Vom Lauf der Zeit
Schneller und schneller! Nur nicht zu spät kommen, nur nichts verpassen... Denn wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Zu spät? Was ist „zu spät“?
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Luftballons und rosa Schleifchen, Berliner und Muffins heute ausnahmsweise ohne Ende. Lena war wunschlos glücklich, so glücklich, wie ein Kind an seinem fünften Geburtstag nur sein könnte. Lena hatte einen Teddy als Geschenk erhalten, der größer als sie selbst war, und der Teddy hielt in seinen krallenlosen weichen Pfoten eine Schatulle, in der Schatulle aber lag eine Glitzerkrone und ein Brief. Der Brief enthielt nur vier Wörter: „Für meine Prinzessin. Papa“. Selten konnten vier Wörter einen Menschen so glücklich machen. Lena hüpfte und tanzte und zeigte jedem von ihren kleinen Gästen den Brief: „Mein Papa hat aus Amerika geschrieben! Er hat ein Extra-Flugzeug bestellt und damit diesen Brief und den Teddy zu Mama und zu mir gebracht!“
An dem sonnigen Sommertag tanzten Kinder auf der Terrasse, veranstalteten, von Lena angespornt, einen Wettlauf, den Lena auch gewann.
Danach spielte Lena natürlich auf dem Klavier vor. Dieses Mal war es eine „Invention“ von Bach. Das Mädchen ärgerte sich über die Unaufmerksamkeit der kleinen Gäste. Die große Hummel lenkte auf ihrem gemächlichen Weg duch das Wohnzimmer die Zuhörer zusätzlich ab und wurde von der rot vor Empörung gewordenen Lena gnadenlos gejagt, bis sie endlich ihren Weg in die Freiheit gefunden hatte.
Am Abend, nachdem alle Gäste gegangen waren und Mama Linda langsam am Aufräumen war, setzte sich Lena auf das Sofa im Wohnzimmer, betrachtete ausführlich alle Geschenke und schlief mit einem glücklichen Lächeln ein, der Teddy an ihrer Seite.
Linda setzte sich zu ihr, streichelte den blonden Schopf und versank in eigene Gedanken. Im Schlaf drehte sich Lena auf den Rücken, streckte sich und flüsterte: „Papa?“
„Er kommt bald zurück, mein Schatz. Ganz bald!“, antwortete die Mutter und starrte noch lange vor sich.
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Sie fuhren zum Flughafen Fuhlsbüttel um Papa abzuholen, Lena hüpfte und wollte ihren Vater zwischen den ankommenden Passagieren erkennen, aber es waren so viele und sie selbst war so klein, und konnte ihren Papa nicht zwischen den sich bewegenden Körpern, rollenden Koffern und großen Taschen ausmachen. Plötzlich stand er direkt vor ihr, rätselhaft und fremd duftend. Hochgewachsen, erschien er noch größer wegen seinem breiten Mantel. Er bückte sich zu ihr, hielt eine große rosa Tüte ihr vor das Gesicht.
„Lena! Das ist für dich, mein Schätzchen!“ Lena warf sich ihrem Papa um den Hals.
„Ich habe jeden Tag geprobt und kann die „Invention“ schon ganz toll!“, berichtete sie stolz und erhielt einen Kuss vom Papa und zwei von Mama.
In der rosafarbenen Tüte befand sich eine hübsche schlanke Puppe. Und zu der Puppe gab es allerlei kleine zierliche Dinge wie Spiegel, Kamm und sogar einen Fön dazu. Lena vertiefte sich zuerst in das Auspacken des Geschenks und dann in das Ersinnen einer langen Geschichte, wie die Puppe Fanny in Amerika in einem Konzert auftrat und berühmt wurde. Nur Bruchstücke des langen und langweiligen Gesprächs ihrer Eltern erreichten ihre Ohren: „Ja, ganz toll.“ „Mit großem Erfolg“. „Ach, das Übliche: Vivaldi und Bach, Schubert und natürlich zum Schluss Paganini“ „Rase doch nicht so, Frank!“ „Heute Nacht, endlich!“ „Nun, demnächst nach Hongkong. Du weißt doch, wer zu spät kommt, den bestraft das Leben!“ „Nein, es geht mir prächtig!“
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Lena schminkte sich ausführlich und lange. So tat sie immer, wenn sie keine Lust hatte, irgendwohin zu gehen, obwohl das langsame Tempo ihr an sich zuwider war. Aber heute wollte sie die Abfahrt möglichst hinauszögern.
Mama Linda meinte, sie sollten unbedingt zur Silbernen Hochzeit von Tante Lu fahren, Lena sah das anders. Das würde eine öde Feier sein, alles nur alte Leute, keiner unter 40. Und natürlich musste sie dort spielen, anders ginge es nicht. ,Nun, das ist wohl das Einzige, was an diesem Abend noch Schönes passieren könnte,‘ dachte Lena bitter.
Wenn nur Papa da wäre, dann hätte er mindestens seine Witze erzählt, danach hätte er über seine Reisen und Konzerte berichtet, und später hätte er gegähnt und wäre unruhig geworden - und selbstverständlich wäre er gebeten worden, etwas vorzuspielen. Mit der Tochter zusammen. Sie hätten gerne vorgespielt: Sie - auf dem Klavier, er - auf seiner Geige, die er wie zufällig mitgenommen hätte. Auf der billigeren, nicht auf der ganz teuren.
Doch Papa war seit zwei Jahren tot. Umgefallen während eines Open-Air Konzerts in Sidney, und keiner von seinen Lieben war da um seine Hand zu halten, als er unter einem fremden Himmel seine Augen für immer schloss. Nur seine geliebte Musik war anwesend, denn das Konzert ging weiter, auch ohne einen der Solisten.
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Lena übte jeden Tag mehrere Stunden, ihre Finger wurden stark und flink, ihr Gefühl für den Rhythmus und für die Melodik - sicher und ihre Arbeitsfähigkeit und Ehrgeiz waren immer beneindenswert. Sie machte erste Erfolge bei „Jugend musiziert“ und spielte im Jugendorchester mit.
Sie wollte erfolgreich sein, und sie wurde es. Das Porträt ihres Vaters, gemalt von einem befreundeten Maler, hing über ihrem Klavier, und der Spruch „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“ wurde zu ihrem Motto.
Ihr Leben war für Monate im Voraus verplant: Proben und Konzerte, darunter einige Gastspiele. Sie war so beschäftigt, dass sie wenig Zeit zum Nachdenken und somit auch zum Grübeln hatte. Viele Gründe traurig zu sein hatte sie nicht, eigentlich nur zwei, dafür aber sehr gewichtige.
Neben dem Tod ihres Vaters beschäftigte sie der Zustand von Mama Linda. Ihre Mutter war nicht gesund, seitdem Papa gestorben war. Richtig krank war sie auch nicht, jedenfalls konnten die Ärzte keine körperliche oder geistige Krankheit feststellen, auch Depressionen waren es nicht. Es war nur eine Langsamkeit, etwas wie eine Lähmung in ihren Bewegungen, die manchmal auftrat. Lenas Mama war nie besonders schnell gewesen, auch früher schon waren ihre Bewegungen eher zögernd, so wie ihre Redeweise. Doch seit dem Tod von Papa bekam sie manchmal Anfälle von Langsamkeit. Besonders wenn Mama Linda etwas tun musste, was eine schnelle Reaktion erforderte- dann bewegte sich die stattliche Frau wie in Zeitlupe - und sagte, nach den Ursachen für diese Merkwürdigkeiten gefragt, nur eins als Erklärung: „Ich habe ihn gespürt. Er war hier, mein Frank“.
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Lena trat aufs Gas, und das große Auto brauste los. Mama lehnte sich zurück und schien zu träumen, Lena konnte sie nicht zu einem Gespräch animieren und ihre Stimmung verschlechterte sich rapide weiter. Am liebsten hätte sie mitten auf der Autobahn gewendet und wäre wieder nach Hause gefahren.
Die festliche Gesellschaft war zu Lenas Erleichterung nicht sonderlich groß. Auch bestand niemand darauf, dass sie sich ans Klavier setzte, sondern man war in Gespräche und in das Kosten von Leckereien, gebracht von einem Catering-Service, vertieft.
Lena freute sich, dass sie ihre Noten im Auto gelassen hatte - sonst wäre ihr Wunsch vorzuspielen zu offensichtlich gewesen.
„Sie sind doch die begabte junge Klavierspielerin?“, hörte sie plötzlich eine angenehme Männerstimme an ihrem Ohr, leise und ein bisschen unsicher.
Sie zuckte zusammen, drehte sich um - und schaute in die schönsten und schwärzesten Augen dieser Welt, ihr Herz schmelzte dahin beim Anblick des schmalen Mundes und der lockigen grauen Haare. Sie spürte, zum ersten Mal in ihrem Leben, dass sie rot wurde.
„Spielen Sie uns doch bitte etwas vor, das ist ein allgemeiner Wunsch der Gäste!“, jetzt sprach der Mann schon etwas lauter, so dass ihn viele hören konnten.
„Bitte, Lena, spielen Sie! Machen Sie uns alle glücklich!“, Tante Lu lächelte die junge Frau an.
Lena ließ sich nicht lange bitten, denn sie stellte sich gerne in den Mittelpunkt, und nur durch ihre Musik war das möglich. Sie spielte Chopin, sie konnte den Walzer fast auswendig und musste sich nicht sonderlich konzentrieren. Beim Spielen ist ihr sein Name eingefallen - Robert. Ja, er hieß Robert und war der jüngere Bruder von Lu‘s Mann, dem Hermann.
'Ich habe diesen Mann doch mehrfach bei Familienfeiern gesehen. Warum ist er mir nie aufgefallen?', fragte sie sich. 'Vielleicht war ich damals zu klein. Ach so, und er hatte eine Frau an seiner Seite, eine laute und bunt gekleidete Afrikanerin, die immer von etwas schwärmte - von der Natur in ihrer Heimat, vom Komfort in Deutschland, von ihren eigenen Erfolgen als Fotografin. Wo ist diese Frau? Auf einem Safari in Tansania?'
Lena spürte seinen Blick wie eine zarte Berührung, der Blick lenkte sie mehr als ihre Gedanken ab, sie spielte einen falschen Ton und regte sich auf. Doch kaum jemand bemerkte ihren Fehler, sie wurde wie immer beklatscht und gebeten, noch etwas als Zugabe zu spielen. Was sie auch gerne tat.
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Roberts Frau war tatsächlich gerade in ihrem Heimatland unterwegs. Frisch geschieden und ihre Freiheit genießend. Und ihr Ex-Mann genoss eine neue Liebe, und einen jungen Körper, der neben ihm lag. Er lachte über sich selbst: Schon wieder hat er eine zielstrebige Frau erwischt, eine Person, die nach dem Motto „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“ handelte. Es sollte alles - und zwar sofort - kommen: Erfolg und Liebe, Geld - und ein Kind.
Als sie ihm bei ihrem „ersten Mal“, das für sie das wirklich dieses allererste Mal war, mitteilte, dass sie sich ein Kind von ihm wünsche, war Robert mehr als überrascht. Angenehm überrascht? Ja, eher angenehm. Und doch - ein Kind? Er, mit seinem grauen Kopf - und mit einem Kinderwagen? Er, dessen Sohn erst vor Kurzem eigene Hochzeit gefeiert hatte und wohl bald selbst Vater werden sollte?
„Bist Du dir sicher, Schatz, wegen dem Kind, meine ich? Du bist ja erst 18, vielleicht machst Du zuerst Dein Musikstudium, oder?“, fragte Robert vorsichtig.
„Nein, jetzt! Mein Leben vergeht, die Zeit fliegt dahin, ich will und ich werde nicht warten. Sonst bin ich bald eine alte Frau!“, Lena redete energisch, selbstsicher.
Robert traute sich nicht, zu widersprechen. Zu sehr war er verliebt, zu wertvoll war ihm diese Beziehung, zu viel bedeutete ihm der junge Körper, den er Nacht für Nacht so leidenschaftlich liebkoste.
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Mama Linda war von der geplanten Hochzeit begeistert, und als sie erfahren hatte, dass das Paar bereits ein Kind erwartete, wurde sie sogar übermütig, umarmte Lena, drückte Robert so stark, dass er ächzen musste. Sie beschäftigte sich mit Vorbereitungen auf die kommenden Ereignisse, sie vergaß ihre Langsamkeitsanfälle und wurde für einige Zeit zu einem wahren Energiebündel.
Bald nach der Abi-Feier feierte Lena ihre Hochzeit, zu der sie mit einem umwerfenden Kleid aus weißer Spitze und mit einem runden Bauch erschien.
Statt Flitterwochen fuhren die Jungvermählten zu einem Jugendmusikwettbewerb. Lena spielte und spürte alle Blicke auf sie gerichtet. Der Flügel glänzte schwarz, blendete sie und sie schloss die Augen, wie oft beim Spielen. Mit ihrem inneren Blick sah sie plötzlich ein Kindergesicht, ein hübsches Mädchen, ihr selbst ein bisschen ähnlich. Seine Augen waren weit aufgerissen, und Lena wusste nicht, ob das Mädchen über etwas verwundert war oder Angst hatte. Diese kurze Vision war so real, dass Lena beinahe ihr Spiel abgebrochen hatte, doch sie raffte sich schnell zusammen: Sie musste unbedingt beim Wettbewerb gewinnen! Und sie gewann.
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Von ihrem Sieg erfuhr sie allerdings erst zwei Tage später, im Krankenhaus. Sie war nach der Geburt nicht ansprechbar, sie hielt sich stets neben dem Brutkasten auf, in dem ihre zu früh geborene winzige Tochter schlummerte.
„Lena, es wird alles gut, die Ärzte sind zuversichtlich“, Robert umarmte sie fest und streichelte ihr übers Haar.
Sie schwieg.
„Lenchen, wie willst du denn dein Töchterchen nennen?“, fragte Mama Linda.
„Linda“, flüsterten die steifen Lippen.
„Ach, ist es schön! Wie ich mich freue!“, Worte prallten an Lena ab, ihr Blick war nur auf den rötlichen Babykörper gerichtet, der mit Schläuchen umwickelt und mit Pflasterstreifen beklebt war.
„Ich hätte nicht fahren dürfen, ich hätte daheim bleiben sollen“, sprach sie.
„Das ist doch Unsinn“, widersprach ihre Mutter. Robert, der gerade seine Frau unterstützen wollte, hustete verlegen, sagte aber kein Wort.
„Unsinn, Lenchen, davon kommt es nicht. Und du wurdest auch etwas zu früh geboren, habe ich dir das schon erzählt? Ganze drei Wochen zu früh! Und, siehst du, du bist so eine gesunde und begabte Tochter geworden, und jetzt habe ich noch eine Enkelin“, Mama Linda zwitzscherte ununterbrochen. Dann seufzte sie: „Wenn nur Frank das erlebt hätte!“
Daraufhin erstarrte sie in einer gerade angefangenen Bewegung, ihr Mund halboffen, ihre Augen gläsern. Doch niemand nahm den Vorfall wahr, denn alle Blicke waren auf die kleine Linda gerichtet, die gerade im Schlaf zu lächeln schien.
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„Ob sie auch eine Musikerin sein wird?“, fragte sich Lena, wenn Klein-Linda mitten in der Nacht laut, aber irgendwie doch melodisch schrie.
Meistens stand dann Robert auf und gab dem Baby das Fläschchen. Lena brauchte ihren Schlaf - sie bereitete sich auf einen wichtigen Auftritt vor. Gemeinsam mit richtigen Weltstars spielen - eine große Ehre. Und eine Gelegenheit um noch bekannter zu werden. Eine solche Chance durfte nich versäumt werden, also ertönten Stunde für Stunde wunderschöne Sonaten und Konzerte, manchmal vermischt mit dem ungeduldigen Baby-Geschrei.
Lena ließ sich nicht stören, denn Mama Linda - und abends Robert, wenn er nicht gerade auf einer Dienstreise war - halfen ihr und kümmerten sich um die Klein-Linda.
Mit einem Jahr konnte Lindi gut laufen und hielt ihre Eltern und die Großmutter auf Trab. Nun, die Mutter sah sie nicht allzu oft, und Lena war jedesmal unangenehm berührt, wenn das Kind sie nach ihrer Rückkehr von einem Gastspiel nicht gleich erkannte.
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Es war ein Gala-Konzert in Hamburger Laeisz-Halle, eines von vielen. Lena war an solche Auftritte gewohnt, und doch schmeichelte es ihr jedes Mal, wenn sie so lange beklatscht wurde. Und wenn „Zugabe!“ gerufen wurde, dann war es für sie ein Augenblick des höchsten Glücks. Die Bühne, mit Frühlingsblumen geschmückt, ihr Lieblingsflügel, helles Licht - und hinter dem Licht, aber nicht weit, in der ersten Reihe - das vertraute Gesicht von Robert. Lena atmete tief ein, und ihre Hände stürzten sich auf die Tasten.
Sie spielte und fühlte sich von der herrlichen Melodie der „Wasserspiele“ von Ravel hingerissen und in einen sich immer schneller drehenden Wasserstrudel hineingezogen. Und dort, in der Tiefe, sah sie das Kindergesicht wieder. Die gleichen aufgerissenen Augen, der schwer definierbare Ausdruck zwischen panischer Angst und heller Freude. Was war das für ein Mädchen, was sah es dort in der Ferne? Linda?
Wie in Trance spielte Lena das kurze Stück zu Ende und rannte hinter die Kulissen, ohne die übliche Verbeugung. Sie stürmte zu ihrer privaten Garderobe, unterwegs warf sie ihre Stöckelschuhe von den Füßen und stolperte über den Saum ihres Konzertkleides. Sie fiel hin, jemand half ihr beim Aufstehen.
Sie hob ihre Augen - und traf auf Roberts besorgten und schon beinahe verzweifelten Blick. Kein Wort wechselten sie untereinander - sondern eilten zum Auto, blind für alles außer ihrer Angst.
Erst unterwegs, auf der Autobahn, sprach sie: „Linda. Etwas stimmt nicht mit ihr“.
Aus dem Blickwinkel sah sie, wie sich sein Gesicht versteinerte und erbleichte.
Sie rasten auf der A7, um die späte Uhrzeit relativ leer, nass und sich in der Perspektive mit der Dunkelheit der Nacht verschmelzend. Gab es die Straße noch jenseits der Strecke, die von den Lichtern des Autos erfasst wurde? Gab es noch Linda? Gab es eine Zukunft? Oder erwartete die Zu-Spät-Kommenden nur das Ende, nur die Ausweglosigkeit und Enge?
Die Einfahrt zum Haus war nicht beleuchtet, das Haus - nur schwarze Rechtecke der Fenster. Nach dem Abstellen des Motors - Stille. Ferne Stimme eines Käuzchens. Der starke Duft des Jasmins.
Lena traute sich nicht zu läuten. Mama Linda hatte immer fröhlich die Tür aufgerissen und sie begrüßt, egal wie spät es nach einem Konzert wurde.
Robert schließ die Tür auf, und sie traten in die schwarze Diele. Lena blieb stehen, sie wollte kein Licht einschalten, nein, sie konnte es nicht. Sie ging, den Weg ertastend, durch den Gang, machte die Wohnzimmertür auf. Drückte, in einem Akt der Selbstüberwindung, auf den Lichtschalter. Niemand. Schlafzimmer - leer. Mama Lindas Zimmer - leer. Klein-Lindas Zimmer - leer. Klavierzimmer - niemand. Küche - verlassen.
Dann nahm Lena einen leisen Ton wahr, ein Stöhnen oder einen Seufzer, von draußen, von der Terrasse und war schon mit einem Sprung dort. Die Terrassentür stand halb-offen, ein kleiner Kamin verströmte Wärme und ein schwaches bläuliches Licht.
Lena sah ihr Kind auf dem Gartensofa zusammengerollt schlafen und sie sah auch ihre Mutter, die nicht schlief. Sie war dabei aufzustehen, ihre Augen, weit aufgerissen, blickten mit Verwunderung und mit einer Prise Angst in den schwarzen geheimnisvollen Garten. Ihre Hand war in einer Begrüßungsgeste erstarrt, ihr Mund lächelte etwas unsicher und schief. Sie sah wieder wie ein kleines Mädchen aus, das mit Erwartung und mit Hoffnung der Zukunft entgegen blickt.
Lena berührte ihre Schulter, und die Muskelspannung löste sich, Mama Linda sackte ein, fiel hilflos auf den Boden. Robert tastete nach ihrem Puls - vergebens.
„Wir sind zu spät“, sprach er verzweifelt.
Lena umarmte ihre Tochter, drückte sie ganz fest an sich. Tränen überströmten ihr Gesicht und ihre Stimme bebte, doch sie sagte: „Nein, es gibt kein „zu spät" und kein "zu früh“, weil jeder in einer anderen Zeit lebt, einer in einer langsamen und ein anderer in einer schnellen Zeit. Jede Zeit ist richtig und jede darf sein. Aber jetzt - rufe doch den Krankenwagen, Robert! Ganz schnell!“
Tag der Veröffentlichung: 07.05.2013
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