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Meister des Unvollkommenen

Es war einmal ein Engel. Er war einsam und er war nicht schön, mehr noch, er war ziemlich hässlich. Alle anderen Engel waren richtige Schönheiten und sehr gesellig. Sie waren bei den Menschen sehr beliebt, denn sie waren hilfsbereit und zuverlässig. Dieser eine Engel aber wollte zwar immer helfen, doch es gelang ihm nur selten. Alles, was er machte, war nur halb so gut wie die Taten der anderen Engel. Niemand mochte ihn, und er wurde daher immer trauriger und immer finsterer.

Er beschloss, die himmlische Gesellschaft der Engel zu verlassen und sich in einen Wald zurück zu ziehen um dort allein zu leben. Als es durch den düsteren Wald wanderte, hörte er plötzlich Hilferufe. Ein Engel bleibt immer ein Engel, und er konnte nicht umher, zur Hilfe zu eilen.

Er entdeckte ein kleines Pony, das an einem Baumstamm angebunden war. Das Pony war abgemagert und zottelig. Es hatte trübe Augen und zitterte am ganzen Körper. Und außerdem hatte das Tier einen scheußlichen Buckel.

„Wer hat dich hier angebunden?“ fragte der Engel. Er band das Pony los und streichelte es.
„Mein Besitzer wollte mich loswerden, denn ich bin nicht schön anzusehen und zum Reiten nicht tauglich,“ antwortete das Pferdchen.
„Nun, mich braucht auch niemand,“ seufzte der Engel und fügte hinzu: „Komm mit, sonst erfrierst du hier“. Denn es war recht kalt geworden.

Der Engel und das bucklige Pony blieben zusammen. Sie bauten ein kleines Haus. Sie bestellten ein Feld, und es stellte sich heraus, dass das Pony eine große Kraft hatte und allerlei schwere Lasten schleppen konnte.

An einem Abend saßen die beiden am Feuer. Es war Winter und es schneite. Plötzlich klopfte es an der Tür, und der Engel machte auf. An der Schwelle saß ein großer Adler und zitterte.

„Darf ich mich bitte bei Euch erholen?“ flehte sie der Adler an. „Mich haben meine Artgenossen verjagt, weil ich ein krummes Bein habe und weil ich deswegen hässlich bin“.
„Komm herein!“ lud der Engel den Vogel ein.

Der Adler blieb bei dem Engel und dem Pony. Er konnte gut die Felder vor den Krähen bewachen und außerdem flog er gerne umher und brachte Nachrichten aus anderen Ländern mit.

Einst berichtete der Adler, im Nachbarkönigreich sei eine Plage ausgebrochen. Wassergeister trübten das Wasser und machten es ungenießbar. Die Menschen waren schon am Verdursten, und die Engel konnten den Menschen nicht helfen. Die scheußlichen Geister waren stark und gehorchten niemanden.

Der hässliche Engel zögerte nicht lange, sondern nahm seine Freunde mit und machte sich in das Nachbarkönigreich auf. Dort angekommen, sah er, dass viele Menschen kraftlos auf den Straßen lagen und nur leise „Trinken, trinken!“ flüstern konnten. Vom Mitleid mit den Menschen erfüllt, begab sich der Engel zu den Wassergeistern. Diese aber lachten böse und sagten, sie seien niemandem eine Antwort schuldig und bleiben dort, wo sie wollten.

Der Engel aber sagte: „Ich, der unschöne und unvollkommene Engel, kann keine kristallklare Quellen sprudeln lassen. Dafür kann ich aber einen gemütlichen Sumpf für euch Wassergeister erschaffen, der viel schöner ist als die Gewässer in diesem Königreich.“

Gesagt - getan. In den weiten Wäldern erschuf der Engel einen Sumpf, und die Wassergeister waren davon so begeistert, dass sie sofort umgezogen waren. Die Menschen im Königreich bekamen wieder frisches Wasser. Der König dieses Landes war dem Engel so dankbar gewesen, dass er ihn und seine Freunde eingeladen hatte, bei ihnen zu leben.


Es vergingen viele Jahre. Der hässliche Engel, das Pony und der Adler lebten ruhig in der schönen Stadt und freuten sich des Lebens. Doch als der alte König gestorben war, und der neue König den Thron bestiegen hatte, änderten sich die Zeiten. Der junge König wollte, dass alles rund um ihn schön und vollkommen wäre. Alles aber, war nicht schön genug war, beschloss er zu vernichten.

Der hässliche Engel und seine Gefährten flüchteten nachts aus der Stadt. Engel, Pony und Adler liefen Stunden und Tage, aber die Wachen waren ihnen immer dicht an den Fersen. Endlich erreichten die Freunde den Ozean. Dort blieben sie erschöpft stehen und schauten von den hohen Felsen hinunter in die tosenden Wogen.

Die Wachen kamen näher, und es gab keinen Ausweg und kein Entkommen von dem sicheren Tod. Der Engel umarmte seine Freunde und betete leise. Der Adler und er hätten wegfliegen können, aber sie wollten das bucklige Pony nicht allein lassen. Sie hätten ohnehin keine Kraft gehabt, den Ozean zu überqueren.

Da erschien ihnen plötzlich ein alter Mann, der sich auf einen Stock stützte und dessen Kleider schneeweiß waren.

„Erkennst du mich nicht?“ fragte der Mann den Engel.
Dieser schaute ihn lange an und sprach schließlich ganz leise: „Vater! Wo bist du denn so lange gewesen?“

Der Mann antwortete müde: „Nun, ich musste den hochmütigen Himmel verlassen, denn ich bin für euch strahlende Engel nicht vollkommen genug. Aber auch die stolze Erde hat mich nicht angenommen, denn die Menschen streben nach Perfektion, und ich bin nicht perfekt. Die Menschen haben vergessen, dass alles Lebende unvollkommen sei, und dass nur die toten Dinge vollkommen sein können, denn sie verändern sich nicht mehr. Das Leben aber ist immer unzulänglich, es ist ständig im Werden, es ändert sich und ist nie vollendet. Daher liebe ich alles Unvollkommene, alles, was kränkelt und alles, was schwächelt.

Weit weg, mitten im Ozean, habe ich eine Insel der Unvollkommenen erschaffen, dort sammle ich alle, die in dieser Welt nur deswegen geächtet werden, weil sie nicht schön und nicht schlank und nicht klug, oder nicht erfolgreich genug ist. Dorthin nehme ich euch mit. Dich aber, mein Engel, werde ich bitten, mein Bote zu sein. Suche die, die meine Hilfe brauchen und bringe sie zu mir"

Und der alte Mann fragte die drei Freunde: Wollt ihr mit mir kommen?“

Alle nickten, und der weiße Mann winkte, und auf seinen Wink erschien in der Luft ein zerbeultes altes Boot und schaukelte über dem Abgrund. Pony, Adler und Engel stiegen darein und segelten weg. Die Wachen schossen ihnen hinter her, doch ihre perfekten Waffen konnten das alte Boot nicht versenken.

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Texte: Alle Rechte liegen bei mir
Tag der Veröffentlichung: 16.10.2012

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