter brauchte ich im Moment nun wirklich nicht, das würde in diesem Schlamassel noch fehlen. Ich wüsste beim besten Willen nicht, ob ich sie wie sonst trösten könnte. „Wo warst du schon wieder?“, hakte sie nun etwas erleichtert nach. „Laufen“, sagte ich und stieg in die Dusche und drehte warmes Wasser auf. „Hast du Hunger? Ich könnte was Schönes für uns beide kochen“, sie ließ nicht locker. „Ich hab kein Hunger“, entgegnete ich, während sich meine Muskeln nun wegen dem warmen Wasser entspannten. Eine Weile sagte sie nichts, erst als ich wieder aus der Dusche stieg, sprach sie: „Eben war ein junger Mann hier, er hat nach dir gefragt“, ihre Stimme klang eindeutig neugierig und überrascht, und ich war nicht weniger überrascht. Ich rieb mich mit dem Handtuch trocken und runzelte die Stirn und versuchte nicht an diesen einen jungen Mann zu denken, den ich gerne hier gehabt hätte, wenn die Welt nicht so wäre wie sie nun mal ist. „Ach ja?“, ich versuchte so gleichgültig wie möglich zu fragen, doch ich konnte nicht verbergen, dass ich verblüfft war. Ich trat aus dem Bad, in ein Handtuch eingewickelt und ging an meiner Mutter vorbei in mein Zimmer. „Er hat nach dir gefragt und wollte mit dir über etwas wichtiges reden, das hat er jedenfalls gesagt“, berichtete sie und ging mir nach. Als ich nichts darauf sagte, sondern in einen ausgeleierten grauen Pulli und in eine ausgeblichene Jeans schlüpfte, bemerkte ich ihren neugierigen Blick auf mir: „Er sah ziemlich gut aus, muss ich zugeben.“ Ich zog die Augenbrauen hoch und suchte unter meinem Bett nach meinen Socken. Als ich immer noch nichts dazu sagte, konnte es meine Mutter wohl nicht mehr aushalten: „Er hat nach dir gefragt, Mia. Und er war etwas nervös“, fügte sie hinzu. Endlich hatte ich meine Socken unter dem Bett hervor gefischt und zog sie über meine nackten Füße, während ich meiner Mutter einen warnenden Blick zu warf: „Er ist ein Schulkamerad von mir, wahrscheinlich wollte er nur anbieten mich morgen mit zur Beisetzung zunehmen.“
Und da wären wir wieder bei dem ernsten Thema dieses Jahres und vielleicht unseres ganzen Lebens. Morgen würden unsere Schulkameraden beigesetzt werden, nachdem man ihre Überreste aus dem Bus in der Schlucht geborgen hatte. Der Gedanke daran war schon schmerzhaft genug, doch die Erinnerungen machten alles noch schlimmer, wenn das überhaupt noch ging.
Seufzend ließ ich mich ins Bett fallen und starrte an die weiße Decke. Mam setzte sich vorsichtig neben mich und fuhr mir nachdenklich übers Gesicht: „Tut mir Leid, ich hab da wohl etwas hinein interpretiert“, flüsterte sie beschwichtigend. Wenn sie nur wüsste, dachte ich traurig. „Schon okay, Mam. Wir sind wohl alle etwas neben der Spur“, bedachte ich. Schweigend lagen wir nebeneinander im Bett und blickten an die Decke. Mam unterbrach nach einer Zeit die Stille: „Wir schaffen auch diese schwierige Zeit zusammen, Schatz“, sie drückte meine Hand und ich war ihr so dankbar, dass sie keine weiteren Fragen stellte.
Am Nachmittag ließ sich die Sonne wieder sehen und der heute früh war schon längst vergessen, als ich durch das Dorf schlenderte und nach der „Hilbertstraße“ suchte. Mam hatte mich beauftrag Frau Well, eine alte Dame, die in letzter Zeit meiner Mutter des Öfteren Gesellschaft leistete, keine Ahnung woher sie sich kannten, einen Brief auszuhändigen.
Zwar war ich schon ein paar Mal durch die Straßen gestreift, doch so schnell konnte ich mir die Namen der Straßen dann doch nicht merken. Ich bezweifle, dass ich sie mir überhaupt irgendwann mal alle merken würde. Wie auch immer, nach einer halben Ewigkeit, die Kirchenglocke schlug bereits drei Uhr, erreichte ich endlich die Hilbertstraße und eilte immer noch in ausgeleiertem Pullover und alter Jeans durch die Straße und hielt nach der Hausnummer vier Ausschau. Ich musste die ganze Straße entlang gehen, weil ich von der Seite kam, wo die Nummern bei 50 anfingen. Als ich dann Hausnummer vier erreichte, ragte ein helles halb gelb gestrichenes Haus aus dem Boden. Dahinter musste sich wohl der Garten befinden, weil das Haus sehr nahe am Bürgersteig stand und kein Blick auf Grünfläche frei gab. Was das Gebäude jedoch frei gab, war ein großes hohes Gerüst, das keine halbe Meter an der Hauswand stand und die ganze Vorderseite in Anspruch nahm und sogar um die Ecke des Hauses herum führte. Das Haus bekam nun seinen letzten Schliff verpasst. Ich hörte laute Männerstimmen von dem Gerüst ganz oben, doch ich erblickte niemanden. Zögernd trat ich unter das Gerüst und versuchte den Gedanken zu verdrängen, es könnte auf mich drauf fallen und klingelte nervös. Ich vernahm das Klingeln der Türglocke im Innern des Hauses, doch nichts regte sich. „Die Familie Well ist nicht zu Hause“, ertönte eine dunkle Männerstimme weit über mir. Ich zuckte erschrocken zusammen und blickte zu dem Gerüst hinauf. Über dem Gerüst hing ein Mann mit Dreitagebart und einer Zigarette im Mundwinkel. Er hatte kaum noch Haare auf dem Kopf. Seine grauen Augen betrachteten mich freundlich. „Ähm kein Problem, ich werfe ihn in den Briefkasten“, sagte ich und nickte ihm kurz zu, dann machte ich auf dem Absatz kehrt. Doch ich kam gerade einmal ein paar Meter, als ich eine vertraute Stimme vernahm: „Hei Kleber brauchst du Hilfe?“ Ich blickte noch mal hinauf und dort oben stand ein blondhaariger junge Mann. Kein Zweifel, es war Rob. Ich hielt kurz in der Bewegung rückwärts zu gehen inne und dann hatte er mich auch gesehen: „Mia?“, er klang überrascht, genau so wie ich mich fühlte. „Rob“, sagte ich schüchtern, während er sich nun über das Gerüst lehnte und zu mir hinab schaute: „Was machst du denn hier?“ Ich hielt den Brief etwas an, den ich nun in den Briefkasten werfen würde: „Das könnte ich dich im übrigen auch fragen“, bemerkte ich leicht lächelnd, weil sich auf seinem Gesicht auch ein Schmunzeln abgebildet hatte. „Wie du siehst arbeite ich“, bemerkte er. Ich runzelte die Stirn und blickte zu dem kahlköpfigen Kerl, der neben Rob stand und weiterhin zu mir hinab starrte. „Ul sucht dich, ich glaub er braucht noch einen Mann“, wendete Rob sich kurz zu dem anderen Kerl. Dieser brummte eine Antwort vor sich hin und ging um die Ecke. Rob wandte sich nun wieder mir zu: „Die Familie Well ist im Moment nicht da, am besten wirfst du den Brief in den Briefkasten“, sagte er. Ich nickte und machte einen weiteren Schritt zurück: „Wir sehen uns“, ich drehte mich herum und warf den Brief in einen weißen Briefkasten, an dem ich schleunigst vorbei ging. Ich war mir nur bewusst, was für eine Kleidung ich gerade trug, niemals hätte ich die angezogen, wenn ich gewusst hätte, dass mir jemand von meiner Schule begegnen würde. „Hei Mia, warte mal“, rief Rob und ich drehte mich nochmals zum Haus herum. Rob verschwand hinter dem Haus und tauchte keine Minute später wieder auf und kletterte eine steile Treppe hinunter. Er setzte auf dem Boden auf und kam nun gut gelaunt auf mich zu. Jetzt erst bemerkte ich, dass er in einer weisen Arbeitshose und einem blauen T-Shirt steckte, dass voll mit weißer Farbe bekleckert war. „Ich hab jetzt Feierabend, ich kann dich mitnehmen“, meinte er, als er vor mir zum stehen kam und mir auffiel, wie groß dieser hübsche Kerl war. Außerdem konnte ich nicht bestreiten, dass er einen außergewöhnlich attraktiven Körper besaß und dass seine Arbeitskleidung so seine Reize hatte. Seine Reize hatte? Sag mal, was geht denn grade mit dir ab?“, fragte ich mich aufgebracht. Kein Zweifel, Rob war ein wirklich netter und unglaublich gut aussehender junger Mann, aber das sollte es auch schon gewesen sein, weil alles im Moment kompliziert war. Da sollten mir so Kleinigkeiten wie, dass er einen schönen Körper und angenehmes Gesicht besaß, wohl nicht auffallen. „Alles okay?“, er klang besorgt, weil ich auf sein Angebot hin nichts gesagt hatte. „Ähm“, ich druckste blöd herum und fing mich dann doch: „ja, ich bin nur überrascht dich zu sehen, das ist alles“, sagte ich schnell: „Nett dass du fragst, aber ich denke, ich würde lieber noch ein Stück gehen“, ich schenkte ihm ein kurzes Lächeln und machte mich auf dem Weg. „Wird es nicht irgendwann auch mal langweilig sich immer wieder als Feministin outen zu wollen“, bemerkte er belustigt. Ich wand mich leicht erbost zu ihm um und erhaschte ein bezauberndes Lächeln auf seinem gebräunten Gesicht. „Hatten wir das Thema nicht schon durch?“, erwiderte ich leicht angekratzt. Er zuckte lässig mit den Schulter und hielt sein Grinsen aufrecht: „Kann ich etwas dafür, wenn du wieder mit dem Blödsinn anfängst. Ich hab dich ja immerhin nicht darum gebeten mich zu heiraten und sich an den Herd zu stellen, sondern wollte dir nur anbieten dich mit zu nehmen.“ Natürlich hatte er Recht und das ärgerte mich umso mehr. „Von mir aus“, grummelte ich und wartete, bis er voraus ging. Ein dunkel grüner Wagen, ein Mercedes, parkte auf der gegenüber liegenden Seite, hinter einem weißen Firmenwagen. Rob schloss seinen Wagen auf, ich spürte, dass er mir einen Seitenblick zu warf und musterte das zur Hälfte gestrichene Haus nachdenklich. „Seit wann arbeitest du als Maler und Lackierer?“, informierte ich mich und stieg auf der Beifahrerseite ein. Rob nahm neben mir am Steuer platz und startete den Wagen mit ruhiger Bewegung, während er sich dabei anschnallte und gleichzeitig das Radio leiser stellte, aus dem sehr laut Rockmusik erklang. „Seit ich sieben Jahre alt bin helfe ich aus, meinem Dad gehört die Firma“, erklärte er und glitt geschickt auf die Straße. Also hatte auch er die Woche nicht zum Verarbeiten genutzt, sondern gearbeitet. Aber vielleicht konnte er auf diese Weise die Dinge verarbeiten, so erging es mir beim Sport, was jedoch nicht für die Produktivität der Allgemeinheit führte, überlegte ich.
Keiner von uns beiden sagte etwas und eine angenehme Stille legte sich zwischen uns. Ich hatte nicht das erdrückende Gefühl etwas sagen zu müssen, was mir sehr gefiel. Bei vielen anderen Menschen hätte ich mich darum bemühen müssen, irgendwelche Kommunikationsthemen aus dem Hut zu zaubern, doch er schien nicht der Typ zu sein, der immer reden musste. Wir fuhren durch das kleine Dörfchen und keine zwei Minuten später hielt er an meinem zu Hause. Ich runzelte die Stirn: „Woher weist du wo ich wohne?“ Rob zog die Handbremse an und blickte mich freundlich an, seine grüne Augen waren wunderschön: „Ich wohne in der gleichen Straße wie du“, er deutete auf das drei Häuser weiter entfernte hell blaue Haus. Um das Haus herum befanden sich jede Menge blühende Pflanzen und bezauberten den Ort. Dieses Ambiente war unbeschreiblich schön. Schon ein paar Male, war ich daran vorbei gejoggt oder mit meiner Mutter gefahren und hatte den Anblick bestaunt. Bereits unser Haus war einfach wunderschön, doch im vergleich zu dem Haus, in dem Rob mit seiner Familie wohnte, war es zum einen winzig und zum anderen so gewöhnlich. Was man von dem hell blauen Gebäude nicht im Geringsten behaupten konnte. „Wahnsinn“, sagte ich. Rob grinste noch breiter und sein Augenmerk lag ebenfalls auf dem hell blauen Haus: „Ja, nicht? Meine Eltern haben Jahre lang dafür hart schuften müssen, dass es so aussieht. Ich hab auch meinen Teil dazu beigetragen, aber ich war gerade einmal sechs Jahre alt gewesen, als sie es fertig gestellt hatten, also war ich eher keine so gute Hilfe“, witzelte er.
Ich schmunzelte und schnallte mich ab: „Danke, dass du mich mitgenommen hast. Hättest du mir gesagt, dass wir Nachbarn sind, hätte ich eben nicht so einen Aufstand gemacht“, bemerkte ich und stieg aus dem Wagen. „Auf keinen Fall, dann hätte ich mir den ganzen Spaß verdorben“, entgegnete er sarkastisch. „Bye Rob“, wollte ich mich erleichtert verabschieden. „Du gehst doch morgen bestimmt auch zur Beisetzung oder nicht?“, hakte er nun ernst nach, ich trat an sein Fenster, sein linker Arm lag lässig auf der Ablage, sein Gesicht mir zu gewandt. „Hatte ich vor ja, wieso?“, antwortete ich skeptisch. „ich könnte dich mit nehmen, sagen wir so um halb zwei bei dir?“, schlug er vor. „Immerhin sind wir Nachbarn“, fügte er nun wieder leicht grinsend hinzu. Ich biss auf meiner Unterlippe herum, während ich darüber nachdachte. Eigentlich war das keine schlechte Idee, dann müsste meine Mutter nicht mit kommen und außerdem mochte ich Rob. Er war kein Typ, der alles verkomplizierte und bei ihm fühlte ich mich ausgeglichen, als wüsste ich in seiner Nähe einfach wer ich war, dass war etwas Neues und das war gut. Doch wollte ich das Gefühl überhaupt? So viele Sachen in meinem Leben ergaben keinen Sinn und ließen mich kaum zu Atem kommen. Doch er, er war anders, er hielt für eine Weile die Zeit an und gab mir ein Zeitfenster. Sein Grinsen verwandelte sich zu einem skeptischen Blick, er schien mein Schweigen falsch zu interpretieren. „Okay, morgen um halb zwei steh ich vor der Tür“, sagte ich und lächelte ihn dankbar an. „Abgemacht“, meinte er nun wieder grinsend. „Schlaf gut“, meinte er feixend und startete den Wagen. „Ja, ja, du auch“, murmelte ich Kopf schüttelnd.

Kapitel 16

Wenn etwas Unangenehmes vor einem liegt, dann ereilt es einem schneller, als einem vielleicht Recht ist. So ist es auch mit Beerdigungen, oder in diesem Fall Beisetzungen. Die ganze Nacht konnte ich kaum ein Auge zu tun, immer wieder erblickte ich die Gesichter von Sara und Ina, zwei gute Freundinnen. Und da waren alle unbekannten Gesichter, die ebenfalls den Tod unterlegen waren. So viele Gesichter, die wir nicht retten konnten, so viel vergossenes Blut und am Schlimmsten, die markerschütternden Schreie. Mit Schweißperlen im Gesicht wachte ich am nächsten morgen aus einem unruhigen Schlaf und sprang schnell in die Dusche, wo ich meinen Tränen freien lauf ließ. Es war unglaublich schwer auf den Füßen zu stehen, wenn einem solche schwerwiegenden Erinnerungen gefangen hielten und den ganzen Körpern zum vibrieren brachten. Lautlos schluckste ich vor mich hin, während das warme Wasser über mich glitt und meinen verschwitzten Körper reinigte.
Nach der Dusche wickelte ich ein Badehandtuch um mich und tapste wieder etwas beherrschter in mein Zimmer zurück und stand unschlüssig vor meinem Schrank, der weit offen stand und unterschiedliche Varianten von abgelegener Kleidung offenbarte. Seufzend durchwühlte ich die hängenden Sachen nach etwas Schwarzes, als es leise an meiner Tür klopfte: „Schatz? Bist du wach? Ich hab das Wasser im Bad laufen gehört.“ „ich bin wach“, antwortete ich kurz und setzte mich erfolglos auf mein Bett, das nasse Haar fiel mir über die Stirn und kitzelte feucht an meinem Nacken.
. „Kann ich rein kommen?“ Wenn ich nein sagte, würde sie trotz allem ins Zimmer rauschen, schloss ich: „Von mir aus“, antwortete ich. Die Tür flog auf und meine Mutter marschierte mit freundlicher Miene in mein Zimmer. Sie selbst trug einen Hosenanzug, in der Hand hielt sie ein schwarzes Kleid aus Seide und ich hatte so einen Verdacht. „Schau, das habe ich dir gestern aus der Stadt mitgebracht. Ich dachte, das Kleid könntest du heute tragen“, sie präsentierte es mir, in dem sie es an ihren eigenen Körper hielt. „Auf keinen Fall“, entgegnete ich entschlossen. Ihr Blick war streng und entschlossen: „Wieso nicht? Es würde deinem schmalen Körper schmeicheln, außerdem hast du für heute nichts an zu ziehen, ich kenne dich sehr gut, Schatz.“ „Ich möchte aber nicht, dass es irgendetwas an mir schmeichelt. Ich geh auf eine Beerdigung“, versuchte ich ihr ungeduldig klar zu machen.
Bäume rauschten links und rechts an uns vorbei, die Allee von Laubbäumen wollte nicht enden. Ein angenehmer lauwarmer Wind wirbelte durch die halb geöffneten Fenster des Mercedes und brachte mein offenes Haar in Bewegung. Ich strich einige Strähnen hinter mein Ohr. Eine Stille, die unausgesprochene Trauer demonstrierte, lag im inneren des Wagens. Die Fahrt würde nicht mehr lange dauern, schon in ein paar Minuten würden wir auf eine trauernde Gesellschaft stoßen. Gemeinsam würden wir uns von jungen Menschen verabschieden, die noch das ganze Leben vor sich gehabt hätten, wenn nicht dieser schreckliche Unfall gewesen wäre. Dieser Vorfall würde uns unser Leben lang begleiten, uns prägen und niemals vergessen lassen, was es heißt jeden einzelnen Moment des Lebens zu genießen. Ich hoffte insgeheim, dass das nicht das Ende für sie bedeutete, sondern dass es noch Hoffnung gab. Und ich fragte mich zum aller ersten Mal in meinem Leben, ob das Versprechen von Gott und seinem Sohn Jesus für jeden galt. Konnten wir uns angesprochen fühlen, obwohl wir ihn bisher nie in unser Leben gelassen hatten? Konnte ich mich angesprochen fühlen, nachdem ich dem Glauben an einen gütigen und wahrhaftigen Gott nach dem Tod meines Bruders aufgegeben hatte? Dieser plötzliche Gedanke ließ mich nicht mehr los und ich war mir beinahe sicher, dass es etwas im Leben gab, das uns für unsere Freunde hoffen lassen konnte. Ich wünschte es so für meinen Bruder und für unsere Schulkameraden. Warum auch immer dieser Unfall passiert ist, und was für einen Sinn es nun macht, noch weiter das Leben zu leben, diese Fragen konnte ich beantwortet bekommen oder zumindest hatte ich die Chance den Sinn des Lebens, meines Lebens erklärt zu bekommen. Warum ich plötzlich diese Erleuchtung hatte, im Mercedes von Rob, fragt mich was Leichteres. Aber darum ging es auch gar nicht. Was spielte das für eine Rolle? Wichtig war nur, dass ich endlich einen Anker sah, der uns alle halten konnte, wenn wir uns einließen. Ich spürte eine angenehme Wärme, die sich in mir breit machte. Und zum ersten Mal nach all dem Chaos der letzten Jahre betete ich gedanklich zu Gott, dass ich nicht mehr ohne ihn leben könne. Seine Wärme und Liebe war es, die ich für nichts anderes im Leben eintauschen würde.
Rob parkte keine Minute später hinter einer langen Schlange von geparkten Autos. Als ich mich abschnallte, bemerkte ich, dass Rob noch angeschnallt war und schweigend zur Seite schaute. Dort ein paar Meter weiter weg stiegen Chris, Hilary und Josch aus einem dunkel blauen BMW. „Was ist?“, erkundigte ich mich und versuchte den dreien nicht hinterher zu schauen, sie hatten uns nicht gesehen. Rob drehte sich in meine Richtung und blickte mich ernst an: „Gehen wir zusammen rein oder was hast du vor?“ „Wieso sollten wir nicht zusammen rein gehen?“, ich war leicht verwirrt. Er zuckte mit den Schultern und schnallte sich ab. Ich berührte ihn leicht an der Schulter: „Hei, was ist los?“ Rob öffnete seine Fahrertür und sprang aus dem Wagen, ich tat es ihm gleich und fragte mich, was nun los war. Als er dann einfach los ging und nichts weiter sagte, eilte ich ihm leicht genervt nach und versperrte ihm den Weg. Er musste stehen bleiben, ansonsten wären wir zusammen gestoßen. „Hei“, ich blickte ihm sanft in seine hell blauen Augen, die leicht zornig aussahen. „Was hab ich falsch gemacht?“ Seine Lippe kräuselten sich bei meinen Worten verächtlich: „Was du falsch gemacht hast? Ich bitte dich! Du könntest keiner Menschenseele etwas zu Leide tun“, entgegnete er hart. Obwohl er gereizt klang, hörte er sich nicht sarkastisch, als meinte er es, wie er es sagte. Aber was war es dann? Ich runzelte die Stirn: „Wieso bist du dann auf einmal so zornig?“ Er zuckte ungeduldig mit den Schultern und vermied es mich anzusehen. Als er so unsicher und gleichzeitig trotzig vor mir stand und meinen Blick vermied, sah ich in ihm ein verunsicherten und gleichzeitig hochmütigen Jungen, der die Stärke und den Willen besaß, all das zu bekommen, was er wollte und gleichzeitig gab es da eine sanfte Seite an ihm, die geduldig, aber auch verletzlich war. Es gab kein Weg daran vorbei, diesmal musste ich mich öffnen, vielleicht konnten wir gute Freunde werden. Jedenfalls mochte ich ihn, er strahlte so viel Charme und Geborgenheit aus. „Lass uns rein gehen“, ich hielt ihm zögernd die Hand hin und er nahm sie vorsichtig an. Die Kapelle war sehr groß und bereits voll besetzt. Überall sprossen Trauerblumen, die Menschen waren schwarz bekleidet und ihre Mienen sprachen tiefe Trauer aus. Zusammen gingen wir leise durch einen schmalen, langen Gang, der den langen Saal in zwei Hälften teilte. Wie schon gesagt, beinahe alle Bänke waren besetzt, ganz vorne in der zweiten Reihe winkte uns Hilary zu sich. Als wir sie erreichten, rückte sie näher an Chris ran, der links neben ihr saß und uns stumm zu nickte. Neben Chris saß Mark und neben ihm Vic. Links neben ihm befand sich ein freier Platz, wahrscheinlich sitzt Josch da, überlegte ich flüchtig und setzte mich neben Hilary, die mir ein Hallo zu hauchte und Rob kurz die Hand gab, der sich neben mich auf die Bank setzte. Vor uns befand sich noch eine weitere Reihe Bänke, wo die trauernde Familie von Ina saß. Vorne vor dem Altar befanden sich fünfzehn Urnen mit jede Mengen Blumen beschmückt. Ich spürte einen Klos in meinem Hals, auch als ich einige Male schluckte verschwand er nicht. Im Gegenteil, er trieb mir die Tränen in die Augen. Hilary stupste mich an und reichte mir ein Taschentuch, sie selbst rang auch mit den Tränen.
Kurze Zeit später setzte sich eine junge Frau vorne ans Klavier und eine traurige Melodie füllte den voll besetzten Saal. Der Pfarrer schritt ganz langsam vorne zum Altar, während die Musik immer melodischer wurde und der Pegel von Schlucksern lauter wurde. Hilary neben mir zitterte leicht, ich wollte sie bereits in die Arme nehmen, doch Chris kam mir zuvor. Er nickte mir nur dankend zu und legte seinen Arm um die schlucksende Hilary. Dann begann eine junge Frau plötzlich mit fester schöner Stimme zu singen und der Klang eines Pianos durchflutete die Kapelle. Alle Köpfe fuhren herum. An einem schwarzen modernen Piano saß ein junger Mann uns den Rücken zu gekehrt und neben ihm stand eine Frau Mitte vierzig und sang mit leidenschaftlicher Stimme. Ich wusste auch so, wer da am Piano saß, ohne, dass sich der junge Mann mit dem schwarzen Schopf uns zu wenden musste, Josch. Er trug, wie alle anderen Männer in der Kapelle einen Anzug. Er bestand aus tief schwarzer Farbe und glich seinem pechschwarzen Haar, das mit Gel leicht aufgestylt war und ihm ein verwegenes und draufgängerisches Aussehen verlieh. Und dabei sah man nicht einmal sein rebellisches Gesicht, das hatte er nämlich konzentriert in Richtung Klavier gewendet. Das Gesicht der Frau kam mir bekannt vor, obwohl ich wusste, dass ich sie noch nie gesehen hatte. Eine dritte Peson, ein kleines Mädchen begann nun Geige zu spielen und die Musik wurde immer melodramatischer und gleichzeitig so wunderschön. Ich wendete meinen Blick ab und schaute wieder nach vorne, der Pfarrer stand schweigend vorne und betete mit geschlossenen Augen, gemeinsam standen wir alle auf und schlossen uns ihm an. Nur die Klänge der Geige, des Pianos und der wunderschönen Stimme der Frau hallte weiterhin im Hintergrund durch die Kapelle. Eine ganze Weile blieben wir regungslos stehen und lauschten den zarten Klängen und schwiegen. Ich spürte die warme Hand von Rob an meiner und die Verlockung war groß, sie nicht einfach zu fassen und niemals mehr los zu lassen. Natürlich sehnte ich mich eigentlich nach einer ganz anderen Hand, aber Robs Hand, das war mir klar, würde mich niemals enttäuschen, während eine andere Hand das konnte, vielleicht sogar mehrmals. Diese verworrenen Gedanken schwirrten durch meinen Kopf, während eine andere Musik in Begleitung einer Gitarre angestimmt wurde. Ein wenig später folgte dann eine dunkle Männerstimme, die mir mal wieder Gänsehaut bescherte. Ich wies mich zu Recht, immerhin befand ich mich gerade auf der Beisetzung unserer verunglückten Klassenkammeraden. Ich atmete leise und tief ein, um wieder bei Verstand zu kommen und konzentrierte mich auf ein Gebet, dass ich Gott schickte.
Als wir uns dann wieder hinsetzten begann der Pfarrer mit seiner langen Rede. Er sprach über jeden einzelnen Schüler, als würden wir sie irgendwann wieder sehen. Nicht ein einziges Mal schien es mir so, als wolle er, dass wir uns von ihnen ganz verabschiedeten. Nein, es war eher so, als sollten wir uns nur für eine kurze Zeit von ihnen lösen. Aber auch dieser Gedanke schmerzte und stillte die Tränen der Gesellschaft nicht. Nach dieser langen Rede kamen einige Menschen nach vorne, um sich mit einer kurzen Rede von dem Sohn/Tochter, Bruder/Schwester, Freund/in …, zu verabschieden. Nachdem die Reden nach etwas einer Stunde alle gehalten wurden, erklang wieder das Klavier, die Urnen wurden einzeln durch den Gang getragen, hinaus auf den Friedhof. Wir erhoben uns gerädert und folgten langsam. Die Sonne knallte heiß auf uns nieder und die schwarze Kleidung tat ihren Rest, als wir dann zusammen draußen standen und noch einige Lieder gemeinsam sangen. Danach marschierte die Gesellschaft zum Gemeinschaftshaus, das in der Nähe lag, dort würde es noch Kuchen und Kaffee geben. Hilary und ich knieten uns an die Gräber von Ina und Sara. Schweigend hielten wir uns an den Händen, während Chris und Rob etwas abseits auf uns warteten. Es war mir schnuppe, dass ich das schwarze Kleid schmutzig machte. Mam würde sich zwar aufregen, aber das war im Moment einfach nicht wichtig. Tränen liefen über meine Wangen und fielen auf die aufgelockerte Erde, wo die Urne von Sara begraben worden war. Hilary verfiel nun wieder ein hemmungsloses Schlucksen und ich legte einen Arm um sie, obwohl auch mein Weinen nun zum Schlucksen ausartete. Chris zog Hilary auf die Füße und ich erhob mich ebenfalls und zu viert machten wir uns zu den Autos. Wir waren uns einig, dass wir keine Lust auf Kaffee und Kuchen hatten.
„Sehen uns morgen in der Schule“, meinte Chris zu Rob, mir nickte er kurz zu, dann führte er die schlucksende Hilary zu seinem Wagen. Rob und ich gingen schweigend nebeneinander her zum Wagen, als eine Stimme durch die Stille hallte: „Mia, warte kurz.“ Ich kannte die Stimme nur zu gut und blickte erschrocken über meine Schulter, während ich nun schneller ging. Rob ließ sich leicht zurück fallen und fing Josch ab. Josch in einem schwarzen Anzug zu sehen, regte so einige Mädchenträume von einem Prinzen in einem, aber ihn dann auch noch von vorne zu sehen, dass verschlug einem die Sprache. Ich schluckte und wusste nicht recht, was ich nun tun sollte, ich stand unschlüssig vor Robs Wagen und beobachtete mit bangen Gefühlen, die mir nun bietende Situation. „Ei, was soll das?“, durchbrach Josch die Stille temperamentvoll, als sich Rob ihm in den Weg stellte und somit den Blick auf mich abfing. „Sie will nicht mit dir reden, Mann“, entgegnete Rob beinahe etwas zu ruhig. „Ach ja? Sorry Kumpel, aber das will ich doch lieber selbst in Erfahrung bringen“, brummte Josch gereizt und wollte sich an Rob vorbeischieben, doch er trat ihm nun provozierend in den Weg: „Eine ungewohnte Situation für dich, oder? Es muss wirklich ein harter Schlag für dich sein, wenn ein Mädchen wie Mia nicht mit dir reden möchte.“ „Pass auf, was du da sagst“, zischte Josch nun gefährlich. So langsam bekam ich das Gefühl, dass sich hier ein Schlamassel anbahnte, deshalb tat ich das einzige, was mir einfiel. Ich rief Chris an, der konnte ja noch nicht allzu weit sein, wenn er überhaupt schon weg war, immerhin war Josch mit ihm gekommen. „Hallo?“, kam es aus der anderen Leitung. „Ich bin’s Mia, wo seid ihr? Seid ihr schon unterwegs?“, erkundigte ich mich, während ich gleichzeitig die Szene vor mir im Auge behielt. Im Moment warfen sie sich noch leicht unfreundliche Wörter an den Kopf, aber ich konnte spüren, dass das nicht mehr lange so bleiben würde. „Sind noch auf dem Parkplatz und warten auf Josch“, sagte er. „Tja, der fechtet gerade ne hitzige Unterredung aus“, meinte ich und dann sah ich auch schon, wie Josch Rob einen erst einmal eher harmlosen Brusthieb verpasste: „Wäre besser, wenn du vielleicht kommen würdest, ich weis nicht Recht, ob ich mich zwischen die zwei Streithähne werfen soll, oder doch lieber auf Sicherheitsabstand gehen sollte“, berichtete ich. „Bin schon unterwegs“, brummte er und die Verbindung wurde abgebrochen. Zuerst zeigte Rob eine wirklich beneidenswerte Geduld und versuchte Josch mit Worten davon zu überzeugen, dass er lieber gehen sollte, doch der ging auf seine Worte überhaupt nicht ein. „Geh mir aus dem Weg, Rob. Spiel dich nicht als ihr Beschützer auf, klar? Vor mir musst du sie nicht beschützen“, bläffte er und gab ihm einen groben Schubs. Rob machte zwar einen Schritt zurück, aber er trat nicht zur Seite: „Das ist doch Kinderkram, Josch. Verschwinde doch einfach und lass sie in Ruhe.“ Josch betrachtete ihn nun gefährlich: „Du hast nicht das Recht dich einzumischen, verstanden? Das geht nur sie und mich etwas an und nun geh zur Seite, wir wissen doch beide, dass du gegen mich nichts ausrichten kannst, wenn es um Muskelkraft geht.“ Das war wohl der Auslöser dafür, dass er nun beinahe einen Schlag ins Gesicht gefangen hätte, wenn er nicht gerade noch ausgewichen wäre. Ich atmete einmal tief durch und marschierte auf die beiden zu, aber ich kam zu spät, denn Josch stürzte sich nun mit aller Wucht auf Rob, der mit dem Rücken gegen die Hecke prallte, die den Friedhof und die Kapelle umsäumte. Und dann wendeten alle beide eine solche Kraft auf, dass die Hecke leicht nach gab und die zwei kämpfenden Junges mit einem verblüfften Laut über die Hecke kippten. Mit einem lauten Aufschlag landeten sie auf der anderen Seite. Ich blieb erschrocken stehen und lauschte, als ich dann wieder die dunklen Stimmen der beiden vernahm, atmete ich einen Augenblick erleichtert auf, aber zu früh gefreut. Die beiden schienen nicht aufhören zu wollen, ich hörte sie Schnaufen und sah, wie die Hecke leicht zitterte. Sie verhielten sich immer noch wie zwei wild gewordene Tiere. Jetzt erst verstand ich die Aussagen, wenn es um den Trieb der Männer ging. Bisher hatte ich immer gedacht, dass die Frauen einfach etwas übertrieben und das alles Vorurteile waren, wie das Vorurteil, dass Frauen nicht einparken konnten. Aber nach dem Verhalten der beiden Blödmänner zu urteilen, war das keineswegs nur ne Floskel. Das laute Fluchen der beiden brachte mich wieder zurück in die Realität und ich setzte mich in Bewegung, ich hatte vor um die Hecke herum zu gehen und den beiden die Meinung zu geigen, als Chris endlich herbei eilte: „Sorry ging nicht schneller!“, meinte er im vorbei rennen zu mir. Er musste nicht fragen, wo die beiden Streithähne sich befanden, das laute Gestöhne und Geächzte wies ihm den Weg. Aber bevor er auch nur eingreifen konnte, hörte ich von der anderen Seite hinter der Ecke plötzlich einen Aufschrei einer Frau: „Um Himmels Willen, sofort auf hören.“ Die Stimme bekam mir irgendwie bekannt vor, aber ich konnte sie nicht einordnen. Ich erreichte nur langsam das Gatter, das in den Friedhof führte, da ich unbequeme Absatzschuhe zu meinem Kleid trug. Was ich dann hinter der Hecke vorfand übertraf meine Vorstellung um einiges. Auf dem Boden wälzten sich weiterhin keuchend die beiden Junges. Ihre Anzüge waren über und über mit Erde bedeckt, soweit man das beurteilen konnte. Ihre Bewegungen waren so schnell und flink, dass man nicht wirklich einzelne Körperteile ausmachen konnte, außerdem waren sie ineinander verkeilt. Neben den beiden stand eine schlanke Frau in einem langen schwarzen Kleid, sie hatte vorhin in der Kapelle gesungen. Ihre Miene war streng und gleichzeitig ängstlich. Chris selbst versuchte irgendein Körperteil von Josch zu schnappen, um ihn von Rob wegzuziehen, aber er wurde lediglich von den beiden zur Seite gestoßen. Fluchend landete dieser im Gras und rappelte sich auf: „Ich hole Verstärkung“, schrie er, während er in Richtung Dorfgemeinschaft davon rannte. Na super! Die Brünette und ich blieben zurück: „Normalerweise verhält sich mein Sohn nicht so“, meinte diese nun, es schien so, als wolle sie sich mit diesen Worten eher überzeugen, als jemand anderen. „Hm“, machte ich nur und schrie nun: „Hört sofort auf, seid ihr noch ganz bei Trost?“ Doch die beiden ignorierten auch das geflissentlich. Sie waren nun so weit, dass Blut im Spiel war, nicht dass man ausmachen konnte, wer nun blutete. „Josch ich befehle dir, hör sofort damit auf!“, brüllte die Dame nun erzürnt, doch auch ohne Erfolg. „Ich werde meinen Mann holen“, sagte sie im weggehen und ließ mich einfach alleine stehen. Auch ich wäre jetzt am liebsten weggegangen. Ich konnte sie niemals auseinander bringen und zusehen konnte ich auch nicht. Ich dachte wirklich nicht, dass es heute noch schlimmer gehen konnte, aber es ging bei dem Schlamassel noch Schlimmer. Zwei schlanke Mädchen rannten herbei und blieben neben mir stehen. Erst als ich sie näher anschaute, wurde mir klar, wer sich das Spektakel anschaute. Es war Ashley, Joschs Freundin und ihre Freundin Zachira. „Meine Güte, was geht denn mit denen ab?“, fragte mich die ahnungslose Zachira. „Na was wohl?“, giftete Ashley nun und stellte sich mit den Händen in die Hüfte gestemmt vor mich. Ihre braunen Augen funkelten mich böse an: „Bist du jetzt stolz, Puppe?“ „Bitte was?“, entgegnete ich verblüfft. „Tu nicht so unschuldig, Püppchen. Du hast es doch Faustdick hinter den Ohren!“ Waren jetzt alle verrückt geworden? Ich meine, diese groteske Situation muss man sich mal vorstellen. Zwei Junges kämpften wie Tiere miteinander auf einem Friedhof und wäre das nicht schon genug, kommt so eine eifersüchtige Ziege daher und behauptet, ich wäre hinterhältig und hätte das alles geplant. Ähm hallo, eigentlich hatte ich vor gehabt nach dem Umzug ein langweiliges unkompliziertes Leben zu führen, das ging nun ziemlich in die Hose. Aber das war ja gerade mal der Anfang, denn Ashley legte noch einen Batzen drauf. „Bist du jetzt glücklich, Schlampe?“, mit diesen Worten schubste sie mich leicht. Ich versuchte die Balance auf meinen Schuhen wieder zu gelangen, während ich das alles versuchte zu kapieren. „Sind denn jetzt alle verrückt geworden?“, stieß ich ungläubig aus. Im nach hinein weis ich auch, dass diese Aussage in Gegenwart von solchen Zicken wie Ashley und Zachira nicht gerade Ruhe versprachen, im Gegenteil. „Du Biest! Gib wenigstens zu, dass du ihn mir weggenommen hast!“, zischte sie und trat mir mit ihren spitzen Schuhen volle Kanne auf den Fuß. Ich konnte ein Aufheulen nicht verhindern, es tat verdammt weh. Ich sprang auf einem Bein und hielt mir den schmerzenden Fuß, Tränen liefen mir über die Wange. Und zum ersten Mal in meinem Leben verspürte ich den Drang jemanden zu schlagen, stattdessen trat ich ihr fest gegen das Schienbein, zwar nicht sehr originell, aber wirkungsvoll. Sie heulte ebenfalls auf und dann sah sie vermutlich nur noch rot. Sie stürzte mit einem Schrei auf mich zu und riss mich zu Boden. Dann begann sie mich mit ihren langen Nägeln zu attackieren. Nun wälzten wir uns ebenfalls schnaufend auf dem Boden herum. Ich versuchte mich von ihr los zu machen, aber sie biss sich wie eine Zecke an mir fest, es war unmöglich sich aufzurappeln. Ich wollte ihr sagen, dass ich keinen Schimmer hatte, wovon sie überhaupt sprach, aber sie ließ mich überhaupt nicht zu Wort kommen. Überall wo ihr scharfen Nägel meine Haut gekratzt hatten brannte es nun schrecklich. Ich schmeckte Blut und hoffte, dass es nicht mein eigenes war. Ich betete innerlich, dass Chris bald zurück kam und Verstärkung mit brachte. Die war nämlich nötig um die beiden Streithähne und Ashley unter Kontrolle zu bringen. Aber wie das auch immer bei griechischen Tragödien der Fall ist, folgt nach einem großen Schlamassel noch die Katastrophe und die ließ auch in diesem Fall nicht länger auf sich warten. „Du meine Güte“, erklang die Stimme eines älteren Mannes, der sich als der Pfarrer persönlich heraus stellte. Und nun wäre es für alle Beteiligten an der Zeit gewesen, endlich Vernunft anzunehmen. Die Rettung nahte, denn Chris war mit Verstärkung zurück. Natürlich hatte niemand mit zwei jungen Frauen gerechnet, die sich ebenfalls auf der Erde wälzten. Drei starke Männer trennten Josch und Rob, während Ashley nun freiwillig von mir abließ. Sie rappelte sich schnaufend auf: „Ich hoffe dass war dir eine Lehre, Puppe“, damit stolzierte sie von dannen. Eins musste man ihr lassen, man wäre nie darauf gekommen, dass sie vor ein paar Sekunden noch wild auf dem Boden gekämpft hatte, wenn man mal von dem verschmutzten Kleid und den wuscheligen Haaren absah. Ich hingegen lag schnaufend auf der Erde und spürte jeden einzelnen Knochen, außerdem stellte ich fest, dass ich diejenige war, die blutete. Wo genau ich nun blutete, war noch nicht ganz klar. Ich unterdrückte ein Wimmern, während ich mich zitternd aufsetzte. Die Kratzer, die tief in mein Fleisch geritzt waren taten am meisten weh. „Pastor Hein, kommen sie, gehen wir zum Gemeinschaftshaus“, schlug ein wichtig drein schauender Mann vor. Er warf den Jugendlichen einen verständnislosen Blick zu und führte den immer noch perplex drein schauenden Pfarrer weg. Die Männer ließen Josch und Rob los, nachdem sie sich sicher waren, dass sie nicht noch mal aufeinander losgehen würden und blickten kurz zu mir rüber, ich musste schlimm aussehen. Hilary hockte sich mitfühlend neben mich und half mir aufzustehen: „Geht’s?“, fragte sie besorgt und stützte mich. Ich nickte nur, zu etwas anderem war ich im Moment nicht fähig. „Was sollte das?“, ertönte nun die Stimme einer der älteren Männer wütend und blickte Josch, Rob und mich streng an. Ich senkte den Blick, ich fühlte mich auf unerklärliche Weise schuldig. „Von dir hätte ich das am wenigsten erwartet Josch“, meinte nun ein anderer gut gekleideter Mann. Er konnte nur Joschs Vater sein, er sah ihm unbeschreiblich ähnlich. Natürlich war sein Aussehen von Alter geprägt, aber seine Augen sprühten voller Energie, wie die seines Sohnes. Josch blickte seinen Vater mit geregtem Kinn an: „Nichts von belangen.“ „Nichts von belangen? Ihr prügelt euch auf einem Friedhof und das nicht einmal wegen einem triftigen Grund“, donnerte sein Vater. „Ich bin enttäuscht von dir Sohn“, sagte der andere Mann und blickte Rob wütend an. „Wie kannst du dich nur auf das Niveau dieses Kerls begeben?“ Nun schaltete sich Joschs Vater ein, bevor Josch etwas sagen konnte. „Was genau willst du damit sagen, James? Dass mein Sohn nicht erzogen ist? Zu einer Prügelei gehören immer zwei.“ „Ich will damit nur sagen, dass dein Sohn schon so einige Vorgeschichten aufweist, während mein Sohn eine weise Weste hat“, entgegnete Robs Vater wütend. „Pf, ich meine, welcher vernünftige Mann hat sich nicht schon mal geprügelt“, warf Josch nun geringschätzig ein. Ich spürte seinen Blick auf mir: „Rob lass uns gehen“, sagte ich nun entschieden, ich hatte auf das alles hier keine Lust mehr. „Bevor das nicht geklärt ist, wird hier niemand gehen, Kleine“, entgegnete Joschs Vater. Nun hatte ich seine Aufmerksamkeit erlangt, na toll. „Zählen wir doch einfach mal eins und eins zusammen“, begann er nun gefährlich ruhig. „Zwei junge Männer gehen sich an die Gurgel und zwei Mädchen ebenfalls. Das eine Mädchen dampft ohne weiteres davon und die eine möchte nun auch schnellstens verschwinden.“ „Rob sag schon warum habt ihr euch geprügelt? Ist es wegen ihr?“, Robs Vater machte eine Handbewegung in meine Richtung. Ich stand auf einem Bein, mein Kleid war voller Dreck, mein Haar stand bestimmt ab und ich spürte an meinem ganzen Körper das Brennen von Schnitten. Ich musste ja wirklich eine tolle Figur abgeben, aber immerhin war ich nicht alleine. Sowohl Josch, als auch Rob waren nicht weniger verdreckt. Obwohl ich zugeben musste, dass sie trotz allem noch toll aussahen, während ich wahrscheinlich bemitleidenswert aussah. „Es ist nicht so wie du denkst, Vater“, grummelte Rob. „Was denk ich denn?“, hakte dieser nach. „Er hat mich nicht mit ihr Sprechen lassen“, warf Josch nun hitzig ein. „Mann ich wollte doch nur ganz normal mit ihr reden.“ „Okay, so kommen wir nie weiter“, seufzte Joschs Vater nun, ihm wurde nämlich langsam bewusst, dass sein Sohn wohl nicht wirklich unschuldig war. „Wir reden wann anders darüber“, schlug Robs Vater vor, wahrscheinlich hatte er noch etwas besser vor, als sich hier um Jungendkram zu kümmern. „Haltet einfach etwas Abstand in der nächsten Zeit“, meinte Joschs Vater ernst und blickte die beiden Junges streng an: „Und lasst euch von den Weibern nicht den Kopf verdrehen.“ Unglaublich, dachte ich. Jetzt hatte ich die Schuld für diesen ganzen Schlamassel angehängt bekommen, das machten sie sich aber zu einfach. Ich war doch kein Sündenbock. „Moment“, mischte sich nun Hilary ein, meine rettende Hand. „Das war’s jetzt? Meine Freundin bekommt einfach die Schuld an allem, anstatt einfach mal ehrlich zu sein und zu sagen, klar wir haben unseren Grips für ne kurz Zeit ausgeschaltet.“ „Hilary“, warnte Chris seine Freundin, bisher hatte er sich nur im Hintergrund gehalten. Aber nun mischte sich Hilary ein und dass ging wohl gegen die Regeln. „Was? Ist doch wahr! Mia kann für den Schlamassel doch überhaupt nichts! Der da“, sie zeigte hitzig auf Rob: „Scheint nicht zu wissen, dass der da“, sie deutete auf Josch, der ihr einen finsteren Blick zu warf: „Sich im Stolz verletzt fühlt, weil Mia nicht auf ihn steht. Dabei hat er doch seine Barbie Ashley fallen lassen. Was für eine Enttäuschung, dass sie trotz allem nicht auf ihn anspringt. Und wo kann man die Wut besser auslassen, als bei dem jungen Mann, den Mia zu mögen scheint?“ Sowohl James, als Joschs Vater blickten ihren Sohn nun abwartend an. „Du verdrehst die Tatsachen“, entgegnete Josch nun mit bebender Stimme. „Ich habe mich mit Rob nicht geprügelt, weil Mia ihn nett findet, sondern weil er mich nicht mit ihr reden ließ. Und sie gehört nicht ihm, das wollte ich ihm nur klar machen. Und wenn er nicht so stur gewesen wäre, dann wäre es überhaupt nicht passiert!“ „Tzz“, gab Hilary nur zu verstehen. „Lass uns gehen, Mia“, Rob nickte seinem Vater zu: „Dad, ich wollte dich auf keinen Fall enttäuschen. Ich habe nur das getan, was du auch getan hättest an meiner Stelle“, damit kam er auf mich zu und legte einen Arm um meine Schulter. „Führ dich nicht wie ein Ritter auf, Rob. Wir wissen beide, dass das erst das Vorspiel war, ich werde kämpfen!“, schrie Josch ihm hinterher. Rob hob die Hand, dass er verstanden hatte, während ich das alles einfach nur grotesk fand. Diese ganze Sache erinnerte mich zu sehr an einen kitschigen Schnulzenfilm. Zwei edle Ritter kämpfen um das Herz eines Mädchens, wie edelmütig - ich glaub ich muss mich übergeben.
Als wir endlich beim Auto angelangten – ich konnte kaum auf meinen linken Fuß treten und auch so war ich leicht eingeschränkt. Rob hingegen schien entweder keine Schmerzen zu haben, oder aber er war einfach nicht so eine Memme wie ich. „Tut es arg weh?“, erkundigte er sich, während ich ganz langsam auf den Beifahrersitz rutschte. Er schlug die Tür zu und sprang auf den Fahrersitz. „Geht so“, murmelte ich nur. Ich war noch damit beschäftigt nicht gleich loszuflennen. Er parkte schweigend aus und fuhr auf die Straße. Eine Weile schwiegen wir nur, aus dem Augenwinkel betrachtete ich ihn. Robs blondes Haar war zersaust, sein braun gebranntes kantiges Gesicht schmückte Erde und Kratzer. Seine hell blauen Augen schienen jedoch nur vor Energie zu sprühen. Auch sein Anzug hatte so einiges abbekommen. Wahrscheinlich war der nicht mehr zu retten. Rob schien zu bemerken, dass ich ihn heimlich musterte und grinste nun leicht: „Du siehst nicht besser aus.“ „Danke für das Kompliment“, meinte ich bissig und blickte hinaus. Wir befanden uns wieder auf der Landstraße, graue Wolken bedeckten den Himmel, von der Sonne war nichts mehr zu sehen. Ein lauwarmer Wind wehte durch den Spalt des offenen Fensters. „Du hättest dich nicht zwischen mich und Josch stellen müssen. Du bekommst nur Schwierigkeiten“, sagte ich nun. „Er ist arrogant, eigensinnig und leider ziemlich gut aussehend“, zählte Rob ruhig auf. „Ich musste dich vor diesem Kerl einfach schützen. Ich weis, dass du das lieber selbst geregelt hättest, aber wofür hat man Freunde?“ Ich hörte ein Schmunzeln in seiner Stimme und wendete mich nun in seine Richtung: „Und ich danke dir, dass du dich verantwortlich fühlst und es ist schön, dass du ein guter Freund sein möchtest, aber ich brauch keine Aufregung im leben, ich möchte einfach nur ein unkompliziertes, langweiliges leben, ohne Katastrophen“, beharrte ich. Er runzelte die Stirn: „Was wäre das Leben ohne Aufregung?“ „Es wäre das leben, nach dem ich mich sehne“, meinte ich. Eine Zeit lang war es still im Wagen. Erst als Rob vor meinem Haus hielt, beendete er das Schweigen: „Ich glaube nicht, dass du ein leben ohne Aufregung möchtest, Mia. Aufregungen machen das Leben doch erst lebenswert.“ Er betrachtete mich mit ernster Miene, seine hellen Augen schienen bis in meine Seele schauen zu können. „Lebenswert sind die Personen, die im eigenen Leben eine Rolle spielen und nicht die Momente der Aufregung“, entgegnete ich. „Vielleicht hast du in gewisser Weise Recht, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ich ebenfalls Recht habe.“ Ich lächelte nun: „Ich würde sagen, dann steht es gleichstand. Danke, dass du mich Heim gefahren hast.“ „Immer gerne“, sagte er grinsend. Ich öffnete die Tür und rutschte vorsichtig vom Sitz. Leicht unsicher stand ich auf den Beinen: „Kommst du klar oder soll ich dir helfen?“, erkundigte er sich zuvorkommend. „Schon okay“, sagte ich schnell und schlug die Tür zu. Ich humpelte zur Haustür und winkte ihm zu. Er lächelte leicht und fuhr dann weg.

 

 

Kapitel 17

Sagen wir es mal so, als meine Mutter mir die Tür öffnete, wäre sie beinahe in Ohnmacht gefallen. Natürlich konnte ich ihr nicht wirklich erzählen, was nun wirklich passiert ist, also erzählte ich, dass irgendeine Furie sich über mich her gemacht hätte, weil sie von all dem Unglück ganz verwirrt im Kopf gewesen war. Nun ja, nicht gerade die beste Geschichte, aber wie sollte man einer besorgten Mutter beibringen, dass man von einer eifersüchtigen Furie verprügelt wurde, nachdem diese von einem unglaublich begehrenswerten gut aussehenden Jungen verlassen wurde. Und der Grund für den ganzen Schlamassel sollte ich sein.
Montagmorgen wachte ich um halb sechs Uhr bereits auf, um noch irgendetwas Nützliches mit der Zeit anzufangen, trabte ich um die frühe Stunde leicht humpelnd durch den Wald. Jedoch musste ich bereits nach zwanzig Minuten das Handtuch werfen, weil meine Glieder schmerzten, als wäre ich vom Hochhaus gefallen, na ja, der Vergleich war ziemlich krass, aber er war nicht ganz an den Haaren herbeigezogen. Da ich nun nicht mehr joggen konnte, dauerte der Rückweg umso länger. Als ich dann zu Hause ankam, zeigte die Küchenuhr bereits halb acht. Ich stürzte in die Dusche, rutschte zu meinem Unglück nach der Dusche noch auf dem Boden davor aus und landete unsanft auf dem Steißbein. Und wer schon mal auf das Steißbein gefallen ist, weis was für Schmerzen das sind. Jedenfalls konnte ich mich nun recht nicht mehr wirklich bewegen und brauchte um die zehn Minuten, bis ich mich anständig angezogen hatte. Zeit zum Haare föhnen hatte ich nicht mehr Zeit, also ging ich steif die Treppe hinunter und traf in der Küche auf meine Mutter, die mir nur einen mitleidigen Blick zu warf. Und das konnte ich wohl überhaupt nicht brauchen.
Um Punkt acht ließ mich meine Mutter bei der Schule raus und ich bewegte mich wie eine Oma auf haus C zu. Auf dem Schulhof waren keine Schüler mehr zu sehen, also musste ich davon ausgehen, dass ich mal wieder zu spät zum Unterricht kam.
Die ersten beiden Stunden waren der reinste Horror. Nicht nur die Tatsache, dass ich kaum auf einem Stuhl sitzen konnte, bereitete mir Schwierigkeiten, sondern auch die Geschichte von gestern. Irgendjemand war so fleißig gewesen und hatte bereits bevor die Schule begonnen hatte den Klatsch verbreitet. Nun wurde ich von allen Seiten mit großen Augen beobachtet, was meine Nerven nicht nur strapazierten, sondern auch mein Gemüt. So langsam bildete ich mir sogar selber ein, dass ich für den ganzen Schlamassel von gestern verantwortlich war. Wenn ich ganz normal mit Josch geredet hätte, dann wäre es überhaupt nicht so weit gekommen. Aber was brachte mir heute das „wenn“? Als es zur Pause klingelte, stürmten die Schüler nach der Sonne trachtend schnell hinaus, während ich so vorsichtig wie möglich vom Stuhl aufstand und aus dem Raum trat. Auf dem Flur wartete bereits Hilary, die mich kurz in den Arm nahm und mich dann durch den Flur schob, an den nervigen und neugierigen Blicken der Schüler vorbei, die nach draußen eilten. „Hab schon gehört. Ashley scheint schon heute Morgen sehr fleißig gewesen zu sein“, bemerkte sie und führte mich nach draußen „Erwähne nicht diesen Namen“, erwiderte ich streng und völlig kraftlos. Wie sollte ich die nächsten Tage bestehen, kann mir das mal jemand sagen? Noch nie in meinem Leben wurde ich mit solch einem Kinderkram konfrontiert und wenn es nach mir gegangen wäre, dann hätte ich auf diese Erfahrung auch verzichten können. „Sieh es mal so“, versuchte mich Hilary aufzumuntern: „Du kannst dir ziemlich sicher sein, dass zwei unglaublich süße Junges in dich verschossen sind und sogar um dich kämpfen würden, wenn es darauf an kommt. Das kann nicht jedes neu hingezogene Mädchen behaupten. Und schon gar nicht, wenn dieses Mädchen völlig aus der Übung ist, wenn es um Junges geht.“ Na toll, sollte ich mich nach diesem „Kompliment“ jetzt besser fühlen? Eher nicht: „Ach Hilary, du kannst nicht behaupten, sie seien in mich verschossen, so einfach ist das nicht. Rob ist ein guter Freund, ich denke, zwischen uns das ist rein freundschaftlich und über Josch will ich erst gar nicht reden“, stellte ich klar. „ Na ja, wir haben wohl alle unsere Probleme“, kommentierte Hilary nun auch wieder etwas nüchtern und wir setzten uns etwas abseits auf dem Schulhof an einen Baum, der etwas Schatten vor der Sonne spendete. „Am liebsten würde ich mich einfach in Luft auflösen. Ich bin für den ganzen Schlamassel verantwortlich“, sagte ich nun. „So ein quatsch, lass dir das bloß von niemanden unter die Nase reiben. Die zwei haben einfach überreagiert und von dem Biest Ashley ganz zu schweigen, was die sich nur einbildet“, bekräftigte Hilary aufgebracht und kramte in ihrer Schultasche. Wenn man vom Teufel redetet, dachte ich, als keinen Augenblick später die Blondine, beflankt von zwei gehrten schlanken und gestylten Brünetten über den Schulhof stöckelte. Und mal wieder fragte ich mich, wie Männer auf so eine Maske und Getue rein fielen. Wie konnte sich ein Kerl wie Josch von solchen Geschöpfen den Kopf verdrehen lassen. Klar, er war ebenfalls arrogant und hatte eindeutig zu viel Selbstbewusstsein, aber er konnte auch ganz anders. Ich durfte ihn anders kennen lernen und glaubte für eine Weile, dass ich den wahren Josch sah, aber vielleicht war Josch wirklich nur ein arroganter Kerl, der die Mädchen als Trophäen sammelte. Das würde dann auch die Prügelei von gestern mit Rob erklären. Vielleicht hatte Hilary wirklich Recht und er konnte gar nicht lieben, vielleicht stimmte die Behauptung, dass er gegen Rob vorging, weil er spürte, dass ich ihn abblitzen ließ und ich Rob nett und interessant fand. Während meinen tiefgründigen Gedankengänge hatte sich die Blondine mit ihren Kumpanen auf eine Truppe Dreizehntklässler zu bewegt. Ich hatte diese Gruppe mit Absicht nicht genauer gemustert, weil ich mir sicher war, dass Josch unter ihnen war. Aber jetzt, da sie so weit weg schienen und ich einen sehr weiten Sicherheitsabstand genoss, konnte ich dem Drang nicht widerstehen und musste meine Neugier stillen. Wie sah er aus nach der Prügelei mit Rob? Und wo war eigentlich Rob? In Joschs Nähe wohl eher nicht. Zwar war die Truppe viel zu weit weg, jedoch konnte ich sehen, wie sich zwei Jugendliche von der Truppe absonderten und heftig miteinander gestikulierten. „Oh weh, denkst du auch, was ich gerade denke?“, Hilary klang erfreut und hinterhältig. Aber ich konnte mich ihrer Schadenfreude nicht anschließen, ich war kein Mensch, der andere Leute gerne leiden sah, obwohl die Menschen mich gerne leiden sahen. Und Ashley schien gerade heftig herunter geputzt zu werden, denn sie senkte den Kopf und schien auf einmal viel kleiner und zerbrechlicher. Josch warf ihr wahrscheinlich so einige Dinge an den Kopf, was sie zum Nachdenken brachte. Ich sah, wie sie immer wieder ansetzte, um etwas zu sagen, doch Josch schien ihr überhaupt nicht die Chance geben zu wollen, sondern bedachte sie mit einem seiner gefährlich scharfen Blicke und wandte sich einfach von ihr ab. Das arme Mädchen stand nun da, wie ein begossener Pudel. Obwohl sie mir so einige Verletzungen verabreicht hatte und ich eigentlich ziemlich wütend auf sie sein sollte und wollte, war dem nicht so. Ich fühlte Mitleid und konnte nur erahnen, wie es sein musste, von einem Jungen wie Josch auf dem Schulhof vor all den anderen Leuten herunter geputzt zu werden. Es bestand kein Zweifel das mindestens fünfundsiebzig Prozent der Schüler ihre Auseinandersetzung begafft hatten. „Die Arme“, sagte ich deshalb und blickte Hilary an, die mir einen ungläubigen Blick zu warf: „Ich bitte dich, Mia. Du wirst dieses Gör doch jetzt nicht noch in Schutz nehmen. Sie hat es verdient! So wie sie mit dir umgegangen ist. Sie ist ein Biest und glaub mir, sie hat bei dir noch nicht das letzte Wort gesprochen, so wie ich die kenne, heckt sie hinter ihrer traurigen Fassade bereits einen Plan aus, wie sie dich vor allen anderen bloß stellen kann und vor allen Dingen vor ihrem Josch.“ Wahrscheinlich hatte Hilary Recht, aber auch wenn dem so wäre, ich konnte einfach nicht anders, als mich schlecht zu fühlen. Wenn ich Josch nicht ignoriert hätte, dann wäre es niemals so weit mit allem gekommen. Ich hätte ihm einfach selbst sagen sollen, dass ich nicht mit ihm reden wollte. Ich ließ die Schulter hängen, während wir zurück in Haus C gingen und Hilary ebenfalls schweigsam neben mir her lief. Wir würden nun zwei Stunden Literatur hinter uns bringen müssen. Mal die ganzen Katastrophen in letzter Zeit außer acht gelassen, verlief das Leben eben nicht nach Plan, aber so war es eben, daran würde weder ich noch sonst jemand etwas ändern können. Auch wenn ich den tiefen Wunsch in mir verspürte ein normales und ruhiges Leben zu führen, wusste ich, dass dieser Wunsch niemals in Erfüllung gehen würde, denn das Leben war unberechenbar und das bekam ich zu jener Zeit zu spüren.

 

 

 

 

Kapitel 18

 Die nächsten zwei Wochen verbarrikadierte ich mich hinter Hausaufgaben und Hausarbeiten, um weiteren Katastrophen und Peinlichkeiten aus dem wegzugehen. Zu den Katastrophen zählen vor allen Dingen drei Personen, denen ich derweilen natürlich aus dem Weg ging. Sowohl bei Josch, als auch bei der eifersüchtigen Ashley gelang mir das ziemlich gut, aber es viel mir sehr schwer nicht an Rob zu denken. Ich hatte ihn seit Sonntag nicht mehr gesehen und fragte mich insgeheim wie es ihm ging, ob er sich nicht von der Prügelei schlimmere Verletzungen zugezogen hatte. Und obwohl er nur drei Häuser weit von mir entfern wohnte, konnte ich einer Begegnung mit ihm bisher geschickt entgehen, in dem ich einfach nicht vom Grundstück ging. Da er meine Handynummer nicht besaß und ein Gentleman war, rief er auch so nicht bei uns auf der Festnetznummer an oder kam plötzlich vorbei. Ich hatte den Verdacht, dass er genau wusste, dass ich im Moment auf Abstand ging, um nicht noch weitere Katastrophen herbei zu schwören, aber sicher war ich mir nicht. Das Wochenende verbrachte ich mit meiner Mutter in der Stadt im Einkaufszentrum. Meine Mutter und ihr nackter Freund planten für die nächste Woche einen Urlaub auf Hawaii und sie benötigte noch so einige Kleidung, die sie in Deutschland wohl nie gebrauchen würde. Jedenfalls musste ich mit ihr sieben Stunden ohne Pause Shoppen gehen. Als das dann überstanden war und ich noch einigermaßen gerade laufen konnte, fuhren wir am Sonntagnachmittag, nach langem Schlafen, zum Strand. Mamas nackter Freund Luke begleitete uns, was mich natürlich nicht gerade glücklich machte. Aber ich musste gestehen, dass der Kerl wirklich Mut und Durchhaltevermögen besaß und sich den ganzen Tag anstrengte mit mir besser klar zu kommen. Ich musste zugeben, dass ich es ihm auch unglaublich schwer machte.
Als wir so in 25 C Hitze auf Handtüchern am Strand lagen und uns anstrengten, nicht gleich wieder einen Streit herbei zu beten, begann meine Mutter eine lange Geschichte über ihr leben mit achtzehn zu erzählen. Schon nach zwei Minuten Liegen und Zuhören war ich von der Hitze so benebelt, dass ich unbedingt eine Abkühlung gebrauchen könnte, ansonsten würde ich mich von meinem bisschen IQ auch noch verabschieden müssen. Ich brummte eine Entschuldigung vor mich hin und zog schnell Top und Hose aus und sprintete auf Zehenspitzen an liegenden Körpern vorbei und erreichte dann das kalte Wasser. Als meine Zehe die Kälte berührten zuckte ich mal wieder erschrocken zusammen. Kaltes Wasser war schon immer so eine Sache für mich gewesen. Pikiert watete ich konzentriert, um mich ja nicht voll zu spritzen, tiefer hinein. Aber weiter als bis zur Kniekehle konnte ich mich dann doch nicht zwingen. Also blieb ich einfach stehen und betrachtete sie Wellenreiter auf ihren Surfbrettern. War schon gigantisch was die da mit einem Brett zaubern konnten und vor allen Dingen die hohen Wellen. „Schon erstaunlich, was einem Wasser für Momente schenken kann, nicht?“ Ich machte einen Satz vor, als ich unmittelbar eine tiefe Männerstimme hinter mir vernahm und konnte gerade noch ein Schrei unter drücken. Hinter mir stand ein breit grinsender, in Badehose gekleideter, nasser. Surfbrett tragender Rob. Seine hell blauen Augen schienen heute nur so voller Energie zu glühen. „Meine Güte hast du mich erschreckt“, meinte ich immer noch etwas erschrocken. Er lächelte, zwei Reihen weise Zähne kamen zum Vorschein und hoben sich von seiner dunkel braun gebrannten Haut ab. War er letzten Sonntag auch schon so arg braun gewesen? „Kann ich was für deine Träumerei? Du kriegst gar nicht mit, was so alles um dich herum passiert!“, bemerkte er. Ich wusste, dass er mich einfach etwas ärgern wollte, aber ich konnte mir ein Kommentar nicht verkneifen: „Schon klar, Sunny Boy.“ Da ich ja keine Ahnung hatte, wie Junges so tickten, fragte ich mich nun, ob ein Junge so eine Bezeichnung als Kompliment auffassen würde, oder eher als Beleidigung. Rob legte den Kopf leicht schief, sein Schmunzeln wurde breiter und seine Augen leuchteten nun Unheilvoll, als hätte er etwas vor: „Mit dieser Bezeichnung kann ich leben. Aber weist du, du solltest vielleicht zu deinem eigenen Interessen vorher überlegen, was du zu einem Typen sagst, der ein Surfbrett unterm Arm geklemmt hat. Vor allen Dingen, wenn du so einen Respekt vorm Wasser zu haben scheinst.“ Ich ahnte nun, was er vor hatte und wollte mich nun verdünnisieren, aber leider hatte ich etwas zu spät geschnallt, denn keine Sekunde später hatte er mich gepackt. Ich strampelte mit den Beinen und bettelte um Gnade, aber die erhielt ich nicht. Er hob mich noch etwas weiter hoch und warf mich dann mit Schwung ins Wasser. Prustend tauchte ich wieder auf und schwamm kreisend im Wasser herum und suchte nach Rob. Zwei Hände packten mich an den Füßen und zogen mich noch mal in die Tiefe. Als ich das nächste Mal hustend auftauchte, schimpfte ich: „Lass das gefälligst!“, aber ich konnte trotz allem nicht anders und musste leicht lächeln. 

Kapitel 19

 

Zwei Wochen später
Vor etwas fünf Minuten hatte die Schulglocke das Ende der sechsten Stunde eingeläutet. Doch statt in der Kantine Pizza zu essen, saßen wir draußen unter unseren Bäumen und genossen das schöne Wetter. Seit Tagen schien die Sonne und alle Schüler schienen bei guter Laune. Jedenfalls alle außer mir. Ich war ganz und gar nicht mit meinem Leben momentan zufrieden oder konnte entspannt den warmen Tag genießen, denn meine Gedanken kreisten seit Tagen immer wieder um eine Person, Mia. Das Mädchen, das ich auch heute wieder heimlich um ringt von meinen unwissenden Freunden vom Baum aus beobachtete. Sie war weder auffällig schön, noch besaß sie genügend weibliche Kurven um von einem Typen wie mir die Aufmerksamkeit geschenkt zu bekommen. So jedenfalls musste meine arrogante, coole, abgeklärte Fassade denken. Was Josch mit der Gitarre und dem verstorbenen Zwillingsbruder fühlte und dachte, war wieder ein ganz anderes Thema. Denn wenn ich ehrlich war, faszinierte sie mich. Die Art, wie sie mit den Menschen um sich herum umging, wie sie sich bewegte, wie eine zerbrechliche Porzellanpuppe. So schien auch ihre Haut zu sein, durchsichtig weiß, zart und zerbrechlich. Sie sah tatsächlich wie eine Puppe aus, das zarte ovale Gesicht ohne Sommersprossen, die dunklen, langen und lockigen Haare und natürlich kaum zu vergessen, ihre nachdenklichen Schokobraunen Augen.
Ich war weiter gesunken, als geahnt, dachte ich, als ich diese Gedanken in mir ausklingen ließ. Ich hörte mich an wie ein verknallter Trottel. Seltsam nur, dass auch mich dieser Gedanke nicht davon abhalten konnte, sie zu beobachten und alles andere um mich herum auszublenden. Der Wind wehte leicht und machte die Hitze erträglicher. Er fuhr durch ihre Haare und ließ sie tanzen. Sie lächelte und schien sich zurzeit wirklich wohl zu fühlen. Oder war das nur Schauspielerei und fühlte sich ebenso wie ich total von der Rolle. Diese Vermutung wurde gedämpft, als ich sah, wie dieser Rob sich nun neben ihr und Hilary nieder ließ und sie vor Freunde strahlte. Sie schien ihn wirklich zu mögen. Klar, wer konnte einem Waschbär schon widerstehen. Das war er nämlich, ein niedlicher Kerl, der viel zu nett war, fand ich. Und, dass er einen Arm um Mia legte, dass gefiel mir noch weniger, obwohl ich mir sicher war, dass er mir im Aussehen auf keinen Fall das Wasser reichen konnte. Aber was genau brachte mir im Moment diese Erkenntnis? Tatsache war, dass sich Mia bei ihm in der Nähe wohl fühlte, während sie mir aus dem Weg ging, ja sogar flüchtete. Was für mich eine neue Erfahrung darstellte, da musste ich dem Klugscheißer Rob Recht geben. Es machte mich wütend, dass Mia mir aus dem Weg ging. Dass sie den Blick abwendete, wenn wir uns zufällig über den Weg liefen. Es war lange her, dass ich, Josch, der beliebteste Schüler der Schule und darüber hinaus, von jemandem wie Luft behandelt wurde. Ich hätte es mit Sicherheit überleben können, wenn irgendjemand mich wie Luft behandelt hätte, aber Mia? Ich meine, das Mädchen, das mich zu einem Song inspirierte. Oder die mich ohne Aufforderung dazu gebracht hatte, von dem Tod meines Bruders zu erzählen. Genau dieses Mädchen ignorierte mich und jetzt sollte ich ganz cool die Schulter zucken und denken, lass sie doch. Es gab Millionen von Weibern die dich haben wollen und die ich bekommen könnte. Aber so ist es auf einmal nicht mehr. Plötzlich war es für mich unglaublich wichtig geworden, dass genau dieses unscheinbare Mädchen mich sah, mich, nicht diesen arroganten Kerl, sondern nur mich. Aber wie bitte schön, sollte ich das hinbekommen, wenn ich nur von Idioten umgeben war, die mir die Hölle heiß machen würden, wenn sie mit bekommen, was in mir vorging. Dass ich nicht der Kerl war, den sie seit Jahren kannten. Der Kerl, der sich die Flittchen angelte und außerdem jede haben konnte, wenn er nur wollte.

Schwierig zu sagen, warum plötzlich alles so anders war, wenn er an meiner Seite war. Seit dem Ausflug an den Strand verbrachten wir gemeinsam die Schulpausen und heute hatten wir vor nach der Schule einkaufen zu fahren. Er plante eine Poolparty und hatte mich dazu überredet, ihm beim Einkauf Gesellschaft zu leisten. Natürlich hatte ich ihm mehrmals versichert, dass ich keineswegs eine große Hilfe war, was die Planung und Wissen einer Erfahrung anging, doch er ließ nicht davon ab.
Es war ein wunderschöner warmer Freitagmittag. Wir, das waren Hilary, Rob und ich, hatten es uns unter einem Baum gemütlich gemacht, der etwas Schatten spendete. „Wie wäre es mit hübschen Kerzen und Blumengesteck auf dem Tisch“, schlug Hilary aufgeregt vor. Schon seit Tagen nervte sie mit Ideen, die Robs Poolparty umso toller machen sollten. Aber was wollte Rob mit Blumengesteck und Kerzen? „Sollte ich den Eindruck erweckt haben, vom anderen Ufer zu sein, muss ich dich enttäuschen Hilary. Keine Kerzen!“, dafür, dass Rob die Ruhe in Person war, schien sein Kommentar leichte Ungeduld nicht mehr auszuschließen und das war voll und ganz zu verstehen. Hilary verzog ihre Lippen trotzig und widmete sich ihrem Sandwich. Rob versuchte nun ein Schmunzeln zu verbergen und warf mir einen viel sagenden Blick zu. Ich wusste ganz genau, was er nun dachte. Obwohl wir uns kaum länger als zwei Wochen plus das Erlebnis kannten, war er mir so vertraut. Ich hoffte, es erging ihm ebenso.

Nach etwa drei Stunden hatten wir alles zusammen für Robs Party und fuhren zu frieden nach Hause. Der Schultag war bereits sehr lange gewesen und danach noch das Einkaufen, hatte uns alles abverlangt. Aber damit war der Tag noch nicht zu Ende. Da Robs Eltern heute Nachmittag für eine Woche eine Geschäftreise nach Italien machten, stand das Haus leer, so Rob. Also wollte er noch heute Abend alles fertig für die Party morgen haben und ich sollte ihn bei seinem Vorhaben Tatkräftig unterstützen.
Wenn ich so neben ihm im Wagen saß wie an diesem Tag und ein angenehmes Schweigen zwischen uns herrschte, während die Stimme von James Morrison aus dem Radio erklang, da wurde mir klar, dass ich ihn auch noch nicht verlassen konnte, zumindest für diesen Abend.
Ich schaute zu ihm herüber, auf seinem gebräuntem Gesicht lag ein zufriedenes Lächeln und sein braun, blondes fast kurzes Haare bewegte sich im Fahrtwind. Als spüre er meinen Blick wurde sein Grinsen breiter und seine Augen schmaler. Ich lächelte ebenfalls und schaute wieder nach vorne, dabei bemerkte ich, wie sich Gänsehaut über auf meinen Körper legte.
An seiner Seite fühlte ich mich so unglaublich geborgen und wohl. Erstmals war es das selbstverständlichste auf der Welt für mich lächeln zu dürfen. Es versprach so viel mehr, unentdeckte Dinge und Schönheit. Die Schönheit des Momentes, dachte ich. Genau das war es, was ich so angenehm und berauschend in seiner Nähe fand. Ich spürte plötzlich das Leben, das in mir steckte und das in einem besonderen Moment einfach nicht zu ignorieren war. Von mir aus hätten wir noch Stunden lang so weiter fahren können. Aber schon nach zehn Minuten endete die Fahrt und Rob parkte sein Auto an dem wunderschönen hell blauen Haus, das so aussah, als wäre aus einem meiner Träume. Jeder packte etwas auf die Arme von uns zwei und dann marschierten wir den schmalen Kieselweg entlang und Rob öffnete einladend mit einer Kiste Wasser im anderen Arm die Tür. Ehrfürchtig trat ich ein und konnte einfach nur staunen. Wir befanden uns in einem großen weißen Vorraum, der drei Türen offenbarte und in dem außerdem ein hell brauner Tisch stand, auf dem wiederum rote Rosen standen.
Ich hörte, wie Rob seine Kiste abstellte und einfach nach meiner Hand griff: „Komm, ich zeig dir den ganzen Stolz meiner Eltern.“ Damit zog er mich einfach mit sich durch eine der Türen in eine einladende antike, wunderschön hell blaue Küche. Die Küche war der Hammer, nicht das ich viel von Einrichtungsmöglichkeiten wusste, aber schon der Vorraum und die Küche erschienen gerade so, als würde man sich in einem Puppenhäuschen befinden. Nicht, dass die Räume unglaublich klein wären, nein, das war es nicht. Sondern die Art der Einrichtung war einfach bezaubernd unwirklich. Der Boden bestand aus weißen Fließen und links stand ein langer hell brauner Tisch, an dem sechs Stühle standen. Ich wusste von Rob, dass er noch zwei Schwestern hatte. Die eine lebte schon längst nicht mehr zu Hause und die andere ging noch in den Kindergarten. „Das ist einfach, wau“, bekam ich nur heraus und drehte mich entzückt um die eigene Achse. Was sich aber als schwierig heraus stellte, weil Rob immer noch meine Hand hielt und mich grinsend wieder aus der Küche zog. Und nun ging es in den Raum nebenan, der nicht weniger bezaubernd war, sondern auch noch urgemütlich. Das Wohnzimmer war echt der Hammer. Der alte, klassische Kamin rechts neben dem Flachbildschirm strahlte Gemütlichkeit aus, obwohl er noch nicht einmal an war. Ansonsten war die Couch gegenüber und der Sessel in hell weißem Farbton und die Wände mal wieder hell blau. Alles war so abgestimmt, das man sich auch an diesem Ort wie in einem Puppenhäuschen fühlte. Fehlte eigentlich nur noch die Anweisung eines Kleinkindes.
„Wunderschön“, hauchte ich und wurde weiter gezogen. Langsam reizte es mich, dass Rob mir kaum genügend Zeit ließ, alles zu bewundern. Nun marschierte er schleunigst mit mir im Schlepptau eine altertümlich braune Wendeltreppe hinauf. Wir gelangten in einen hellen Flur und gingen an mehreren offen stehenden Türen vorbei, in die ich nur flüchtig hinein schauen konnte. Dann erreichten wir plötzlich eine durchsichtige Tür und traten hinaus auf einen Balkon der einen wunderschönen Blick auf den Garten des Grundstückes frei gab. Und der Garten war einfach nur bunt und beinahe kaum zu überblicken. Ein Pfad wand sich durch die hohen Pflanzen und schlängelte sich in zwei Richtungen. Zum einen zu einem Gartenhäuschen, das vermutete ich jedenfalls und zu einem Pool, der von kurzem Gras etwas abseits lag. „Wunderschön“, flüsterte ich und ließ Robs Hand los um zum Geländer zu schlendern und alles genauer zu betrachten. „Man kann einfach nur staunen“, meinte ich überwältigend. „Ich bekomme das jeden Tag zu sehen und werde nie alles genau verarbeiten können“, sprach Rob dann und trat langsam neben mich. „Es ist ein Traum, was meine Eltern da vollbracht haben“, bekannte er voller Stolz. „Das ist es“, stimmte ich ihm zu. Es war noch mehr als das, es war die Liebe. Seine Eltern mussten sich unendlich gerne haben. Wer so etwas erschafft, kann einfach nur verliebt sein, stellte ich fest.
„Vielleicht werde ich irgendwann ebenfalls so etwas Schönes bauen. Jedenfalls habe ich mir das vorgenommen“, bekannte er zögernd. Und ich zweifelte nicht einen Moment daran, dass er es nicht tun würde. „Das wirst du ganz bestimmt“, sagte ich dann ohne Zweifel.
Rob drehte sich nun seitlich zu mir herum und lehnte sich an das Geländer. Mein Blick lag immer noch auf dem bezaubernden Garten „Du bist immer so voller Zuversicht. Woher nimmst du sie?“ Ich blickte nun zu Boden, was er da sagte stimmte auf keinen Fall. Ich war eigentlich nie zuversichtlich, außer wenn es um ihn ging. Ich konnte mir sicher sein, dass Rob genau das erreichen würde, was er sich vornahm, weil er es mit Leidenschaft tat. So wie er mit den Menschen sprach, voller Aufmerksamkeit. „so zuversichtlich bin ich nicht immer“, stellte ich dann zögernd klar. „Aber du, na ja, du scheinst ein Mensch zu sein, der Dinge nicht nur mit dem Verstand entscheidet.“ Stille, dann nahm er meine Hand und zog mich zurück ins Haus. Wir gingen durch einen Flur und erreichten dann die letzte Tür, die nicht offen stand. Ich hörte Rob kurz tief einatmen, dann stieß er die Tür mit einer Bewegung auf und was ich dann zu sehen bekam, war einfach nicht zu beschreiben.

Ich bemerkte gar nicht, dass mein Mund weit aufstand, ansonsten hätte ich ihn wahrscheinlich höflicherweise zu geklappt. Jedenfalls war mir in diesem Moment nichts anderes bewusst, als dass, wessen Zimmer das auch immer war und ich hatte da schon so einen Verdacht, wem das Zimmer gehörte, dieser jemand ein Genie sein musste. Am besten fange ich an der Einrichtung an, sie war einfach und elegant. Vom Schreibtisch an einem der drei Fenster bis zu einem breiten Couchbett auf dem Boden war eigentlich alles mögliche vorhanden, was in einem Jugendzimmer nicht fehlen durfte. Wie zum Beispiel einem Lap Top auf dem Schreibtisch und einem Fernseher gegenüber einer Ledercouch.
Aber all das brachte mich nicht zum dumm Glotzen, sondern die großen Skizzen an den Wänden und an jedem der Möbelstücke. Es waren nicht nur einfach belanglose Skizzen, sondern professionelle angefertigte Skizzen, die sogar ein Amateur wie ich benennen konnte, weil sie so perfekt gezeichnet worden waren. Es handelt sich bei diesen Skizzen um die den Grundaufbau eines Hauses und eines Gartens und um noch ganz viele andere Dinge, wie ich feststellte, als ich schweigsam und zögernd eintrat. An der gegenüber liegenden weisen Wand hing eine große Skizze die mindestens 3 mal 4 Meter groß war und somit einen großen Teil der Wand einnahm. Darauf abgebildet war mit genauen und sauberen Bleistiftstrichen eine große Villa, eine, die es in diesem Jahrhundert nicht mehr zu bestaunen gab. Ich musste an die alten Filme vom neunzehnten und zwanzigstem Jahrhundert denken und an die ganzen Jane Austen Filme, die noch viel früher ihre Geschichte hatten.
So langsam war es an der Zeit mein Schweigen ein Ende zu setzen, aber was sollte ich sagen? Da gab es nicht viel zu sagen, sondern nur zu staunen. Ich hatte zwar gewusst, dass Rob handwerklich begabt war und somit wahrscheinlich einen solchen Beruf anstreben würde, aber niemals hatte ich damit gerechnet, dass er derjenige war, der ein Traumhaus entwarf. Nicht, dass ich ihm das nicht zu getraut hätte, nein, wie schon gesagt, das würde er schaffen. Doch hiermit hatte ich echt nicht gerechnet. Es war überwältigend und auf einmal fühlte ich mich total Fehle am Platz. Denn was konnte ich schon für Träume und Ziele aufweisen? Vor allen Dingen solche, wie Rob sie hatte.
Nur um endlich etwa zu sagen, räusperte ich mich und betrachtete andächtig die Skizze eines Gartens neben der großen Skizze der Villa: „Hast du, ich meine, hast du vor, das vielleicht einmal…“, ich stotterte mir einen Blödsinn zu Recht und brach verlegen ab. Wieder herrschte schweigen und nun fühlte ich mich überhaupt nicht wohl dabei. Es war kein einstimmiges Schweigen, sondern eines mit Spannung. Das machte mich umso nervöser und auch leicht wütend. Hätte mich denn nicht irgendjemand darauf vorbereiten können?
Ich starrte einfach weiter auf die Skizze des Gartens und fuhr mit meinen Augen die feinen Linien entlang, die ganze Konstruktion war fein heraus gearbeitet. Er musste Nächte lang daran gesessen haben, nur um einen Teil dieser Skizze anzufertigen. Nun aufzublicken und Rob anzuschauen, das hätte ich nicht über mich gebracht. Ich war im Moment emotional zu angreifbar. „Der Wahnsinn“, bekam ich dann stockend heraus. „Du bist ein Künstler, wieso hast du nie etwas gesagt?“ Mal anbetracht der Tatsache, dass wir uns noch nicht besonders lange kannten, war das hier, na ja ziemlich nahe. Deshalb konnte ich mir die Antwort bereits zusammen reimen, ohne dass er darauf etwas sagte. „Ich weis nicht, ob man das als Kunst bezeichnen sollte“, klang seine Stimme etwas weiter weg verlegen. Nun drehte ich mich verblüfft zu ihm herum. Er stand vor einem Kieferkleiderschrank, an dem ebenfalls zwei etwas kleinere Skizzen hingen und strich mit seinem rechten Zeigefinger vorsichtig über die Abbildung, auf die sein Augenmerk lag. „Als was willst du es dann bezeichnen?“, erwiderte ich nun ungläubig. Schweigend wand er sich vom Kleiderschrank ab und schenkte mir ein schüchternes Lächeln. „Du bist unglaublich“, meinte ich Kopfschüttelnd und setzte mich auf seine Couch und betrachtete eine Skizze gegenüber. Als ich sie genauer anschaute, zuckte ich vor Scheck zusammen. „Woher, woher weist du, wie mein Zimmer aussieht?“, bekam ich dann rau heraus. „Mein Dad und ich haben es gestrichen. Deine Mam hat die Firma meines Dads beauftragt das ganze Haus zu renovieren“, erklärte er zögernd und kam näher zur Couch heran. Ich runzelte die Stirn und starrte weiter die Abbildung an. Aber woher wusste er, wie meine Möbel aussahen und wo sie genau in meinem Zimmer standen? „Aber du warst nie in meinem Zimmer“, begann ich dann. „Du hast sie nie gesehen, die Möbel.“ Nun schweifte mein Blick zu Rob, der keine zwei Meter neben der Couch stand und dessen Blick zärtlich auf der Abbildung lag. „Ich habe gesehen, wie der Lastwagen voller Möbel ans Haus heran fuhr und hab den Männern geholfen sie hinein zu tragen. Dein Zimmer haben wir ganz am Schluss eingeräumt. Damit du genug Licht bei deinen Hausaufgaben hast, haben wir den Schreibtisch ans Fenster gestellt und dein Bett an das rechte. Der Kleiderschrank war zu groß für die linke Wand an der Tür, also dachten wir, es sei praktischer, wenn er recht neben deinem Bett stände.“ Nun blickte er mich warm an, als würde er mich schon so lange kennen, dabei waren es gerade einmal zwei Wochen. Ich senkte meinen Blick und spürte, wie mir die Wärme ins Gesicht schoss. Um mich abzulenken, begutachtete ich die Skizze meines Zimmers genauer: „Was ist mit der Tür da, neben meinem Schreibtisch, die gibt es doch gar nicht.“
Rob kam nun an die Couch heran und ließ sich neben mich nieder. Zum Glück war die Couch lang genug, sodass noch genügend Abstand zwischen uns herrschte. Bei meinem momentanen Zustand war das auch ganz gut so. Man bekam ja selten so eine Überraschung wie hier die geboten. „Ich habe an einen kleinen Balkon gedacht, der den Blick auf euren schönen Garten frei legt. Nur so eine Idee“, erklärte er dann zögernd. Ich blinzelte und konnte nicht anders, als: „Wau“, zum Besten zu geben. Wieder Stille, sie war kein wenig angenehmer, als zuvor.
„Wieso“, begann ich dann schüchtern und blickte zu Boden. „Ja?“, hakte er nach. Er klang ebenfalls befangen, was meinen Zustand aber keineswegs verbesserte. „Du bist ein Künstler. Wieso zeigst du das nicht der Welt? Ich meine, diese ganzen Skizzen“, ich machte eine Bewegung, die das ganze hier beschreiben sollte: „Du solltest sie auch für andere Menschen zugänglich machen, sie sind einfach“, ich suchte nach dem richtigen Wort. Fantastisch, bezaubernd, wunderbar, märchenhaft, unfassbar schön? All das war noch zu oberflächlich.
Wahrscheinlich gab es für so etwas kein passendes Adjektiv. „Unbeschreiblich schön“, sagte ich dann leise. Wieder diese Stille, die meine Kehle zu schnürte und meinen Gemützustand zu setzte.
„Genau das denke ich, wenn ich dich sehe“, sagte er dann plötzlich ernst in die Stille hinein. Mein Atem stockte und es schien, als würde sich plötzlich mein Körper von meinem Verstand verabschieden. Hatte er mich tatsächlich mit diesen wundervollen Abbildungen verglichen? Okay, ist ja bekannt, dass Künstler ab und an nicht ganz bei klarem Verstand waren. Aber das? Das grenzte ja schon an, na ja, an was eigentlich?
„Ich, ich glaub ich muss gehen“, hauchte ich, wahrscheinlich war ich puderrot. Aber mein Ziel war es, hier so schnell wie möglich zu verschwinden, über mein pubertierendes Verhalten konnte ich danach noch schimpfen. Ich sprang von der Couch und huschte aus dem Zimmer und rannte die Treppe hinunter. „Mia“, rief er hinter mir her. Ich wurde noch schneller und dankte Gott im Himmel, dass ich regelmäßig joggte. Aber Rob war intelligenter als ich und rutschte einfach die Wendeltreppe hinunter und setzte vor mir am Fuße dieser Treppe auf. „Warte doch“, bat er und versperrte mir den Weg. Nun stand ich keine Meter von ihm weg und mied es ihn anzusehen. „Ich muss noch Putzen und Aufwaschen und …“, war ziemlich offensichtlich, dass ich keinen Schimmer hatte, was ich da vor mich hin plapperte. Mal abgesehen von der Tatsache, dass unser Haus eigentlich nie dreckig war und das Saugen und Putzen eher nicht auf dem Plan der Dinge stand, die ich am Abend noch zu erledigen hatte. Okay, wie wäre es mit, ähm, Hilary besuchen? Perfekt! „Hilary rechnet mit meinem Besuch, das hatte ich völlig vergessen“, sagte ich dann und setzte an, an ihm vorbei zu gehen, doch ehe ich überhaupt einen Schritt getan hatte, tat er einen Schritt auf mich zu. Sodass wir uns beinahe berührten. Ich spürte seinen Atem auf meinem Gesicht, mein Blick heftete sich auf meine zusammen verschränkten Hände. Seine Körperwärme und sein Duft waren ebenfalls kaum zu ignorieren. Er roch nicht nach Aftershave oder einem anderen strengen Deo, sondern nach Zimt und noch nach etwas anderem, was ich nicht definieren konnte. Wahrscheinlich lag das daran, dass ich kaum noch einen Gedanken fassen konnte. Mein Atem ging viel zu laut und stockend, aber auch seiner schien nicht gerade ruhig zu gehen. In diesen Sekunden erschien nichts wichtig genug, nur dieses hier war auf einmal real. Die Zeit schien still zu stehen und die Spannung zwischen uns war so greifbar nahe, dass ich glaubte, sie anfassen zu können. „Ich…“, erklang seine Stimme leise und rau, sein Atem streifte mich, zärtlicher als der Wind es konnte. Nun schaute ich zu ihm auf, direkt in seine hell blauen zärtlichen Augen. Das Blut schoss mir in den Kopf und ich spürte, dass er mir bis in die Seele blickte mit seinen gütigen Augen. „Ich bin keine Künstlerin“, warf ich dann hirnlos ein. Keine Ahnung, warum ich das gerade jetzt sagen musste und vor allen Dingen, wie ich auf die hirnrissige Idee kam, überhaupt etwas zu sagen. Nun erschien ein zaghaftes Lächeln auf seinem Gesicht und darauf lag seine Hand plötzlich sanft auf meiner linken Wange: „Natürlich bist du das“, flüsterte er.
„Siehst du denn nicht, wie sprachlos du mich machst? Nur eine Künstlerin schafft es einem die Stimme zu verschlagen“, seufzte er und legte dann vorsichtig seine Stirn an meine. Unsere Nasenspitzen berührten sich leicht. Derjenige, der hier sprachlos war, das war ja wohl ich, dachte ich mir. Ich atmete seinen Geruch tief ein und genoss es, sein Gesicht so nahe an meinem zu haben. Seine Hand an meiner Wange war plötzlich weg und dann zog er mich ganz sachte zu sich heran: „Du nimmst mir die Luft zum Atmen“, bekannte er nach Luft schnappend. Nun lag mein Körper an seinem und ich spürte seinen kräftigen Herzschlag an meiner Brust. Ob er meinen auch spürte, ja sogar hörte?
Meine Arme lagen immer noch schlaff an meinen Seiten und ich versuchte den Klos hinunter zu schlucken. Dieser Kerl führte mich mit großer Sicherheit in den Wahnsinn. Noch nie in meinem Leben hatte ich das Bedürfnis gehabt, mich jemand so hinzugeben, wie gerade jetzt. Ich schreckte vor diesem Gedanken so zurück, dass ich mich von seiner engen Umarmung befreite und einen Schritt zurück machte. Außer Atem, ging ich leicht in die Knie: „Ich muss gehen.“ Dann rannte ich einfach an ihm vorbei die Haustür hinaus auf die Straße und ein paar Häuser weiter. Zu Hause angelangt sperrte ich mit zittrigen Fingern die Tür auf und schlug sie zu und lehnte mich erleichtern mit dem Rücken an die Geschlossene. Ich versuchte wieder regelmäßig zu atmen und blickte dann auf. Hatte ich vor gut einer Sekunde noch gedacht, ich sei alleine, war das ein Irrtum. Vor mir stand jemand, mit dem ich hier in diesem haus nicht gerechnet hätte: „Grandma.“

 

 

 

 

 

 

Kapitel 20

 

Ich konnte es kaum fassen, dass sie tatsächlich hier war. Neben mir auf der Couch saß, Popcorn muffelte und wir gemeinsam irgendeinen Schnulzenfilm guckten, der mich nicht wirklich interessierte. Jedenfalls war es ein unbeschreibliches schönes Gefühl sich an sie zu lehnen und ihrer lebensfreudigen Stimme zu lauschen.
Nachdem ich endlich realisiert hatte, dass sie wirklich hier im Haus war, tausend Kilometer von der Heimat entfernt, hatte ich sie auf die Couch gedrückt und erst einmal so lange gekuschelt, bis es sogar ihr zu viel wurde.
Jetzt saßen wir also einträchtig vor der Glotze und verspeisten dabei einen Eimer Popcorn, von dem uns spätestens in einer Stunde so schlecht sein würde, dass wir die Nacht nicht gut überstehen würden. Aber was interessierte uns Schlafen?
„Diese Julia Roberts scheint kein Geschmack zu haben“, kommentierte Grandma kopfschüttelnd, während sie sich eine weitere Ladung Popcorn in ihren eh schon vollen Mund stopfte. Das mochte ich so an ihr, sie war weder altmodisch, noch irgendwie langweilig.
Sie passte auf keinen Fall in das Klischee einer Oma. Für mich war sie schon immer eine gute Freundin gewesen. Eine Freundin, auf die ich mich voll und ganz verlassen konnte. Doch seit dem Tod meines Bruders, na ja, da ist alles einfach aus dem Ruder gelaufen und Grandma war plötzlich weg, Ich stand alleine da, mit meiner verzweifelten Mutter. Aber ich trug es meiner Grandma nicht nach, dass sie uns nicht davon abgehalten hatte zu fliehen. Wahrscheinlich hatte sie uns verstanden und uns deshalb nicht daran gehindert von ihr fort zu gehen.
Wichtig war, dass sie nun da war und ich würde sie so schnell auch nicht mehr gelassen, dass hatte ich mir fest vor genommen. Aber leider wartete in der Ferne eine Familie auf sie. Ich wollte sie weder von Grandpa, noch vor ihren anderen Enkeln fern halten. Deshalb genoss ich jeden Moment, den sie hier war umso mehr.
„Was hast du gegen ihre Kleidung?“, fragte ich belustigt und war auf ihre Antwort schon ganz gespannt. Ich griff mit der Hand in den Popcorn Eimer, aber der war leer. Grandma war unschlagbar, wenn es um die Geschwindigkeit beim Essen ging.
„Wer sagt etwas über ihre Kleidung? Ich meine natürlichen ihren Geschmack was diesen jungen Mann da betrifft“, erwiderte sie schnaubend und ich musste glucksen. „Ich finde Tom Hanks auch nicht besonders attraktiv“, gestand ich weiterhin kichernd. Sie warf mir einen ernsten Blick zu: „ich hoffe doch wirklich, dass du einen eindeutig besseren Geschmack vorweisen kannst, als diese Frau. Es ist sowieso fraglich, wie du in diesem Jahrhundert einen ordentlichen Mann finden willst, mein Schatz.“ „Über so etwas mache ich mir ehrlich gesagt zur Zeit keine Gedanken“, warf ich schmunzelnd ein und ignorierte ihren scharfen Blick, den sie mir zuwarf. Okay, vielleicht war sie ein klein wenig altmodisch, dachte ich.
„Man wird nicht jünger“, belehrte sie mich nun mit ernster Miene: „Die Frauen heute warten viel zu lang mit den Kindern kriegen.“ „Na ja, heute ist alles etwas anders“, sagte ich. „ja genau und deshalb gibt es immer mehr ältere Menschen und auf Rente kann man irgendwann auch nicht mehr hoffen. Und das nur, weil die Frauen auch Karriere machen wollen. Ich wollte nie Karriere machen, mein Wunsch war Kinder zu bekommen und meinen Mann glücklich machen. Wo sind nur die alten Familienstrukturen geblieben?“, fragte sie theatralisch. Ich fand sie unglaublich amüsierend, obwohl ihre Ansichten so ziemlich weltfremd für die heutige Zeit geworden sind. „Sieh es doch mal so Grandma. Dafür gibt es auch mehr Frauen an der Macht“, stellte ich klar. „Als ob die es viel besser wüssten, als die Männer. Sieh dich nur an, ich meine, was hast du vor, wenn du das Abi hast? Willst du studieren und bis dein Lebensende hart schuften?“
Ich zuckte mit den Schultern: „Vielleicht, wieso nicht? Es würde mich glücklich machen.“
„Mein Kind, du weist doch gar nicht was Glück ist“, tadelte sie, während sie weiterhin das Augenmerk auf die Flimmerkiste gelegt hatte. „Wenn du zum ersten Mal in deinem Leben dein Baby in den Händen hältst, dann kannst du zu mir kommen und sagen du wärst glücklich. Davor alles, das ist nur oberflächliches Gehabe und hat nichts mit Glück zu tun.“ Ich verdrehte meine Augen und nahm es ihr nicht böse, sie wusste es eben nicht besser. „okay, lass uns über etwas anderes sprechen“, sagte ich dann. Eine Weile verfolgten wir oder eher gesagt Grandma die Schnulze. Ich telefonierte noch kurz mit Mam, die bei dem nackten Kerl übernachtete und natürlich über Grandmas Besuch bescheid wusste. Aber natürlich, wahrscheinlich hatten sie das geplant. Ich hatte gar nicht gewusst, dass sie mit Grandma weiterhin Kontakt gehalten hatte.
Nach dem langen Telefonat mit meiner glücklichen Mutter, lehnte ich mich an Grandma und schlief keine Minute später ein.

Ein Ohrenbetäubender Lärm lies mich hochfahren und gleich darauf spürte ich einen stechenden Schmerz im Kopf. Mir schwindelte leicht, während ich gähnend die Augen öffnete und ich blinzeln musste, weil die Sonne hell ins Wohnzimmer schien, wo ich übrigens immer noch auf der Couch lag. Eine Decke lag halb auf mir und trotzdem fror ich leicht. Immer noch etwas verwirrt setzte ich mich richtig auf und blickte mich um. Gestern hatte das Wohnzimmer nicht gerade schön ausgesehen, das Wohnzimmertischen war mit jede menge Süßes voll belagert gewesen und jetzt war alles blitze blank. Seufzend blickte ich auf meine Armbanduhr, es war gerade einmal sieben Uhr morgens. Verwunderlich, dass ich überhaupt so früh wach wurde, regte ich mich brummelnd.
Geschafft, als hätte ich ein Stundenlanges Wandern hinter mir schlürfte ich in das Bad meiner Mutter, welches im gleichen Stock lag und suchte in den Schubladen nach einer Aspirin. Wo wir gerade beim Suchen waren, wo war eigentlich Grandma? Als ich dann endlich eine Aspirin gefunden hatte, schleppte ich mich in die Küche, wo das Fenster in Richtung Nachbarhaus weit offen stand und frische Morgenluft hinein wehte. Bibbernd wollte ich es schon schließen: „Nein, nein, lass es nur offen. Ich genieße den Ausblick“, entgegnete Grandma. Sie kam nun in die Küche hinein, in den Händen transportierte sie ein Frühstückstablett: „Das wollte ich dir eigentlich ins Wohnzimmer bringen, aber plötzlich warst du nicht mehr da“, meinte sie. Ich fuhr mir über meine Stirn, mein Kopf tat ziemlich weh: „Danke Grandma, das ist wirklich nett, aber ich hab überhaupt keinen Hunger.“ Ich schlürfte zur Küchenanrichte und holte mir ein Glas aus dem Schrank, das ich dann mit Leitungswasser füllte und mit einem Zug leer trank. „Kein Wunder, dass die Frauen heut zu tage, nur noch wie dürre Gestalten rum laufen. So kann man ja auch keine Kinder zur Welt bringen“, murrte sie. Ich verdrehte kurz die Augen und lies ihre Aussage unkommentiert. „Meine Güte, was ist das bloß für ein Krach“, stöhnte ich und hielt mir eine Hand weiterhin an den Kopf, während ich mit der anderen nochmals Wasser nach füllte.
„Wie schon gesagt, ihr habt eine wirklich tolle Aussicht vom Küchenfenster“, betonte Grandma nochmals. Sie stand nun am Fenster und blickte neugierig hinaus.
Was das mit dem Krach zu tun haben sollte, konnte ich nicht Recht nachvollziehen. Stirn runzelnd trank ich nun langsam das zweite Glas und schaute an mir herunter. Meine Jeans war vollkommen zerknittert und mein T-Shirt, na ja, was sollte ich sagen, sabbern im Schlaf war wohl eines meiner Hobbies. „Grandma, kannst du nicht das Fenster schließen, es ist unglaublich kalt hier drin“, jammerte ich und setzte das Glas auf der Anrichte ab. „Kalt? Wie zimperlich heute die jungen Menschen sind. So ein Blödsinn. Du brauchst noch etwas Zeit, bist du ganz wach bist. Komm doch her und genieß mit mir die Aussicht.“ „Grandma, ich wüsste nicht, was es da zu genießen gäbe. Unser Garten liegt auf der anderen Seite“, meinte ich leicht genervt. Ich war ja so ein Morgenmuffel. „Wer will denn schon euren Garten sehen“, entgegnete Grandma glucksend und schien etwas unglaublich faszinierend zu finden.
„ich finde unseren Garten sehr schön“, setzte ich mich loyal für unseren Garten ein und hatte nun vor ins Bad zu gehen um endlich zu duschen.
Aber langsam fand ich Grandmas Verhalten seltsam. Seit wann hatte sie etwas für alte weise Häuser übrig, das übrigens einem älteren Nachbarn gehörte, der sich eher wenig darum kümmerte. Ich empfand es als äußerst traurig, das kleine Häuschen nebenan zu betrachten, dass so herunter gekommen aussah und beinahe den Eindruck machte, den zweiten Weltkrieg mit erlebt zu haben. Um Grandmas Faszination nun genauer auf den Grund zu gehen, musste die Dusche noch ein paar Minuten länger warten. Gähnend trat ich nun zu meiner entzückten Grandma ans Fenster und schaute gelangweilt hinaus, woher übrigens auch dieser verdammte Lärm kam. „Grandma, das ist nur eine dreckige Hauswand, kannst du dann bitte endlich das Fenster zu machen“, drängte ich nun. „Du schaust ja völlig in die Falsche Richtung“, erwiderte sie und ich folgte ihrem Blick.

Okay, also, das, verschlug für einen kurzen Moment mein Atem. Aber auch wirklich nur für ganz kurz. Es war eher eine Sekunde, als einen Moment.
In dem Vorgarten zwei Häuser weiter, einem hell blauen wunderschönen Haus, mähte gerade jemand halb nackt den Rasen. Dieser jemand war der Junge von gestern, vor dem ich, nachdem er viel zu nahe gekommen war, die Flucht ergriffen hatte, Rob.
„Unglaublicher Ausblick, nicht? Schade, dass man so etwas viel zu selten zu sehen bekommt in der heutigen Zeit. Was für ein Zufall, dass wir gerade noch gestern über wirkliche Männer gesprochen haben. Dieser scheint wirklich noch einer von diesen zu sein, meinst du nicht auch?“, meinet Grandma erfreut. Zum Glück blickte sie mich nicht an, weil meine Wangen gerade brannten, als hätte ich Fieber. Um meine Verlegenheit vielleicht kurz zu erklären. Rob trug nur eine kurze Jeans, ansonsten hatte er außer ein paar Schuhen nichts an. Wenn man dann noch seinen schönen sehnigen, muskulösen, braunen Körper erwähnte, auf dem sich Schweiß abzeichnete und seine blonden beinahe kurzen Haare, die ebenfalls leicht verschwitzt waren nicht außer acht lies, dann war die Szene beinahe komplett. Fehlte nur noch seine konzentrierte Miene bei der Arbeit, die seine Energie noch mal unterstrich. Meine Güte sah der Typ toll aus.
„ich habe schon darüber nachgedacht, ob ich ihm nicht etwas zum Frühstücken bringe. Wer so früh morgens schon hart arbeitet, braucht ein ordentliches Frühstück“, redete Grandma angeregt weiter. Ich hörte ihr kaum zu, ich stand da, wie gebannt und mir sickerte so langsam in mein Gedächtnis, dass wir uns wie Stalker aufführten. Schade nur, dass mich auch dieser Gedanke kaum davon abhalten konnte ihn weiterhin zu beobachten.
„Vielleicht sollte ich zu ihm rüber gehen und ihm anbieten hier bei uns etwas zu essen. Sicher kennt ihr euch. Ich meine, so unter Nachbarn.“ Bei diesen Worten zuckte ich nun ertappt zusammen und versuchte mich so ruhig wie möglich zu verhalten. Plötzlich war mir überhaupt nicht mehr kalt, wieso nur? „Ähm Grandma, das ist bestimmt nett von dir gemeint. Aber siehst du nicht, dass er vollkommen in der Arbeit steckt. Außerdem muss ich jetzt in die Dusche“, bestimmt ging ich mit leicht zittrigen Knien aus der Küche und strebte in das Badezimmer, wo ich mir Abkühlung verschaffen konnte.

Als ich nach etwas zehn Minuten in Jeans und Bluse bekleidet aus dem Bad kam, drückte dieser fürchterlicher Lärm nicht mehr auf meinen Kopf. Aufatmend kehrte ich in die Küche zurück und erwartete dort meine Stalker Oma aufzufinden, aber sie war nicht da. Stirn runzelnd schritt ich ins Wohnzimmer: „Grandma?“, rief ich, als ich sie auch dort nicht fand.
Wahrscheinlich ist sie im Gästezimmer, dachte ich und sprang mit schnellen Schritten die Treppe hinauf. Doch in ihrem Zimmer war sie nicht. Um sicher zu gehen, blickte ich auch kurz in meines und in das meiner Mutter. Man weis ja nie. Aber sie war spurlos verschwunden. Als ich dann wieder nach unten ging empfand ich die Stille als merkwürdig. Und kalte Gänsehaut bildete sich auf meinem Rücken, als ich eins und eins zusammen zählte. Sie wird doch nicht, dachte ich nicht zu ende und marschierte nochmals in die Küche und blickte aus dem Fenster. Immer noch war es unangenehm still und Rob war auch nicht mehr zu sehen, nicht einmal der Rasenmäher. Ich erstarrte wie Salzsäule, als ich das unverkennbare Lachen meiner Grandma in der Ferne hörte. Um Himmels Willen! Sie war doch nicht dort, wo ich dachte wo sie war?
Fluchend marschierte ich aus der Küche durch den Flur die Haustür hinaus und stakste wütend den schmalen Pfad zum Gatter entlang. Mit einem lauten Knall schlug ich das Gatter zu und versuchte nicht aus zu sehen wie eine Furie, während ich rechts abbog und auf dem Bürgersteig ging. Vielleicht irrst du dich ja, wollte ich mir zu reden. Aber natürlich wusste ich, dass dem nicht so war. Auch wenn Grandma ihre coolen Momente hatte, diesen hier konnte man jedenfalls nicht dazu rechnen. Meine Güte, wie sollte ich denn jetzt vor ihn treten? Mal abgesehen davon, dass wir uns gestern ziemlich nahe gekommen waren und ich dann den Abflug gemacht hatte, ohne mich dann noch mal zu melden, war es mir peinlich, dass er vermutlich wusste, dass Grandma und ich, na ja eher Grandma, ihn beobachtete hatte bei der Arbeit, als er halb nackt rum lief. Wie bitte schön sollte ich mich aus dieser Affäre ziehen, ohne zu zugeben, dass ich nicht gerade dazu gezwungen wurde ihn heimlich zu begaffen?
Für weitere Gedankengänge blieb mir keine Zeit, da ich nun das hell blaue Haus erreicht hatte und die beiden auf dem Balkon stehen sah. Er hatte sie tatsächlich ins Haus gebeten? Diese fremde, neugierige Frau? Wow, das musste man ihm hoch anrechnen. Wahrscheinlich hatte sie ihm nicht gesagt, dass sie ihn heimlich gestakt hatte. Ich fragte mich, wie Grandma wohl früher so in meinem Alter gewesen war. Hatte sie jede menge Verehrer gehabt? Was spielte das für eine Rolle?“, wies ich mich zurecht. Du wirst jetzt deine verrückte Grandma nach Hause holen, damit der arme Kerle wieder seine Ruhe hat. Ich blieb vor der Auffahrt stehen und holte tief Atem. Mir blieb nichts anders übrig: „Grandma? Was machst du da oben? Ich hab dich überall gesucht?“ Am liebsten hätte ich noch: Bist du verrückt?, hinzugefügt. Denn genau das war sie doch, oder?
Nun schienen die beiden auf mich aufmerksam zu werden und Rob lehnte seine nackten Arme auf das Geländer. Seinen nackten Oberkörper war kaum zu sehen, wegen dem Geländer, zum Glück, sage ich da nur. „Tut mir Leid Schatz, dass du dir Sorgen gemacht hast. Aber warst du mal hier oben? Einfach der Wahnsinn!“, schrie Grandma mir zu. Sehen tat ich sie zwar nicht, dafür war sie zu klein und das Geländer zu hoch, aber dafür gut hören. Rob blickte grinsend zu mir hinab, schien aber nichts sagen zu wollen. Nein natürlich, er genoss diesen Augenblick, denn er wusste nur zu gut, wie peinlich mir das alles war.
„Grandma hör auf die Nachbarn zu belästigen und komm jetzt. Wir wollten doch einen Spaziergang machen!“, schrie ich nun. „Meine Güte, sei doch nicht so aufbrausend. Ich belästige hier niemanden. Er hat mich von selbst hier nach oben eingeladen“, entgegnete sie. Ich fühlte mich irgendwie in die Mutterrolle versetzt und Grandma war das Kind, das unartig und peinlich andere Leute anquatschte. Ich fuhr mir nervös durch das Haar, nur allzu deutlich, spürte ich sein Blick auf mir. „Deine Grandma ist immer willkommen“, sagte dann Rob mit einem Schmunzeln in der Stimme. „Weist du was so praktisch ist?“, hakte er nach und klang ziemlich süffisant. Nein danke, ich will es gar nicht hören, dachte ich und blickte überall hin, nur nicht nach oben. „Dass sie mir nicht so schnell weg laufen kann.“ Sehr witzig, natürlich hatte ich diese Andeutung verstanden. „Weglaufen? Wieso sollte ich bei ihrer Gastfreundlichkeit weglaufen?“, fragte Grandma nun verwirrt. „Tja, so denken wohl nicht alle Frauen“, sagte er laut und konnte kaum noch ein fieses Grinsen unterdrücken, das wusste ich, ohne, dass ich aufschauen musste. „Grandma, ich werde Mam erzählen, dass du die Nachbarn belästigst“, schrie ich dann und machte auf dem Absatz kehrt. Den Gedanken, dass ihre Tochter erfahren würde, wo sie sich wieder alles rum trieb, gefiel der alten Dame dann wohl doch nicht. „Ist ja schon gut, ich komme ja. Meine Güte bist du stur, Mädchen. Ich hoffe ja, dass du bald mal einen Gegenpart bekommst, der dir das etwas austreibt!“, schrie sie so laut, dass ich am liebsten in den Erdboden versunken wäre. Das gilt übrigens für die letzten paar Minuten hier. Erde tu dich auf und verschlinge mich, bat ich.
Ich hörte, wie Grandma sich von ihm verabschiedete, dann war es ein paar Sekunden von oben her still. „Kann ich mit dir heute Abend rechnen?“, erklang nun Robs Stimme ernst von oben. Leise seufzend schaute ich nun hinauf. Er lehnte immer noch lässig am Geländer und blickte mich abwartend an. Ein warmer Ausdruck lag in seinen Augen.
„Ähm“, druckste ich mal wieder vor mich hin. „Grandma ist zu Besuch, ich denke, sie braucht alle Aufmerksamkeit. Du hast sie ja jetzt etwas kennen gelernt. Sie ist nicht leicht zufrieden zu stellen“, sagte ich mit brüchiger Stimme. „Ach nein? Vielleicht solltest du sie mitbringen, das sollte sie für ein paar Tage zu frieden stellen“, entgegnete er feixend.
Ich verdrehte über diesen Kommentar die Augen, aber natürlich, sonst noch etwas. Außerdem hatte ich niemals vor gehabt, zu dieser Party zu gehen. Erstens, hatte ich nichts anzuziehen. Zweitens hasste ich solche Partys. Drittens, war da etwas zwischen uns, das mich im Moment mehr beunruhigte, als die Tatsache nichts zum Anziehen zu finden. Und viertens, meine Grandma war da. Es gab also eine Menge Gründe, wieso ich im fern bleiben konnte und die würde ich natürlich nicht ignorieren, im Gegenteil.
„Aber weist du was? Mach dir kein Stress, darüber können wir ja nachher noch reden“, und jetzt hörte er sich sehr schadenfroh an. Ich hatte meinen Blick wieder gesenkt und schaute nun wieder verwirrt auf: „Nachher? Wieso nachher?“ Er lächelte nun breit: „Deine Grandma hat mich zum Mittagessen bei euch eingeladen. Ist das nicht überaus nett?“ „War das nicht eine tolle Idee?“, hakte Grandma nun neben mir erfreut nach. Ich blickte nochmals zu Rob auf, der mich auffordernd anschaute, ein Lächeln auf seinen Lippen. Was wollte er denn jetzt hören? Dass ich ihn wieder auslud? Bitte, das konnte er haben. „Vergessen sie die Blumen nicht“, rief Grandma ihm Augenzwinkernd zu und zog mich mit sich. „Auf keinen Fall“, rief er noch freundlich hinterher.
Ich war geliefert! Bitte, bitte, lass das alles nur ein Traum gewesen sein, dachte ich, während mich Grandma zurück zu unserem Haus zog.

Kapitel 21

Gegen halb zwölf war ich wie durchs Wasser gezogen. Nicht nur die dampfenden Kochtöpfe um mich herum erhöhten meine Körpertemperatur, sondern auch Grandma, die so viel plapperte, dass ich mich kaum aufs Kochen konzentrieren konnte. Ich fuhr mir geschwind durch mein feuchtes Haar und dann über die gelbe Schürze, die ich mir vor etwa einer Stunde übergeworfen hatte und seitdem schon mit Gulaschsuppe voll gekleckert hatte. Das würde es nämlich heute geben. Grandma hatte sich dafür bereit erklärt, für den Nachtisch zu sorgen und mischte irgendetwas auf dem Esstisch zusammen, während ich von einem Topf zum nächsten hüpfte und immer wieder in Gedanken meine Grandma beschimpfte. Wie konnte sie nur? Einfach einen Nachbarn einladen, ohne mich vorher zu fragen und dazu noch ihn! Klar, sie wusste ja nichts von meinem Abgang gestern bei ihm, aber trotz allem. Wer nun fürs Essen sorgen musste, dass war ja wohl ich. Denn meine Grandma, wie ihr vielleicht nicht wisst, kann zwar kochen, hat aber nie Lust darauf. Also musste ich, seid ich vielleicht zehn Jahre alt war, für sie kochen, weil sie meinte, dass sei eine gute Übung für mich. Sie hätte nämlich schon viel zu lange kochen müssen und nun seien andere an der Reihe, das war ihr Motto.
Am liebsten hätte ich sie mit dem Gulasch einfach sitzen gelassen und hätte mich mit den Laufschuhen für den tag davon gemacht. Immerhin hatte sie den Kerl eingeladen und nicht ich, das wollen wir bei diesem Szenario mal nicht vergessen.
Aber wie ich nun mal war, konnte ich das nicht übers Herz bringen und tat ihr den Gefallen. Meine Güte, es war nur ein Mittagessen, so viel konnte doch dabei nicht schief gehen, oder?
Wenn ich mich da nicht mal irrte, dachte ich grimmig. Wer meine Grandma kennt, weis nur zu gut, dass sie irgendetwas ausfraß. Sie tat nichts ohne Hintergedanke, deshalb musste ich unglaublich vorsichtig sein.
„Wie sieht es mit dem Gulasch aus? Hast du es auch ja nicht anbraten lassen?“, erkundigte sie sich ernst und trat neben mich um mich zu kontrollieren. „Grandma, du kannst den laden hier auch gerne alleine schmeißen und ich verschwinde für etwa“, ich schaute auf die Küchenuhr, „Zwei Stunden?“ „Auf keinen Fall! Was soll ich denn mit solch einem jungen Burschen alleine? Was glaubst du, wie das aussieht?“, murrte sie. „Na immerhin war das deine Idee“, entgegnete ich spitz. „Magst du ihn nicht?“, fragte sie nun überrascht. Sie klang so empört, als hätte ich gerade gesagt, dass ich nicht auf Junges stehe. Ich zuckte mit den Schultern: „Das spielt doch keine Rolle. Du hast ihn eingeladen, du musst mit ihm umgehen.“
„Meine Güte, Kind. Wie kann man nur so naiv sein!“, herrschte sie mich an. Dann musterte sie mich von oben bis unten: „Willst du so bleiben?“, sie klang entsetzt. Ich schaute nicht einmal an mir herunter, sondern blickte sie finster an: „Natürlich. Warum auch nicht?“
Sie packte mich am Handgelenk und stellte die Herdplatte runter, dann zerrte sie mich kopf schüttelnd aus der Küche. „Immer muss man alles selber machen“, brummte sie. Ich befreite mich aus meinem Griff: „Okay, ich hab schon verstanden, Grandma. Bin gleich wieder“, und schon war ich die Treppe hinauf. Oben in meinem Zimmer zog ich mir eine Jeans an, die keine Klecks besaß und schlüpfte in ein blaues T-Shirt. Ohne auch nur prüfend in den Spiegel zu schauen, rannte ich wieder hinunter in die Küche, wo Grandma mich prüfend anschaute und ihre Mundwinkel eindeutig nach unten zeigten. „Das ist doch nicht dein ernst?“, sie warf mir einen ungläubigen Blick zu. Ich zog mir die Schürze wieder um und rührte in der Suppe herum: „Was ist daran auszusetzen, Grandma?“, fragte ich ruhig.
„Hast du denn gar nichts Hübsches?“, erkundigte sie sich ungläubig.
„Wen interessiert es, was ich anhabe, Grandma? Du hast dich doch für uns beide schön gemacht“, kommentierte ich. Sie errötete nun leicht und schüttelte den Kopf, sagte aber nichts mehr. Sie wusste, dass ich mich nicht überreden lies, also lies sie es bleiben.
Das Telefon klingelte und ich nahm ab, es war Hilary. Erfreut unterhielt ich mich mit ihr. Sie erkundigte sich, wie weit wir gestern Abend mit dem Aufbauen gekommen sind und ob wir noch Hilfe bräuchten. Und außerdem, was ich anziehen wollte. Himmel, sie war ja wirklich nicht aufzuhalten.
Während ich sie nun darauf aufmerksam machte, dass ich keineswegs vor hatte dort zu erscheinen, klingelte es auch schon unheilvoll an der Tür.
„Okay, lass uns später weiter reden“, würgte ich meine Freundin herzlos ab und legte das Telefon auf die Küchenanrichte. Dabei schrie ich nach meiner Grandma: „Grandma? Es klingelt. Dein Gast ist da!“ Doch nichts regte sich, sie war wie vom Erdboden verschluckt.
Wahrscheinlich stand sie im Bad und gab sich den letzten Schliff. Genervt musste ich nun ihren Part übernehmen und marschierte immer noch mit Schürze bekleidet durch den Flur zur Haustür: „Unzuverlässige Frau“, murrte ich böse und öffnete mit Schwung die Tür.
„Hei“, begrüßte mich eine dunkle Stimme. Ohne einen weiteren klaren Gedanken zu fassen, schlug ich ihm vor der Nase die Tür zu und stand nun vor geschlossener Haustür und lauschte meinem galoppierendem Herzen. Der Schreck saß tief in meinem Gliedern und ließ mich leise keuchen.
Keine Sekunden später klingelte die Hautürglocke erneut. Meine Güte war der Depp hartnäckig. Langsam arbeitete mein Gehirn wieder und mir wurde klar, dass Rob in den nächsten Minuten ebenfalls vor dieser Tür stehen würde. Das Problem war nun, dass die beiden Deppen auf keinen Fall mehr auf diese Weise aufeinander stoßen dürften, ansonsten hatte ich noch ganz andere Probleme. Also tat ich das, was mir am sinnvollsten schien, um schnell zu handeln. Ich riss die Haustür auf, packte den Blödmann an seinem abartig teuer aussehenden schwarzen Hemd und zog ihn in den Flur, dann schloss ich mit einem Knall die Tür. Wahrscheinlich hätte ich Josh niemals einfach so von hier nach dort zerren können, doch er schien so überrumpelt, dass er es einfach geschehen ließ. Schnell ließ ich ihn am Hemd los, trat einen Schritt zurück und blickte ihn zornig an: „Was machst du hier?“
„Ich wollte mit dir reden. Hatte jedoch nicht damit gerechnet, dass du mich ins Haus lässt“, bekannte er mir dunkler, viel zu ruhiger Stimme. Während mein Puls nur so in die Höhe schoss, schien er total ruhig und locker. Na ja, er wusste auch nicht, in was für einer beschissenen Situation er gerade steckte. Oder vielmehr ich steckte, wegen diesem Depp!
„Bilde dir ja nichts ein“, zischte ich und schaute unruhig durch den Flur. Grandma konnte jedem Moment auftauchen und wenn sie Josh sah, dann konnte das alles hier nur noch in einer Katastrophe enden. „Ich hab dich nur vor deiner eigenen Dummheit gerettet“, fauchte ich und lies meinen Blick in alle Richtungen schweifen, nur nicht in seine. Nur kurz hatte ich eben, als er vor der Tür stand, einen Blick auf ihn erhaschen können, und das hatte mir schon gereicht. Reichte es nicht schon, dass dieser Kerl jedem Mädchen mit seinen schönen dunkel blauen Augen und Rabenschwarzen Haare und seinem kecken Lächeln den Kopf verdreht? Musste er nun auch noch Top Markenkleidung tragen, die ihn noch unwiderstehlicher aussehen ließen, wenn das überhaupt noch möglich war. Wahrscheinlich hätte er sich auch nur einen Kartoffelsack überziehen können und immer noch hätte man ihm nicht widerstehen können. Und dass er einfach unglaublich gut roch, das machte das alles umso schlimmer. Mal von seiner rauen, musikalischen Stimme und seinen anderen Talenten abgesehen.
„Meiner eigenen Dummheit? Ich versteh nicht ganz…“, gluckste er leicht überrascht, doch ich fuhr ihm hysterisch dazwischen. Besser, wenn er gar nicht richtig zu Wort kam, dam kam ich nämlich auch nicht zum Träumen: „Genau! Du verstehst nämlich gar nichts! Also kannst du jetzt einfach verschwinden, ich bin beschäftigt!“ Anstatt wie aufgefordert endlich den Abgang zu machen, spürte ich wie er mich mal wieder völlig ohne Scham musterte, auf seine lässige, abgeklärte Art, was mich nur noch mehr wütend machte. „Hübsche Schürze. Solltest du echt öfters tragen. Gibt’s dazu auch noch eine passende Mütze?“ Ich fasste es nicht, dass er sich auch noch lustig machte. Aber bevor ich ihm meine Meinung auftischen konnte, klingelte es wieder und mir wurde beinahe schwindelig, so verzwickt war das alles. Ich fasste einen Entschluss und packte Josh an seinem Designerhemd und zog ihn hinter mir her durch den Flur die Treppe hinauf und mit Widerwillen in mein Zimmer: „Bleib da einfach stehen, rühr nichts an und sei einfach nur dekorativ, ich denke, das kann für dich nicht schwer sein!“, damit warf ich meine Zimmertür ins Schloss und eilte mit erröteten Wangen wieder die Treppe hinunter. Unten öffnete meine ahnungslose Grandma mit gastfreundschaftlichem Lächeln die Haustür. Draußen stand Rob und hielt einen Blumenstrauß in der Hand. Nach seinem Gesicht zu urteilen, schien er nicht ganz so gut gelaunt, wie heute Morgen. Irgendetwas schien ihm nicht in den Kram zu passen. Jedenfalls begrüßte er meine Grandma freundlich und mir drückte er wortlos den Strauß in die Hand. Dann folgte er meiner Oma in die Küche, während ich die Blumen schnell in eine leere Vase stopfte. Bevor ich ihnen folgen konnte, viel mir plötzlich ein, dass Josh ja mit dem Wagen gekommen sein musste, oder etwas nicht? Na toll, das hatte Rob wohl die Stimmung verschlagen. Er ging nun davon aus, dass Josch hier im Haus war, was er ja auch war. Ich fühlte mich schrecklich, als ich in die Küche trat und mich zu den zwei setzte. Grandma schaufelte Rob Gulasch auf den Teller, während dieser mir einen bedeutungsvollen Blick zu warf. Sobald wir zu zweit sein würden, würde er mir erst einmal die Meinung geigen, das wusste ich und obwohl ich gerne immer seine Meinung hören wollte, hatte ich nun tierische angst. Auch wenn ich nicht daran schuld war, dass Josh hier war, okay ich hätte ihn vor Rob nicht verstecken sollen. Aber mal ehrlich, was hätte ich denn sonst tun sollen? Ihnen weiterhin die Gelegenheit geben sich die Köpfe einzuschlagen? Auf keinen Fall! Dann war ich freiwillig die Schuldige.
Das Mittagessen verlief schweigsam, na ja, Grandma redete ohne Pause über irgendetwas unwichtiges, während Rob und ich so taten, als würden wir ihr Geplapper verfolgen.
Da ich überhaupt keinen Hunger hatte, schob ich das Essen auf meinem Teller herum, mein Blick auf die Suppe gesenkt. Nach zwanzig Minuten oder so, als unsere Teller leer waren, stand Grandma auf und meinte: „So, ich brauch jetzt ein Nickerchen. Ihr seid mir doch nicht böse?“ Am liebsten hätte ich mich an ihrem Arm fest geklammert und gesagt, sie solle mich auf keinen fall mit einem wütenden Rob alleine lassen, doch das wäre total überzogen gewesen, so sagte ich brav: „Schon okay, Grandma. Wir räumen den Tisch ab.“ Sie nickte Rob freundlich zu und ging dann aus der Küche.
Ich schnappte mir unsere Teller, stapelte sie aufeinander und trug sie zur Küche. Als Rob weiterhin schweigend am Tisch saß und aus dem Fenster starrte, ergriff ich zögernd und mit klopfendem Herzen das Wort: „Es ist nicht so, wie du vielleicht denkst. Er war…“, er unterbrach ich mit ungeduldiger Stimme: „Sag mir, Mia. Warum versuchst du dich jetzt bei mir zu erklären? Ich meine wir sind ja nicht zusammen oder so. Aber etwas mehr Ehrlichkeit hätte ich schon von dir erwartet“, er klang hart und ich hörte die Enttäuschung in seiner Stimme. Um etwas zu tun, nahm ich nun den Gulaschtopf vom Tisch und transportierte ihn ebenfalls in die Küche. Meine Hände zitterten: „Rob, du interpretierst da etwas völlig Falsches hinein. Er stand keine zwei Minuten vor deinem Auftauchen vor der Tür. Er hat mich überrumpelt und..“, „Stimmt, er ist mir immer ein Schritt voraus, wie blöd für mich“, meinte er ironisch und lachte bitter. Mir tat es weh ihn so zu sehen, er war enttäuscht und wie vor den Kopf geschlagen. Ich versuchte ihn nochmals dazu zu bringen, mir zu zuhören: „Ich hatte keine Ahnung, es war nicht meine Absicht, jemandem weh zu tun. Ich wollte nicht, dass ihr euch wieder streitet, deshalb ist er oben in meinem Zimmer.“ Rob erhob sich vom Stuhl und wich meinem Blick aus, während er nun aus der Küche trat. Aber er steuerte nicht wie ich erwartet hätte die Treppe nach oben an, sondern die Haustür. Natürlich, so war er. Verantwortungsbewusst und kein wenig überhitzt. Und genau das mochte ich so an ihm. Er öffnete die Tür, während ich kaum noch die Tränen anhalten konnte. Bevor er hinaus trat, drehte er sich zu mir um und sein Blick lag nun ruhig auf mir: „Ich spiele nicht. Es ist mir ernst, Mia. Und wenn du weist, was du willst, dann lass es mich wissen“, mit diesen Worten verlies er das Haus und schaute nicht zurück.
Leise schlucksend schloss ich die Tür und lehnte mich mit der Stirn an das kalte Holz. Ich zitterte und spürte, wie der Zorn sich in mir ausbreitete. Nun folgte ich nicht mehr meinem Verstand, sondern einfach nur der Wut und marschierte durch den Flur die Treppe hinauf. Ich biss mir so feste in die Lippe, dass sie womöglich aufsprang, aber das war jetzt egal. Ich wollte nur, dass dieser Mistkerl aus diesem Haus verschwand, denn er hatte alles kaputt gemacht. Ich riss meine Zimmertür auf und dort war er auch schon. Er saß unschuldig auf meinem Bett, auf meinem Bett! Und in der Hand hielt er leicht sanft grinsend meinen Kuschelbären. Wütend riss ich ihm das Plüschtür aus der Hand und warf es aus meinem Fenster, dann schubste ich ihn einfach aus meinem Bett und warf die Decke und das Kopfkissen hinterher. Josh starrte mich ungläubig an: „hast du sonst noch etwas berührt?“, fuhr ich ihn an. Dieser schien das alles nun ziemlich komisch zu finden, seine Augen betrachteten mich seltsam, als fasziniere es ihn, was er da gerade geboten bekam.
„Hast du?“, wiederholte ich die Frage laut und meine Stimme überschlug sich. „Ähm, ich glaube deinen Lap Top und dein weises Top da“, er machte eine lässige Handbewegung in Richtung Fußboden, wo mein Lieblingstop unwirsch auf dem Boden lag, wie auch einige andere Sachen. Aber meine Unordnung war es nicht, die mich noch mehr in rasche brachte, sondern sein ungläubiges dümmliches Grinsen. Also tat ich genau das, was er wohl noch weniger von jemandem wie mir erwartet hätte. Ich packte meinen Lap Top und mein Lieblingstop und warf auch das ohne eine Wimper zu zucken aus dem Fenster.
Dann holte ich tief Luft und drehte mich zu ihm herum: „Und jetzt raus!“, brüllte ich wutentbrannt. Nun schien er das doch alles nicht mehr so witzig zu finden, denn sein Grinsen war wie weggewischt und er hob die Arme, als wolle er zeigen, dass von ihm keine Gefahr aus ging. HA! Da konnte ich ja nur lachen! Nein, natürlich war mir eher zum Heulen.
„Wenn du nicht sofort verschwindest, dann wirst du was erleben!“, schrie ich und marschierte zu meiner Tür und riss sie bedeutungsvoll auf. Mein Körper bebte zitternd und mein Atem ging so schnell, dass ich glaubte zu ersticken, wenn ich nur einmal nicht aus atmete.
Mein Körper hatte sich selten so ausgepowert gefühlt wie in diesem Moment. Doch immer neue Energiewellen überkamen mich, weil meine Wut nicht abebbte, sondern immer mehr an Energie zunahm. Josh stand immer noch an der gleichen Stelle rechts neben meinem Bett und schaute mich wie vom Donner gerührt an. Zum ersten Mal in seinem Leben schien er keinen lässigen Spruch auf Lager zu haben, sondern sprachlos zu sein. „Raus, habe ich gesagt!“, brüllte ich wieder und blickte ihn so zornig wie nur möglich an.
Endlich schiene er wieder etwas bei Verstand, was ich ihm auch für seine Gesundheit riet und begann sich zu bewegen, doch völlig in die falsche Richtung!
Er folgte nicht meinem Rat und machte sich durch die Tür davon, sondern schritt auf das offene Fenster zu und beugte sich hinaus, womöglich begutachtete er meinen zermatschten Lap Top! Und nicht zu vergessen meinen Hans, also meinen Bären. Ich versuchte diesen Gedanken zu verwerfen, im Moment wollte ich noch wütend sein und nicht anfangen zu heulen, vor allen Dingen nicht in seiner Gegenwart. „Das ist echt heftig. Weist du wie viel so ein Ding kostet?“, mit diesen Worten drehte er sich nun wieder ganz in seinem Element zu mir um und lehnte sich an den Fenstersims. Oh natürlich, jetzt wollte er wieder einen auf Obercool machen, doch das würde ich ihm austreiben! Ich lies mich doch nicht zum Affen machen! Entschlossen, ohne auch nur meinen Wirbel von Gefühlen an die Oberfläche durchdringen zu lassen, marschierte ich mit großen Schritten auf ihn zu und blieb dann provozierende zehn Zentimeter vor ihm stehen. Mir war klar, dass ich mich da auf gefährlichem Gebiet begab, aber ich war so wütend, dass ich davon ausging, seinem Charme und seinem Geruch nicht zu Widerfallen. „Jetzt hör mir mal zu, du Vollpfosten! Ich gebe dir noch eine Chance. Verschwinde und ich werde meine Wut an irgend etwa anderem auslassen!“ Seine Lippen verzogen sich zu einem spitzbübischen Grinsen, was nicht in meinem Sinne gewesen war. Ich hatte damit gerechnet, dass er endlich verschwand, doch das völlige Gegenteil war der Fall. Anstatt vor mir zurück zu weichen und das Haus zu verlassen, da bewegte er sich auf mich zu: „Und wenn ich möchte, dass du deine Wut an mir aus lässt? Was dann?“, hauchte er nun und sein Grinsen wurde umso breiter, auf eine Art, die mir nicht gefiel. Doch so schnell lies ich mich in meinem Zorn nicht unterbuttern: „Lass es lieber nicht darauf ankommen“, zischte ich und widerstand dem Drang einen Schritt zurück zu weichen. Ich spürte unausweichlich seinen warmen, muskulösen harten Körper an meinem. Wir berührten uns kaum und doch spürte ich all die aufgestauten Gefühle, Gefühle, die ich verdrängte und nun doch an die Oberfläche wollten. „Zeig es mir, Püppchen“, flüsterte er rau und beugte sich ganz nahe mein linkes Ohr: „Zeig es mir“, wiederholte er dunkler als zuvor.
Was mich nun an den Rand des Gipfels trieb, war die pubertierende Reaktion meines Körpers und meines dummen Herzens. Hitze stieg in mir auf und ich konnte plötzlich kaum noch Atmen. Die Schmetterlinge im Bauch schienen kein Ende zu finden und die Wut wollte plötzlich verpuffen. Doch mein Verstand wollte das auf keinen Fall zu lassen. Dieser Kerl hier war arrogant, rebellisch und ein Arschloch.
Ich packte ihn mit beiden Händen am Kragen und knallte ihn mit aller Kraft gegen die Wand neben dem offenen Fenster. Meine Finger weiterhin fest in seinem Designerhand vergraben, zischte ich ungehalten: „Hau ab!“ Dann lies ich ihn einfach los und wendete mich leise nach Luft schnappend von ihm ab. „Muss ziemlich schwierig sein, so als Frau. Keine Kraft zu haben um einem Menschen wie mir zu widerstehen“, seufzte er theatralisch hinter mir. Ich fuhr zu ihm herum und dachte nicht mehr nach. Denn hätte ich das getan, wäre mir in den Sinn gekommen, dass Josh mich mit dieser Aussage in eine Falle locken wollte. Hätte ich ihn noch etwas besser gekannt, oder wäre ich nicht so wütend gewesen, wäre ich wohl noch früh genug auf den Gedanken gekommen, dass er mich in rasche bringen wollte. Aber so weit gingen meine Gedankengänge nicht mehr. Ich war mit einem Satz bei ihm und wollte ihm eine pfeffern, doch plötzlich schien er sich nicht länger herum schupsen lassen zu wollen, sondern fing meinen Schlag geschickt mit einer Hand ab und drehte mir diese blitzschnell hinter meinen Rücken, so dass ich auf einmal nicht mehr mit dem Gesicht zu ihm stand, sondern mit dem Rücken ganz nah an ihm. Ich wollte mich von seinem Griff los machen, doch er hatte ihn gekonnt angewendet und nun saß ich ziemlich in der Scheiße. Er hatte mich völlig unter Kontrolle.
„Ich tue das ziemlich ungern, musst du wissen“, begann er nun ganz Herr der Lage, „Aber du lässt mir keine andere Wahl.“ Ich versuchte mich nun mit ganzer Kraft aus seinem Griff zu befreien, doch das war schier unmöglich. „Lass mich gefälligst los, Blödmann“, brachte ich keuchend vor Anstrengung hervor.
„Im Moment eher ungern. Denkst du ich bin scharf drauf, deine Rechte abzubekommen?“, entgegnete er und versuchte überaus ernst zu klingen, was ihm nicht ganz gelang. So langsam tat sein Griff weh und mein Körper realisierte, dass er beinahe seinen warmen, maskulinen Körper berührte, nun ja, und ich begann leicht zu zittern. Ich versuchte diese Körperreaktion geschickt zu überspielen, in dem ich umso fieser zu ihm war: „Nicht nur meine Rechte ist spitze, du solltest erst einmal meine Linke kennen lernen. Und wenn du mich nicht sofort los lässt, Klugscheißer, dann…“, mit einem Ruck zog er mich an seine Brust ran: „Immer diese Drohungen. Glaubst du wirklich, dass du mich damit abschreckst?“ Ich fühlte seinen warmen Atem an meinem Hals und wie plötzlich seine Nase mein linkes Ohr berührte. Ganz sachte stupste er mich an. Beinahe hätte ich laut nach Luft geschnappt, stattdessen trat ich ihm treffsicher auf den Fuß. Bisher war mir mit diesem Manöver bei meinem Bruder immer die Flucht gelungen, aber Josh schien auch das völlig kalt zu lassen. Ich hörte ihn kurz tief einatmen, um nicht laut zu fluchen, dann schmunzelte er und flüsterte: „Sind wir doch mal ehrlich, Kleine. Du bist nicht wirklich wütend auf mich…“, als ich dies mit einem HA kommentierte, verbesserte er sich: „Okay, vielleicht bist du etwas sauer auf mich, aber wenn du mal ehrlich bist, dann musst du dir eingestehen, dass du wütend auf dich selbst bist.“ „Ach ja? Reicht es dir nicht aus, dass ich dich Hinz und Kunz nenne, brauchst du erst noch eine Tracht Prügel, um zu erkennen, wie wütend ich auf dich bin? Wenn das so ist, wie wäre es, wenn du mich einfach los lässt?“, erwiderte ich schnaubend.
„Nein, ich würde gerne weiter leben“, sagte er sarkastisch. „Und weist du warum?“, hauchte er nun geheimnisvoll in mein Ohr. Was interessiert mich das, dachte ich weiterhin wütend. „Ich werde schreien!“, stieß ich dann aussichtslos aus. Auf seine blöde Frage ging ich gar nicht erst ein. Wer weiß, was dieser Typ vorhatte.
„Nein wirst du nicht“, entgegnete er mit sicherer Stimme und berührte mit seinen Lippen die Stelle unter meinem linken Ohr. Diese Berührung schnürte meine Kehle zu und ließ die Hitze in mir entfachen.
„Jedenfalls nicht auf diese Weise“, fügte er schmunzelnd hinzu.
Als seine Lippen weiter nach unten in Richtung Hals abwandern wollten, schüttelte ich abwehrend meinen Kopf: „Lass das gefälligst! Ich bin wütend und das auf dich!“, zischte ich.
„Wie schon gesagt, das bist du nicht. Du bist sauer, weil du weist, welcher Mensch dein Herz rührt und welcher nicht. Du bist wütend, dass es jemand ist, der nicht in deinen perfekten Zukunftsplan passt. Du bist wütend, weil du weist, dass ich die Wahrheit spreche“, zählte er mir ruhiger Stimme auf und legte sein Kinn auf meine Schulter. Und mir wurde klar, dass Josh völlig Recht hatte, was ich natürlich niemals freiwillig zugeben würde.
Ich reckte das Kinn stur nach vorne und versteifte mich in seinem Griff: „Wir wissen beide, dass das kaum wahr sein kann. Wir sind viel zu verschieden“, stellte ich hart klar. „Gegensätze ziehen sich an, ist es nicht so?“, schmunzelte er. Ich spürte, wie er absichtlich meinen Nacken anhauchte. Gänsehaut überzog meine Haut und meine Stimme klang abgehackt, als ich nun sagte: „Und du glaubst, du kannst mich auf diese Weise davon überzeugen, dass auch wir beide uns anziehen? Mal ehrlich, gibt es da nicht viel angemessener Methoden?“
„Wie wahr! Genau das hatte ich bis zu deiner Haustür auch gedacht. Aber plötzlich hast du mich wie eine Furie ins Haus gezerrt und ich wusste nicht was mir geschah“, erklang seine Stimme unschuldig hinter mir.
„Und das soll ich dir glauben oder was? Nimmer bist du mit der Absicht hier her gekommen um zu beweisen, dass wir zusammen gehören. Da ist die Wahrscheinlichkeit ja größer, dass ich im Lotto gewinne, als dass du weist, was Liebe ist!“, brummte ich.
Nach diesem Kommentar meinerseits spürte ich, wie Joshs Körper sich verkrampfte. Endlich schien er mal eine angemessene Reaktion aufzuweisen. Aber auch schon ein paar Sekunden später, in denen ich mal wieder tatkräftig versuchte aus seinem Griff zu entkommen, hatte er sich wieder gefangen: „Ich finde es Recht merkwürdig von dir, weiterhin so große Töne zu spucken, wenn wir mal deine Situation betrachten. Ich könnte dich eine ganze Weile so fest halten“, bemerkte er trocken.
„Und ich habe dir gerade eben gedroht, laut los zu schreien!“, fauchte ich drohend.
Er zuckte mit den Schultern, was seine Muskeln am Körper ebenfalls bewegen ließ.
„Weist du, so langsam habe ich die Befürchtung, dass du den Moment nur hinaus zögerst. Du musst nur zu geben, dass ich Recht habe und schon lass ich dich los“, sagte er locker. Stille legte sich, die Josh mit einem Kichern nun übertönte: „Oder aber du möchtest von mir überhaupt nicht los gelassen werden, dann wäre das auch kein Problem. Obwohl ich zu geben muss, dass es da noch angenehmere Möglichkeiten gibt sich näher zu kommen. Dass hier…“, „Halt gefälligst deine Klappe“, herrschte ich ihn an. „Ich habe keineswegs vor, mit dir weiterhin darüber zu diskutieren.“
„Ist mir auch recht. Du hast eine unglaublich schöne Haut, weist du das?“, erklang seine Stimme viel zu romantisch in einer eher unromantischen Situation, wie dieser.
Ich verdrehte die Augen, konnte aber nicht die Hitze in meinem Körper unterdrücken und das Galoppieren meines Herzens.
Ich wollte gerade etwas Schnippisches entgegnen, als ich die Haustür zu fallen hörte und wie Mam rief: „Mia? Bist du zu Hause? Mam?“
Aber auch jetzt, lies Josh nicht locker: „Nun wird es bremslich, vielleicht solltest du endlich zur Vernunft kommen.“ Ähm noch mal, ich sollte zur Vernunft kommen? Wer hier eine an der Klatsche hatte, das war ja wohl er! „Mia?“, ertönte nun die Stimme meiner Mutter besorgt, während ich Schritte auf der Treppe vernahm.
„Wenn du mich los lässt, kann ich dir ein Versteck anbieten“, versuchte ich ihn zu überzeugen. Das lies er sich wohl kurz durch den Kopf gehen: „Wenn du mir keine scheuerst und mich nicht auch noch aus dem Fenster wirfst, dann könnten wir ins Geschäft kommen“, sagt er süffisant. Ich verzog mein Gesicht zu einer Grimasse: „Wenn du natürlich von meiner ahnungslosen Mutter erwischt werden willst, dann nur zu. Ich halte dich nicht davon ab!“
Brummelnd lies er den Griff nun locker und ich machte mich aufatmend frei. Ich riss meinen großen Kleiderschrank auf: „Hier drinnen kannst du dich verstecken, bis die Luft rein ist. Meinst du, du kannst für ein paar Minuten dein Hormongesteuertes Gehirn in Zaum halten?“, erkundigte ich mich sarkastisch. Mit einem leichten Grinsen im Gesicht kam er direkt auf mich zu, so dass ich einen Schritt zur Seite trat. Lässig setzte er sich auf meine frisch zusammen gelegte Bettwäsche im Schrank und ich schloss rasch die Tür, ohne ihn weiteres Blickes zu würdigen.
Dann klopfte es auch schon an meiner Zimmertür: „Mia? Ist alles okay?“, informierte sich Mam. Schnell war ich bei der Tür und öffnete sie mit unschuldiger Miene: „Hei Mam. Ich habe gerade Hausaufgaben gemacht“, log ich schuldbewusst.
Ich bemerkte, wie sie skeptisch über meine Schulter in mein Zimmer schaute.
Dann lag ihr besorgter Blick auf mir: „Dein Lap Top liegt unten vor der Haustür. Und deine Bettwäsche“, sie klang verblüfft und verwirrt.
An die Sachen hatte ich gar nicht mehr gedacht. Josh hatte mich das für einen Augenblick völlig vergessen lassen, sogar meine unendliche Wut schien nun kaum noch vorhanden zu sein. Weil ich mir eingestehen musste, dass er, wie schon gesagt, recht hatte. Ja, ich liebte ihn. Ich konnte nicht genug von diesem Blödmann kriegen. Und obwohl ich sogar wusste, dass das mit uns beiden eigentlich nie hinhauen würde, so schlug mein herz hektisch, wenn er in meiner Nähe war. Ja und sogar seine rebellische Ader schien mich nicht abzuschrecken, im Gegenteil. Irgendwie schien das alles zu ihm zu gehören.
„Ich, ähm, ich“, was sollte ich denn sagen? Ich konnte ihr schlecht verklickern, dass ich das teure Notebook nur aus einem bestimmten Grund aus dem Fenster geworfen hatte, wegen Josch. Weil er das Ding angefasst hatte, obwohl ich ihm gesagt hatte, er soll seine Hände bei sich lassen.
„Ist etwas mit mir durch gegangen. Ich hab mich über die Hausaufgaben aufgeregt“, versuchte ich dann zu improvisieren. „Etwas aufgeregt? Seit wann wirfst du Sachen aus deinem Fenster, wenn du mit deinen Hausaufgaben nicht klar kommst?“, hakte sie weiterhin ungläubig nach. „Mam, es tut mir wirklich Leid, ich werde mir selbst einen neuen kaufen.“ „Darum geht es doch gar nicht! Ich frage mich nur, seid wann du so impulsiv geworden bist!“, erwiderte sie besorgt. Diese Frage beantwortete sie sich selbst schuldbewusst: „Ich habe dich in letzter Zeit zu oft alleine gelassen. Das tut mir sehr leid, Mia.“ Ich schüttelte den Kopf, sie sollte sich nicht schuldig führen: „Nein, das ist es nicht. Ich bin nur im Moment etwas gestresst“, erklärte ich.
„Ja, ich hab auch schon blöde Sachen gemacht. Das merkwürdige ist nur, dass sieht dir überhaupt nicht ähnlich“, meinte sie nun nachdenklich. „Ich bin okay, ich brauch nur etwas Schlaf“, sagte ich. Mam nickte nun, ihre Miene war weiterhin nachdenklich: „Dann lass ich dich mal alleine. Vergesse die Sachen nicht weg zu räumen. Wo ist Oma?“ „Sie macht ein Nickerchen“, informierte ich sie.
22. Kapitel

Nachdem Mam mir nochmals einen besorgten Blick zu geworfen hatte, verschwand sie wieder nach unten.
Und als ich so da zwischen Tür und Angel stand, wurde mir bewusst, dass ich eine sehr wichtige Entscheidung zu treffen hatte. Nicht erst in ein paar Tagen oder gar in einem Monat, sondern auf der Stelle.
Ich atmete tief ein und schloss meine Zimmertür von innen. Entschlossen schritt ich auf meinen Kleiderschrank zu und hielt zögernd ein Meter davor inne. Meine Hand lag auf dem Knauf. Es war an der Zeit, eine Entscheidung zu treffen. Eine, die ich möglicherweise bis zu meinem Lebensende bereuen würde. Oder vielleicht doch nur für ein Jahr, zu mindest erhoffte ich mir das.
Meine Kehle schnürte sich zu, als ich nun die Schranktür öffnete und ihn dort sitzen sah.
„Lass uns raus gehen“, sagte ich, wand mich von ihm ab und schritt zügig zur Tür.
„Was ist denn jetzt…“, setzte er verwirrt an, doch ich fuhr ihm dazwischen, während ich in den Flur trat: „Komm schon.“ Aber er schien nicht ganz bei der Sache, also nahm ich seine Hand und zog ihn auf Zehenspitzen gehend hinter mir her die Treppe hinunter und an der Küche vorbei, wo Mam sich befand. Schnell huschten wir an der offen stehenden Küchentür vorbei durch den Flur die Haustür hinaus. Erst als wir den Hof überquert und das Hoftor passiert hatten, ging ich wieder etwas langsamer und lies seine Hand los.
„Hei, jetzt warte doch mal!“, murrte er und ich wurde am Arm gepackt und herum gewirbelt, sodass ich nun direkt vor ihm zu stehen kam und ich nicht umher kam, ihn anzusehen.
Seine blauen Augen lagen unruhig auf mir: „Was ist nur los mit dir? Erst wirfst du deine Sachen aus dem Fenster und dann, dann muss ich mich in einem Schrank verstecken. Das bist doch nicht du“, stellte er ungeduldig klar. Sein Blick lag weiterhin unausweichlich auf mir. Ich wich seinem Blick aus und blickte auf meine nackten Füße. Nun war es an der Zeit, es war der Moment gekommen, in dem es kein Zurück gab. Ich musste ihm meine Gefühle mitteilen und ihm dann, womöglich wenn er genauso fühlte wie ich, was ich eher nicht glaubte, wehtun. Denn nur so könnte es eine Zukunft für uns beide geben, vielleicht eine Zukunft zu zweit, wenn es das Schicksal wollte.
Ich schaute auf, in seine Augen, die mich anblickten, als sei ich etwas Besonderes. Als genießen sie es, jemanden wie mich anschauen zu dürfen. Konnte es tatsächlich möglich sein?
War Josch im stünde zu lieben? Ja sogar mich zu lieben? Ein Mädchen, das nicht in sein leben passte.
Aber warum fragte ich mich immer, ob er im stünde dazu war? Was war mit mir? Konnte ich ihn denn lieben, bis in alle Ewigkeit. Und obwohl mein Herz eine klare Antwort für mich hatte, sagte mein Verstand etwas anderes.
Mein Herz schien beinahe in meiner Brust zu zerbarsten, als ich nun die Worte in den Mund nahm, die mir schon seit einer langen Zeit auf der Zunge lagen: „Ich hab dich gern“, ich machte einen Schritt zurück und versuchte weiterhin seinen Blick stand zu halten. Ich sah, wie er ansetzte, etwas zu sagen, doch ich hob die Hand, um ihn aufzuhalten: „Und ich weis nicht, ob ich“, ich senkte nun doch meinen Blick und versuchte ruhig zu atmen, aber mein Puls schien wie nach einem Dauerlauf auszuschlagen und kontrollierte mein Atem. „Ich weis nicht, ob ich dazu in der Lage bin, dir das zu geben, was man zu geben hat, wenn man jemanden liebt. Im Moment habe ich kein Leben. Meine Familie ist Kilometer weit weg. Ich habe nichts, worauf ich bauen kann. Und ich, ich…“, „Mia“, erklang nun seine tiefe Stimme, es hörte sich beinahe zärtlich an, wie er meinen Namen sagte. „Sag bitte nichts“, flüsterte ich und tat noch einen Schritt zurück. Am liebsten wäre ich jetzt davon gelaufen, aber ich hatte noch etwas zu sagen.
„Hör auf mir vorzuschreiben, wann ich etwas sagen soll“, er trat einfach auf mich zu und ignorierte es, dass ich mich von ihm zu entfernen suchte, sondern packte mich etwas fester am Oberarm: „Und versuche nicht ständig von mir davon zu laufen. Hörst du?“, sagte er bestimmt und ich spürte sein Atem auf meinem Gesicht und seine Hände, die meine Oberarme nun beinahe sanft umfassten. „Schau mich an“, bat er leise. Ganz langsam blickte ich auf, in ein vertrautes Gesicht. Einem Gesicht, dass ich unter tausenden wieder erkannt hätte und dass mir die Wärme ins Gesicht schießen lies. Augen, die mir mehr Geborgenheit schenkten, als sonst etwas auf der Welt. Eine Narbe, die mich erinnern lies. Und das geheimnisvolle Lächeln seiner Lippen, die einem das Gefühl geben, als wüssten sie etwas über einem, das man selbst kaum erahnen konnte. „Du bist der außergewöhnlichste Mensch, der mir je über den Weg gelaufen ist. Du hast mich gesehen, Mia. Nicht den Obercoolen der Schule, sondern mich. Durch dich habe ich gelernt, dass ich Liebe empfangen kann, wenn ich mich so gebe, wie ich bin.“ Sachte fuhr er währenddessen mit seiner rechten Hand über meine Wange: „Gib mir eine Chance dir zu zeigen, dass es sich lohnt Liebe in mich zu investieren. Denn ich werde nicht gehen.“
Ich legte meine Hände zögerlich auf seine Brust und spürte sein Herz schnell schlagen.
„Du wirst gehen“, sagte ich dann und schaute auf, in sein nun überraschtes Gesicht. Blaue Augen blickten mich fragend und verwirrt an. Bevor er auch nur etwas sagen konnte, sprach ich mit ruhiger Stimme weiter. „Du wirst erst ein Jahr zur Bundeswehr gehen und dann studieren. Und ich werde hier sein.“ „Mia“, erklang seine dunkle Stimme nun sanft.
„Ich werde wieder zurückkommen, ich werde nicht für immer fort gehen.“
„Ein Jahr“, meinte ich dann und strich ihm zärtlich über die Brust: „Gib uns ein Jahr, ein Jahr um sicher zu sein.“ Dann trat ich wieder ein Schritt zurück und verschränkte meine Arme fröstelnd ineinander. „Wenn wir uns tatsächlich lieben, dann wird es dieses eine Jahr entscheiden, in dem wir uns nicht sehen“, erklärte ich und versuchte entschlossen zu klingen.
Ich spürte seinen Blick auf mir, doch ich war zu feige, um ihn anzusehen. „Ein Jahr? Du willst, dass wir uns ein ganzes Jahr nicht sehen?“, er klang total ungläubig. Nun schaute ich auf, er stand zwei Meter entfernt und starrte mich ungläubig an. „Du sagtest, ich solle dir eine Chance geben zu beweisen, wie viel Liebe in dir steckt. Zeig es mir“, wieder wich ich einen Schritt zurück und versuchte den Schmerz in meinem Herzen zu ignorieren.
Er stand da, einfach nur an einer Stelle und blickte mich wie vom Donner erschlagen an. Seufzend trat ich auf ihn zu und legte meine Hand in seine: „Ich hab dich gern, Josch. Demnach habe ich keine angst vor dem Jahr. Was ist mit dir?“ „Was stellst du nur mit mir an?“, kopfschüttelnd drückte er meine Hand und strich mit der anderen beruhigend über meine Wange.
„Gib uns ein Jahr Freiraum“, wiederholte ich ernst und blickte ihn bittend an.
Eine Zeit lang schwiegen wir nur, während ein stürmischer Wind durch die verlassene Straße vor unserem Haus fegte.
Tief stehende, dunkle Wolken kündigten Regen an, aber ans Verabschieden war noch nicht zu denken.
Händchen haltend spazierten wir stumm durch den immer heftiger werdenden Wind. Meine Hand lag angenehm warm in seiner und ließ die Kälte des Windes an mir abprallen.
Konnte es sein, dass zwei so unterschiedliche Menschen, wie wir es waren, für einander geschaffen waren? Gab es eine gemeinsame Zukunft für den hübschen Jungen aus guten Verhältnissen und dem Mädchen, welches immer noch auf der Flucht vor ihrer Vergangenheit war?

„Schenk mir dein Vertrauen, Mia.“ Mit diesen Worten ließ er sachte meine Hand los und schützte mich vor dem Wind, in dem er sich dicht vor mich stellte. Sein Blick lag nun ruhig auf mir, kein Deut von Zweifel und Argwohn war in ihm auszumachen. Er schien meine Bitte ernst zu nehmen.
Ich verstand nicht Recht, worauf er hinaus wollte. „Bitte?“
Ein süßes Lächeln drückte seine innere Ruhe aus, als er wieder nach meiner rechten Hand griff: „Kann ich
in Zukunft auf dein Vertrauen bauen? Was auch immer jemand anderes über mich behaupten mag?“ Ich betrachtete unsere Hände, meine blasse, kleine Hand lag in seiner warmen, gebräunten Handfläche. Erst jetzt viel mir ein schmaler Ring aus Silber auf, der an seinem rechten Zeigefinger steckte. Ich schaute auf, seine blauen Augen hielten meinen Blick gefangen. Das vertraute Gefühl von Schmetterlingen in der Magengrube war kaum zu verkennen und das unglaubliche Gefühl angekommen zu sein, breitete sich in mir von Kopf bis Fuß aus. Der Gedanke, ihn ein ganzes Jahr nicht zu sehen, entfachte ein Schmerz in meinem Herzen, der jede andere Gefühlsregung, welche ich bisher in meinem Leben verspürt hatte, übertraf.
„Du hast mich nicht kennen können, damals, als du mir das Grab deines Bruders gezeigt hast. Ich denke, ich schulde dir mehr als Vertrauen“, flüsterte ich.
„Und damit wären wir uns zum ersten Mal einig“, dankend hielt er weiterhin unseren Blickkontakt aufrecht, während seine linke Hand liebevoll über meinen Rücken strich.

Es war an der Zeit Abschied zu nehmen, keiner von uns beiden konnte an diesem Tag sagen, ob wir uns jemals wieder auf diese Weiße lieben würden, wenn das Jahr verstrichen war. Und doch lag im Moment mehr Hoffnung in der Luft, als dass wir über das „wenn“ und „aber“ nachdenken wollten.
Josch erfasste meine Hände und hielt sie an sich gedrückt.
„Ich möchte hoffen können, Mia. Darf ich denn auf ein Wiedersehen hoffen?“
Ich schluckte schwer, eine Träne bahnte sich einen Weg über meine Wange, als ich nun mit zittriger Stimme meine Zustimmung gab.
„Mehr als das.“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

The end

 

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Tag der Veröffentlichung: 15.08.2015

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