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-20°C



12.04.2424


Wie fühllt es sich an, wenn man weiß - man hat nur eine Woche zu leben? Vielleicht etwas traurig? Dem Schicksal ergeben? Panisch?

Ich bin traurig, aber auch gelassen, nicht weil ich besonders mutig bin, sondern weil eine Woche doch eine lange Zeit ist. Diese Zeit will ich am besten ausnutzen, um einen Ausweg zu finden. Das bin ich meinen Kollegen schuldig, die ich sterben gesehen habe. Das bin ich der geheimnisvollen Macht schuldig, die mich leben ließ, obwohl vermutlich nur für diese eine Woche. Für mehr reicht der Sauerstoff nicht... Jetzt zeigt das allwissende Gerät nur noch 165 Stunden.

Wir flogen unsere Route, die wir schon zig Mal geflogen sind. Ein einfacher Auftrag - einiges an Ausrüstung und Geschenke den Leuten auf der Eve zu bringen, einem Planeten, der gerade erschlossen wird. Ein abgelegener Planet, eine selten befahrene Route, aber keine gefährliche. Dachten wir.

Bis ein Wanderstein in unser Schiff einschlug, und meine besten Freunde, und meinen Geliebten in einem Bruchteil der Sekunde verdampfen ließ. Die Geräte zeigten den Stein zu spät an, auch in meinem Glider erschien plötzlich ein Bild von diesem Weltallmonster auf dem Bildschirm, und ich dachte kurz - meine letzte Stunde schlägt. Aber da hat meine letzte Woche geschlagen, keine Stunde.

Warum war ich, und nicht Steven oder Michael unterwegs um die Außenoberfläche zu inspizieren? Warum habe ich noch einen „Spaziergang“ unternommen, der mich weit genug von dem Raumschiff geführt hat, so dass die Explosion mir nicht geschadet hat? Sag mir doch, Du Verborgener, Den-Niemand-Gesehen-Hat! Hat alles, was geschehen ist, einen Sinn? Einen Zweck?

Unsere ansonsten nüchterne Gesellschaft glaubt an Deine Macht, und wir, stolze Menschen, haben uns längst der Tatsache ergeben, dass es kaum Zufälle gibt und dass alles einen Sinn hat.

Dann - wozu? Warum ich, eine Frau? Wieso hast Du mir eine Woche geschenkt? Worüber soll ich nachdenken? Was soll ich erleben auf meinem Irrflug durchs All in diesem zerbrechlichen Glider, der nur für kurze Ausflüge gedacht ist?

Ich kann niemanden um Hilfe bitten, denn mein Funksignal würde lediglich unser Schiff erreichen - das es nicht mehr gibt. Meine Navigation ist nicht sonderlich gut, aber ich kann schon die nächste Umgebung ertasten - und sehe nur die Leere. Eine Leere voll mit tödlicher Strahlung, mit grausamer Kälte und mit Wandersteinen, die seit Jahrmillionen unterwegs sind - um jemanden zu treffen und zu töten.

Wird jemand mich vermissen? Nein, denn der einzige Mensch, der mich vermissen würde, ist seit gestern tot. Wird unser Schiff vermisst? Selbstverständlich, doch wenn die Rettungsexpedition hier vorbeifliegt, werde ich schätzungsweise bereits seit zwei Monaten als Leiche im ziellos fliegenden Glider sein. Unverwest, für immer konserviert. Davor - elend erstickt.

Soll ich mich umbringen? Den Glider jetzt anhalten, die Lücke öffnen... Nein, ich weiß, Du willst es nicht. Aber bist Du keine Einbildung von unseren Weisen, die Dich als eine Art Garant der Moral und des allgemeinen Friedens über jegliche weltliche Macht gesetzt haben? Wir, die wir in Überfluss leben, haben beschlossen, dass wir Jemanden wie Dich brauchen, damit sich unser Überfluss nicht in Maßlosigkeit und in Gleichgültigkeit entartet. Jetzt habe ich Zeit darüber nachzudenken, noch ganze 159 Stunden.


15.04.2424

Ein Stern, ein Stern, der mir den Weg weist! Besser als ein Stern - ein Planet! Aber kann ich ihn innerhalb von meiner knapp bemessenen Zeit erreichen, denn es sind lediglich 99 Stunden. Nein, das ist ganz viel - das sind fast 100 Stunden Leben! Was sagen mir die klugen Geräte? Sie sind sich nicht sicher, denn auf dem Weg zu meinem leuchtenden Planeten sind Wandersteine zu umfliegen, bzw. auszuweichen. Aber es könnte reichen. Ist das Dein Ziel für mich? Und warum? Was soll ich dort tun?

Meine Geräte meinen, auf dem Planeten könnte ich atmen, ich könnte dort laufen, obwohl es mir schwerer fallen würde als auf der Erde. Aber das ist doch besser als zu sterben! Vielleicht besser. Wenn Michael jetzt bei mir wäre, mit ihm zusammen habe ich mich so sicher gefühlt, so wohl. Und Du? Bist Du hier? Oder bin ich vollkommen einsam, und rede mit mir selbst....

Die Geräte können mir nicht sagen, ob der Planet bewohnt ist, sicher ist, dass unsere Schiffe dort nie gelandet sind und vermutlich auch in der absehbaren Zukunft nicht landen werden. Es sei denn, sie werden mich dort suchen - nein, woher sollen sie wissen, ob ich noch lebe? Geschweige denn, in welche von unzählig möglichen Richtungen ich geflogen bin?

Vielleicht erwarten mich dort irgendwelche Übermenschen, für die ich ein lächerlich primitives Wesen sein werde, ein Tier, das in den Zoo gehört? Oder sind dort noch Dinosaurier unterwegs, seltsame, häßliche Kreaturen, die mir nach dem Leben trachten werden. Nun, dann werde ich eben im Magen eines Raubtiers landen, ein trauriges und sinnloses Ende. Wozu?


17.04.2424

Es sind mir nur 8 Stunden geblieben, und der Planet nimmt mein ganzes Sichtfeld ein, nur mein Glider und der große weiße Planet. Vollkommen weiß, nur Schnee und Eis. Und Luft, und einige Wolken. Sei gegrüßt, mein neues Zuhause, mit wem werde ich dich wohl teilen müssen - und wie lange werde ich in dieser kühlen Heimat überleben? Bremsen, den Slow-Down-Knopf drücken - alles weitere macht die Technik für mich. Wenn sie‘s macht...Denn mein Gefährt ist allein fürs Andocken an unserem Raumschiff entwickelt worden. Nicht für eine Schneelandung.

***

Gelandet. Habe mich zum Glück nicht verletzt, obwohl es eine harte Landung war. Mein Glider ist zu nichts mehr tauglich, nur als eine zerbrechliche Hütte, die mich vor der Kälte nich schützt. Ja, ich kann hier atmen, vielleicht zu viel Sauerstoff, aber es geht. Und - es ist kalt hier. Genau gemessen -20°C. Schnee, so weit das Auge reicht. Nichts als Schnee und Sonne, die keine Sonne ist, sondern ein Stern 12-3-987.

Ich lebe, doch ich weiß immer noch nicht, warum und ich weiß nicht, wie lange noch. Ich gehe auf die Suche nach Jemandem Lebendigen, obwohl Es mich auch auffressen könnte. Ich habe keine Waffen, ich habe nur eine Taschenlampe - obwohl ich hoffe, vor dem Einbruch der Dunkelheit zurückzukommen.

18.04.2424


Übernachtet im Glider, niemanden entdeckt. Meine Essensvorräte gehen zur Neige.

22.04.2424


Ich wage mich auf eine größere Expedition, gehe einfach in Richtung Süden bis ich Jemanden treffe.

02.05.2424


Ich habe sie getroffen. Oder, besser gesagt, sie haben mich gefunden, als ich fast verhungert und erfroren zusammengebrochen bin. Diese entsetzliche Kälte, diese ewigen -20°C. Nur Schnee und Eis, und die Sonne - ich werde sie ab jetzt Sonne nennen, so fühle ich mich hier ein bisschen zu Hause. Meinst Du, das ist mein wahres Ziel, diese Wesen, die wie große Wölfe aussehen, wie große zottelige schwarze und rote Wölfe mit braunen Hundeaugen?

Wozu? Was soll ich hier? Sie brauchen mich nicht, aber ich brauche sie - um in dieser kalten Welt zu überleben.

Als ich aus meinem Delirium erwachte, war ich in einem - relativ - warmen Zelt oder Iglu. Ich lag auf einem Fell - natürlich kein Wolfsfell, sondern von einem anderen Tier, das ich erst später gesehen habe - ein Schaf mit unwahrscheinlich großen Kulleraugen. Warum solche Augen?

Vor mir saß ein Wolf - ich dachte, es sei ein Hund. Bin schwankend aufgestanden und aus dem Zelt gegangen, um nach den Besitzern zu suchen. Weitere Wölfe waren in diesem Zeltlager unterwegs, sie schauten mich alle an, und in ihren Blicken sah ich Mitleid und Ruhe. So können einen nur Geschöpfe ansehen, die mit Intellekt ausgestattet sind. Von wem ausgestattet? Von Dir? Oder gibt es hier, in dieser weiten Welt Dich gar nicht?
 

Aber in dem Augenblick, als die Wölfe, alle gleichzeitig, mich entdeckten und mich mit ihrem Blicken fixierten, verstand ich, dass es keine Herren über diese Rasse gibt. Vielleicht Dich? Aber keine Lebewesen herrschen über die stolzen Keons, diese sind die Herrscher dieser kalten Welt. Woher weiß ich, dass sie Keons heißen? Das weiß ich einfach - oder habe ich diesen Namen selbst erfunden? Aber es scheint mir, ich habe ihn irgendwie gehört.

Und dann sah ich deren Pfoten, die wie meine Hände aussahen, mit den Fingern und mit dem Daumen, und ich setzte mich in den Schnee und lächelte, mein Gesicht der Sonne zugewandt. Warum? Weil von den Tieren - nein, von den Keons - keine Gefahr ausging, sondern Freude und ein bisschen Neugier.

Sie schweigen, bellen nicht, heulen nicht. Jetzt, zwei Tage nach meiner Ankunft in ihrem Lager, oder in ihrer Stadt, vermute ich, dass sie miteinander lautlos kommunizieren. Wie, das weiß ich nicht, aber sie spüren einander aus der Entfernung. Ich will auch mitreden, will erzählen, was mit mir passiert ist. Ich rede auch, sie spitzen ihre Ohren zu, sie sind nicht taub - aber sie schweigen.


25.05.2424


Es ist so kalt, wenn es nur wärmer wäre! Gibt es hier einen Frühling? Ich rede immer noch, mehr zu mir selbst. Ich rede mit Dir, aber Du schweigst. Ich rede mit Michael, doch seine Seele ist nicht da - oder wurde sie auch zerstört? Ich bin einsam hier, unter den Wölfen. Aber ich bewundere ihre Zivilisation, ihre zeltartigen Bauten, ihre Landwirtschaft - denn sie züchten die Schafswesen, deren Augen - jetzt weiß ich das - Sonnenlicht speichern. Tiere, die vom Licht leben, was für seltsame Kreaturen! Keons essen sie nicht roh, sondern kochen es und machen leckere Speisen daraus. Daher habe ich hier zugenommen, ich, die früher auf ihre Figur so geachtet hatte. Aber wen interessiert hier meine Figur!

Interessant, wie der Unterricht in ihren Schulen - und für die kleinen Keons gibt es Schulen, so wie für junge Keons - eine Art Hochschulen - aussieht. Es herrscht Stille, eine angenehme wohltuende Stille, vorne liegt auf dem Podest der Lehrer, die Schüler liegen rund um ihn und starren ihn regelrecht an. Mal macht der erwachsene Wolf eine Bewegung mit der Rute, mal nickt er mit dem Kopf, und ein Schüler springt auf, rennt aus dem Raum um etwas zu holen. Das ist ein stummes Gespräch - und ich kann nicht teilnehmen. Ich höre nur die Stille.

Keons haben keine Geräte, keine Fahrzeuge, keine Fabriken. Und trotzdem sind sie nicht primitiv, denn ich spüre, dass ihr Geist stark ist, dass sie etwas sehr Komplexes wissen und einander mitteilen können. Vielleicht brauchen sie die ganze Technik nicht? Vielleicht wollen sie nicht unbedingt ihren Planeten umrunden oder ins Weltall aufbrechen? Wir Menschen sind anders - darum bin ich hier. Ich frage Dich nicht mehr - warum ich hier bin, obwohl ich es immer noch nicht weiß. Aber ich habe mich damit versöhnt, dass ich dort bin, wo ich bin. Ich sage mir - das hat einen Sinn. Ich frage nicht - welchen. Ich glaube einfach, dass es diesen Sinn gibt.

30.06.2424


Vermutlich gibt es hier keine Jahreszeiten, denn es ist jeden Tag das Gleiche: -20°C . Keine Wärme. Ich habe ihn gefragt: Weißt du, was Frühling ist? Er lächelte nur zurück. Ach so, wer ist dieser ER? Ein junger Keon, schwarz wie die Nacht, groß wie ein Pony, sein Fell ist lange und glänzt in der Sonne, seine Augen sind hell-blau, das ist selten hier. Er begleitet mich oft auf meinen Gängen durch die Stadt, vielleicht wurde er von den Ältesten dazu beauftragt. Ich habe viel Zeit, ich schlage sie tot, denn ich habe keine Aufgabe hier. Ich bekomme meine Mahlzeiten, mir wurde sogar ein Zelt geschenkt - aber ich fühle mich nutzlos.

Und freue mich über seine schweigsame Gesellschaft. Ich habe versucht, ihn zu streicheln, wie man einen Hund streichelt. Er wich zuerst kurz zurück, aber dann verstand er, wie ich es meine, und drückte seinen großen warmen Kopf an meine Brust. Seine Bewegung war unerwartet, und seine Berührung hatte etwas Erotisches, sehr Aufregendes. Nein, ich bin verrückt...

Aber nicht das beschäftigt mich jetzt, sondern dass ich endlich einen Weg zur Kommunikation mit den Keons gefunden habe. Wenn ich einen Wolfskopf mit meinem Gesicht berühte und mich nicht bewege, wenn ich sogar den Atem anhalte - dann höre ich sie und kann mit ihnen reden! Das ist so faszinierend!

Sie müssen sich nicht berühren um miteinander zu kommunizieren, sie hören auch Keons, wie auf dem anderen Ende des großen Planeten leben. Und es gibt in ihrer Welt nur sie selbst - und ein Paar andere Tiere, von denen die Keons einige züchten und essen und andere einfach leben lassen. Und es gibt noch „atmende Felder“, wo ein Gestein aus dem Licht Luft herstellt. Mehr gibt es nicht. Aber es ist genug.

Ich fragte ihn, ob es hier warm wird. Er wusste zunächst nicht, was ich meine. So warm, wie in den Zelten? Nein, das kennt er nicht - es immer -20°C. Kein Frühling, kein Sommer.

Frühling - wenn alles blüht und duftet, wenn man verliebt ist und Hand in Hand am Strand entlang läuft.

Nein, hier kommt kein Frühling, hier gibt es keinen Strand und nicht einmal Pflanzen. Und wessen Hand kann ich hier halten?

29.08.2424


Händchen halten? Das machen wir nicht - aber wir sind verliebt... Du lachst wohl jetzt, Du ewiges Wesen? Dann lache doch, lache mich aus, halte mich für verrückt, für krank. Aber wer hat mich leben lassen und mich hierher geschickt? Wenn nicht Du - wer dann?

Leron und ich sind unzertrennlich. Wir sind immer im Gespräch, wir können uns so viel mitteilen, er hört gerne zu, er lernt begierig. Denn er ist - ein junger Gelehrter, ein Fachmann? Fachwolf? - in der Erkundung neuer Sprachen. Es gibt viele Sprachen von verschiedenen Keon-Stämmen. Leron meint - Tausende. Auch meine Sprache versteht er jetzt, und mehr noch - er hat versucht, einige Vokabeln auszusprechen. Eines der ersten, das ihm gelungen ist, war „Spring“ - „Frühling“. Sein „R“ klingt wie Knurren, etwas gefährlich und doch so süß.

Andere Keons schmunzeln, wenn sie uns zusammen sehen, manche wenden sich gleichgültig ab - sie sind hier alle sehr unabhängig und gehen gerne auf freundliche Distanz zueinander.

Ich streichele seinen breiten Kopf und seinen Hals, ich kraule sein Fell, ich atme seinen nicht-tierischen und nicht-menschlichen Geruch ein und schlafe an seiner Seite ein und wache, wenn seine schwarze Zunge mein Gesicht berührt.

Ich bin in ein Tier verliebt, wolltest Du das? Vielleicht schon, vielleicht wolltest Du genau das... Und wer ist hier, der mich verurteilt und mich straft? Und wer behauptet, dass Leron ein Tier ist? Er ist das, was in unserer Welt ein Mensch ist. Ein intelligentes Wesen, ein Wesen, das eine Kultur, ja eine Zivilisation hervorgebracht hat. Aber warum muss ich mich rechtfertigen? Ich bin frei so zu leben, wie ich es für richtig halte, und ich will - LEBEN. Nicht verkümmern hier, in dieser kalten Welt, sondern mich entfalten, meine Gefühle zeigen, meine Frühlingsgefühle bei -20°C.


19.11.2424


Wir haben es geschafft. Wir sind zu meinem Glider gelaufen, Leron hat ihn gefunden. Dort haben wir alles durchsucht nach Nützlichem, aus meiner und aus seiner Sicht. Leron interessierte sich für unser Gerät, das so viele Informationen enthält - mehr als sein Gehirn! - meinte er verwundert. Ich habe meine Erinnerung an Michael geholt, eine kleine Schale mit der - natürlich längst verwelkten - Rose. Warum habe ich damals diese Pflanze auf meinen Flug, der nur wenige Stunden dauern sollte, mitgenommen? Auf das Cockpit gestellt, zwischen mir und dem Weltall platziert - vielleicht als Schutz, als einen Talisman?

Zurück in unserem Zelt, haben die arme Rose gepflegt, mit lauwarmem Wasser gegossen, mit unserem Atem aufgewärmt. Und weißt Du, was passiert ist? Die Rose lebt. Sie hat einen winzigen Trieb, einen ganz zarten, entfaltet. Vielleicht blüht sich einmal? Die einzige Pflanze in der kalten Welt, in der für mich Frühling angekommen ist, auch wenn es draußen immer noch -20°C bleibt.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 12.04.2013

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