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„Siehst du dieses Haus?“, fragte sie mich. Es war windig, es war laut, und ich habe ihre Frage nicht gehört.
„Siehst du er?“, und ihre langen Haaren - damals waren sie lang und schwarz - berührten mein Gesicht. Mein kleines Gesicht, mein naives Gesicht. „Dummes Kindergesicht“, sagte sie dazu. Sie hatte wie immer recht.

Sie flüsterte mir zu: „In diesem Torhaus lebt eine Hexe. Die frisst gerne Kinder“. Ich weinte, denn ich habe es verstanden, obwohl ich erst zwei war. War ich denn damals zwei? Oder zweieinhalb? Das weiß ich nicht, ich weiß auch nicht, wohin wir unterwegs waren. Das Haus habe ich seither lange nicht gesehen, das bedeutete, es lag vermutlich abseits von unseren gewöhnlichen Routen. Diese waren: Morgens in die Krippe, nachmittags - zurück. Später: Morgens in den Kindergarten, abends - zurück. Sonst war in unserem Leben nichts außer einen kleinen Haus mit einem kleinen Garten, einem wirklich sehr kleinen Garten mit einem Kaninchenkäfig und einem mächtigen Walnussbaum, der fast den ganzen Garten für sich einnahm. Dort in den Zweigen, die dick und knorrig waren und so einladend und ruhig, konnte ich mich verstecken. Vor ihrem Zorn. Doch das kam später, damals wusste ich nicht, was Zorn ist und konnte mich auch nicht davor verstecken. Konnte mich nicht wehren, also war ich ausgeliefert.

„Eine Hexe lächelt und winkt dem Kind aus dem Fenster - siehst du das Fenster?“ Sie hob meinen Kopf mit ihrer Hand, unsanft, ruckartig. „Da, aus diesem Fenster oben. Wenn das Kind an das Tor klopft, dann macht sie auf, sie streichelt es zuerst über den Kopf, dann nimmt sie es an die Hand und führt hinein.“

Meine Mutter machte eine Pause. Vielleicht überlegte sie sich die Fortsetzung der Geschichte. Vielleicht suchte sie nach passenden Ausdrücken, sie redete ja nie besonders schnell, sondern eher mit Bedacht. Redete, als ob sie schrieb. Sie schrieb ja immer etwas. Doch was?

„Also nimmt sie das Kind und führt durch die dunklen Gänge, durch verstaubte Zimmer“...
„Verstaubte Zimmer“... Ich sah sie vor mir, diese dunklen Gänge, die alten Holzbalken des vom Käfer durchlöcherten Fachwerks, die schwarzen Dielen, Spinnweben, die mein Gesicht berühren. Zwischen den Dielen schimmerte fahles Licht. Wieso stellte ich mir das vor? Warum gerade so und nicht anders?
Dann - die Zimmer, eine endlose Reihe von leeren Räumen, obwohl - nein. Die Räume, die ich mir vorstellte, waren nie vollkommen leer. In einem stand ein Stuhl mit gebrochener Rückenlehne, in einem anderen - ein Sofa, dessen Polsterung aufgerissen wurde, so dass die unschönen Innereien zu sehen waren. Dort, in den hässlichen Fetzen, krabbelte und ringelte sich etwas. An dieser Stelle versuchte ich immer, die Vision abzubrechen, aus ihr auszusteigen. Aber gelang mir nie. Ich wurde weiter gezerrt durch dieses Haus. Dorthin, zu der Treppe.

„Dann führt die Hexe das Kind zu der alten Treppe, und dort, gerade dort, versteht das Kind, dass sein Leben zu Ende geht. Denn oben wird das...“
„Nein, Mama, bitte rede nicht weiter! Bitte!“ Ich hielt mir die Ohren zu, ich drückte meine Handflächen so fest an die Ohren, dass sie schmerzten, dass mein Kopf schien zusammen zu krachen. Ich dachte damals, ich werde meinen Schädel zerdrücken, und dann fließt mein Gehirn heraus. Diese Vision war so schrecklich, so real, dass ich mit dem Kopf schütteln musste. Ihre Worte drangen zu mir hinein: „Blut aus dem Herzen getrunken, direkt aus dem unschuldigen Kinderherzen“.

Ich schrie und wollte weglaufen, sie lachte ausgelassen, aber nicht fröhlich. Weglaufen? Wohin denn?

Das Haus meiner Alpträume, das Torhaus am Waldrand. Der Wind sauste und pfiff, ein Ast krachte ab und fiel direkt vor meinen Füßen. Sie riss mich zurück, sie umarmte mich, sie streichelte meinen Kopf und nahm mich an die Hand. Ich dachte, es sei die Liebe, die Mutterliebe. Vielleicht hat sich mich doch geliebt, mindestens ein bisschen? Ein Funken Liebe angesichts der Gefahr. So glaubte ich es und freute mich, und schmiegte mich an sie.

***
Wind. An windige Tage erinnere ich mich besonders gut, sie prägen sich ein, sie sind etwas Besonderes. Sie kochte, an Wochenenden kochte sie immer etwas für uns beide. Wie alt war ich? Ich glaube, sechs. Oder sieben. Draußen tobte ein Sturm und Regentropfen trommelten auf das Blechdach des alten Schuppens. Es war Mai, und der Walnussbaum blühte und hängte seine kleinen Kätzchen heraus. Jetzt war er hinter der Regenwand fast unsichtbar.

Was kochte sie? Nichts Kompliziertes, vielleicht Nudeln. Ich liebte Nudeln, doch diese waren nicht gar. Al dente, würde man heute sagen. Ich wollte sie nicht essen und schob den Teller von mir weg.
Sie schlug mich ins Gesicht, der Schlag traf mich mit voller Wucht, meine Unterlippe platze, sie wurde sofort dick und pulsierte und zuckte unangenehm.
„Was erlaubst du dir, Kind!“, ihr Gesicht lief rot an, ihre Augen wurden dunkel. Eine Haarsträhne fiel ihr ins Gesicht, und sie riss mit solcher Kraft daran, dass einige Haare in ihrer Hand blieben. Sie starrte die schwarzen Fäden an und warf sie entsetzt weg.
„Was soll das! Du wirst sofort essen! Sofort!“ Ihr Gesicht war jetzt ganz nahe, sie flüsterte bedrohlich. Ein unangenehmer Geruch kam aus ihrem Mund, ich wusste zu der Zeit nicht, was es war, aber instinktiv bewegte ich mich weg von ihr. Meine Augen füllten sich mit Tränen, die Lippen bebten.
„Darf ich in mein Zimmer gehen, Mama?“, fragte ich leise.
„Nein! Nicht bevor du alles aufgegessen hast! Hier, dein Teller“, und sie knallte den Teller direkt vor mir. Ich zuckte zusammen, unwillkürlich.
„Nicht zucken, essen, sofort! Sonst...“ Sie erhob wieder ihre Hand um zu zuschlagen, doch ich entwich, ich rutschte von meinem Stuhl herunter, ich flitzte zur Terrassentür und schon war ich im Garten, im Regen. Ich rannte zu dem Baum und kletterte hoch, ich wusste nicht, dass ich klettern kann. Aber ich konnte es. Der Regen wurde stärker, er durchnässte mich sofort, die leichten Kleider klebten an meinem Körper und fühlten sich schwer an. Ich war recht hoch geklettert, vielleicht fünf Meter hoch, und starrte ängstlich herunter. Sie stand unter dem Baum, hämmerte mit der Faust gegen den Stamm und schrie, ich solle sofort herunter kommen.

Ich kann mich erinnern, wie erleichtert ich gewesen war, als ih verstanden habe, dass sie nicht den Baum erklimmen kann. Das bedeutete - ich war in Sicherheit.
Sie stand unten und bald hörte sie auf zu hämmern, bald lehnte sie sich mit dem Kopf an den dicken Stamm des alten Baumes und ich sah, dass sie weinte. Ihre Schultern zuckten, ihr ganzer Leib zitterte. Dann sprach sie ohne den Kopf zu heben, aber für mich hörbar. „Komm herunter, bitte! Ich tue dir nichts. Nie wieder!“
„Versprochen?“, fragte ich.
„Mein Ehrenwort“, antwortete sie.
Ich stieg vorsichtig herunter, es war schwieriger als ich zuerst gedacht hatte. Vom unteren Ast sprang ich direkt in ihre Arme, und sie hielt mich fest umarmt und weinte weiter.

An diesem Abend redete sie zum ersten Mal von meinem Vater, aber nichts Tröstliches durfte ich erfahren. Mein Vater hatte sie verlassen, als es vom Baby erfahren hatte. Wer war er? „Ein Niemand“, sagte sie. „Ein ganz junger Mann, noch jünger als ich“, fügte sie hinzu.
„Und wie hieß er?“
„Egal“, meinte sie. Mehr durfte ich von diesem Menschen nicht erfahren.

Nach diesem Vorfall kamen friedliche Zeiten und wir wurden beste Freunde, meine Mutter und ich. Aber das Glück dauerte nicht lange, und schon bald passierte es wieder.
Sie erzählte mir eine Gute-Nacht-Geschichte. Aber was für eine! Eine furchtbare Horrorgeschichte mit Monstern und Spinnen. Zuerst hörte ich fasziniert zu, doch schon bald wurde es mir unheimlich und ich bat sie aufzuhören.
„Wieso gibst du mir hier Befehle? Wer bist du denn?“ Ihre Stimme wurde heiser, ein schlechtes Zeichen, das wusste ich schon. „Du hörst gefälligst weiter!“
Ich lag in meinem Bett, ich war müde, aber ich durfte nicht einschlafen. Ich wollte vor dem Schlaf noch etwas mit meinem kleinen Drachen spielen, doch sie nahm mir die Figur weg.
„Höre zu!“ Sie wurde ungehalten.

Ich hörte zu, ich hatte Angst, dass sie mich schlägt und zitterte. Versuchte mein Zittern zu verbergen, ihr wütender Blick traf mich schlimmer als ein Schlag.
„In einer Welt, in der alles giftig-grün ist, leben zwei grüne Monster, die gegeneinander Krieg führen, die Monster haben nur ein Auge, das sitzt mitten auf ihrer Stirn und ist rot, sie reiten auf grünen Spinnen, und...“
„Aber man sieht sie dann nicht, denn alles ist ja nur grün“, versuchte ich am Gespräch teilzunehmen, ich hoffte, ich sage nichts Falsches.
„Mist, natürlich sieht man sie, die Spinnen sind ja dunkel-grün, und die Monster - hell-grün, und die Welt selbst ist eigentlich nicht grün, sondern grau“, ihre Stimme wurde schrill.
Ich schwieg lieber, und doch war das falsch. Ganz falsch.
„Du liebst mich nicht“, schrie sie, „Du quälst mich immer mit dummen Fragen, du unmögliches Kind, wie ich dich hasse, am liebsten wärest du gar nicht geboren, du...“, sie rannte aus meinem Zimmer, knallte die Tür hinter sich, meinen Lieblingsdrachen nahm sie mit. Ich sah ihn nie wieder, ich habe gesucht, im Haus, im Garten. Ich habe mich nicht getraut, sie zu fragen.

***
„Am liebsten wärest du nicht geboren“, diese Worte brannten sich in mein Gehirn hinein, sie sind immer noch da. Ich verstand damals nicht, wie Kinder auf die Welt kommen und was man tun kann, damit sie nicht kommen. Aber es war irgendwie schrecklich, mir vorzustellen, dass es mich nicht gibt, und dass es mich nie gab. Eine Welt ohne mich. Und wo bin ich dann? Tot?
Ich wollte so gerne mit jemandem reden, klagen, mitteilen, einfach erzählen. Doch es gab niemanden. Meine Großmutter befand sich schon damals im Pflegeheim, wir besuchten sie nur ein einziges Mal. Ich fürchtete mich vor der Dame mit wirrem und bösem Blick, die meinen Namen nicht kannte und die während des Gesprächs nur direkt vor sich schaute und die Lippen zusammenpresste als Zeichen, dass ihr alles hier sehr missfällt.

***
Seit diesem Vorfall nannte ich meine Mutter in meinen Selbstgesprächen nur „sie“. Ja, ich führte lange Selbstgespräche, wenn ich in der Baumkrone still und für sie unbemerkt saß und sie ausspähte. Was machte sie, wenn sie dachte, ich bin nicht da oder wenn sie einfach meine Existenz vergaß? Sie schrieb, sie schrieb wie besessen. Immer mit einem altmodischen Federhalter in dicken Heften mit Karo-Blättern. Sie rauchte und schrieb, manchmal, aber selten, riss sie ein Blatt heraus und zerknüllte es blitzschnell und warf es in den Papierkorb.
Eins von diesen Blättern holte ich unbemerkt heraus. Ich habe gehofft, eine interessante Geschichte zu entdecken, vielleicht habe ich auch gehofft, sie mehr zu verstehen. Auf dem Blatt war etwas von grünen Monstern zu lesen, kurze Sätze. Manchmal nur einzelne Wörter. „Monster. Kampf, Krieg. Spinnen haben acht Beine und wenn ein Bein abgeschossen wird, dann fließt schwarzes Blut heraus. Strömt...“

An dieser Stelle zerknüllte ich das Papier wieder und warf es weg. Mir wurde übel.
Sie war immer besorgt, wenn ich krank wurde. Und doch auch in diesen Zeiten blieb sie distanziert, als ob zwischen uns eine Glaswand aufgerichtet wurde. Man sieht einander, kann aber einander nicht berühren, weder mit der Hand noch mit dem Herzen. Zwei Fremde. Warum? Je älter ich wurde, desto öfter fragte ich es mich. Warum liebt sich mich nicht? Warum ist es so und nicht anders? Doch wer kann schon eine solche Frage beantworten! Es ist eben so, wie es ist. Wer trägt die Schuld? Sie? Oder ist es weniger die Schuld, sondern mehr ihr Schicksal, ihre Natur, ihre Ausweglosigkeit.

Schon damals arbeitete sie nicht mehr, ich weiß noch, wie sie heulte, wie sie einen Teller auf den Boden warf in ihrer hilflosen Wut, als ihr gekündigt wurde. Der Teller zerbarst, sie nahm eine Scherbe in die Hand, schaute mich an. Für einen Augenblick stellte ich mir vor, sie geht mit der Scherbe auf mich los, doch sie drückte die Scherbe so fest in der Faust, dass ihre Hand blutig rot wurde. Dann warf sie die Scherbe in den Müll und befahl mir, den Boden zu kehren.
Sie blieb immer daheim. Meistens etwas geistesabwesend, gleichgültig. Rauchte auf der Terrasse, schrieb ihre Geschichten. Wenn ich zur Schule ging, schlief sie noch. Ich machte mir ein Frühstück, wenn etwas im Kühlschrank zu finden war. Wenn nicht, suchte ich ihren Geldbeutel und ihre Taschen ab, fand ein Paar Mark und war froh. Sie kochte weniger, sie hörte auf einzukaufen. Nun, ich war schon fast 13 und konnte es selbst tun. Sie schwieg, rauchte und schrieb. Sie besaß keine Schreibmaschine, keinen PC. Warum? Nicht weil das Geld fehlte. Nach dem Tod ihrer Mutter erbte sie eine runde Summe und schlug mir vor, dass wir gemeinsam eine Kreuzfahrt machen. Mutter und Sohn. Ich weigerte mich, ich wollte nicht mit ihr reisen, ich hatte Angst vor ihr.

Da schlug sie mich, zum ersten Mal seit zwei Jahren. Sie suchte nicht die Stelle aus, wohin sie zuschlagen wollte, sie traf mich am Rücken mit ihrer Faust. Es tat sehr weh, denn meine Sportverletzung war noch nicht verheilt. Nun, was wusste sie schon von meinen Sportverletzungen und überhaupt davon, dass ich jeden Freitag zum Judo-Training gehe?
Ich hielt schweigend ihren Arm fest, ganz fest, so dass sie sich nicht rühren konnte. Mir flogen hässliche Worte ins Gesicht und eine Spuke hinter her.
„Rühre mich nie an!“, sagte ich und ließ sie los. Dann weinte sie los, und ich hätte am liebsten auch geweint, und ich wollte so gerne, dass das Geschehene nicht geschehen wäre. Ich hätte gerne ein anderes Leben und eine andere Mutter. Aber es gab nur sie...

Sie war nicht geizig, nein. Ich hatte Zugang zu ihrem Konto, sie kontrollierte nie die Ausgaben. Ich hatte schicke Klamotten und einen Computer. Und ich hatte viele Freunde - und eine Leere im Herzen. Ein schwarzes Loch, einen Ort, an dem etwas sein sollte, das nicht mehr da war. Unwiderruflich verloren, amputiert, ohne Narkose beim lebendigen Leib abgeschnitten.

***
Es war wieder windig. Ein stürmischer Tag im Februar mit bleiern-grauen Wolken, die am Horizont zogen, die lauerten und bereit waren anzugreifen. In einem Monat sollte mein 14. Geburtstag sein, ich wollte Freunde einladen.
„Darf ich?“, ich war sicher, dass sie wie immer stumm nickt.
„Nein!“, kam prompt die Antwort. „Nur über meine Leiche!“
„Warum?“, wunderte ich mich.
„Weil ich meine Ruhe in diesem Haus haben möchte, ich will nicht, dass hier deine sogenannten Freunde rumhängen, ich will es nicht, feiert woanders, hier - nie!“
„Das ist mein Geburtstag, und ich darf ihn feiern wie ich es will!“
„Nein, erst wenn du volljährig bist, dann gerne, dann feiere doch was du willst und wo du willst und mit wem du willst!“
„Wir werden aber in meinem Zimmer bleiben, versprochen“, ich wollte keinen Streit, aber ich hätte mich auch nicht getraut, unerlaubt meine Kumpel mit nach Hause zu bringen.
„Das ist mein Haus! Meins, verstehst du? Ich habe Jahre geschuftet um die verdammten Raten abzuzahlen, meine Mutter gab mit keinen Pfennig, ich musste alles allein tun. Und dein verfluchter Vater hat mich geschwängert und ist abgehauen! Und jetzt bist du da und gibst mir keine Ruhe. 14 Jahre ist er alt - 14!!! - das heißt, seit 14 Jahren störst du mich, quälst du mich Tag für Tag, Stunde für Stunde! Ich wollte kein Kind, warum habe ich denn nicht abgetrieben, was für eine blöde Kuh ich doch war! Ich will meine Ruhe haben, ich will schreiben, ich will dich hier nicht sehen!“, so viele Worte auf einmal habe ich selten von ihr gehört. Jedes Wort wie ein Peitschenhieb.

„Ich lade trotzdem meine Freunde ein“, sagte ich stur und wollte gehen, doch da rastete sie aus.
„Das machst du nicht, das tust mir nicht an, ich verbiete es dir!“, sie schrie so laut, dass ich dachte, Nachbarn werden gleich kommen oder die Polizei rufen.
„Ich tue ich trotzdem!“, ich wurde auch lauter, und dann sagte ich es: „Du warst immer eine schlechte Mutter für mich, die schlimmste, die es gibt!“
Ich sprach diese Worte aus und bekam selbst Angst davor, was ich redete. Sie aber blieb abrupt stehen, und einige Sekunden schauten wir einander in die Augen. Plötzlich ging sie auf mich los, und in ihrer Hand war ein großes Fleischmesser, sie griff wohl nach der ersten Waffe, die zur Hand war. Sie war schnell, doch ich war noch schneller. Sie war stark, aber ich war stärker. Warum habe ich nicht gleich die Flucht ergriffen? Wenn ich jetzt darüber nachdenke - vielleicht, weil ich aus meinem Zuhause nicht fliehen wollte. Vielleicht aber geschah alles einfach zu schnell. Schnell... Dieses Wort dreht sich in meinem Verstand, schnell war das: Ich versuchte mich zu wehren, ich verwendeten einen neuen Griff, den ich beim Judo gelernt habe und knickte ihren Arm nach hinten ein, das Messer fiel ihr aus der Hand, und sie selbst wurde unangenehm weich, erschlaffte, sie fühlte sich so an, als ob sie keine Muskeln mehr hatte. Sie glitt aus meinen Armen, sie sank zu Boden und blieb dort regungslos liegen. Ihre Augen waren offen und glanzlos. Eine Haarsträhne lag schräg über ihren Mund und bewegte sich nicht. Nicht ein bisschen.

Ich machte einige Schritte zurück, stieß mich mit dem Rücken an der Türklinke, kippte beinahe nach hinten um, hielt mich an dem Griff fest. Von meiner Position sah ich sie nicht mehr. Und das entschied alles - ich rannte davon. Rannte so schnell wie mich meine Beine trugen! Rannte ohne die Richtung auszuwählen, ohne zu wissen, wohin ich laufe. Lange, ich lief sehr lange, so lange, bis ich erschöpft zusammenbrach. Bis ich fast bewusstlos auf den Boden sank, auf die vermoosten Pflastersteine. Ich atmete schwer, meine Lungen brannten, und mir wurde alles egal. Die Gegenwart, die Zukunft, ich selbst. Ich wollte nicht mehr sein, ich wollte einfach einschlafen, hier auf diesen so weichen Steinen. Nicht mehr aufwachen, nichts mehr wissen, nur ruhen und alles vergessen. Ich legte mich nieder und schloss meine Augen, und eine angenehme Wärme breitete sich in meinem Körper aus. Ich war dabei, einzuschlafen, doch etwas hinderte mich daran, etwas riss mich immer wieder aus meiner Ruhe. Irgendein Geräusch war das, ein aufdringliches hartnäckiges Geräusch. Wo kam es her, wie konnte ich es zum Verstummen bringen?

Ich setzte mich, schaute mich um. Da war das doch, gerade vor mir - dieses Haus aus meiner Kindheit. Das Hexenhaus mit dem Tor, das Haus, in dem Kinderblut getrunken wurde. Wie war ich hierher gekommen? Auf welchen Wegen? Ich kannte meine Stadt doch in und auswendig, und nie bin ich seit damals hier vorbeigekommen. Nicht einmal aus der Ferne habe ich dieses Haus erblickt. Wo war ich?
Das Geräusch kam von diesem Haus, das war ein Klopfen, jemand klopfte an die Fensterscheibe. Klopfte und wollte nicht aufhören damit. Ich stand auf, meine Beine fühlten sich schwer, doch sie trugen mich diese zehn Schritte, die mich von dem Haus trennten. Ich versuchte zu erkennen, wer dort klopft, doch ich sah kein Gesicht, keine Hand. Nur blinde verdreckte Fenster, hinter denen konnte alle Mögliche lauern, Monster, Hexen, Spinnen - oder nur staubige Leere. Mir war es gleichgültig.

Und da, als ich ganz nahe am Tor stehen blieb, ging es mit einem Ruck auf, und eine ältere Dame trat auf die Straße. Eine ganz gewöhnliche alte Frau, nein, doch nicht ganz gewöhnlich. Natürlich war sie ungewöhnlich. Ihr Gesicht war hell, wie von innen erleuchtet. Ihre Augen, umgeben von winzigen Falten, strahlten mich an. Blonde Locken fielen bis zu den Schultern. Angezogen war sie aus meiner Sicht etwas seltsam, sie hatte ein breites helles Kleid an, etwas unpassend zu dem kalten windigen Tag.
„Schön, dass du kommst“, sagte sie, und ihre Stimme klang melodisch und wohltuend. „Schon lange habe ich auf dich gewartet“, und sie nahm mich plötzlich an die Hand. Als ob ich ein Kleinkind war. Und ihre Hand fühlte sich angenehm an, fest und sicher und mir trotzdem meine Freiheit lassend. „Komm mit!“, sie führte mit der anderen Hand über meine Haare, und ich fühlte mich gleich frischer, als ob ich lange geschlafen hatte.
Wir gingen in das Haus, und plötzlich erinnerte ich mich an meine Kindheitsvisionen, an das schwarze Gebälk und an die Möbelstücke, die von den Motten zerfressen und von Spinnweben bedeckt waren. Aber innen sah das Haus ganz anders aus, gemütlich und irgendwie altertümlich eingerichtet. Und sehr sauber, nicht einmal ein Stäubchen. Sogar die Fenster schienen gerade geputzt zu sein. Ich wunderte mich darüber, wie es denn ging: Von außen sahen die Fensterscheiben so aus, als ob sie Jahrzehnte lang kein Putzlappen angerührt hatte.

Und schon standen wir unterhalb dieser Treppe, dieser steilen, unheimlich steilen Treppe, die mich in meinen Alpträumen verfolgte.
Meine Begleiterin ging entschieden vor mir hoch, ihr Kleid bauschte sich im Wind, den ich nicht spürte. Und ich war mir plötzlich sicher, dass es kein kalter böser Wind war, sondern eine warme Brise. Ich setzte meinen Fuß auf die unterste Stufe, und schon umfing sie mich auch, diese Wärme, die Leichtigkeit, der Frieden. Und je höher wir stiegen, desto wärmer und heller wurde es, und ich vergaß meine Alpträume, ich dachte nicht mehr daran, was geschehen war, ich freute mich nur darauf, was kommt.

Wir kamen oben an, und ich war überrascht von der Größe dieses Raumes, wie konnte sich in dem kleinen Torhaus solch ein riesiger Saal verbergen? Mein Verstand verweigerte mir seinen Dienst.

„Komm, setze dich, ich hoffe, du hast schon verstanden, dass ich kein Vampir bin“, die Dame lächelte mich an. Ich ließ mich auf einen Sessel nieder, der wie ein prunkhafter Thron aussah, und betrachtete verwundert die Halle: der Boden war mit kostbaren Teppichen ausgelegt, an den Wänden hingen Gobelins, große Vasen standen in den Nischen. Von der atemberaubend hohen Decke hing ein gigantischer Kronleuchter herunter, mit Kristallen geschmückt, und pendelte langsam. Wieso bewegte er sich?
Dann spürte ich es auch wieder - die Luftbewegung, den schwachen Wind, der sich mal kalt, mal warm fühlte. Und ich sah: drei Fenster an einer Seite des Raumes, und drei - an der anderen Seite. Hinter den Fenstern an der linken Seite herrschte Sommer, die Sträucher standen in voller Blüte, Vögel hüpften von einem Zweig auf den anderen. Die Sonne schien, und der Himmel war wolkenlos. Hinter den Fenstern an der anderen Seite aber war immer noch der windige Tag, kahle Bäume, Wolkenfetzen, die über den Himmel flogen, Kälte und Unruhe.

„Weißt du, warum du hier bist?“, fragte die Dame.
Ich schüttelte den Kopf. Dann sagte ich doch: „Weil es mir schlecht geht?“
Sie nickte und sprach: „Ich kenne dich schon lange, ich weiß um dein Leid. Ich weiß, was geschehen ist. Und ich will dir helfen.“
„Wie?“
„Du kannst dich jetzt entscheiden, wo du leben willst - dort“, und sie zeigte zu den sonnigen Fenstern. „Oder dort“, und sie machte eine Bewegung in Richtung anderer Fenster. „Doch bevor du dich entscheidest, sage ich dir noch etwas. Dort, wo die Sonne scheint, ist Frieden, Geborgenheit und Zufriedenheit. Dort bist du vor allen Gefahren sicher. Doch dort steht die Zeit still. Dort ändert sich nichts, es ereignet sich nichts, und es bleibt immer alles so, wie du es am ersten Tag vorfindest. Daher bist du dort so sicher. Da aber, wo der Wind weht, erwarten dich Sorgen und Schutzlosigkeit und Ängste. Aber auch Hoffnung wartet auf dich dort, Hoffnung, dass alles besser wird, Hoffnung auf einen Neuanfang, auf das Glück, auf Frieden, Hoffnung auf alles, worauf du hoffen möchtest. Dort ist alles möglich, doch nichts ist sicher. Was wählst du - eine nie untergehende Sonne oder die Hoffnung auf einen Sonnenaufgang?“

Ich starrte wie gebannt zu den hellen Fenstern, dorthin strebte meine Seele. Ich blickte zurück zu den windigen Fenstern - dort war alles, was ich hinter mir lassen wollte, das Leid, die Wut, der Tod. Und doch - dort war dieser Wind, Bewegung, Veränderung. Nun, dort gab es Hoffnung. Eine vage Hoffnung, eine noch unbestimmte Hoffnung. Wie eine Knospe, die noch im Verborgenen reift und eine wunderbare Blüte werden kann. Oder nur ein Blatt, doch ist es so wenig?
Ich stand auf, und die Dame - auch.
„Du hast dich entschieden, und deine Entscheidung ist richtig. Denn es gibt keine falsche Entscheidung, wenn du dich freiwillig und nicht unüberlegt entscheidest. Lasst uns gehen, wir haben zu tun!“, sagte sich entschieden und nahm mich wieder an die Hand.

Die Treppe herunter, durch verwinkelte Gänge hindurch zum Tor. Als sie das Tor aufmachte, überraschte mich die Sonne, eine unerwartet warme Frühlingssonne. Der Wind hatte sich fast gelegt, und es wäre ein ganz friedliches Bild, wenn nicht ein Krankenwagen und ein Polizeiauto, die direkt vor uns standen. Und wir befanden uns vor meinem Haus.
Konnte das Torhaus fliegen? Oder habe ich nicht bemerkt, wie wir durch alle die Straßen und Gassen und Unterführungen gegangen sind, durch die ich vorhin atemlos gerannt bin? Aber ich hatte keine Zeit daran zu denken, denn eine Nachbarin eilte mir entgegen, und eine Polizistin mit ihr.

„Armer Junge“, heulte die Nachbarin los, und die Polizistin nahm mich in den Arm.
„Du musst tapfer sein, denn deine Mutter lebt nicht mehr. Sie ist an einem Herzinfarkt gestorben, doch wir müssen noch klären, was zuvor geschehen war. Es gab offensichtlich einen Kampf“.
Ich erzählte ihr alles, und sie hörte aufmerksam zu. Nein, ich habe meine Mutter nicht getötet, ihr Herz war schon lange nicht in Ordnung, nur ich wusste es nicht. Den Beamten war auch klar, welche Szene sich da abgespielt hat, und sie hatten Mitleid mit mir.
„Hast du Verwandte, jemanden, bei dem du unterkommen kannst?“, fragte mich die Polizistin. Ich wollte gerade antworten, dass ich niemanden habe, als sich die helle Dame aus dem Torhaus plötzlich meldete: „Ja, er ist nicht allein, ich bin seine Tante und habe gerade von dem Unglück erfahren und bin sofort hierher geeilt! Mein Beileid, Sören“, sie schloss mich fest in ihre Umarmung.
„Tante Ilse“, sagte ich verwirrt. Wie kam ich auf diesen Namen? Später lachten wir oft darüber, doch sie blieb für mich Tante Ilse, die beste Tante der Welt. Wer war sie? Woher kam sie? Wenn ich Ilse mit diesen Fragen bohrte, dann bekam ich von ihr immer nur ausweichende Antworten. Ich gab mich mit dem Gedanken zufrieden, sie sei mein Schutzengel. Das kann doch passieren - ein Schutzengel kommt auf die Erde und lebt als Mensch unter Menschen. Ilse liebte mich, und letztlich war die Liebe das, was wirklich zählte. Was will man mehr?

Menschgewordene Engel werden alt, leider. Als nach vielen Jahren für sie die Zeit gekommen war, zu gehen, verabschiedeten wir uns vor dem Tor, und sie gab mir einen Kuss an die Wange.

„Leb wohl, mein Junge! Und wenn du mich jemals wieder sehen möchtest, dann denke an dieses Haus, und es lässt sich finden. Tritt ein, doch du sollst wissen - das zweite Mal darfst du nur die Sonne wählen. Ich werde hier auf dich warten - bis du kommst.



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Texte: Alle Rechte liegen bei mir
Tag der Veröffentlichung: 19.02.2013

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