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PROLOG

„Hier ist ein Brief für dich gekommen. Luftpost. Sieht aus, als wäre er aus Frankreich. Oder England, oder so.“, sagte Lucas und starrte misstrauisch auf den Umschlag in seinen Händen, bevor er ihn mir unter die Nase hielt. „Kennst du den Absender? Edin Lee steht hier. Noch nie gehört den Namen.“
„Lee?“, murmelte ich.
Lucas runzelte die Stirn. „Kennst du ihn?“
Ich schüttelte stumm den Kopf und spürte, wie mein ganzer Körper sich augenblicklich verkrampfte und mich erstarren ließ. Denn die krakelige Schrift, mit der mein Name und meine Anschrift auf den Umschlag geschrieben waren, war mir keineswegs unbekannt. Nein. Ich kannte sie besser als meine eigene.
Edin, hatte Lucas gelesen. Edin Lee.
Doch der Name war nicht Edin. Ich brauchte nicht einmal hinzusehen, um zu wissen, welcher Name wirklich draufstand. Diesen Namen, den ich überall erkennen würde, der sich ganz tief in meinen Kopf eingegraben hatte und dessen Klang mich nun mit der Wucht eines Orkans traf. Dieser Name, den ich so krampfhaft zu vergessen versucht hatte und der nun plötzlich wieder vor mir auftauchte und mich hämisch angrinste, stolz darüber, mich immer noch aus der Fassung bringen zu können.
„Eric...“
Ich sagte es nur ganz leise. Es war weder an ihn, noch an mich gerichtet. Mein Mund formte wie von allein diesen Namen, vielleicht als Test, ob er es noch konnte, und ich wunderte mich, wie fremd es plötzlich klang.
Doch Lucas sah mich zweifelnd an. Erst mich, und dann den Umschlag. Seine Miene veränderte sich dabei, wurde seltsam hart.
„Du hast recht.“, sagte er schließlich, ohne den Blick zu heben. „Hier steht nicht Edin, sondern Eric.“
Ich kniff die Lippen zusammen und beobachtete ihn. Er fuhr sich mit der linken Hand durch die Haare, dann seufzte er und sah mich an.
„Kennst du ihn?“
Ich zögerte. „Nein...“
Lucas glaubte mir nicht. Ich war noch nie eine gute Lügnerin gewesen, doch selbst wenn ich es gewesen wäre, hätte ich den plötzlichen Schmerz, der sich in meiner Brust ausbreitete, nicht verbergen können.
Ich atmete laut aus und versuchte mir eine Erklärung auszudenken, die einigermaßen plausibel klang. Doch mein Kopf war wie leergefegt und so schwieg ich, bis Lucas sich mit einem traurigen Blick von mir abwandte. Er sagte nichts, legte bloß den dünnen Umschlag auf den Tisch neben uns, und ging Richtung Küche.
„Willst du auch einen Kaffee?“, rief er mir von dort aus zu.
Irgendwann, das nahm ich mir in diesem Moment fest vor, würde ich ihm alles erzählen. Von Anfang bis zum Ende. Das Problem war bloß, dass ich plötzlich nicht mehr wusste, wo das Ende war. Heute Morgen war es mir noch so klar gewesen, vielleicht hätte ich sogar den genauen Tag nennen können, wenn ich darüber nachgedacht hätte. Doch jetzt lag plötzlich dieser Brief neben mir und starrte mich an. Und das erste Mal seit langer Zeit fühlte ich wieder diese schmerzende Leere in mir und das Gefühl, dass es kein falsch und richtig mehr gab. Es gab einfach nur noch ihn. Eric.


1.

Es wehte starker Wind an dem Sonntag, der alles veränderte.
Ich kniete auf meinem Bett, die Arme auf der kalten Fensterbank davor aufgelehnt und das Gesicht so nah an die Fensterscheibe gepresst, dass mein Atem graue, feuchte Flecken auf dem Glas hinterließ.
Es war ein seltsames Gefühl im warmen Zimmer zu sitzen und den Wind zu beobachten.
Ich konnte ihn hören, wie er heulend gegen die Hauswand klatschte. Und ich konnte sehen, wie er die Blätter an den Bäumen wie wild gewordene Kobolde um die Äste tanzen ließ. Und doch saß ich hier, sicher und geschützt vor der Kälte und sah auf die menschenleere Straße hinunter, die zugleich ungewohnt einsam und doch vertraut aussah.
Der Wind stürmte, als würde er mir klarmachen wollen, dass der Sommer vorbei war und der Herbst begonnen hatte. Dass die Schule wieder anfing und die nachmittäglichen Ausflüge mit Marie zum See nun seltener werden würden.
Es war unser elftes Schuljahr. Und zugleich das elfte Jahr einer innigen Freundschaft. Ich musste lächeln, als ich daran dachte, wie Marie und ich uns an unserem ersten Schultag in der Grundschule kennengelernt hatten. Und wie wir uns anfangs nicht einmal das kleinste bisschen ausstehen konnten. Und wie aus dieser Feindschaft nach nur kurzer Zeit die schönste Freundschaft wurde, die man sich bloß vorstellen konnte. Ich seufzte, malte mit der Fingerspitze ein kleines M und ein kleines L auf die beschlagene Fensterscheibe und stand dann auf.
Jochen, mein Vater, saß in der Küche am Tisch als ich eintrat. Er hatte eine Zeitung vor sich ausgebreitet, doch als er meine Schritte hörte, richtete er seinen Blick auf und lächelte mir zu.
„Heute mal nicht bei Marie?“
Ich schüttelte den Kopf. „Sie macht etwas mit ihren Eltern.“
Jochen folgte mir mit seinem Blick, als ich an ihm vorbei zum Kühlschrank ging und eine Packung Orangensaft herausholte. Er sah müde aus und unter seinen Augen hatten sich tiefe Schatten gebildet, als hätte er mehrere Nächte nicht geschlafen. Man konnte ihn problemlos zehn Jahre älter schätzen als er tatsächlich war. Und jeden Tag schienen ein paar Jahre dazuzukommen.
„Was macht sie denn mit ihren Eltern?“
Ich schenkte den Saft in ein Glas und nahm einen großen Schluck, bevor ich ihm antwortete.
„Sie gehen ins Kino. Glaub ich.“
„Ah.“, sagte er und ließ das Thema fallen. Sein Blick war nun wieder auf die Zeitung gerichtet. Aber ich wusste, dass er nicht las, denn seine Lippen bewegten sich nicht so wie sonst, wenn er sich auf etwas konzentrierte.
Ich nahm einen weiteren großen Schluck Saft, stellte das Glas auf die Anrichte und setzte mich zu ihm an den Tisch.
„Wo ist Petra?“
Jochens Augen verengten sich. „Ich weiß nicht, wo deine Mutter ist. Wahrscheinlich bei Gabi.“
Ich schwieg. Irgendwann in der letzten Zeit war Jochen und mir die Fähigkeit abhanden gekommen, miteinander reden zu können. Natürlich sprachen wir noch miteinander, stellten Fragen und gaben Antworten. Aber es entstand kein richtiges Gespräch mehr. Ich hatte jedes Mal das Gefühl, ein Thema zu treffen, worüber er nicht reden wollte, und ihm schien es wahrscheinlich ähnlich zu gehen. Stattdessen saßen wir nun immer öfter nebeneinander in der Küche und schwiegen. Die Stille, die dann entstand, war eine angenehme, beruhigende Stille. Eine, volle Übereinstimmung und Verständnis. Sie füllte genau das aus, was früher unsere Gespräche getan hatten und jetzt nicht mehr konnten.
Doch diesmal dauerte es nicht lange, bis Jochen das Schweigen durchbrach.
„Ich habe dir doch von dem Mann erzählt, der die Wohnung im zweiten Stock gekauft hat, nicht wahr?“, sagte er plötzlich. Um seine Mundwinkel zuckte es fröhlich.
Ich nickte. „Ist das nicht schon eine Weile her? Vor einigen Wochen waren doch die Möbelpacker da, oder nicht?“
„Vor fünfzehn Tagen.“, verbesserte er mich und seine Augen funkelten, als hätte er eine tolle Neuigkeit für mich. Ich sah ihn gespannt an. Es musste eine Ewigkeit her sein, dass seine Augen das letzte Mal so geleuchtet hatten.
„Es ist so, dass er nicht selber hier einzieht...“, fuhr er fort und machte eine kleine Pause um die Spannung zu steigern. „Die Wohnung ist für seinen Sohn. Er ist heute Vormittag gekommen, pünktlich zum Schulbeginn. Ich hab ein bisschen mit seinem Vater geredet, bevor er sich wieder auf die Reise machte.“
Ich sah ihn verständnislos an und wartete darauf, dass er mit der Neuigkeit herausrückte, die seine Augen so zum Leuchten gebracht hatte. Doch seinem Blick nach zu urteilen, war es das bereits gewesen. Denn statt weiter zu strahlen, und es mir zu erzählen, verfinsterte sich sein Blick wieder.
„Freut dich das denn nicht, Lina?“
Ich sah ihn ungläubig an. Ich verstand nicht, worüber ich begeistert sein sollte.
„Wieso sollte ich mich freuen, wenn irgendein Sohn von irgendeinem Mann über uns einzieht?“
Jochen seufzte, als würde er mir etwas zum zehnten Mal erklären müssen. „Er ist in deinem Alter, Lina! Und dazu sogar noch richtig hübsch - also... soweit ich das beurteilen kann. Du kannst mit ihm in die Schule laufen. Oder nachmittags ein bisschen abhängen. Das macht ihr jungen Leute doch, nicht wahr?“
Ich stand auf. Die Stuhlbeine machten ein quietschendes Geräusch auf den Fliesen.
„Ich laufe schon mit Marie zur Schule.“, sagte ich und suchte mir einen Weg an ihm vorbei, aus der Küche. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie er mir kopfschüttelnd hinterher sah und irgendetwas murmelte, das nach „Frauen“ klang. Ich sah zu Boden und lächelte zufrieden in mich hinein. Es war nicht das erste Mal, dass Jochen mir irgendeinen Jungen andrehen wollte. Und es war auch nicht das erste Mal, dass ich ihn dabei prompt abwies und ihm klarmachte, dass ich an seinen Verkupplungsaktionen keinerlei Interesse hatte. Besonders, da ich seinen miserablen Geschmack, was Männer anbetraf, kannte.
In meinem Zimmer drehte ich das Radio laut auf, griff nach dem Roman, den ich mir als letztes aus der Bibliothek ausgeliehen hatte, und machte es mir auf dem Bett gemütlich. Mein Zimmer war klein und gerade mit dem Nötigsten ausgestattet. Mein Bett stand direkt am Fenster, gegenüber von der Tür. In der linken Ecke, wenn man eintrat, war mein Schreibtisch und daneben der Kleiderschrank. Für mehr war kein Platz, und obwohl ich mich lange nach einem größeren Zimmer gesehnt hatte, musste ich zugeben, dass ich das Nötigste besaß.
Unsere Wohnung war allgemein sehr klein. Wir wohnten in einem Mehrfamilienhaus in einer eher billigen Gegend dieser Stadt, im ersten Stock. Neben unserer Wohnung gab es noch drei weitere. Eine im Erdgeschoss, die andere direkt neben unserer, und die letzte im zweiten Stock. Sie war etwas größer als die anderen und stand einige Jahre leer, da der Mietpreis fast doppelt so hoch war wie bei den restlichen Wohnungen in diesem Haus. Zumindest hatte sie bisher leer gestanden. Laut Jochen würde sich das ja nun ändern.
Außer meinem Zimmer gab es hier noch das Wohnzimmer, die Küche, die wir zugleich als Esszimmer benutzten, ein kleines Bad und das Schlafzimmer von Petra und Jochen.
Es war alles nicht sehr groß, verglichen mit Maries Haus sogar richtig winzig, aber ich kannte es nicht anders und akzeptierte es. Durch die kleine Miete hatte ich wenigstens ein etwas höheres Taschengeld bekommen. Doch das hatte sich nun auch geändert, seit Jochen seinen Job verloren hatte.
Ich seufzte, als ich daran dachte und legte das Buch zur Seite. Stattdessen stützte ich mich auf meinen Armen ab und sah wieder aus dem Fenster. Ich liebte es, hier zu sitzen und auf die kleine Welt hinunterzublicken, die sich vor der dünnen Glasscheibe abspielte.
Draußen hatte es sich beruhigt, der Wind war verstummt, und die ersten mutigen Passanten mit Einkaufstüten in den Händen oder einem Hund an der Leine, trauten sich wieder auf die Straße. Ich kannte sie alle, wenn auch bloß vom Sehen, und einige hatten sogar schon ihre eigene Geschichte bekommen. Der Mann mit dem Pudel war ein einsamer Junggeselle, der sich den Hund bloß zugelegt hatte um Frauen kennenzulernen. Und die alte Frau, mit der rosanen Jacke, war heimlich furchtbar verliebt in diesen Mann. Ich musste über meine eigenen Gedanken grinsen, doch dann trafen meine Augen auf einen Jungen, den ich noch nie zuvor gesehen hatte.
Er lief die Straße entlang und sein Blick war zu Boden gerichtet, so dass ich sein Gesicht nicht erkennen konnte. Es war eindeutig, dass er nicht von hier kam, denn für das kühle Wetter war er mit Shorts und einem hellen T-Shirt viel zu leicht angezogen. Seine nackten Arme, die er sich schützend um den Körper geschlungen hatte, waren braungebrannt und seine hellbraunen Haare, die an die Farbe von Karamell erinnerten, standen wild in alle Richtungen ab.
Er lief schnell, mit großen, selbstsicheren Schritten, und blieb vor unserem Haus, nur wenige Meter vor der Hauswand stehen. Dann verstaute er beide Hände in seinen Hosentaschen. Ich brauchte einen Moment, um zu registrieren, dass er es nicht wegen der Kälte tat sondern weil er etwas suchte. Seinen Schlüssel. Den Schlüssel zu diesem Haus. Ich schnappte nach Luft und steckte meinen Kopf unter dem Vorhang hindurch, so dass ich mein Gesicht dicht an die Scheibe pressen konnte.
Und bemerkte, dass er mich anschaute. Er hatte den Kopf in den Nacken gelegt und sah die Hauswand entlang nach oben. Seine hellblauen Augen waren einen Moment auf mich gerichtet, dann huschten sie weiter, die Fenster entlang und schließlich wieder nach unten. Ich erstarrte und mein Herz klopfte laut und schnell. Sobald sein Blick wieder nach vorne gerichtet war, zog ich den Kopf unterm Vorhang hervor und ließ mich aufs Bett fallen. Mein Puls war immer noch ungewöhnlich schnell, als hätte er mich bei etwas Verbotenem erwischt und ich presste mir beide Hände gegen die Augen, um mich zu beruhigen. Es war doch nicht schlimm, dabei überrascht zu werden, Menschen aus dem Fenster heraus zu beobachten, redete ich mir ein. Doch tief in meinem Innern wusste ich, dass die plötzliche Anspannung einen ganz anderen Grund gehabt hatte. Es waren seine Augen. Ich hatte noch nie solche hellen, wunderschönen Augen gesehen.


2.

Marie lief neben mir her. Ihr helles Haar wippte im Takt ihrer Schritte auf und ab und mit der linken Hand strich sie sich immer wieder eine Strähne aus dem Gesicht.
„In der Weidenstraße macht eine Bar auf. Diesen Freitag schon.“, sagte sie und sah mich mit leuchtenden Augen an. „Dort, wo früher Jakobs Gemüseladen war. Es soll sogar einen Billardtisch geben und viele rote Sofas. Ich hab es zwar noch nicht selber gesehen, aber mein Bruder. Er war richtig begeistert. Das ist doch super, oder nicht? Eine neue Bar, und fast um die Ecke. Oder, Lina?“
„Hm“, sagte ich abwesend und ließ meinen Blick über den Weg gleiten. Schon von hier sah ich, dass die Fußgängerampel vorne an der Kreuzung rot war. So wie immer. Wir waren bereits etliche Male zu spät zum Unterricht gekommen, weil wir eine halbe Ewigkeit vor der roten Ampel standen und tausende Autos erbarmungslos an uns vorbeirasten.
„Oder, Lina?“, wiederholte Marie mit Nachdruck.
Ich hob den Kopf und sah, wie sie mir einen genervten Blick zuwarf.
„Ehrlich, manchmal habe ich das Gefühl, dass du mir gar nicht richtig zuhörst.“, murrte sie.
„Ich höre zu.“, erwiderte ich knapp und vergrub meine Hände in den Hosentaschen. Ich trug meine Lieblingsjeans – dunkler Stoff mit hellen Nähten – und dazu den weißen Pullover, den Petra mir vor ein paar Wochen gekauft hatte. Es war eine Art Willkommensgeste für das neue Schuljahr, doch während ich neben Marie herlief, wurde mir mal wieder bewusst, wie schäbig ich neben ihr wirkte.
Marie gehörte zu jenen Menschen, die alle Aufmerksamkeit auf sich zogen, allein durch ihre Anwesenheit. Die sogar in den letzten Lumpen atemberaubend schön aussahen. Und bei denen ich mich jedes Mal fragte, wo bitte die Gerechtigkeit lag. Reichte es nicht, dass sie eine perfekte Figur besaß? Musste sie auch noch samtweiches, langes Haar haben und sanfte, zierliche Gesichtszüge?
Doch wenn ich ehrlich war, war ich auch stolz auf sie. Schließlich war sie meine beste Freundin. Eine beste Freundin, die zugleich das hübscheste Mädchen der ganzen Schule – wahrscheinlich auch der ganzen Stadt – war.
Wir blieben vor der Hauptstraße stehen und starrten auf das grelle Rot der Fußgängerampel. An schlechten Tagen kam es vor, dass wir knapp zehn Minuten hier standen. Ich warf einen kurzen Blick auf meine Armbanduhr, um die heutige Zeit zu stoppen, und bemerkte dabei, wie Marie mich verärgert ansah.
„Du kannst es mir ruhig sagen, wenn es dich nicht interessiert, was ich erzähle.“, sagte sie unfreundlich und kniff die Lippen zusammen.
„Nein“ Ich schüttelte den Kopf. „Du weißt doch genau, dass das nicht stimmt. Es ist bloß, dass... Ich werde da wahrscheinlich nicht hingehen können.“
„Wohin?“
„In die Bar.“
Marie sah mich einen Moment verdutzt an, dann verflog der verärgerte Ausdruck aus ihrem Gesicht und sie seufzte.
„Es ist wegen dem Geld, oder? Du weißt doch, dass ich dir etwas leihen kann. Du brauchst es mir auch nicht zurückzugeben – ehrlich. Mir macht das nichts aus.“
Ich lächelte traurig. „Dann trifft „leihen“ es aber nicht so ganz...“
Marie blickte zu Boden. Offensichtlich hatte sie ihre anfängliche, gute Laune verloren und mir wurde unliebsam bewusst, dass ich der Grund dafür war. Aber ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte und so schwiegen wir, während wir nach einigen Minuten endlich die Straße überqueren konnten, bis wir vor dem Schultor ankamen.
Der Pausenhof war gefüllt von Schülern, die in Trauben zusammenstanden und sich lachend begrüßten und die neusten Ferienerlebnisse austauschten. Ich warf Marie einen kurzen Blick zu. Unsere Ferien hatten wir gemeinsam verbracht. Nahezu jeden Tag hatten wir etwas miteinander unternommen, und während unsere Klassenkameraden etwas von Meer und Strand oder von der nörgelnden Familie erzählen würden, könnten wir von unserer gemeinsamen Zeit berichten.
Nur ein Urlaub war diesmal nicht dabei gewesen. Jochen hatte lange gerechnet und unsere Ausgaben kontrolliert und jeden möglichen Euro gespart. Doch schließlich hatte es doch nicht gereicht und wir mussten einige Wochen vor Ferienbeginn zum Reisebüro gehen und die Reise wieder absagen. Strandurlaub in Spanien. Marie hatte dabei die ganze Zeit tapfer gelächelt und mir versichert, dass es ihr nichts ausmachen würde, dabei wusste ich, wie sehr sie sich das ganze Jahr über auf diesen Urlaub gefreut hatte.
Ich hielt sie am Handgelenk zurück, bevor wir durch das Schultor zu den anderen gehen konnten und sie wandte sich mir mit einem skeptischen Gesichtsaudruck zu.
„Marie..“ Ich nahm innerlich Anlauf, bevor ich weitersprach. „Du kannst auch mit den anderen in die Bar gehen. Mit Luisa. Oder Saskia, oder so. Die würden sicher liebend gerne mit dir mit. Mir macht es nichts aus, dann mal alleine daheim zu bleiben.“
Es versetzte mir einen Stich, mir vorstellen zu müssen wie sie mit Luisa und Saskia etwas unternahm und sich mit ihnen amüsierte. Aber sie hatte schon oft genug wegen mir auf etwas verzichtet und ich wollte nicht, dass ich daran schuld war, dass sie etwas verpasste.
Marie sah mich ernst an und runzelte dann die Stirn, als hätte ich etwas furchtbar Dummes gesagt.
„Was will ich denn da ohne dich?“, fragte sie und streckte mir ihre Hand entgegen. „Komm. Sonst sind wir wieder zu spät.“
Unsere Blicke trafen sich für einen Augenblick und wir lächelten uns zu. Dann ließ ich mir von ihr über den überfüllten Pausenhof, und über den Gang bis zu unserem Klassenzimmer ziehen.

Der Großteil der Klasse war bereits da, als wir zur Tür hereinkamen und lautes Stimmengewirr erfüllte den Raum. Marie und ich teilten uns einen Tisch in der vorletzten Reihe. Am Tisch davor saßen Luisa und Saskia, die uns fröhlich zuwinkten, als sie uns entdeckten.
„Und, wie waren eure Ferien?“, fragte Saskia, als wir unsere Taschen auf unseren Stühlen abgelegt und uns zu ihnen gestellt hatten. Sie hatte rötliche Locken und war etwas pummlig, aber sie hatte ein nettes Gesicht, mit kleinen, funkelnden Augen. Luisa dagegen war dünn und blass und hatte ihr blondes Haar im Nacken zu einem Zopf zusammengebunden. Sie war erst seit einem Jahr in unserer Klasse und kam ursprünglich aus Finnland.
Marie erzählte von den Ausflügen zum See oder den Filmabenden bei ihr zu Hause und bestritt somit den Großteil des Gesprächs. Ich hörte ihr zu und beobachtete Luisa und Saskia, die an den richtigen Stellen ihr Gesicht verzogen oder lachten. Es war kein Geheimnis, dass sie gerne enger mit Marie befreundet wären, auch wenn sie es bisher nie geschafft hatten. Ich hatte zwar nichts gegen Luisa und Saskia - wahrscheinlich mochte ich sie aus unserer Klasse sogar am liebsten - aber es tat trotzdem gut zu wissen, dass Marie mich durch niemanden ersetzen würde. Dass unsere Freundschaft etwas Besonderes war.
„Und euer Spanienurlaub?“, fragte Luisa neugierig, als Marie gerade dazu ansetzte von einem weiteren Seeausflug zu berichten.
Ich sah zu Boden. Plötzlich schien es ganz still zu sein und ich konnte nahezu hören, wie Marie nach den passenden Worten rang.
„Der ... ist dieses Jahr ausgefallen.“
„Wieso denn das? Du hattest dich doch so darauf gefreut, oder nicht, Marie?“
Marie wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als ich ihr ins Wort fiel.
„Mein Vater hat seinen Job verloren und ich konnte mir die Reise nicht mehr leisten. Marie hat netterweise auch darauf verzichtet, um mit mir hier zu bleiben.“
Luisa kniff die Lippen zusammen. Ihr Gesicht wirkte plötzlich noch blasser als sonst.
„Das tut mir Leid“, stammelte sie. „Das mit deinem Vater, meine ich.“
Ich zuckte die Achseln. „Wir leben ja noch.“
„Hmm“, machte Luisa und sah durch den Raum.
Ich seufzte. Ich schien heute ein wahres Talent dafür zu haben, anderen Leuten die Laune zu verderben.
Einen Moment später kam Herr Bug, unser Mathelehrer, zur Tür herein und es wurde leise.
Alle saßen andächtig auf ihren Plätzen und sahen nach vorne. Der erste Schultag hatte immer etwas Geheimnisvolles und war noch voller Erwartungen und Hoffnungen, als würden sich nach sechs Wochen Pause alles zum Besseren verändern.
Herr Bug sah amüsiert in die Runde. Ich hatte ihn bereits im letzten Jahr gehabt und wusste, dass ich gut mit ihm auskam.
„Wie ich sehe, haben alle die Ferien gut überstanden.“, sagte er gutgelaunt und setzte sich, ohne den Blick von uns abzuwenden. „Und vermehrt haben wir uns auch, wie ich erfahren habe.“
Wir sahen ihn erstaunt an und er lachte. Dann zog er ein bedrucktes Blatt Papier aus seiner Ledertasche und betrachtete es mit gerunzelter Stirn.
„Ein Eric Lee... wahrscheinlich Amerikaner, dem Namen nach zu urteilen. Ist er nicht hier?“
Ein nervöses Kribbeln erfüllte meinen Magen und ich ließ wie die meisten anderen meinen Blick durch die Klasse wandern. Doch er war nicht hier. Und nachdem ich mir sicher war, dass ich ihn bereits gesehen hatte, wusste ich auch, dass es völlig unmöglich war, jemanden wie ihn zu übersehen.
Herr Bug zuckte die Achseln und begann uns die Themen für das laufende Jahr an die Tafel zu schreiben. Langsam kam wieder Leben in die Klasse und ein munteres Gemurmel trat ein. Ich nutzte es, um mich Marie zuzuwenden.
„Ich kenne ihn.“, sagte ich leise.
Sie sah mich verwundert an. „Wen kennst du?“
„Eric Lee. Den Neuen in unserer Klasse. Wobei.. Naja, ich kenne ihn nicht wirklich. Aber ich weiß, dass er in die Wohnung über uns eingezogen ist. Und auf der Klingel für diese Wohnung steht „Lee“.“
„Er ist dein Nachbar?“ Sie grinste. „Das klingt ja fast nach einem peinlichen Klischee. Er zieht bei euch ein und ist dann auch noch bei dir in der Klasse. Als nächstes verliebst du dich noch in ihn und ihr trefft euch jeden Tag um die Matheaufgaben zu machen.“ Sie lachte leise auf, so dass Luisa sich neugierig zu uns umdrehte.
„Blödsinn“, schnaufte ich und senkte den Kopf, damit Marie nicht merkte, wie mir die Röte ins Gesicht schoss. Ich musste an seine hellblauen Augen denken und an die braungebrannten Arme. Und an den kurzen Moment, in dem er mich angesehen hatte.
Marie stieß mich mit dem Arm an und ihre blonden Haare fielen ihr vors Gesicht, während sie sich zu mir herbeugte. „Wenn er morgen wieder nicht kommt, dann holen wir ihn persönlich von daheim ab. Wäre ja nicht gerade ein Umweg.“, flüsterte sie mir amüsiert zu.
„Natürlich“, erwiderte ich trocken und versuchte mich auf die Worte von Herrn Bug zu konzentrieren.
Eric Lee. Mein Nachbar...



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Tag der Veröffentlichung: 17.08.2009

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