Der Polizeibeamte
Seltsam, das ist ausgesprochen seltsam. Ich habe solches noch nie erlebt. Nein, natürlich habe ich schon Unfälle gesehen, mehr als genug. Doch ein Unfall, an dem ein frisch verheiratetes Paar in einem SUV querfeldein mit hundert Sachen rast und gegen einen Findling knallt, wie heute Nacht - das habe ich noch nie gesehen. Obwohl ich schon fünfzehn Jahre bei der Polizei bin. Nun ja, fünfzehn Jahre - in unserem Dorf. Hier geschieht nicht allzu viel, zum Glück. Vor einem Jahr erhängte sich ein Behinderter, ich meine - ein geistig Behinderter. Einer aus dem Heim.
Und ein anderer hat sich im Wald verlaufen. Das war ja ein Aufruhr! Wir, eine ganze Staffel, müssen diesen Typen im Wald suchen, im Winter und bei Nacht. Übrigens, ein interessanter Typ war das. Stumm, mit einem eigenartigen Blick, als ob er in sich hinein schaut. Aber er konnte Flöte spielen. Wer ihm das wohl beigebracht hat? Doch er spielte richtig gut, und so lustige Lieder kannte er. Meine Lieblingsmusik. Er verließ sonst nie das Gelände. Und nun war er plötzlich weg. Und das an einem bitterkalten Tag. Nach drei Stunden fanden wir ihn; es war sein Glück, dass wir ihn entdeckt hatten, sonst wäre er erfroren. Er hatte auch nur eine leichte Windjacke an, mehr nicht, und außerdem war er barfuß. „Warum?“ fragte ich ihn - und er meinte: „Dem Point Of No Return - dem darf man sich nur ohne Schuhe nähern“.
„Dem - was?“ Fragte ich.
„Dem Point Of No Return“, meinte er, „der ist in der Nähe. Sie warten dort auf mich.“
Danach heulte er, denn er hatte sich verlaufen und seinen Point natürlich nicht gefunden.
Ich habe später nach ihm im Heim gefragt, er erinnerte sich an nichts mehr. Und was seltsam ist - seither hat er aufgehört zu flöten. Nun, was kann ich hier sagen - verrückt ist verrückt. Egal, wie man diese Leute heutzutage nennen soll: Menschen mit anderen Fähigkeiten oder so... Für mich sind sie verrückt. Punkt.
Also, außer den beiden Vorfällen mit den Verrückten und noch Kleinigkeiten wie Familienstreit, geklautes Rad und ein verletzter Mofa-Fahrer vor zwei Wochen ist bei uns lange nichts mehr passiert. Und das ist gut so. Das war gut so...
Aber jetzt... jetzt sind die beiden tot. Und vorgestern haben sie ihre Hochzeit gefeiert. Ich weiß gar nicht, ob sie gefeiert haben. Ich war dort nicht eingeladen. Aber sie haben gestern geheiratet, bei uns im Rathaus einander das „Ja-Wort“ gegeben. Und danach - in unserer schnuckeligen Kirche wurden sie von der alten Pastorin getraut. Und wollten wohl in die Flitterwochen fahren. Doch weit sind sie nicht gekommen.
Ich fuhr an der Kirche vorbei und zählte die Autos. Zweiundzwanzig Wagen. Fast alle neu, und die meisten sündhaft teuer. Nun ja, das sind die vom Brocke, ein bekannter Name hier, wohlhabend, weil Inhaber vom besten Hotel und von der Gärtnerei. Und dem Vater von Hannah gehörte der große Elektromarkt. Und noch einer in der Kreisstadt. Wenn diese Leute einladen, dann kommt doch alle Welt. Ihre Welt.
Hannah ... sie ist, war... keine besondere Schönheit, aber sehr intelligent. Sie studierte ja immer. Studierte Biologie in den USA, kam in den Ferien so fremd heim und sprach mit Akzent - lächerlich. Dann studierte sie irgendwo in Deutschland etwas Kompliziertes, Mathematik oder so, das weiß ich nicht. Irgendwann ist sie, als ihre Mutter vor sieben Jahren gestorben war, endgültig zurückgekehrt und arbeitete seither in der väterlichen Firma. Es hieß, sie wird bald die Geschäftsführung übernehmen, weil der Vater sich zurückziehen möchte und weil der Bruder so unfähig sei. Es gab irgendein Krach in der Familie. Genaueres habe ich nicht mitbekommen.Ja, dieser Vater, der alte vom Brocke, ist recht klapperig geworden, seine Hände zittern dauernd und er läuft mit einem Stock. Was mag er wohl haben? Krebs? Das munkelt man jedenfalls.
Hannah - eine Zeit lang haben wir uns recht oft getroffen. Sie war zwar ziemlich zurückhaltend, aber wir verstanden uns. Nun, das war natürlich viel mehr, als nur einander verstehen. Das war Liebe - dachte ich, jedenfalls. Ich habe mich wie ein Idiot in sie verliebt und mir noch eingebildet, dass sie meine Gefühle erwidert. Ich wollte mir ihr zusammen ziehen, und es schien mir, sie will das auch. Ich habe bereits einen gemeinsamen Urlaub geplant - und sie war begeistert. Oder war das wieder eine dumme Einbildung von mir? Aber ihr Vater - er wollte uns doch sogar Geld für eine Kreuzfahrt leihen. „Wenn Urlaub - dann Luxus“, meinte er. Selbst fuhr er nie in den Urlaub, entweder zu geizig oder konnte er sein Geschäft niemanden anvertrauen, vielleicht beides....
Und dann war plötzlich alles aus mit uns. Und den Schluss hatte sie gemacht, sie wirkte plötzlich ganz entschieden. Sie wolle nicht mehr, sie habe jemanden kennen gelernt. Das war‘s. War ich aber wütend, aber ihr habe ich nichts gesagt. Nur viel Glück gewünscht. Danach aber rastete ich vollkommen aus, doch auf meine Weise - so, dass niemand davon Wind bekam. Ich dachte natürlich, ihr Vater hat für sie irgendeinen reichen Geschäftsmann gefunden. Aber dann - dann habe ich sie mit DEM gesehen. Das war... Ich sag‘s lieber nichts... Jedenfalls wurde ich nur noch wütender. Da liefen die beiden: Händchen haltend, süße Blicke, und der Mann ist dabei um einen Kopf kleiner als sie und trägt eine scheußliche Brille. Und fährt mit einen klapperigen Fahrrad. Gegen DEN hat sie mich eingetauscht! Das war erniedrigend. Das war wie ins Gesicht spucken. Ätzend war das. Was hatte sie an dem Mann gefunden, da war doch nichts! Ein Musik-Student, spielt irgendein Instrument, Flöte oder so... Hannah mochte auch Musik, aber nicht, die mir gefällt, keine Volksmusik... Hier waren wir verschieden, nur eine Kleinigkeit.
Hannah - mein Herz schlägt immer noch schneller, wenn ich diesen Namen nur denke. Hannah... Jetzt bist du für immer weg. Und dein dämlicher Ehemann mit dir! Und es ist gut so, denn mir diesen Versager vorzuziehen - das durftest du nicht tun! Das war ein Fehler, ein grober Fehler von dir, meine Hannah... Solche Fehler verzeihe ich nie und ich weiß genau, wie ich mich rächen kann.
Mutter
Seit wann hörte Leander Stimmen? Vielleicht schon immer, jedenfalls kann ich mich erinnern, dass er einmal aus dem Kindergarten gekommen war und zu mir mit einem Lächeln gesagt hatte: „Mama, höre!“ Er war sich sicher, dass ich auch diese Stimme höre. Natürlich habe ich versucht, ihn abzulenken und habe ihm etwas geschenkt - was war das noch einmal? Ach ja, ein Schleich-Tier, ein Adler oder sonst ein Vogel. Er mochte Vögel, wollte hoch fliegen, wie diese stolzen Wesen und alles von oben sehen. Über den Wolken schweben. Vielleicht ist er jetzt dort, vielleicht schaut er mich von dort an? Wie soll ich es aushalten, wie soll ich ohne ihn leben? Und warum ist es geschehen, wieso sind die beiden vom Weg abgekommen und gegen diesen Stein gefahren, sie hatten doch ein Navi!
Jetzt ist nur noch Lorena da, seltsam, dass sie nicht heult, dass ihr Bruder gestorben sei. Lorena ist ein liebes Kind, aber einfältig und unschön. So wie ihr Vater... Leander war ein schöner Junge, und sein Vater auch - ach, wie romantisch hat alles angefangen. Und wie schnell und peinlich ist es vorbei gewesen. Wie ich hinter ihm her in der U-Bahn gelaufen bin, wie ich geschrien habe: „Bleib doch bei mir! Ich liebe dich!“ - aber die Tür des Zuges ging zu, und ich sah nur seinen steifen Rücken und seinen Nacken. Und dachte: „Diesen Mann habe ich geliebt.“ Genauso - in der Vergangenheit. Es war vorbei, und doch nicht, denn ein halbes Jahr später kam mein Leander zur Welt. Mein geliebter Sohn, mein Sonnenschein.
Ich erinnere mich noch daran, wie wir zu zweit nach Wien geflogen sind, er war bereits zwölf und wir konnten über alles miteinander reden, auch über die Stimmen. Wir liefen durch den Park hinter dem Schönbrunner Schloss, und er erzählte mir zum ersten Mal ausführlich darüber. Es war kalt, kahle Bäume stöhnten und bogen sich, wenn eine weitere Windbö sie erfasste, aber es störte uns nicht. Wir waren nur füreinander da.
Leander meinte, es sei nur eine Stimme. Und sie spreche ununterbrochen, es ist wie ein Hintergrund seines Lebens. Es ist auch mehr - es ist ein Teil seines Lebens.
„Ist die Stimme nicht du selbst?“ fragte ich ihn.
„Nein!“ sagte er entschieden, „Niemals. Wessen Stimme es ist, weiß ich nicht, sie hat sich nicht vorgestellt. Aber sie kommt bestimmt aus einer schöneren Welt als unsere, denn sie klingt so friedlich.“
Ich war besorgt, aber Leander zum Arzt bringen, ihn für psychisch labil und behandlungsbedürftig erklären zu lassen - das war mir zuwider. Mein Sohn ist gesund! Mein Sohn ist mehr als das - er ist begabt, sogar sehr begabt. Leander erklärte, die Stimme empfehle ihm ein Musikinstrument zu lernen, am besten Flöte oder Oboe. Und er lernte fleißig. Übte stundenlang. Im Unterschied zu seinen Mitschülern, wusste er schon als Kind, was er werden möchte: Ein Musiker.
Einige Zeit später hat er mir erzählt: „Die Stimme sagte zu mir: Du wirst Hannah heiraten“.
„Wie bitte?“ fragte ich verdutzt.
„Ich werde eine Frau namens Hannah heiraten“, antwortete mein Kind seelenruhig, „Wenn ich 21 bin“.
„Was soll das? Das ist doch Unsinn!“
„Wieso, Mama? Das wird schon so passieren“, kam prompt die Antwort, und sie klang ziemlich gelassen.
„Und was hat dir noch deine Stimme prophezeit?“ fragte ich dann etwas giftig.
„Dass ich einst den Point Of No Return finden werde“, seine Stimme klang fast feierlich.
„Was wirst du finden?“
„Point Of No Return - ein Ort, von dem niemand zurück kommen möchte.“
„Eine seltsame Vorstellung!“ meinte ich, und diese Vorstellung hat mir nicht gefallen und hat mich lange verfolgt. Aber mit meinem Sohn konnte ich es nicht besprechen - er verschloss sich sofort, wenn ich nur das Thema anschnitt.
Bald darauf habe ich Jan kennen gelernt. Und ich habe ihn lieben gelernt. Er aber hat es nicht geschafft, uns lieben zu lernen. Mich nicht, Leander nicht, und Lorena, seine Tochter, auch nicht. Ich weiß, Lorena ist schwierig. Einerseits süß und fröhlich, andererseits immer wieder zornig und aggressiv. Und sitzt im Rollstuhl, und reden kann sie nicht oder will nicht. Nur Leander konnte mit ihr umgehen. Ja, er war so froh, dass er eine Schwester bekam. Spielte ihr auf seiner Oboe, und sie lachte. Ich war immer so gerührt, als ich meine beiden Kinder sah. Ich vergaß dabei ihre Väter, ich dachte nur an diese beiden wunderschöne Wesen, die außerdem einander so gut verstanden. Ich konnte sie auch ruhig allein lassen, auf Leander war Verlass. Daher musste ich in der Apotheke nicht aufhören, trotz Lorenas Behinderung.
Leander wollte immer Kinder haben, viele sogar. Ungewöhnlich für einen noch so jungen Menschen, oder? Aber er war ungewöhnlich, mein Sohn. Warum soll ich jetzt „war“ sagen? Ich will es nicht, ich werde es nicht mehr tun, ab jetzt spreche ich nur „ist“. Es war alles so schön, ich war so glücklich. Wir waren eine Seele, wir drei. Doch dann wurde er 21. Und feierte eine große Party, er, der eigentlich keine Partys mag. Lud Leute ein, die er kaum kannte. Auch seine Mitstudenten aus der Musikhochschule, und deren Freundinnen, und Freundinnen der Freundinnen. „21 wird man nur einmal“, sagte er.
Unser Haus platzte schier aus allen Nähten von den lärmenden Gästen. Lorena weinte und hat sich in ihrem Zimmer eingeschlossen, sie wollte auch ihre heiß geliebten Chips nicht essen. Es waren um die 60 Menschen, ich weiß nicht mehr, wo sie alle sitzen konnten, nicht einmal zum Stehen reichte der Platz aus. Aber sie lachten, sie improvisierten auf ihren mitgebrachten Geigen, Flöten und jemand klimperte auf unserem Keyboard. Es herrschte eine ausgelassene Stimmung, und ich freute mich mit allen. Bis ich dieses Mädchen gesehen habe. Bis ich entdeckt habe, mit welchen Augen Leander sie anschaut. Diese junge Frau, an der nichts dran war. Keine Schönheit, jedenfalls. Nun ja, sie kam mit einem BMW, wie ich später entdeckt habe. Aber ich kenne Leander, solche Dinge interessieren ihn nicht, Geld spielt für ihn keine Rolle.
Natürlich hieß sie Hannah. Wie konnte es anders sein! Schmieriges Lächeln, Unschuld und Bescheidenheit vortäuschen, und der Mutter ihren Sohn wegnehmen, ihren einzigen. Leander ist doch selbst noch ein Kind, er braucht eine Mutter und keine Frau. Sie ist auch älter als er gewesen, wie peinlich ist das! Sechs Jahre älter als mein Kleiner. Und immer höflich war sie zu mir, und immer Händchen haltend - mit ihm. Und er - immer weniger zu Hause, immer mehr bei ihr.
Ich habe noch gehofft, dass die Verliebtheit bald vorbei ist, doch nein - so wollten heiraten! Und niemand hörte auf mich, wie ich ihn angefleht habe, noch ein bisschen zu warten, einander näher kennen zu lernen.
„Wir kennen uns gut genug, und wir sind für einander geschaffen“, sagte er.
„Hat dir das etwa deine Stimme mitgeteilt?“, fragte ich erbost.
„Ja, das habe ich dir doch erzählt“, kam eine kurze Antwort.
Nun, was ist schon eine arme Mutter gegen eine mächtige Stimme.
Zur Trauung bin ich nicht gekommen, sagte, es gehe mir nicht gut und ich käme nur zur Feier danach. Niemand hat Verdacht geschöpft. Ich lag im Bett und habe geheult, und diese Hannah verflucht und ihr den Tod gewünscht. Danach bin ich aufgestanden und habe eine gewisse Flasche aus einer geheimen Schublade geholt. Ein Mittel, zu dem ich sehr ungern gegriffen habe. Doch ich musste handeln, denn diese Hannah hätte mein Leben zerstört. Ich nahm die Fiole mit zum Hochzeitsfest; es hat alles geklappt, die Braut trank das für sie vorgesehene Glas. Jetzt ist sie tot. Und hat meinen Leander mitgenommen. Damit habe ich nicht gerechnet, ich habe einen Fehler gemacht, den schlimmsten meines Lebens.
Lorena
Le-an-der - ein schwieriger Name. Mein Bruder. Mein lieber Bruder. Doofer Bruder. Schlechter Bruder. Kommt nicht mehr. Ich weiß. Kommt nicht. Ist mir auch egal. Früher - da war es gut. Spielen. Verstecken spielen, mein Lieblingsspiel. Im Garten. Oder im Haus. Überall. Mich verstecken und ganz still sitzen. Und Leander wird mich finden. Immer. Und er wird sagen: „Hörst du auch die Stimme?“ Aber ich höre keine Stimme, es gibt auch keine. Das hat er alles nur erfunden. Er erfindet gerne Geschichten, damit ich lache. Erzählt, wie auf einem anderen Planeten seltsame Tiere leben, alles nur Vögel. Und zeichnet sie mit Buntstiften. Er mochte Vögel, aber nicht im Käfig, nur draußen. Das war das Schönste: Mit Leander Vögel beobachten. Und ihn erzählen hören, wie sie heißen - er wusste alle Namen. Ich mag, wenn es auf seiner... Wie heißt es noch einmal? - Ach ja, Oboe - spielt. Ich schlafe ein, wenn er spielt, und ich träume, es sei wieder alles wie früher. Und keine Hannah da. Ich mag sie nicht. Sie lächelt, aber sie hat mir den Bruder weggenommen.
Hannah kommt nicht mehr, und es wäre mir lieber, sie wäre jetzt da. Mit Leander. Sie hätten wieder so fröhlich gelacht, und mich auf einen Spaziergang mitgenommen. Ich will meinen Leander wieder haben! Blöder Leander! Warum will er nicht mehr mit mir spielen und warum kommt er nicht mehr? Mama weint, sie sagt, Leander kommt nie wieder. Aber das stimmt nicht. Das kann einfach nicht wahr sein, darum stimmt es nicht. Das ist zu gemein. Ich bin so allein.
Vater
Das Herz tut weh. Auch das noch. Hände zittern, aber das kenne ich. Seit zwei Jahren zittern sie, diese dummen Hände. Aber das heißt ja nicht, dass ich mich aus dem Geschäft zurückziehen soll. Das kann Hannah so wollen, aber warum soll ich so tun, wie diese Tochter von mir es vorschlägt? Ich will es nicht, ich habe schon immer das getan, was ich für richtig gehalten habe. Koste es, was es wolle, und egal, wer oder was mir im Wege steht. Ich bin noch nicht so krank, wie sie meint. Arrogant, wie sie ist, glaubt sie, alles zu wissen, sich um alles zu kümmern. Na ja, seit ihre Mutter nicht mehr bei uns ist, hat sie sich wirklich rührend um Olaf und um mich gekümmert, hat ihr Studium geschmissen, ist zu uns gezogen. Hat von mir Buchhaltung gelernt und ihre Tage im Büro verbracht. Hat auf alles verzichtet, hat auch diesen netten Mann zurückgewiesen.
Dieser junge Polizist, der ist doch der Richtige gewesen. Er hat sie so umworben, Blümchen geschickt und Kärtchen und vorbei gefahren mit seinem neuen Streifenwagen. Und ich war froh, als die beiden endlich zusammen kamen. Da blühte doch Hannah richtig auf, als Vater sieht man doch so etwas. Ich habe mich für die gefreut, besonders, wenn sie die Kreuzfahrt geplant haben, na, dachte ich, vielleicht macht er seinen Heiratsantrag romantisch auf dem Schiff, und dann kommen schon bald süße Enkelchen. Anna hätte sich auch gefreut. Der Mann war doch eine gute Partie, und fähig ist er, da habe ich Nachforschungen angestellt. Wie dumm soll sie sein, diesem Freier den Korb zu geben. Ich verstehe sie nicht.
Und warum musste ich jetzt auch noch krank werden. Dieses Zittern hatte ich schon früher, aber das störte mich nie. Doch es wurde immer schlimmer, also musste ich zum Arzt. Und was meint der verehrte Dr. Hintz? Natürlich - alles überprüfen, Blutbild, EKG und was weiß ich noch alles. „Ich habe keine Zeit für diesen Quatsch“, habe ich zu ihm gesagt. Aber gemacht habe ich es schon. Und was stellt sich heraus? Ein Gehirntumor ist es! Der Tumor sei gutartig, tröstete mich der freundliche Dr. Hintz. Aber inoperabel. Die Prognose: Der Tumor wird irgendwann mein Gehirn in meinem eigenen Schädel verdrängen. Und ich bin tot. Wann? Das weiß man doch nicht. Kann noch Jahre dauern. Bedeutet im Klartext - kann auch schnell gehen.
Hannah hat geweint, Olaf ist sogar von einer seiner sinnlosen Wanderungen zurückgekehrt, aus einer Wüste in China. Wenn er ein Forscher wäre, wenn er seinen Lebensunterhalt mit den Wüsten verdient hätte. Aber nein, er holt das Geld aus der Firma, sagt, er wolle sein Erbe ausgezahlt bekommen, und verschwindet für Monate in seinen Wüsten oder wo auch immer. Zum Glück hatte er ein Satelliten-Telefon dabei, sonst hätte Hannah ihn nicht erwischen können. Aber eigentlich - wozu kam er überhaupt? Um hier einen besorgten Sohn zu spielen? Das nehme ich ihm nicht ab, das war er nie. Hannah hat sich um ihn gekümmert, ich auch - aber er... Er kümmerte sich um niemanden, außer um sich selbst. Also kam er und tat so, als ob ihm meine Gesundheit so wichtig war. Und wichtig war ihm nur das Geld, ich kenne ihn ja...
Hat er Hannah auf die Idee gebracht, mich in die Rente zu schicken? Mir nahe zu legen, ich solle mich aus dem Geschäft zurückziehen? Wahrscheinlich war er das! Aus meinem Lebenswerk mich zurückziehen, das ich selbst, mit diesen Händen - oh, wie sie zittern! - aufgebaut habe. Der große Elektromarkt, alles erstklassige Ware, TV, PC, Navi, Telefone, Waschmaschinen, Lampen... Alles, was die Seele begehrt, auf 2000 qm. Mit Garantie, mit Service, mit kostenloser Lieferung und, und, und... Ein zweiter Markt wird gerade gebaut. Warum soll ich mich zur Ruhe setzen - und zusehen, wie meine Kinder meine Sache abwickeln. Sie hätten es nie geschafft, so wie ich mich um den Markt zu kümmern. Da konnte nur ich, nur ich allein.
Damals begann auch unser Streit. Olaf und Hannah waren plötzlich eins geworden, vereint gegen mich. Ich bin mir sicher: Die beiden wollten nur eins - Geld. Mein Geld! Olaf - um seine weiteren Abenteuer zu finanzieren. Hannah - um ihren Musiker zu unterstützen. Was für eine schlechte Wahl hat meine Tochter getroffen, misslicher konnte es nicht sein. Ein Musiker, der es nie zu etwas bringen wird. Spielt auf seiner, wie heißt es bloß... Nein, weiß ich nicht mehr. Mein Gedächtnis ist auch nicht mehr wie früher. Ich muss dringend einen anderen Arzt aufsuchen, in der Großstadt, da sind sie gescheiter.
Wo war ich gerade? Ach ja! Bei dem Streit.
Ich sagte zu Hannah: „Trenne dich von diesem Mann, er liebt nicht dich, nur dein Geld“. Aber wer hört schon heute auf die Eltern.
Ich habe zu Olaf gesagt: „Du willst nur das Geld. Du weißt nicht einmal, wie man solch einen Laden führt. Hannah weiß es, sie war bei mir, sie hat sich gekümmert. Du warst doch dauernd weg“.
Olaf schrie, dass ich ihn immer gehasst habe, und dass er sich zu Hause unwohl gefühlt hatte. Auch jetzt wollte er nicht in unserem großen Haus leben, hat sich Hundert Kilometer weiter eine Hütte gekauft, schon drüben ist es, in Polen. Wozu? Und von welchem Geld?
Vor drei Monaten - ja, genau vor drei Monaten, Hannah war schon mit ihrem Typen zusammen - da krachte es wieder.
Olaf sagte: „Hannah will dein Geschäft verkaufen, sie kauft ihrem Typen ein teures Instrument - hast du eine Ahnung, was diese Dinger kosten - das sind Hunderttausende Euros! Du sollst mir den Laden überlassen, ich werde es schon richtig führen, ich kann es.“ Das kam für mich wie aus dem heiteren Himmel. Und ich habe ihm nicht geglaubt, das konnte einfach nicht stimmen!
Ich regte mich auf: „Du hast es alles erfunden. Und die Firma kannst du nicht leiten. Du noch - am wenigsten. Du willst mich bald im Grab sehen, das wäre dir doch so lieb. Aber das klappt nicht, ich gehe nicht. Basta!“
Olaf tobte: „Verdammt, wieso klammerst du dich an diesen Scheißladen, wieso verpestest du die Luft, lasst uns leben. Du nimmst uns alles weg, hast immer schon rumkommandiert, immer schon! Wir sind keine Spielzeuge, keine Puppen! Und jetzt ist deine Zeit vorbei, aus die Maus. Es reicht mit dir, Vater! Geh!“
Da rastete ich aus: „Nein! Du fauler Nichtsnutz, du bekommst von mir keinen Cent! Nichts! Ich ändere mein Testament, schon morgen tue ich das. Hannah bekommt alles, sie ist ein nettes Mädchen, du kriegst nur deinen armseligen Pflichtteil. Mehr nicht! Und jetzt verschwinde hier!“
Meine Hände zitterten so, dass ich meinen Stock fallen ließ. Ich bekam Atemnot, mir wurde es schwindelig. Ich dachte, ich stürze gleich. Und noch dachte ich, dass Olaf mich umbringt, so rot war sein Gesicht geworden, und er hob bereits seine Hand. Doch da hielt das Postauto vor dem Tor, ein großes Paket wurde gebracht. Was war denn das? Nein, mein Gedächtnis ist nicht mehr gut. Olaf stürzte aus dem Haus.
Ich habe ihn lange nicht gesehen. Hannah sagte, er wohne in dieser alten Hütte im Fischerdorf. „Von welchem Geld hat er diese Bude gekauft?“ fragte ich sie. Sie zuckte mit den Achseln. Wahrscheinlich hat sie ihm das Geld geliehen. Dumm von ihr, aber solange es der Firma nicht schadet, dulde ich es.
Zur Hochzeit kam er, saß auf der hinteren Bank in der Kirche und sah irgendwie zufrieden aus. Vielleicht plante er schon seine nächste Expedition, das weiß ich nicht. Oder will er jetzt Fischer werden, oder was auch immer. Ich habe kein Wort mit ihm gesprochen, nicht mal einen Blick von mir hat er verdient.
Aber mein Testament habe ich doch nicht ändern lassen. Wenn ich tot bin, dann soll er das Seine bekommen. Dann ist mir alles egal. Eigentlich ist mir schon jetzt alles gleichgültig. Seit Hannah nicht mehr da ist, seither tut nur das Herz weh. Tagaus, tagein tut es weh und will nicht mehr richtig schlagen. Es will endlich seine Ruhe haben, die ewige Ruhe. Soll Olaf alles kriegen, soll er mit dem Markt und mit dem Geld tun, war er will. Mein Leben ist zu Ende. Schade, ich wollte es anders, ich wollte es schön haben, ich wollte, dass alle glücklich seien. Aber... Nun, es ist, wie es ist...
Olaf
Dieser verdammte Alte, wann stirbt er endlich. Jetzt, wenn Hannah tot ist, jetzt ist der Weg frei. Der Alte ist selbst schuld, dass es so gelaufen war. Welches Recht hat er, so über mein Leben zu entscheiden, mir das Geld zu nehmen, welches mir gehört. Welches Recht hat er zu bestimmen, was ich mit meinem Leben mache und was nicht. Das geht niemanden an. Wenn ich auf Reisen gehe - dann ist es meine Entscheidung, meine Wahl. Ich will Neues erleben, ich will frei sein. Warum darf ich es nicht? Nur weil der blöde Geizhals mir kein Geld mehr gibt? Dann nehme ich es mir!
Ich will die Welt kennen lernen, ich will nur für mich sein, frei und unabhängig. Ich will keiner "Wissenschaft dienen", wie man so dumm sagt, ich diene nur mir selbst. Ich brauche nur meine Ausrüstung, meine einheimischen Begleiter und mein Satellitentelefon. Mehr nicht.
Was verstehen diese kleinen Menschen von der Freiheit? Diese Menschen, die immer nur schuften, immer nur in ihrem Dreck herumwuseln und das als einen Job oder als ein Unternehmen bezeichnen. Wie kleinlich ist es alles! Wie langweilig im Vergleich zu einem echten, zu einem wahren Abenteuer. Wenn ich in der Wüste bin, dann fühle ich mich wie ein König des Universums, mit allen Göttern der Welt auf Augenhöhe. Wenn es Götter gibt, was ich bezweifle. Doch - leider - brauche ich in dieser verdammten Welt Geld, um meine Wanderungen zu finanzieren. Und der Alte rückt damit nicht heraus. Droht mich zu enterben, der alte Schuft. Bestimmt hat er am nächsten Tag nach unserem Streit seinen Anwalt, diesen schmierigen Herrn Günther, gerufen und sein Testament geändert. Damit Hannah, die gute liebe Hannah, alles kriegt. Und das ihrem Musiker vor die Füße wirft. Sie sind doch so fein beide, sie denken so wenig an das Geld. Angeblich. Selbstverständlich denken sie ständig daran. Wie denn sonst, das macht jeder. Ich auch, obwohl ich es gerne anders hätte. Ich hätte gerne vieles anders. Auch das mit Hannah. Aber ich hatte keine Wahl, der Alte hat mir einfach keine Wahl gelassen.
Nun, dann musste Hannah gehen. Das Navi in ihrem Auto präpariere ich so, dass es Straßen zeigte, die es nicht gibt oder die in den Abgrund führen, das war kein Problem. Nur mein Vater glaubt, ich verstehe nichts von Elektronik. Er weiß ja nichts - ich habe schon meine Funkgeräte mehrfach auseinander genommen. Meine größte Sorge war nur, dass Hannah allein fahren wird, ich habe sie zwar gebeten, den Mann - diesen sogenannten Mann von ihr - mitzunehmen, damit er mir hilft, doch sicher war ich mir nicht. Wie hätte der mir schon helfen können? Angeblich sollten sie mich in meiner Hütte besuchen und mich, der dort mit Fieber lag, mit Medikamenten versorgen. Eigentlich konnte nur Hannah darauf fallen: Hundert Kilometer Autofahrt auf sich nehmen, und zwar über schlecht ausgebaute Straße, und das beim miesen Wetter und natürlich im Dunkeln. Und dafür noch ihre Flitterwochen verschieben! Aber sie hat es gemacht. Ich habe ihr erzählt, ich habe kein Geld - und das stimmte auch. Wegen dem alten Geizkragen!
Mir blieb es nur, auf dem Bildschirm zu verfolgen, wo sie sich gerade befinden und mich freuen, wenn das Auto an einem bestimmten Ort von dem Display verschwindet. Ich habe diese Stelle schon lange ausgesucht. Das Warnschild und die Absperrung habe ich entfernt in der Hoffnung, dass in den paar Stunden niemand deswegen die Polizei alarmiert. Und ziemlich gleich nach dem Zeichen wäre er schon da gewesen - der Abgrund, eine unfertige Brücke über einen Fluss. Dorthin sollten Hannah und ihr Mann herunterstürzen und sterben - hoffentlich. Sie starben in dieser Nacht - aber woanders. Ich weiß nicht, warum. Für mich ist es ja noch besser - an ihrem Tod bin ich somit unschuldig und bekomme dazu noch das Erbe. Wann stirbt denn endlich der Alte?
In der Nacht
„Hannah, was ist mit dir?“
„Weiß nicht, Leander, irgendwie ist es mir schwindelig, ich halte gleich an. Fahre du weiter!“
„Nein, noch nicht anhalten. Wir dürfen jetzt nicht anhalten.“
„Warum, mein Lieber?“
„Weil es sonst verschwindet, sonst ist der Augenblick vorbei, halte durch, Hannah.“
„Ich, ich versuche es, aber irgendwie ist mir unwohl. Das Herz rast.“
„Bitte, fahre schneller!“
„Ich kann nicht. Und wo kommt diese Abbiegung her, die mir das Navi anzeigt? Hier ist doch nichts, nur ein Feld.“
„Doch, genau da ist es. Genau dort müssen wir hin!“
„Was ist dort? Ich sehe nichts, und diese Straße existiert nicht. Mit dem Navi stimmt etwas nicht. Ach, es ist mir schlecht. Ich halte an.“
„Nein!!! Fahre doch! Wir sind schon ganz nahe, hier ist es, Point OF No Return! Ich habe es endlich gefunden! Endlich!“
Leander riss das Lenkrad nach rechts, und Hannah drückte im Todeskampf auf das Gaspedal. Im weißen Licht der Scheinwerfer tauchte der riesenhafte Findling auf, und dann war alles dunkel geworden.
Zwei Woche später: der Polizeibeamte
Nun sind zwei Mörder gefasst. Die eine Giftmischerin, die ihre ungeliebte Schwiegertochter in den langsamen qualvollen Tod schicken wollte und nun auch ihren heißgeliebten Sohn ermordet hatte. Nun, das ist ihre Strafe, sie hat ihr Schicksal wohl verdient. Bleibt nur herauszufinden, woher sie das Gift her hatte. Selbst in der Apotheke gemischt oder bei irgendwelchen Kriminellen besorgt? Eine ziemlich raffiniere Mixtur ist es, tötet nicht sofort, sondern nach Tagen! Dem muss ich auf die Spur kommen, unbedingt. Das ist meine Pflicht. Aber bei den Verhören weint sie nur, wird hysterisch und immer wieder ohnmächtig. Da komme ich nicht weiter. Noch nicht!
Und dieser andere, der seine Schwester und seinen Schwager mit Hilfe von gefälschtem Kartenmaterial in dem Navi umbringen wollte, wie gemein ist er! Er dachte wohl, sein Verbrechen bleibt unaufgeklärt. Vielleicht hat er gehofft, dass das Navi beim Unfall zerstört wird. Nun, das ist nicht passiert, das kleine Gerät hat sich als robust erwiesen. Pech für ihn. Er behauptet, nur eine Stelle an der Karte verändert zu haben. Unsere Spezialisten sind sich sicher, dass es nicht stimmt, und er mehrere Fallen aufgestellt hatte. Alles wegen dem Geld, wegen diesem verdammten Geld. Neulich hat er einen Suizid-Versuch unternommen. Misslungen, wie alles bei diesem Versager. Wie ich ihn verachte! Jetzt ist sein Alter tot, aber das Geld nützt dem Mörder auch nicht viel.
Doch der dritte Mörder wird wohl nie gefasst worden. Er hatte seine Spuren zu geschickt verwischt. Er war als erster an der Unfallstelle gewesen und hatte die Schrauben an den Rädern wieder fest gezogen. Wie und wer wird jemals beweisen können, dass ich versucht habe, Hannah und ihren Mann zu töten? Niemand kommt auf die Idee, mich zu verdächtigen. Ja, Hannah und ich hatten uns getrennt. Nun, alle glauben, ich hatte es recht gelassen genommen. Und letztendlich bin ich am Unfall nicht schuld. Die anderen beiden sind Mörder. Ich - nicht!
Oder doch? Davon, dass ich die beiden töten wollte, weiß nur ich und... Nein, das ist doch Unsinn. Hirngespinst. DEN gibt es nicht. Also bleibe nur ich. Ich - und meine Schuld. Ich - und mein Leben. Ich - und die Unmöglichkeit zu leben. Ich - und meine Sackgasse. Was mache ich nun? .....
Ein Gesicht geht mir nicht aus dem Sinn. Dieses stumme Mädchen im Rollstuhl. Sie hat doch ihren Bruder verloren und ihre Mutter jetzt auch. Vater - unbekannt. Scheinbar teilnahmslos schaute sie zu, wie wir ihre Mutter verhafteten, doch hinter dieser Maske war solcher Schmerz, solches Leid! Was ist wohl mit ihr geschehen... Was wohl, als ob ich es nicht wüsste. Klar, der Vater Staat kümmert sich, sie stirbt nicht in der Gosse. Aber ich glaube jetzt jemanden zu kennen, der sich um sie kümmert, bei dem sie vielleicht ein wenig Freude findet... Ich fahre gleich hin...
Epilog: Ankunft
Hannah und Leander wachten auf, und blinzelten im hellen und seltsamerweise bunten Licht. Sie fühlten sich erholt und wie neu erschaffen. Alle Sorgen und alle Kummer der letzten Zeit waren verschwunden. Auch das Grauen ihrer letzten Fahrt verließ sie, und ebenso die Erinnerungen an ihre Vergangenheit wichen wie Schatten der Nacht unter dem aufkommenden Licht eines Tages. Nur die Gegenwart blieb und erfüllte sie mit Freude und mit Kraft.
Vor ihren Augen erstreckte sich ein üppiger weiß-grüner Teppich aus hohen Gräsern und großen glockenförmigen Blüten, die einen zauberhaften Duft verströmten. Hier und da erhob sich ein majestätischer Baum bis hin in die Wolken, und ganz am Horizont waren weiße Berggipfel zu sehen. Ein schneller schmaler Fluss teilte die schier endlose Wiese in zwei Teile und trug klares kaltes Bergwasser irgendwohin zum entfernten Meer oder zu einem anderen, breiten Fluss. Über ihren Köpfen zogen im Himmel drei leuchtende Himmelskörper ihre Bahnen: einer war gelb, der andere - blau und noch einer strahlte in einem hellrosa Licht.
Die beiden Menschen entdeckten, dass sie auf einer weichen Wolldecke lagen und dass sie in feine, aber fremdartig aussehende Gewänder angezogen waren. Neben Leander lag eine neue Oboe, die aus einem Kristall gemacht zu sein schien. Doch sah sie wie eine richtige Oboe aus, und Leander konnte nicht anders, als das schöne Instrument in die Hände zu nehmen und in das Mundstück zuerst zögerlich, dann immer sicherer zu blasen. Und schon ertönte eine wunderbare Melodie, und Hannah hörte fasziniert zu, und die Luft füllte sich mit Schwirren und mit Zwitschern, mit Summen und mit Reden.
Und einer nach dem anderen erschienen große weiße Vögel, alle mit langen Hälsen, welche die Wesen den Schwänen ähnlich machten, und mit ebenfalls langen Schwanzfedern, wie bei Paradiesvögeln. Die Kreaturen waren menschengroß, ihre Flügel breit und stark. Und sie alle schwiegen keine Sekunde, und Leander hörte überrascht ihren Stimmen zu.
„Hannah, höre! Hörst du auch, was sie sagen?“
„Ja, mein Lieber, ich höre es!“
„Das sind doch... Das ist doch diese Stimme, von der ich dir immer erzählt habe! Ich erkenne sie!“
„Das sind aber viele, die hier reden...“
„Aber alle sprechen mit einer Stimme, als ob sie ein Wesen sind.“
Die Vögel ließen sich rund um die Menschen nieder und schauten und hörten zu. Und sprachen: „Seid gegrüßt in unserer Welt! Wir haben so lange auf euch gewartet, wir haben fast die Hoffnung verloren. Aber wenig Hoffnung ist doch immer noch eine Hoffnung und keine Hoffnungslosigkeit. Wir beobachten euch Menschen schon so lange, und wir haben immer noch nicht gelernt, euch zu verstehen. Ihr hasst oft einander, ihr seid aufeinander neidisch und ihr streitet immer wieder miteinander. Wir sind anders, wir lieben einander und leben stets im Frieden. Wir verstehen auch nicht, warum ihr das nicht könnt. Das ist doch so einfach!
Doch darum geht es jetzt nicht, sondern um eine Sache, die ihr könnt - und wir nicht. Eine wunderschöne Sache, die ihr habt, fehlt in unserer Welt - und das ist die Musik!
Wir können nicht einmal eine einfache Melodie hervorbringen, und jede Meise in eurer Welt singt schöner als unsereins. Daher versuchen wir seit langem, jemanden aus eurer Welt zu uns einzuladen, damit wir von ihm Musik lernen können. Doch ihr hört uns nicht, denn unsere Stimme ist wohl zu leise in eurer lauten hektischen Welt.
Einer von euch wollte vor kurzem den Eingang zu unserer Welt finden, und wir versuchten ihm zu helfen, wie wir nur konnten - doch er ist gescheitert. Das tut uns furchtbar leid. Aber du, Leander - du hast immer auf unsere Stimme gehört, und als wir dir den Weg zum Point Of No Return zeigten, folgtest du ihm. Jetzt seid ihr da, und wir sind so glücklich! Ab jetzt beginnt die Zeit der Musik in unserer Welt.
Leander hörte den weißen Vögeln mit Begeisterung zu.
„Aber warum Oboe? fragte er sie.
„Weil wir nur sie nachmachen konnten. Weder Klavier noch Geige haben wir bisher mit unseren Zauberkünsten geschafft.“
Leander lachte und führte sein Instrument wieder an die Lippen.
„Aber ich?“ fragte Hannah plötzlich, und ihre Augen wurden traurig. „Wozu bin ich da, die ich kein Instrument spielen kann?“
„Weil ich dich liebe und weil ich ohne dich keinen Ton aus meiner Oboe heraus bekomme!“ Leander umarmte seine junge Frau und spielte eine besonders schöne und sehr komplexe Melodie. Die Vögel aber begannen zu singen, und einigen gelang es schon bald, die Töne zu treffen.
Die drei Sonnen gingen unter, aber im Dunkeln leuchtete das weiße Gefieder der wunderlichen Vögel, und die Melodie der Oboe floss wie ein Strom von farbigen Noten, und jede Note wurde zu einem neuen Vogel, mal zu einem kleinen schwarzen, mal zu einem großen, der in allen Regenbogenfarben glitzerte.
Texte: Alle Rechte liegen bei mir
Bildmaterialien: ClipDealer, Heaven' Gate
Tag der Veröffentlichung: 01.01.2013
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