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Meine Angst

Ich wache im Dunkeln auf. Ich weiß nicht, wie spät es ist, das ist mir seit einiger Zeit egal. Der Tag wurde längst zur Nacht, und die Nacht zum Tag für mich. Die Rollläden sind heruntergelassen, die Heizung verbreitet wohlige Wärme. Ich liege im Bett und ob ich meine Augen zumache oder ob ich sie offen halte - es ist dunkel. Ich liebe Dunkelheit, denn sie bedeutet - Stabilität, nichts Neues. Nichts Neues heißt aber - nichts Schlimmes ist geschehen. Und wenn nichts Schlimmes geschehen ist - dann bin ich noch auf einem festen Pfad und werden nicht im Sumpf meiner Angst versinken. Wenn aber Etwas geschieht, dann bewegt sich dieser Sumpf und breitet sich aus, und ist überall. Und es gibt keine Pfaden mehr.

Ein falscher Schritt - und ich stürze darein und ersticke. Ich versuche mich für alle Fälle nur wenig bewegen, ich versuche den Ort nicht zu wechseln und ich versuche, so wenig wie möglich zu denken. Jeder Gedanke kann die Angst wecken, jeder Gedanke kann mich in dieses Moor führen. Und ich weiß - ich werde mich nicht wieder retten können. Meine Angst ist zu tief, sie ist vermutlich bodenlos.

Doch - was ist es? Am Bettrand sitzt jemand. Das ist aber nicht möglich, wer kann schon hier sein? Ich bin ja allein. Ganz allein im großen Haus. Ein Dieb? Warum sitzt er so ruhig? Wieso sehe ich ihn im Dunkeln? Ich habe gehofft, es wird nichts zu sehen sein. Aber er - wenn es ein Er ist - scheint leicht zu schimmern, als ob in ihm - oder in ihr - innen eine Lichtquelle ist. Eine schwache Lampe. Eine Kerze vielleicht, denn das Licht wirkt unbeständig und fragil. Unruhig. Hat Es auch Angst? Doch wer ist hier?

„Oh, du bist wach!“ meldet sich das Wesen, und ich höre eine angenehme Frauenstimme und bin erleichtert - warum eigentlich? „Du hast mich gerufen, nun bin ich hier“, sagt die Frau weiter.
„Nein...“, antworte ich. Und denke: Ich habe doch niemanden gerufen. Oder doch? Was habe ich gemurmelt, bevor ich für - ich weiß nicht für wie lange - eingeschlafen bin? „Hilf mir, ich kann nicht mehr, ich weiß nicht weiter, ich weiß nicht, zu wem ich beten oder sprechen kann, ich weiß nicht, wer mich hören kann, aber bitte - bitte - bitte - helft mir. Ich vergehe, ich bin am Ende, ich kann nicht mehr...“
„Doch, ja, ich habe gerufen“, gebe ich zu. „Ich brauche Hilfe. Kannst du mir helfen?“ bitte ich ein Wesen, von dem ich nicht einmal weiß, was das ist. Daher frage ich: „Wer bist du?“
„Wer ich bin? Ein Geist - so würdet ihr Menschen mich bezeichnen“, spricht das Wesen ruhig, und sein - nein, ihr - Licht leuchtet etwas heller.

Dann erkenne ich ihre Züge: Ein wohlgeformtes Gesicht und große mandelförmige Augen. Ein langer Zopf, seltsame spitze Ohren, ein Kleid, das aus einem einzigen Stück Stoff genährt zu sein schein. Das Kleid ist aber durchsichtig und ich sehe ihre kleinen Brüste und flachen Bauch und die Stelle, wo die Po-Backen beginnen. Wenn ich ein Mann wäre... Doch ihr Körper sieht so kindisch naiv und unberührt aus, sie scheint sich ihrer Nacktheit gar nicht bewusst zu sein. Ein Wesen aus einer anderen Welt.

„Wieso?“ fragt sie etwas verwundert. „Ich gehöre zu dieser Welt, zu der auch du gehörst, wohin denn sonst“.

„Seit wann ist denn unsere Welt voller Geister?“ frage ich mich und verstehe im gleichen Augenblick, dass diese Besucherin wohl meine Gedanken lesen kann. Und wundere mich, dass ich ihre Anwesenheit beinahe als natürlich wahrnehme. Und bemerke, dass ich meine Angst fast vergessen habe. Nur fast, denn sie lauert noch und ich weiß nicht - ist sie in mir oder außerhalb. Sie ist allgegenwärtig.

„Wovor hast du solche Angst?“ fragt sie. Ihre Stimme klingt melodisch wie ein Silberglöckchen. Sie steht auf, macht ein Paar Schritte und schon kniet sie vor dem Bett. Ihr Gesicht - ganz nahe an meinem Gesicht. Sie strahlt Wärme aus, ihr Brüste bewegen sich bei jedem Atemzug, ihr Haut ist perfekt glatt und ohne jegliche Macke. Wie auf einem Bild, das bearbeitet wurde. Sie schaut mir direkt in die Augen.
„Wie heißt du?“ frage ich leise. Ich kann mich nicht länger mit einem namenlosen Wesen unterhalten.
„Nenne mich doch Bea!“ schlägt sie vor, und ich zucke zusammen, denn so hieß meine Mutter, die schon lange nicht mehr lebt. „Ich weiß, dass du den Namen magst... „ - das Wesen lächelt. „Und du musst mir nichts erzählen, du kannst dich einfach erinnern. Ich schaue deine Erinnerungen mit - wenn ich‘s darf.“

Beas Blick fordert mich auf. Ich zögere.
Ein Geist, mit dem du deine geheimen Erinnerungen teilen sollst. Eine etwas unheimliche Vorstellung. Doch das ist es eben: Vor mit ist ein Geist, kein Mensch. Vor einem Geist schäme ich mich nicht - genau wie sie sich vor mir nicht schämt. Und ich habe sie doch gerufen - wer weiß, ob sie helfen kann. Kann sein, dass sie es kann. Aber wie? Wie rettet sie mich vor meiner furchtbaren Angst?

Oder... Oder rettet sie IHN?

Ich lächele die Bea an und ich fange an, mich zu erinnern. Zuerst - an das Schöne... Und dann - an alle Andere...

Wie lustig wir gefeiert haben! Zwei junge Menschen, ineinander unsterblich verliebt. Wir waren für einander geschaffen. Wir zwei.

Diese Hochzeit, bei der meine Mutter so geweint hatte. Ich dachte - vor Glück, und es stimmte auch. Doch sie hatte auch andere Gründe für ihre Traurigkeit, von denen ich damals nichts wusste. Als mein Vater drei Monate später ausgemergelt und röchelnd im gesichtslosen Raum im Krankenhaus im Sterben lag, erst dann verstand ich‘s. Er lag, mich flehend und stumm anschauend. Ausgeliefert den fremden Blicken, angewiesen auf fremde Hilfe. Er wusste, dass er bald stirbt. Und er hatte Angst. Er hatte eine wahnsinnige Angst davor, er wollte hier bleiben, in seinem Leben, in seinem Haus, mit seinen Aquarien und bunten Fischen. Doch dieses Hier wurde ihm entzogen, und das Unbekannte, was auf ihn zukam, erfüllte ihn mit Furcht.

„Wieso?“ erklingt plötzlich das Silberglöckchen von Bea.
„Wieso was?“ frage ich zurück.
„Wieso Unbekanntes?“
„Wir wissen doch nicht, was DORT ist. Manche glauben - ein Paradies, andere sagen - die Hölle. Und viele denken - da ist nichts. Gar nichts, und das für sie auch gut so,“ sage ich.
„Warst du noch nie dort?“ fragt Bea.
„Wo?“ ihre Frage verblüfft mich.
„Im Jenseits natürlich. Ist es das, wovor du Angst hast?“ fragte sie.
„Nein, Bea. Höre doch weiter.“

Und sie hört - oder sieht - weiter.


Bei der Beerdigung weinte ich nicht. Ich hielt Dirks Hand und ich war glücklich. Wir zwei... Und bald sollten wir zu-dritt auf der Welt sein. Meinem Vater habe ich noch von dem Kind erzählt, doch er konnte sich nicht darüber freuen, denn er wusste - er wird seinen Enkel nie sehen.

Dirk, sein ruhiges Gesicht, dicke Brille, braune Augen, die die Welt erwartungsvoll ansahen. Die Welt, sie sollte ihn doch lieben, sie sollte ihn, den jungen Autor, anerkennen. Er war voller Zuversicht, dass die Zukunft ihm gehören wird. Nein, uns.

Wir zwei. So liefen wir durch das Leben, durch die Jahre - Hand in Hand. Hoffnungsvoll, lächelnd. Zu-Zweit. Der Dritte wollte nicht mit uns leben, er nie seine Augen aufgemacht um die Welt zu bewondern. Seine dünne Ärmchen und Beinchen waren mit Kanülen übersät und mit großen Pflasterstücken beklebt. Es war ihm zu kalt auf der Welt, er sollte länger in mir bleiben, aber er blieb nicht. War mein Bauch nicht gut für ihn?

Nun, auch das haben Dirk und ich überlebt. Nun waren wir nur füreinander da. Mit den Jahren wurde das Kind in seiner Plastikbox, die vergeblich versuchte, meinen Bauch ihm zu ersetzen, zu einer vagen Erinnerung. Wir fuhren einmal im Jahr, an seinem Geburtstag, zum kleinen Grab und standen dort, eng umarmt.

Jahre vergingen. Dirk wurde Journalist und schrieb über Medizin, Ärzte, Krankenhäuser. Sogar ein Buch verfasste er: „Der Irrsinn des Alltags“, es ging natürlich um den Alltag in einem Krankenhaus. Ich wunderte mich, wie er auf dieses Thema kam, aber er hat immer gesagt: So vertreibe ich meine Angst vor dem Krankwerden.

Als ob er schon damals gewusst hätte.

Bea bewegt sich plötzlich und reißt den Fluss meiner Gedanken. Sie schaut mich mit weit geöffneten Augen an, und dort, in der Tiefe ihrer Pupillen, bewegt sich etwas oder jemand. Es wird immer kleiner - und dann rutsche ich in meine Angst hinunter. In diesen furchtbaren Sumpf. Die Angst ist überall, sie erstickt mich, es gibt keine Rettung davor. Mein Herz rast, ich will wegrennen - doch von sich selbst kann man nicht weg laufen.

Eine Banalität, eine bittere Wahrheit - mein Todesurteil. Aber durch die Schichten des Schleims, durch die Realität, die in Brüche geht, leuchtet ein warmes Licht. Ein unstetes, doch mutiges Licht. Ich schaue auf dieses Licht, auf meine letzte Hoffnung, ich will so gerne zu ihm hin. Weg von der Angst, heraus aus dem Moor, ich strecke mich zu dem Licht - und ich kämpfe gegen den Sog des Schleims.

Ja, hier ist es - mein Licht! Ich bin wieder da, ich stehe auf festem Boden, ich bin unter den Lebenden.

Ich halte Bea fest umarmt. Ich spüre ihren zartgliedrigen Körper, sie schmiegt sich an mich, sie streichelt mich, und an meiner Wange bleibt eine duftende Spur ihrer Lippen. Vielleicht hält man so seine Tochter im Arm?

Und ich erinnere mich weiter. Da war dieser Tag: Sonnig und trocken, ein schöner Mai-Tag. Ich war wie immer, oder fast immer, daheim. Habe meine Texte getippt, dann Mittag gekocht - Dirk wollte heute nach einem Interview mit einem Chefarzt gleich nach Hause fahren. Gemeinsam essen, in unserer großen Küche oder auf der Terrasse, oder im Restaurant - das war immer das Schönste. Ein Genuss. Und oft ging es danach ins Bett... Nein, daran will ich nicht denken.

Bea schaut mich kurz an - eine seltsame Sekunde...

Er kam nicht zum Essen, er rief aus dem Krankenhaus an und sagte mit einer schwachen Stimme: „Tut mir leid, Maus, ich muss hier wohl übernachten. Mir ist es etwas schwindelig geworden, und die wollen mich hier gründlich untersuchen. Doch es geht mir schon besser, bin morgen zu Hause.“

An diesem Tag kam meine Angst. Und ab diesem Augenblick ließ sie mich nicht mehr los. Ich weiß noch, wie meine Hände zitterten, als ich den Telefonhörer auflegte. Ich weiß noch, wie ich seine Sachen zusammen suchte und wie ich bei Rot über die Kreuzung fuhr. Ich wollte doch so schnell wie möglich zu ihm.

Er sah fröhlich aus, er meinte, es sei nicht nötig, dass ich gekommen war. Ein Arzt kam vorbei, einer, der ihn schon lange kannte. Er zeigte die EKG - Herzrhythmusstörungen. Harmlos, lachte Dirk. Muss genauer untersucht werden, meinte der Arzt.

Ich fuhr wieder nach Hause, ich hatte Angst vor dem großen leeren Haus, Angst vor dem Nichtstun am Abend. Jeden Abend waren sonst Dirk und ich zusammen, redeten oder sahen uns ein Video an. Oder arbeiteten - aber jeder von uns wusste, dass der Andere nicht weit ist.

Ich verkroch mich ins Schlafzimmer. Hierhin. Machte das Licht aus, drehte die Heizung auf, obwohl es draußen warm war. Die Rollläden - herunter. Decke über dem Kopf.

Unten in der Küche läutete das Telefon. Warum um diese Uhrzeit? So spät? Ich hatte Angst, hinzugehen, ich hatte Angst. Es könnte etwas mit Dirk passiert sein.

Das Telefon, dieser Quälgeist, es schellte wieder und wieder. Und ich überwand mich, ich siteg herunter, diesen unendlich langen Weg. Das war nur Werbung...


Dirk kam erst nach einer Woche zurück. „Sein Herz sei zu groß“ - er fand es so lustig - „Das ist doch schön, ein großes Herz zu haben!“
„Warum ist es passiert?“ fragte ich.
„Das weiß keiner“, meinte er.
„Und ist es gefährlich?“ fragte ich ängstlich.
„Wenn ich meine Medikamente regelmäßig einnehme - dann nicht“, sagte er und umarmte mich.

An diese Umarmung kann ich mich noch heute erinnern, sie war eine ganz besondere. Eine sanfte, eine zärtliche, eine väterliche Umarmung. So hat er mich nie vorher umarmt. Und in dieser Umarmung war Angst. Seine Angst, meine Angst. Unsere Angst vor der Zukunft, vor der Krankheit, vor der Welt.

Eine Weile ging es ihm gut. Das war eine schöne fast angstfreie Zeit, wir konnten sie richtig auskosten, genießen. Gingen oft zusammen essen, saßen auf unserer Terrasse und bewunderten die flinken Koi-Fische im Teich. Und beschlossen, eine Reise zu machen. Dieses Mal keine Rundreise, und auf jeden Fall keine Fernreise, aber eine einfache ruhige Badereise. Nicht einmal weit, nur an die Ostsee.

Er stürzte am ersten Abend mit dem Gesicht ins Wasser, ich schriee und zerrte ihn ans Ufer, und hörte andere Schreie und sah kräftige Hände, die mit anpackten. Jemand versuchte sich in Erste-Hilfe-Maßnahmen, noch jemand rief den Notarzt. Der gelbe Hubschrauber auf der Strandpromenade, Wind und Staub. Und meine Atemnot und meine Seelennot. Dirks Gesicht, sonst immer mir zugewandt, aufmerksam, freundlich, lächelnd - und jetzt so steif, so abwesend, sein Konterfei.

Ich, eine Störung im Krankenhausbetrieb, ein schluchzendes Hindernis und eine entsetzte Zeugin von den Wiederbelebungsmaßnahmen, die den Körper von meinem geliebten Ehemann zucken ließen...

Bea weint. Ich wusste nicht, dass Geister weinen können. Aber warum auch nicht? Ihre Tränen sind aber ungewöhnlich, sie sind groß, rund und glänzen magisch. Nicht aus Wasser sind diese Tränen, sie wirken wie kleine Lebewesen, sie schweben rund um ihr Gesicht, leuchten in allen Regenbogenfarben. Sie tanzen vor meinen Augen, und ihr Spiel beruhigt mich und lässt die Angst schwinden.

Und ich erinnere mich...

Allein im Hotel. Verloren am Strand. Einsam. Frierend. Die Welt rückte von mir weg. Sie wollte nichts mit mir zu tun haben. Und ich - mit ihr. Nur ich - und er, zu dem ich vergeblich versuchte, Kontakt aus der Ferne aufzunehmen. Ich sprach seinen Namen und hoffte, eine Antwort zu empfange. Und wenn eine Antwort kommt - dann lebt er. Noch. Es kam keine Antwort - aber er lebte.

Am nächsten Morgen stand ich an seinem Bett. Er war bewusstlos, an eine Herz-Lungen-Maschine angeschlossen. Kanülen, Pflaster, tickende und summende Geräte.

Ich dachte an unseren Sohn, an sein Leben, dass nie richtig begonnen hat - und schon zu Ende gegangen war. Mir schien es, ich höre sein Weinen. Er beweinte seinen Vater, und mich, und sich selbst.

Ich saß Stunden um Stunden am Krankenbett und redete leise mit Dirk. Und erfand seine Antworten, und so spannte ich ein imaginäres Gespräch zwischen uns. Wir redeten über die Liebe und über das Leben und über den Tod. Und mehr über den Tod als über das Leben. Und wir hatten beide Angst davor, und auch vor der Trennung, und vor dem Unbekannten.

Ich schaue zu Bea - vielleicht wird sie einwenden, dass das Unbekannte doch bekannt ist. Aber sie schweigt und spielt mit ihren Tränen, tippt sie mit dem Finger an, und sie tanzen und hüpfen in der Luft. Hört sie mir noch zu?

Nun, ich erinnerte mich weiter. Die Erinnerungen sind nicht mehr aufzuhalten...

Auch damals ist Dirk nicht gestorben. Doch als er aufwachte, war er nicht mehr der Alte. Er wurde schweigsam und unaufmerksam. Er lag in seinem Bett in diesem öden Krankenhauszimmer und verschlang ein Taschenbuch nach dem anderen. Die Cover ließen mich erschaudern: Monster, Zombies, Vampire.

„Wieso liest du dies alles? Du hat dich doch nie dafür interessiert!“ fragte ich ihn.

Er ließ sich Zeit, ich habe schon geglaubt, er hat auch diese meine Frage überhört, wie viele andere davor. Doch dann sprach er, ohne mich anzugucken: „Die alle treffe ich wohl dort.“

Mehr wollte er nicht sagen. Aber diese seine Antwort donnerte in meinem Gehirn wie eine Alarmglocke. Ich hörte sie immer wieder und sprach sie nach: „Die alle treffe ich...“

Dirk ist nie ein besonders frommer Mensch gewesen, und wir haben uns nie über den Glauben unterhalten. Ich habe mir vorgestellt, dass mit dem Tod alles zu Ende ist. Und nichts Schlimmes dabei habe ich dabei gesehen: Dann bin ich ja ein Teil der Natur, eine Blume, eine Wolke. Etwas Sympathisches, etwas Liebenswertes. Aber doch nicht den blutrünstigen Wesen ausgeliefert!

Ich habe Dirk über dem Kopf gestreichelt, wie die Mutter ein Kind streichelt.

Daheim hielt ich es kaum aus - doch was heißt hier „hielt“? Jetzt bin ich in der Gegenwart angelangt. Im Heute. Nein, noch etwas...

Nach unserem gescheiterten Urlaub wurde Dirk in ein anderes Krankenhaus gebracht, hier, in der Nähe. Wir sind im Jetzt. Und ich halte es nicht mehr aus, in diesem Hier und Jetzt.

Ich fahre täglich zu ihm und renne die letzten Meter bis zu seinem Zimmer, ich stelle mir immer vor - sein Bett sei leer. Dann atme ich erleichtert durch - er liegt da. Dann sitze ich bei ihm und finde keine Worte um ihn zu trösten, ich finde gar keine Worte um mit ihm zu sprechen. Er redet auch nicht mit mir. Doch, nein, manchmal sagt er: „Das Essen schmeckt nicht“. Oder: „Die Ärzte sind unfreundlich“. Oder: „Ich bin müde.“

Vor dem Letzteren habe ich eine besonders große Angst.

„Liest er immer noch?“ fragt Bea plötzlich.
„Nein, er liest nichts mehr,“ antworte ich. Ich erinnere mich, wie Dirk ein Buch aus der Hand geglitten ist und auf den Boden gefallen. Er schien dies nicht einmal bemerkt zu haben. Das war das letzte Buch, er wollte kein neues. Sie liegen jetzt im Keller, ich habe die Kiste mit Zeitungspapier zugedeckt, damit ich die Bilder nicht sehe, auch zufällig nicht.

Ich habe auch vor Dirk Angst - das klingt wohl seltsam, doch er ist so fremd geworden. Als ob er ein Geist ist.

Bea lacht leise.

„Tut mir leid, Bea,“ sage ich.
„Hast du Angst vor mir?“
„Nein“, ich schüttele energisch mit dem Kopf. Warum soll ich vor diesem Kind Angst haben?

Aber ich habe Angst vor dem Alleinsein, allein in diesem Haus, wo alles für uns zwei eingerichtet ist. Wo alles nach Dirk ruft.
Ich habe Angst vor jeder Minute, die mir eine schlimme Nachricht bringen kann. Ich finde keine Ruhe, ich erfinde für mich nutzlose Tätigkeiten, ich beschäftige mich - und dann kommt der Abend. Dann fliehe ich in dieses Zimmer, davor schalte ich das Telefon aus. So bin ich sicher - bis morgen. Dann geht die Quälerei weiter los.

„Welche schlimme Nachricht?“, stellt Bea eine seltsame Frage.
Ich schaue sie verdutzt an.


„Komm,“ sagt sie plötzlich ganz entschieden und reicht mir die Hand. Die Tränen tanzen rund um uns, sie wachsen, sie verschmelzen miteinander zu einer großen Kugel, die sich ständig dreht, glitzert, leuchtet. Mir wird es schwindelig, ich stehe auf, ich bin dabei, das Gleichgewicht zu verlieren - und stütze mich auf Beas Hand. Sie berührt die Kugel, und diese nimmt uns auf, zieht uns in sich hinein. Ein Gefühl als ob man unter Wasser schwimmt und doch frei und leicht atmen kann. Ein Gefühl, dass dieses Wasser dich heilt und alles Böse von dir fern hält. Und auch deine Angst.

Hinaus aus der Enge, weg von den Alpträumen, hin zur Freiheit und zur Ruhe...

Wir fliegen Hand in Hand, Bea und ich. Unter uns sehen wird zauberhafte Landschaften, bunte Wäldern, deren Laub gleichzeitig Grün, Gelb und Rot leuchtet. Auch einige kahle Zweige habe ich bemerkt. Es ist windig, doch der Wind ist sanft und warm. Ich wundere mich, als ich auf einem Fluss, dass den Wald in zwei Teile trennt, einige Eisschollen treiben sehe. Die Schollen glänzen in den Strahlen der unsichtbaren Sonne. Vielleicht kommen sie aus dem fernen Ozean, der wie ein schmaler Streifen am Horizont zu sehen ist. Dorthin fliegen wir. Und unsere Schatten gleiten leicht und schnell und so zerbrechlich auf der Wasseroberfläche.

Ich höre fröhliche Gesänge und weiß nicht, woher sie kommen. Vielleicht sind es diese weißen Möwen, die sich im Kunstflug üben. Sie stürzen herunter, sie fliegen hoch hinaus, sie überschlagen sich in der Luft. Seit wann können Möwen singen?

Ich sehe Hirsche mit einem riesengroßen Geweih und tapsige Bären, ich sehe Walrosse und Haifische, ich sehe einen Mammut und einen Flugsaurier. Und alle Tiere scheinen keine Angst voreinander zu haben, sie scheinen friedlich und freundschaftlich miteinander zu leben.

Bea und ich landen sanft und langsam, als ob wir Fallschirme über uns haben. Doch nicht einmal mit Flügeln sind wir ausgestattet. Wir stehen am Strand, vor uns - die endlosen Wassermassen. Hinter uns hören wir Singen und Murmeln. Ich drehe mich um: Tiere kommen auf uns zu. Wie groß sind sie! Und wie schön - jedes Wesen auf seine einmalige Art. Und ich habe keine Furcht vor dem Braunbären, der mich mit seiner feuchten Nase anstupst, und auch erschrecke ich nicht, als ein Elch meine Wange mit seiner Zunge leckt. Und die Krallen eines Adlers, der sich auf meine Schulter niederlässt, fühlen sich wie ein zärtliches Streicheln an. Bea versenkt ihr Gesicht in dem dichten Bärenfell, aber ich bemerke, dass sie mich aus dem Augenwinkel beobachtet. Sie wirkt jetzt noch mehr wie ein Kind, wie ein aufgewecktes Mädchen, das mit mir so gerne spielen würde. Sie erwartet wohl von mir etwas, ich soll etwas entdecken, was sie schon längst gesehen hat. Es bringt sie zum Lachen, dass ich immer noch nicht erkennen, was für sie so klar ist. So offensichtlich und so lustig. So schön und so befreiend.

Ich schaue die Tiere an, ich berühre ihre pelzigen Köpfe, ich kraule sie unterm Kinn, ich blicke in ihre Augen. Diese Augen, die mich mit so viel Liebe und mit solcher Weisheit anschauen. Ja, diese Augen, sie sind ungewöhnlich, sie sagen mir, dass diese Tiere wohl mehr als das sind, als was sie mir erscheinen. Der große Bär schaut mit den Augen meines Vaters mich an, doch nicht mit dem verzweifelten Blick, mit dem er mich bei meinem letzten Besuch im Krankenhaus verabschiedet hat, sondern mit einem freundlichen und verklärten Blick. Und dieses Reh - seine Augen ähneln den grünen Augen meiner verstorbenen Mutter. Und die Möwe - sie hat einen so kindisch naiven Blick! Doch die Augen meines Sohnes durfte ich nie sehen - sein kurzes Leben verbrachte er in einem unruhigen Schlaf.

Und der große Elch? Lebt auch ein Mensch in ihm?
„Nein, in ihm - nicht. Und der Adler war auch vorher ein Adler! Hier sind sie aber alle gleich, und keiner herrscht über den anderen. Schön, oder?“ meine Begleiterin Bea lacht, ihr Glöckchen läutet schön.
„War?“ dieses Wörtchen stört mich, ich stolpere darüber.
„Weißt du immer noch nicht, wo wir sind?“ fragt Bea.

Doch, denke ich, ich weiß es jetzt.

Und in diesem Augenblick drehe ich mich zum Ozean und sehe noch ein Tier: ein Walfisch erhebt sich aus dem Wasser, sein kräftiger Körper ist zu einem Sprung bereit - und schon fliegt er in einem weiten Bogen und taucht wieder unter, und Tausende Spritzer stehen in der Luft und in diesen Spritzern bricht das Licht und wird farbig. Und ein großer Regenbogen über den ganzen Himmel entsteht, und ist so greifbar, so nah.

Doch in dem kurzen Augenblick, als der Walfisch in der Luft flog, hing mein Blick an seinen Augen, und ich erkannte sie.

Und ich begriff...

„Bea, wir müssen zurück!“ sage ich entschieden.

Bea nickt verständnisvoll, und schon trägt uns der Wind, der immer kälter wird, davon, und der Gesang klingt leiser. Ich fühle mich wie ein Herbstblatt, das vom Sturm herumgewirbelt wird, hilflos und nicht fähig, über die eigene Zukunft zu entscheiden. Doch etwas ist anders: Ich bin angstfrei. Ich bin bereit das zu empfangen, was auf mich zukommt. Ich habe diese Zukunft nicht ausgesucht, doch ich nehme sie an. So, wie sie ist.

Als ich wieder in meinem Schlafzimmer stehe, weiß ich, was zu tun ist. Ich ziehe mich an, schnappe die Autoschlüssel und bin schon dabei, die Tür zu öffnen. Doch ehe ich das Haus verlasse, umarme ich Bea ganz fest und flüstere ihr ins Ohr: „Bist du da, wenn ich zurück komme? Das wünsche ich mir so sehr!“

„Ja, ich bin immer für dich da. Du wirst mich immer sehen dürfen, aber nur du. Vergiss es nicht und versprich mir, dass du mit mir nie laut redest!“
„Ich verspreche es, Liebes!“ Ich drücke ihr einen Kuss an die Wange.

Ich fahre ins Krankenhaus. Ich weiß, was mich dort erwartet. Doch Angst - ich habe sie nicht.

Impressum

Texte: Alle Rechte liegen bei mir
Tag der Veröffentlichung: 09.12.2012

Alle Rechte vorbehalten

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