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„In zwei Tagen gehen wir auf Reisen!“ - Viktors Mutter strahlte.
„Echt? Darf ich dieses Mal endlich mit?“ - Viktors Augen wurden ganz weit. Er war so gespannt auf eine Antwort, dass er sich auf Zehenspitzen stellte und seiner Mutter in den Mund schaute.
„Hm...“ - die Mutter lächelte rätselhaft und neckisch. - „Na ja, du bist auch schon sechs. Kein ganz kleiner Junge mehr. Also gut!“
Viktor rannte auf sie zu und umarmte sie so stürmisch, dass die Mutter beinahe stürzte.
„Vorsicht, Kind! Und außerdem - du musst jetzt aufpassen und dir alles merken, was ich sage!“
Nein, Viktor konnte sich nichts merken, er hüpfte und lachte. Doch die Mutter wurde streng und redete auf ihn ein: „Hör bitte zu! Das ist keine gewöhnliche Urlaubsreise, sondern ein Ausflug in eine Fremde Welt. Eine Welt, in der wir nur Gäste sind und die anders, sehr anders ist als unsere“.
„Wie anders?“ - fragte Viktor.
„Nun, dort ist ein riesengroßer Ozean und ganz viele Inseln. Dort leben friedliche Wesen, die uns Menschen mögen, aber keinen Kontakt zu uns pflegen. Das sind ungewöhnliche Wesen, nämlich Geister und Drachen. Sie können fliegen, und brauchen dazu kein Flugzeug. Sie können zaubern, sind doch aber keine bösen Zauberer.“
„Aber...“ - Viktor wurde es auf einmal bange. - „Leben dort keine Monster?“
„Nein, nein, das sind keine Monster, das sind nur Geister. Und dazu noch sehr freundliche und sehr schöne“ - den Ausdruck auf Mutters Gesicht konnte der kleine Junge nicht verstehen. - „Ja, und eins noch: Wenn dich jemand fragt, ob du einen Papa hast, sag „ja“. Vielleicht ist er weggegangen oder gestorben oder so...“
„Und was ist mit meinem Papa wirklich passiert?“ - fragte Viktor vorsichtig.
„Wirklich? Er war ein sehr schöner Mann - aber er und ich, wir durften nicht zusammen sein.“
„Warum?“
„Das ist eine lange Geschichte“ - die Mutter lächelte wieder und küsste Viktor auf die Stirn. - „Komm, lass uns zu Abend essen, es ist recht spät geworden!“

Zwei Tage bis zur Abreise in das Fremde Land zogen sich langsam hin, Viktor hat sein Spielzeug stehen gelassen, er wollte sich mit keinem Freund verabreden, nicht einmal essen wollte er. Er lief seiner Mutter hinter her und stellte Fragen, von denen jede zweite war „Wie lange noch?“

„Du sollst danach niemandem erzählen, wo du warst!“ - warnte ihn die Mutter.
„Warum?“
„Weil dir niemand glauben wird“.
„Und wenn ich Hannes mit einlade, dann kann er meine Erzählung bestätigen“ - hatte Viktor eine Idee.
„Hannes wird in die Fremde Welt nicht mit kommen können.“
„Warum?“
„Weil er... Weil wir ein bisschen anders sind als er. Weil wir einen kleinen Teil von dieser Welt auch hier in uns tragen.“ - versuchte die Mutter zu erklären.
„Wieso, Mama?“
„Weil einer unserer Vorfahren jemand aus dieser Fremden Welt war. Aber genug jetzt - du musst ins Bett. Morgen ist es ja soweit!“


***
Und es war soweit. Viktor wachte früh auf, seine Mutter war schon bereit. Sie durften kein Gepäck mitnehmen, nichts außer leichter Kleidung. Es war alles geregelt für einen Drei-Tage-Urlaub. Sie fuhren mit ihrem kleinen Auto los. „Es ist nicht weit“, - erklärte die Mutter.
Viktor rutschte nervös auf seinem Sitz und erwartete so etwas wie einen Tunnel in die Fremde Welt. Aber sie parkten auf einem großen und um diese Stunde fast leeren Parkplatz, wo in einiger Entfernung nur ein Paar Wohmos standen.
„Du hast mich immer gefragt, wie ich in die Fremde Welt reise - jetzt wirst du es mit deinen eigenen Augen sehen - aber stelle bitte keine Fragen und wundere dich über nichts, was ich tue!“ - sprach die Mutter zu Viktor, aber dem Kind hat es vor Aufregung sowieso die Sprache verschlagen.

Die Mutter holte aus dem Kofferraum ein großes Tuch aus feiner Gaze, das Tuch duftete fein nach ihrem Parfüm. Viktor und sie setzten sich auf den Rücksitz und deckten sich mit dem Tuch zu. Die Mutter nahm Viktors Hand in ihre und flüsterte: „Fremde Welt, wir sind bereit, diese Reise anzutreten, nimm uns an, nimm uns an und verwirf uns nicht. Fremde Welt, öffne dich, denn wir kommen - Viktor und ich!“

In dem Augenblick wurde der Junge schläfrig, gähnte, es schien ihm, dass er auf einem breiten Rücken eines riesenhaften weichen Tieres reitet und unter ihm sich eine endlose glatte Wasserfläche bis zum Horizont erstreckt. Er spürte Ruhe und Freude und seine Seele öffnete sich der Fremden Welt entgegen. Und die Fremde Welt nahm ihn an.

„Jetzt kannst du die Augen aufmachen, aber halte dich schön fest!“ - hörte Viktor die Stimme seiner Mutter und öffnete die Augen. Und wenn sie ihn nicht umarmt hätte, wäre er bestimmt in die Tiefe herunter gefallen - denn unter ihm erstreckte sich ein endloser Ozean, weit bis zum Horizont. Die aufgehende Sonne ließ das Wasser rosa und rot leuchten und die Strahlen funkelten herrlich in den kleinen Wellen. Viktor dachte zuerst, sie sind mit einem Flugzeug unterwegs, doch im nächsten Moment entdeckte er, dass über seinem Kopf nur der dunkel-blaue Himmel war und kein Dach. Und er saß nicht auf einem Sitz, sondern auf einem breiten Rücken eines seltsamen langen Wesens, das mit feinem Fell bedeckt war und dessen großer Kopf sich vor seinen Augen hin und her bewegte. Die Mutter saß hinter Viktor und umarmte ihn ganz fest.

„Das sind die Drachen - die Bewohner der Fremden Welt. Und es gibt noch Geister, gleich werden wir sie treffen“ - sagte die Mutter Viktor laut ins Ohr, damit er trotz Wind ihre Worte hört.

Und in der Tat: plötzlich sah das Kind einen Mann, der neben ihm in der Luft schwebte und dann noch eine Frau in einem fantasievollen Kleid neben ihm, und noch weitere menschenähnliche Wesen. Alle hatten recht ungewöhnliche Bekleidung, die etwas altertümlich anmutete. Viktor schaute fasziniert zu den Wesen hinüber: in der Tat, sie brauchten kein Fluggerät und standen ruhig in der Luft aufrecht, als ob unter ihnen fester Boden war.

„Seid gegrüßt, liebe Gäste!“ - sprach der Mann, der am ihnen nächsten war. Viktors Mutter lachte so unbeschwert, wie Viktor sie nur selten lachen hörte. Der Mann hatte schwarzes glattes Haar und dunkle Augen, seine Gesichtszüge waren fein und der Mund schmal. Er lächelte und die anderen Wesen lächelten auch, als ob sich seine Grimasse in deren Gesichtern spiegelte.

Der Flug war bald zu Ende und der silbrig glänzende, weiche Drache landete auf einer felsigen Insel, die von prächtig blühenden Pflanzen mit aussergewöhnlich großen bunten Blättern und glockenförmigen Blüten überwachsen war.

„Wenn du nicht gekommen wärest - wären wir ja ins Meer gestürzt. Doch du kommst ja immer, mein Freund“ - Viktors Mutter tätschelte den Drachen und küsste seine pelzige Schnauze. Eigentlich sah der Drache wie eine Mischung aus Schlange und Hund aus: ein Hundekopf saß auf einem langen und wendigen Körper und dazu krumme Pekingesen-Beine. Vermutlich konnte das Tier nicht sprechen, denn es schleckte die Mutter über die Wange und stupste sie nach der Hundeart mit der Nase. Andere ähnliche Drachen kamen heraus, manche waren weiß, andere - gelblich oder grau.

***
Die Geister ließen sich auf die Erde nieder, doch ihr Gang hatte etwas Schwebendes als ob sie mit jedem nächsten Schritt wieder in die Luft steigen könnten. Der Mann reichte Viktor die Hand und sprach: „Willkommen in meiner Welt, ich bin deren Gebieter und heiße Azael. Und hier sind meine treuen Untertanen“ - Azael machte eine ausladende Geste. Viktor konnte die Geister nicht zählen, es waren einfach zu viele. Sie standen alle ungewöhnlich still und lächelten immer noch. Es schien, sie trauten sich nicht näher zu kommen.

„Schön, dich wieder zu sehen!“ - zu der großen Verwunderung des Kindes küsste Azael die Hand von Viktors Mutter, die als Antwort seine Hand streichelte und mit ihren Lippen berührte. Viktor spürte einen leichten Stich von Eifersucht und zog seine Mutter an dem Ärmel von dem Mann weg. Sie lachte und ließ Azaels Hand los. Aber ihre Blicke hingen an dem Gebieter der Fremden Welt. Viktor wäre jetzt am liebsten aus dieser Fremden Welt verschwunden, aber es ging selbstverständlich nicht.

Azael gab ein Zeichen, und die Geister gerieten in Bewegung: sie hüpften, flogen umher, sie wurden geschäftig und hatten es plötzlich eilig. Sie trugen dampfende Gerichte herbei, sie brachten verzierte Amphoren mit aromatischen Getränken, sie breiteten einen dicken Teppich aus und servierten ihren Gästen eine wahrlich königliche Mahlzeit. Viktor wurde auf einmal furchtbar hungrig und aß Unmengen von leckeren Speisen, bei denen man nicht genau sagen konnte, aus welchen Zutaten sie zubereitet waren, aber sie schmeckten genau so, wie es Viktor am liebsten hatte: nämlich nach Pommes Frites und nach Nudeln mit Ketchup.

Viktor bemerkte, dass die Geister nicht viel aßen, aber sie tranken gerne ein Getränk, das das Kind zuerst für Wasser hielt und sich auch einschenken wollte, doch Azael deckte mit seiner großen Hand sein Glas zu: „Nein, Junge, das darfst du noch nicht kosten. Das ist etwas, was ihr Menschen Alkohol nennt.“
Viktor fand es unangenehm, dass seine Mutter einige Gläser getrunken hatte und mit jedem Schluck fröhlicher wurde und ausgelassen lachte, obwohl es aus seiner Sicht nichts Lustiges geschah.

***
Viktor stand auf und beschloss, die Insel etwas näher kennen zu lernen. Als er einige Schritte weg von der Festtafel gemacht hat, näherte sich ihm eine zierliche Gestalt in einem knöchellangen Kleid und mit einer seltsamen Hochsteckfrisur,. Er blickte hoch zu ihr und wunderte sich über ihre Augenfarbe: lila Augen hat er noch nie gesehen. Ihr Gesicht war schmal, wie bei Azael, und ihr Mund - eine dünne Linie.

„Darf ich dir unsere Insel zeigen, Viktor?“ - fragte sie. Ihre Stimme klang wie eine Melodie, gespielt auf einen Glas-Xylophon: fein und etwas befremdend. - „Ich heiße Isa.“ - fügte die Frau hinzu.

Viktor nickte, obwohl er am liebsten die Gegend auf eigene Faust erkundet hätte, und ließ sich von Isa leiten. Die Insel war nicht besonders groß: fast schwarze Felsen ragten direkt aus dem Meer, nirgendwo unten gab es etwas wie einen Strand, wo man baden konnte. „Aber vielleicht baden die Geister gar nicht“, - überlegte sich Viktor. Er hatte Angst, näher an den Rand zu treten und in die schwindelerregende Tiefe zu schauen. Über ihm war ein wolkenloser Himmel und soweit das Auge reichte - Wasser, nichts als Wasser.

„Habt ihr hier andere Inseln?“ - fragte er Isa.
„Ja, doch sie sind weit von hier und sehen alle gleich aus“.
„Gibt es hier etwas anderes als Inseln - irgendeine Stadt oder so?“
„Nein, Kind. In dieser Welt leben nur wir - und die Drachen.“ - antwortete Isa kurz.
„Habt ihr keine Häuser?“ - fragte Viktor weiter.
„Wir brauchen nichts zum Leben, außer...“.
„Außer - was?“
„Außer Freiheit“ - sagte Isa.
„Aber ihr seid hier frei, in eurer Fremden Welt!“ - meinte Viktor.
„Sicher. Schau mal dort!“ - Isa zeigte auf zwei Drachen: sie tanzten zwischen Himmel und Wasser, eng umschlungen schienen sie mal im freien Fall hinunter zu stürzen, mal schossen sie so weit hoch, dass sie wie zwei wunderliche Sterne aussahen, die bei Tag sichtbar waren.

***
„Komm, lasst uns tanzen!“ - rief Isa und ehe Viktor sich versah, flog er mit der schönen Dämonin über dem Meer. Sie hielt ihn fest und sie drehten sich in einem wunderlichen Reigen. Isa lachte und ihre Haare lösten sich und fielen in herrlichen Locken über ihre Schultern und über den Rücken, und streiften Viktors Gesicht. Der Junge schaute in die Lila-Augen seiner Partnerin und konnte seinen Blick nicht abwenden. In ihren Augen sah er grüne und schwarze Funken tanzen, und Isa sagte: „Hübscher Junge! Wenn du größer wirst, dann werden wir miteinander Spaß haben, ganz sicher.“

In dieser Sekunde tauchte Azael neben ihnen auf und befahl Isa, zurück zu kehren. Sein Ton war recht schroff und Isa gehorchte offensichtlich ungern. Viktor war erleichtert, dass er wieder auf festem Grund stehen durfte, denn ihm wurde es etwas schwindelig von dem rasanten Flug. Allerdings wollte das Schwindelgefühl nicht weichen und so lief er zu seiner Mutter und verbarg sein Gesicht auf ihrem Schoß.

Die Mutter streichelte seine Haare, ihre Hand roch nach dem seltsamen Getränk und nach den süßen Speisen und auch nach noch etwas Scharfem und Aufregendem, was Viktor nicht benennen konnte.

„Geht es dir nicht gut, mein Kind?“ - fragte sie.
„Alles dreht sich und ich habe Angst“ - klagte Viktor.

„Ach, es tut mir leid, aber vermutlich müssen wir schon gehen. Das erste Mal ist immer etwas zu kurz“ - sprach die Mutter zu jemandem, den Viktor nicht sah.
„Nun, geht. Ich werde dich vermissen. Und Viktor... er ist ein sehr schöner Junge geworden“ - hörte der Junge Azaels Stimme und spürte, wie der Dämon seine Mutter küsste.

Viktor war froh, als der Drache sie in die schwindelerregende Höhe hob und weg von der Insel brachte, dorthin, wo über dem Ozean eine Art Nebel schimmerte. Im Nebel, als nichts mehr zu sehen war, schlief Viktor ein und wachte in ihrem kleinen Auto auf, und die Mutter saß neben ihm auf dem Rücksitz und weinte. Tränen liefen über ihr Gesicht und tropften auf ihre gefalteten Hände. Die Tränen glitzerten wie kleine Regenbögen und Viktor schien es, dass in jeder Träne das Gesicht von Azael zu erblicken war.

***

Sieben Jahre später

„Möchtest du mir dieses Mal Gesellschaft leisten?“ - die Mutter war wie jedes Mal vor ihrer Reise in die Fremde Welt in einer besonders fröhlichen Stimmung, sie stand vor dem Spiegel, betrachtete ihre nach irgendeiner Beauty Anwendung rosa schimmernde Haut. - „Mensch, Viktor, sie haben alle meine Falten verschwinden lassen, diese Genies von Kosmetikerinnen.“
„Azael wird bestimmt begeistert sein,“ - sprach Viktor düster.
„Du musst mitkommen, sie warten dort alle auf dich! Sie würden ein ganz besonderes Fest veranstalten, ein aussergewöhnliches. Ich verstehe gar nicht, wieso du dich ganze drei Jahre geweigert hast, in die Fremde Welt zu reisen. Es ist so... anregend!“ - die Mutter zwitscherte und strahlte. Viktor schien es, sie erwarte keine Antwort von ihm.
„Und wozu soll ich dich dorthin begleiten, du hast dort deinen Azael und ... Hast deinen Spaß, mit ihm wie Isa einst sagte!“ - sprach Viktor erbittert.
„Ach ja, Isa“ - die Mutter überhörte scheinbar alles außer dem Namen der schönen Dämonin. - „Isa fragte nach dir, sie wollte dich auch gerne sehen“.
„Ich brauche sie nicht.“
„Nein... Ja, du hast recht, natürlich brauchst du sie nicht.“ - die Mutter wurde plötzlich ernst und setzte sich zu Viktor auf die Couch, versuchte ihn zu umarmen, doch er wich aus.
„Viktor, ich will dich nicht zwingen, in die Fremde Welt zu gehen. Vielleicht ist es für dich tatsächlich besser, dass du nicht mehr hingehst. Unsere Welten sind schön, aber jede für sich. Und sie sollen sich nicht vermischen, sie sollen jede für sich sein“.
„Was heißt hier „vermischen“, Mama?“ - Viktor saß auf der Couch und schaute direkt vor sich.

Ihn überkam eine traurige Stimmung, denn er stellte sich die bitter-einsamen drei oder sogar vier Tage vor, an denen er seine Mutter vermisste und am liebsten diese Tage ganz durchgeschlafen hätte. Er hat immer wieder versucht, ihr diese Besuche in der Fremden Welt auszureden, doch sie ging. Alle zwei-drei Monate reiste sie dorthin und kam so glücklich zurück, dass er vor Eifersucht weinen konnte.

Er wusste Bescheid, dass sie diesen Azael über alles liebte und wenn es irgendwie möglich gewesen wäre, in der Fremden Welt geblieben wäre. Doch die Bewohner der Menschenwelt hielten es in der fremden Dämonenwelt nicht lange aus. Nach einigen Tagen überkam die Menschen eine unangenehme Benommenheit, ihnen wurde es immer wieder schwindelig und wenn sie noch länger blieben, dann bekamen sie Anfälle von Depression, als ob sich graue Schleier zwischen sie und der zauberhaften Fremden Welt schoben. Damals, vor einigen Jahren, hatten Viktor und seine Mutter gewettet, wer zuerst aufgibt und auf der Rückkehr besteht. Azael war sicher, dass Viktor länger bleiben könnte, und Isa meinte, das Viktors Mutter die Stärkste ist. Die anderen Dämonen hielten sich wie meistens aus allen Gesprächen heraus und lächelten schweigend. Viktor schien es, dass sie eigentlich nur darauf warteten, in ihr geheimes Leben abzutauchen, das sie in der Abwesenheit der Menschen führten.

Viktor war es nur etwas schwindelig, als seine Mutter sagte, sie halte nicht mehr aus, sie müsse zurück. Sie sah niedergeschlagen aus und war offensichtlich schwer enttäuscht. Sie wäre gerne geblieben, doch es ging nicht. „Ich habe nicht gezweifelt, dass Viktor hier lange bleiben kann.“ - sprach Azael und berührte mit seinen kühlen Lippen Viktors Stirn. Viktor zuckte zusammen. Azael strich noch mit seiner Hand über die Haare des Jungen und sagte wie immer zum Abschied: „Ich werde euch vermissen“. Seine Stimme klang besonders traurig, vielleicht ahnte er, dass Viktor nächstes Mal nicht mit kommen wird.

***
„Was meinst du mit „sich vermischen“, Mama?“ - fragte Viktor.
„Nun, du bist ja schon groß genug: damit ist gemeint, dass kein Mensch mit einem Dämon näher kommen darf. Das wird unseren beiden Welten ein Unglück bringen“.
„Was hat es mit mir denn zu tun? Das soll doch dich betreffen - und deinen Azael“ - Viktor fing an sich aufzuregen.
„Ich meinte - gerade deswegen. Nur einmal in Tausend Jahren darf es passieren ohne schlimme Folgen zu haben. Ich habe an Isa gedacht, sie fragt nach dir - und vielleicht gefällt sie dir, und...“
„Mama, was soll das alles! Ich bin noch ein Kind, und diese Isa ist sowieso irgend ein uraltes Wesen, so wie dein Azael übrigens. Vielleicht ist er eigentlich hässlich wie die Untoten aus meinem Computerspiel. Willst du sie sehen? Ich kann sie dir gerne zeigen,“ - Viktor wollte aufstehen, doch seine Mutter hielt ihn zurück.
„Rede nicht so über Azael. Er ist hat eine edle Seele und er liebt mich und dich.“
„Warum soll er mich denn lieben. Ich kann ihn nicht ausstehen!“ - Viktor riss seinen Arm aus den Händen seiner Mutter.
Sie schwiegen eine Weile bedrückt.
„Und woher weißt du das - von der Vermischung oder wie es heißen soll?“ - fragte Viktor.
„Das ist eine Weissagung, die wir Brückenmenschen von Generation zu Generation weiter geben. Das soll ein altes Gesetz sein...“
„Wir - was?“ - jetzt richtete Viktor seinen verwunderten und empörten Blick auf die Mutter.
„Wir - Brückenmenschen. Einst habe ich dir erzählt, dass wir auch ein Teil der Fremden Welt seien und das geschah auf folgende Weise: ein Geist aus der Fremden Welt kam in unsere Welt und verliebte sich in eine Menschenfrau. Sie bekamen ein wunderschönes Mädchen, das die Fähigkeit hatte, zwischen den Welten zu wandern. Wir sind Nachkommen von diesem Mädchen, wir zwei - die einzigen in unserer Welt. Doch für die beiden Welten sind solche Brückenwesen wie wir gefährlich: wenn die Welten sich öfter als ein Mal in Tausend Jahren vermischen, dann werden sie aufeinander rasen und ein grausamer Krieg zwischen Geistern und Menschen bricht aus“.
„Klingt nach einem Märchen,“ - meinte Viktor, doch es wurde ihm ziemlich unheimlich zumute. - Dazu noch scheinen diese Dämonen oder Geister, wie du sie nennst, ein eigentlich friedliches Völkchen zu sein.“
„Sie sind die liebsten Wesen, die ich kenne“ - sagte die Mutter schwärmerisch. - „Letztlich weiß ich nicht, was die Prophezeiung soll, doch ich musste es an dich weitergeben. Vielleicht ist sie auf die eine oder andere Art doch wahr.“
„Schon interessant, von wem diese Prophezeiung stammt“ - Viktor fühlte sich wieder etwas sicherer.
„Ach, es kann sein, dass sie jemand in den alten Zeiten erfunden hat, damit sich seine Kinder nicht auf eigene Faust in die Fremde Welt begeben,“ - auch die Mutter sah erleichtert aus. Wenn ihr Sohn so skeptisch ist, vielleicht war in der Tat die vermeintliche Prophezeiung nur eine Legende.
„Meinst du, ich könnte auch einmal allein in die Fremde Welt reisen?“ - wunderte sich Viktor. Diese Idee kam ihm noch nie in den Sinn.
„Ich reiste ja mit meinem Vater zusammen. Bis... nun, du weißt, was geschehen ist... Danach wollte ich diese Welt lange nicht sehen, ich hatte Angst. Doch einmal geschah etwas sehr Unangenehmes...“ - Die Mutter schwieg einige Augenblicke, dann seufzte sie und fuhrt fort: „Ich bin spät in der Nacht in unserem Park gejoggt - und da was plötzlich ein Mann hinter mir her, er hat mich verfolgt. Ich rannte so schnell wie ich konnte, doch er holte auf. Und dann habe ich mir so sehr gewünscht, in der Fremden Welt zu sein, dass - dass ich auf einmal auf dem Rücken des Drachen saß und über dem Meer flog - so wie ich mit meinem Vater in diese Welt immer gekommen bin, so wie mein Vater mit seiner Mutter dorthin gekommen war, so wie wir Brückenmenschen eben in diese Welt kommen. Azael - die Mutter seufzte wieder und schloss ihre Augen - hat mich begrüßt. Es wurde ein wunderschöner Tag, und seither komme ich dorthin so oft ich es kann“.

***
„Ich komme mit“ - sagte Viktor entschieden, - „Aber ohne das Kinderspiel mit dem Auto und dem Tuch, OK? Wir können doch bequem von dem Sofa dorthin reisen, oder?“
„Nein, Azael - schon wieder ein verträumter Seufzer, der Viktor die Lippen zusammen pressen ließ, - zeigte mir diesen Parkplatz und nannte auch die Tage, wenn ich - wir - am liebsten kommen sollen. Tage, an denen sie uns erwarten.“
„Meinst du, der war hier?“ - Viktor war wieder genervt.
„Nein, die Geister dürfen eigentlich nicht hierher kommen. Azael kann aber unsere Welt teilweise sehen oder besser gesagt - fühlen, “ - die Mutter lächelte und Viktor beruhigte sich wieder.

Ihn überkam Sehnsucht nach der Fremden Welt, nach den dunklen Klippen der Insel, an denen seit Ewigkeiten die Wogen zerschellen. Nach der Abwesenheit von Zeit, von Hektik, von Lärm. Nach den freundlichen stillen Geistern, die er Dämonen nannte um sie für sich selbst aufregender zu machen. Nach dem Frieden, nach dem immer blauen Himmel und nach den silbrigen schweigsamen Drachen, und nach den Lila-Augen von Isa.

***
Es war wieder schön, oder noch schöner als sonst. In der Fremden Welt war es an diesem Tag besonders warm und das Ozean lag still. Die Dämonen bereiteten eine fantastische Mahlzeit, ihre Gerichte sahen wie Bäche oder wie paradiesische Gärten aus, sie schmeckten nach etwas, was Viktor nie gekostet hat und was er immer probieren wollte. Dieses Mal durfte er einen Schluck von dem Getränk machen, was die Dämonen so gerne tranken. Es schmeckte nach Wasser, nach frischem süßen Wasser und machte die Stimmung heiter, ohne zu berauschen.

„Das nennt ihr Menschen Lebendiges Wasser“ - sagte Azael, der dieses Mal in einem strahlend weißen Hemd und eines breiten Hose neben seiner Mutter saß.
„Macht es unsterblich, oder?“ - fragte Viktor.
„Wir sind auch ohne den Trank unsterblich,“ - Isa setzte sich zu dem Jungen.
„Im Unterschied zu uns,“ - sagte Viktor und versuchte sich alt und gebrechlich vorzustellen.
Azael wandte sich ab. Etwas zerstreut umarmte er Viktors Mutter. Das Junge fühlte sich überflüssig wie auch die anderen Geister, die einer nach dem anderen wegflogen. Isa schaute den wegfliegenden Geistern mit einem schwer deutbaren Gesichtsausdruck hinter nach.

Als Viktor bemerkte, dass sich Azaels Hand auf die Brust seiner Mutter legte, stand er auf. Isa stellte sich neben ihn und sie waren auf Augenhöhe miteinander. Als er das letzte Mal in der Fremden Welt gewesen war, sah er Isa immer von unten an. Und ebenso entdeckte er, dass ihr Gesicht wunderschön war. Und verstand plötzlich, was das bedeutet, verliebt zu sein.

„Lass uns einen Ausflug machen, - schlug Isa vor, - ich zeige dir einen besonders schönen Ort. Komm, habe keine Angst, sobald du zurück willst, kehren wir zurück!“

Viktor wandte sich seiner Mutter zu um ihr Bescheid zu sagen, aber er sah nur wie Azael und sie einander leidenschaftlich küssten. Er wollte nicht erleben, was weiter geschah.

„Unverschämt! Aber so ist eben die Leidenschaft. Menschen sind immer ihren Leidenschaften so verfallen!“ - Verachtung zeigte aus Isas schönem Gesicht.
„Ihr Dämonen anscheinend auch,“ - widersprach Viktor.
„Wir? Nein, wir - nicht!“ - sprach Isa entschieden.
„Aber Azael...“
„Du glaubst doch nicht im Ernst, dass er deine Mutter liebt?“ - lachte Isa.
Viktor wusste nicht, was er glauben sollte. Er wollte diese Liebe nicht. Aber es war traurig, dass seine Mutter nicht geliebt wurde. Oder war es gerade gut so, denn bald würde sie ihm auch hier, in der Fremden Welt, voll gehören. Nicht viel verstand Viktor von der Liebe damals.

Der Drache trug sie über das Wasser, über die Inseln, die alle einander ähnlich aussahen: schwarze Felsen, Pflanzen mit Riesenblättern und großen Blumen in lila, rot, blau. Viktor schien es, dass sie den ganzen Planeten umrundet haben, der seltsam klein war. Nirgends war ein Kontinent zu sehen, auch keine anderen Lebewesen außer den Drachen, die immer wieder ihren Weg kreuzten, und manchen Dämonen, die langsam und scheinbar ziellos in verschiedene Richtungen schwebten - kleine dunkle Schatten über dem Wasser.

„Lebt hier noch jemand außer euch?“ - fragte Viktor.
„Außer uns? Nein, das ist allein unsere Welt“ - sprach Isa stolz.
„Nicht einmal Fische sehe ich, oder - Vögel!“
„Wozu? Wir brauchen niemanden, nur uns selbst!“
„Habt ihr sie alle etwas - ausgerottet?“ - Viktor konnte sich eine Welt ohne die Vielfalt der Lebens nicht vorstellen.
„Nein doch! Diese Welt wurde für uns erschaffen, nur für uns. Aber...“ - doch schon näherten sie sich der großen Insel und Azael stieg ihnen entgegen und grinste finster. Isa verstummte.

***
Als Viktor zu Hause war, kaufte er sich das beste Programm fürs Zeichnen - seither war er stundenlang damit beschäftigt, ein Bild von Isa zu malen. Löschte seine Bilder, malte neue. Von den Wänden schauten Hunderte Isas auf ihn herunter, doch er wusste - die wahre Isa war tausendmal schöner.

***
Sechs Jahre später
Die Zeit verging für Viktor im Warten auf die Besuche in der Fremden Welt und in den schmerzhaft kurzen Besuchen dort. Da er in der anderen Welt länger als seine Mutter aushielt, hatte es sich das Recht genommen, dort auch allein zu bleiben, nachdem seine Mutter weg war.

Klar, dass es die ganze Zeit mit Isa verbracht hat. Er erinnerte sich oft an ihre Worte, dass Dämonen leidenschaftslos seien und traute sich nicht, ihr von seiner Liebe zu erzählen. Er kam sich auch lächerlich vor: ein Mensch, fast noch ein Kind, verliebt in eine ewige Dämonin, ein schönes, aber ein endlos fremdes Wesen. Was hat sie mit ihm gemeinsam? Nur ein bisschen Blut, das sich vor Jahrtausenden vermischt hatte. Mehr nicht. Doch er liebte sie mit allen seinen Kräften, er genoss jeden Augenblick, den er in ihrer Nähe verbringen konnte, ihre mandelförmigen Augen, ihr schmales Kinn und den Mund, von dem er oft geträumt hat. Er wollte sie küssen, sich mit ihr vereinen. Er wollte stets bei ihr sein, mit ihr über alles reden und ihr seine Seele ausschütten. Doch bei jeder Begegnung spürte er eine Distanz, die sie trennte. Ihre Art verwirrte ihn, es wusste nicht, ob sie ihn wirklich nur necken wollte oder ob sie ihn verabscheute. Er durfte nicht hoffen, dass sie ihn liebte, aber es tröstete ihn, dass er keinen Grund hatte, eifersüchtig zu werden: sie lebte allein auf einer kleinen Insel und ihr einziger Gefährte war der große silbrige Drache, mit dem sie oft flüsternd sprach.

„Mit mir redet er aber nicht, bin ich ihm zu dumm?“ - Viktor legte sich so wie er es gerne hatte: ganz an den Rand der Klippen, wo tief unter ihm die Wellen tobten.
„Er redet wenig. Im Unterschied zu mir,“ - lachte Isa und setzte sich zu Viktor. Gemeinsam schauten sie in die Ferne, in der noch einige kleine Inseln zu sehen waren, alle wie eine Kopie der großen Insel, auf der Azael residierte.

„Sag mir, geht bei euch hier die Sonne nie unter?“ - fragte plötzlich Viktor.
Isa antwortete nicht.
„Was ist?“ - Viktor blickte zu ihr.
„Und wenn ich dir nur einen kleinen Schubs gebe - dann fliegst du herunter!“ - sprach Isa unerwartet.
„Mach das - ich kann gut schwimmen, du hast es mir doch beigebracht.“ - sagte Viktor herausfordernd.

Er erinnerte sich an die schönsten Stunden seines Lebens - die Schwimmstunden mit Isa, deren lange altertümliche Kleider sich wie von selbst in ein eng anliegendes Badeanzug verwandelten und Viktors Herz schneller schlagen ließen - ihre Formen waren perfekt. Sie schwammen im ewig lauwarmen Wasser des Ozeans, in dem man keine Angst vor Haien oder vor Stürmen haben sollte - eine Handbewegung von Isa, und jeder Sturm legte sich sofort. Sie schwammen und redeten miteinander und nach jedem Gespräch blieb Viktor ein Gefühl, dass etwas zwischen ihnen wuchs - und dass trotzdem das Wichtigste nicht zur Sprache kam.

„Das schaffst du nicht!“ - sprach Isa schnell - und gab ihm einen Schubs, Viktor wedelte mit den Armen, sein Herz schien stehen zu bleiben und er schnappte nach Luft - und flog herunter - er sah braun-schwarze spitze Felsen vorbei rasen, er sah eine einsame Rankenpflanze, die im Wind schaukelte. Er sah seinen Tod kommen - doch sein Flug endete abrupt. Starke Hände hielten ihn fest, Lila-Augen schauten ihn ernst und etwas traurig an, ihr Atem war warm, beinahe heiß.

Sie schwebte mit ihm zusammen über dem Wasser, sie küsste seinen Mund und er erwiderte den Kuss.

„Warum hast du es gemacht?“ - wisperte er.
„Weil ich dich liebe,“ - flüsterte sie zurück.
„Aber du kennst doch keine Leidenschaften“
„Jetzt - schon!“

Und schon wieder, wie damals als Viktor zum ersten Mal in der Fremden Welt war, tanzten sie über dem Wasser, tanzten einen wilden Reigen, dann tauchten sie und schwammen unter Wasser, dann flogen sie in die Lüfte. Wie zwei Vögel, wie zwei Delfine, wie zwei himmlische Wesen, sie waren frei, sie waren jung, sie waren stark und die Zukunft lag vor ihnen - ein herrlicher breiter Weg.

Sie kehrten auf Isas Insel zurück, sie küssten einander, sie rissen einander die Kleider vom Leib, sie bewunderten sich gegenseitig, wie wunderschön sie aussahen, jetzt, als sie nackt vor einander standen. Sie streichelten einander und liebkosten ihre makellosen Körper.

Der Drache kreiste hoch über ihren Köpfen und es war unklar, ob er die Liebenden bewachte oder sie trennen wollte. Die beiden beachteten ihr nicht, sie wurden zu einem Leib, sie wälzten sich auf der Erde, und die Erde war mit weichem Moos bewachsen, und sie lagen im Schatten der herzförmigen Blätter und ruhten sich aus.

„Meine Mutter hat mir einst gesagt, dass unsere Welten sich nur einmal in Tausend Jahren vermischen dürfen, sonst geschieht ein großes Unheil“ - sagte Viktor nachdenklich.
„Das stimmt nicht - die alte Prophezeiung sagt: eine Vermischung bringt Freiheit! Meine Freiheit!“ - sagte Isa und ihre Stimme klang plötzlich fremd und rau.
„Welche Freiheit?“ - wollte Viktor wissen.

Und in dem Moment spürte er, wie es ihm leicht schwindelig wurde. Er dachte, das sei eine Erschöpfung, doch als das unangenehme Gefühl stärker wurde, wusste er: er musste bald zurück. Wie gerne würde er noch bleiben, nackt auf dem samtweichen Moos ruhen und sich im Paradies fühlen - neben ihm eine neue Eva, und noch der Drache, der der Rolle der Schlange offensichtlich nicht gewachsen war. Jetzt war der Drache nicht zu sehen. Und Gott - was ist denn Gott in dieser Welt? Der Azael vielleicht, der gerne den Herrscher spielt. „Ich hasse Azael!“ - dachte Viktor und spürte einen Anfall von Übelkeit kommen. Er musste hier weg!


***
„Nein, du musst nicht!“ - hörte er Isa sprechen und zuckte zusammen - so krächzend klang ihre einst melodische Stimme.
„Was ist mit dir?“ - Viktor wandte sich zu ihr und erschrak - Isa sah seltsam aus: ein schmaler Körper, durch den schwarze Klippen schimmerten und um den herum wilde Flammen tanzten. Zwei rote Flügel breiteten sich aus und ein langer Schwanz mit einer Zacke an der Spitze bewegte sich unaufhörlich. Ein Dämon aus der Fremden Welt stand vor Viktor in voller Größe.

Panik stieg im jungen Mann hoch: Panische Angst vor dem unheimlichen Wesen und Panik als der Befehl sich aus der Fremden Welt zurückzuziehen.

„Trink das - dann kannst du hier eine Weile bleiben und unsere Welt so sehen, wie ich sie dir schon längst zeigen wollte!“ - sprach der Dämon düster und zeigte auf die Blume. Viktor verstand erst nicht, doch das Wesen neigte leicht die riesenhafte Blüte und ein Bächlein süßen Nektars floss heraus.

Ohne nachzudenken ließ Viktor die Flüssigkeit in seinen Mund tropfen, machte einen Schluck, noch einen - und glaubte, das Bewusstsein zu verlieren.

Er fiel in ein bodenloses Loch, er konnte zuerst nichts erkennen, dann gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit und er sah: es gab keinen Ozean und keine romantischen Inseln mehr, die Erde war wüst und öde. Nur schwarze Fläche, glatt und endlos. Ist das Gestein oder Sand - Viktor wusste es nicht. Im schwarzen Himmel leuchtete gespenstisch ein blauer Stern, groß wie die Sonne. Doch seine Strahlen wärmten nicht und gaben nur schwaches unstetes Licht. Starke Winde wehten ungehindert über die Wüste und mal hier mal da flackerten Flammen auf. Doch bald erkannte Viktor, dass es keine Flammen waren, sondern Augen von Dämonen. Jeder von denen hatte eine Art Fußschelle, sie schien an einer unsichtbaren Kette befestigt zu sein.

Dunkle Gestalten mit roten hasserfüllten Augen und entsetzlichen Fratzen, zerfetzte Flügel, herausgeschlagene Zähne, eiternde Wunden. Heulen und Stöhnen, Schreien und Winseln.

Und nur sie, Isa, war hier frei, sie hatte keine Fußfessel und lief zwischen den finsteren Geistern und berührte mal einen, mal den anderen mit ihrem Arm. Und jeder, den sie berührte, hörte für einen Augenblick auf zu stöhnen und stieß einen tiefen Seufzer aus. Doch sobald Isa vorbei gegangen war, begann das Gekreische und Gejammere von Neuem.
„Das solltest du sehen, du Mensch, du schwaches Wesen, das sich von nutzlosen Gefühlen leiten lässt. So müssen wir, ewige Dämonen, wegen euch leiden! Einst waren wir frei und waren dabei, eine Welt nach der anderen zu erobern. Irgendwann einmal war eure Menschenwelt auf unserem Wege und das wurde uns zum Verhängnis. Denn als wir in eure Welt eingedrungen sind, geschah es, dass unser Anführer sich in eine Menschenfrau verliebte und ein Kind mit ihr zeugte. Er wollte keinen Krieg mehr führen, er wollte die Erde verschonen und die Liebe vieler weiterer Frauen genießen. Wir, freiheitsliebende Dämonen, haben keinen Spaß an Liebe, wir wollten und wollen nur Krieg. Doch der Anführer war stärker als wir - nicht zufällig haben wir ihn einst zu unserem König gemacht. Unser Kampf war ungleich - er hat uns besiegt und in Ketten gelegt. Die Fremde Welt aber hat er für euch Brückenmenschen geschaffen, damit ihr kommt und euch verführen lässt. Immer wieder kamen Menschen, die Nachkommen von seinem ersten Kind, in unsere Welt, von der sie sofort begeistert waren und deren felsige Inseln und warmes Ozean sie für so schön gehalten haben - und Azael ließ sich keine Frau aus eurem Geschlecht entgehen, und zeugte mit jeder Kinder, und setzte so weitere Brückenmenschen in die Welt. Auch dich, Viktor. Er ist dein Vater, der verfluchte Azael!“
„Nein!“ - schrie Viktor! - „Das ist nicht wahr!“
„Doch, natürlich ist es wahr. Auch, dass ihr nicht die einzigen Brückenmenschen auf der Welt seid. Tag für Tag kommen Frauen hierher, um sich von Azael besteigen zu lassen. Tag für Tag müssen wir ein Fest feiern und ich muss seine unzähligen Kinder bespaßen. Manche Kinder ließ ich auch wie zufällig ins Meer fallen oder von meinem Drachen zertrampeln lassen. Dann kamen die Frauen nicht mehr. Doch Azael ist immer zornig, wenn seine Kinder sterben, er will wohl, dass eure Welt von seinen Nachkommen überflutet ist. Er, dieses unersättliche und gierige Monster!“
„Nein, nein, nein!“ - Viktor schrie nicht mehr, sondern wisperte nur.
„Azael will keine Männer hier sehen, doch er dazu nicht imstande, den Zugang zu seiner Welt für die Brückenmenschen zu sperren, daher kommen manchmal männliche Wesen hierher. Meistens kehren sie nie wieder zurück in ihre Welt. Dein Großvater ist einmal zu einer sehr falschen Zeit hier erschienen und hat gesehen, was Azael mit seiner Tochter, die gerade sechzehn geworden war, machte. Dein Großvater nahm einen Stein und warf ihn gegen Azael. Nun, du kannst wohl raten, was passiert ist: der Stein kehrte in der Luft um und traf den armen Mann in die Brust - es ist doch hier Azaels eigene Welt, wo alles ihm gehorcht.“
„Meine Mutter hat mir erzählt, mein Großvater sei gestolpert und von den Felsen ins Meer gestürzt“.
„Er wurde gestürzt. Und deine Mutter machte mit Azael weiter.“
„Hör auf, Isa! Du lügst, ich glaube dir nicht! Das ist alles Lüge!“ - stöhnte Viktor.
„Was ist Lüge? Du siehst doch mit eigenen Augen, wie die schöne Welt in Wahrheit aussieht. Ich sage kein Wort, das nicht stimmt. Ausserdem bin ich fertig. Nur noch eins: Azael hat mir versprochen, dass ich, wenn ich dich verführe, frei bin und meine Wege gehen darf.“
„Mich verführen... Das war wohl nicht so schwer.“ - lachte Viktor bitter.
„Doch, da ich keine Liebe kenne, was es schwer. Und weil du Azaels Sohn bist, hasse ich dich mit meiner ganzen Kraft. Und jetzt - geh zurück in deine Welt, ich brauche dich nicht mehr. Endlich habe ich meine Freiheit erhalten! Endlich!“

Viktor weinte und konnte durch die Tränen nichts um ihn herum sehen; Dämonen und Steine, Staub und Isas immer vager werdende Gestalt - alles verschwamm in seinen Augen zu einer grauen Masse. Er wollte nur eins - vergessen. Weg von hier, weg von allem, was er liebte und was er kannte. Verschwinden, sich auflösen, ein neues Leben beginnen, irgendwo dort, wo ihn niemand kannte.

Er rannte ohne den Weg zu sehen, blind, ihm war es egal, wohin er ging. Er spürte plötzlich, dass er nicht mehr lief, sondern fiel. Und er hörte noch eine verzweifelte Stimme: „Warte!“ und konnte nicht erkennen, wem die Stimme gehört.

***

Er wachte zu Hause auf, seine Mutter saß an seinem Bett, spielte nervös mit den Fingern.
„Du bist in einem merkwürdigen Zustand nach Hause gekommen, und dazu noch so spät, ich hatte mir Sorgen gemacht. Du hast danach fast den ganzen Tag geschlafen und etwas Wirres geredet,“ - sie sprach hastig und blickte ihn nicht an.
„Lüge“ - sagte Viktor - „Alles - eine riesengroße Lüge. Betrug. Schwindel.“
„Das kann nicht wahr sein. Das glaube ich nicht,“ - flüsterte die Mutter.
„Was glaubst du nicht? Dass deine wunderschöne Fremde Welt nur Azaels schöne Kulisse ist um leichtgläubige Frauen wie dich zu verführen? Glaubst du nicht, dass dieser schreckliche Dämon jeden Tag mit einer neuen Frau schläft? Glaubst du immer noch, dass du die Einzige für ihn bist? Was für ein Mistkerl - und das soll mein Vater sein? Ich werde ihn umbringen, dieses Monster!“
„Viktor, das kann nicht wahr sein, Azael - ich liebe ihn so, ich habe nie jemanden geliebt außer ihn. Und ich weiß - er ist ein edles Wesen, und die anderen Geister dort - sie mögen uns, sie freuen sich so rührend, wenn wir da sind, und...“
„Das ist nur Schein! Nur eine Mär, eine Einbildung! Ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen - das sind furchtbare Dämonen, die heulen und wüten, weil sie angekettet sind, versklavt von diesem sogenannten ... Vater! Wie konntest du nur so blind sein! Dein Vater hat ja dieses Höllengeschöpf umbringen wollen - und wurde von ihm erschlagen. Hast du das auch nicht gewusst? Verdrängt? Dich selbst betrogen?“
„Ich war nicht da als es passiert ist. Azael sagte, er sei gestolpert. Einfach gestolpert.“ - im Blick seiner Mutter sah Viktor eine tiefe Trauer.
„Und wieso hat Azael ihn nicht gerettet? Das wäre für ihn ein Leichteres!“
„Ich weiß es nicht...“ - antwortete die Mutter ganz leise.
„Aber ich weiß es - weil er ihn selbst umgebracht hat. Und du hast es gesehen, belüge dich nicht selbst, Mutter!“
„Ich ... habe nur bemerkt, wie er von den Felsen gesprungen ist. Ich sollte es eigentlich gar nicht sehen, ich sollte schon zu Hause sein, aber ich habe gezögert. Ich wollte nur einen Blick auf die Insel werfen, einen letzten, bevor ich sie für Monate wieder verlasse. Alle Geister haben sich zurückgezogen, und Azael auch. Plötzlich erblickte ich meinen Vater und Azael, sie waren oben auf dem Felsvorsprung - weißt du noch?“
Viktor nickte stumm.
„Sie haben miteinander diskutiert, es schien mir, heftig gestritten haben sie. Und plötzlich sprang mein Vater hinunter. Ich wollte schreien, aber dafür fehlte mir die Kraft. Ich bekam eine furchtbare Angst und lief davon, sprang auf den Drachenrücken und sauste zum Tunnel. Danach hatte ich Angst, zurückzukommen, bis... Das habe ich dir ja schon erzählt.“
„Er hat ihn getötet. Kaltblütig, wie er ist. Dein Vater wollte dich vor Azael warnen, vielleicht hat er sogar die ganze Wahrheit über ihn erfahren. Doch was ist schon ein schwacher Mensch im Vergleich zu einem Dämon! Wir, Menschen, werden betrogen, belogen, verachtet und verraten. So gehen die Dämonen mit uns nichtigen Wesen um, und wir haben ihnen vertraut!“ - Viktor lief im Zimmer hin und her und konnte nicht aufhören zu reden. Der starre Blick seiner Mutter richtete sich gegen das Fenster, hinter dem der Herbstwind eine Birke beugte und ihr gelbe und grüne Blätter ausriss.

„Und stell dir vor, jetzt, in diesem Augenblick vergnügt sich dieser üble Typ mit einer Frau aus unserem Geschlecht, einer anderen armen Frau, die nicht ahnt, dass sie nur eine von vielen ist. Wie auch du es nicht geahnt hast, Mama! Mama?“ - sie schlug die Zimmertür hinter sich zu, dann die Wohnungstür. Er blieb allein. Er stellte sich die unanständigen lüsternen Szenen, die sich wohl in der Fremden Welt gerade abspielten, ihm wurde es übel. Er stellte sich Isa vor, wie sie in unsagbaren Höhen und Weiten frei und gleichgültig gleitet und keinen Gedanken an ihn verlor, und sein Herz zerbrach. Er versuchte, sich seine Zukunft ohne die Fremde Welt ausmalen, aber es gelang ihm nicht.

Es wurde dunkel, er machte kein Licht an und rührte sich nicht. Das Klingeln an der Tür riss ihn aus seiner Starre heraus. „Sie hat wohl ihre Schlüssel liegen gelassen“ - dachte Viktor kurz und machte auf. Als er einen traurigen und ernsten Polizisten erblickte, lehnte er sich hilflos an den Türrahmen.

***

Er war der einzige, der seine Mutter auf ihrem letzten Weg begleitet hat. Kein Pastor, kein Redner. Keine Verwandten. Nur er - und ihr stummer Sarg.

***
Die Wohnung war leer. Viktor blieb kurz an der Schwelle stehen, drehte sich um. Der Aufzug brachte ihn in die Tiefgarage. Er fuhr mit dem alten Auto zum verlassenen Parkplatz. Viktor dachte, wie wenig seine Mutter die Dinge dieser Welt geachtet hat. Das Auto war immer noch das alte kleine, mit dem sie beide damals zu ersten Mal zu ihrer Begegnung mir der Fremden Welt gefahren waren. „Wie schön war es, romantisch, schaurig und etwas enttäuschend, weil die Mutter sich immer an diesen verfluchten Azael geschmiegt hat! Wie naiv sie war, wie leichtgläubig! Und wie grausam sie ausgenutzt wurde. Meine arme Mutter! Ich werde dich rächen, ich bringe das Monster um - und wenn ich selbst sterbe, dann habe ich es mindestens versucht. Jetzt ist eine neue Feier in vollem Gange, jetzt kopuliert das Scheusal mit irgendeiner Frau. Der wird dafür büßen, auch wenn ich mit meinem Leben meine Rache bezahlen muss!“

Viktor dachte, dass er vielleicht in die Fremde Welt gar nicht gelangen würde, weil er bereits nach einer Woche dorthin reisen wollte. Seine Mutter und er hatten ja nur einige Male im Jahr diese Welt besucht, es hieß, es ginge nicht anders und es wäre für sie zu gefährlich. Aber diese Warnungen wurden vielleicht nur mit dem Ziel ausgesprochen, dass sie Azael bei seinen gemeinen Vergnügungen nicht störten.

Viktor parkte das Auto, holte das Tuch vom Rücksitz und weinte. Das Tuch haben seine Mutter und er nicht mehr gebraucht, es war für die Reise in die Fremde Welt nicht nötig und diente nur dazu, dass niemand sieht, wie zwei Menschen sich in der Luft auflösen. Das Tuch duftete noch nach seiner Mutter, nach ihrem Parfüm, das sie sparsam verwendete: meistens nur dann, wenn eine Reise in die Fremde Welt bevorstand.

Viktor dachte an die alte Prophezeiung, an die seine Mutter geglaubt hatte. Und nun? Die Welten hatten sich offensichtlich tausende Male vermischt und kein Krieg der Welten brach aus. Nur Ekel und nur endlose Gemeinheit. Oder ist das der Krieg? So sieht er aus? Alles Schöne und Erhabene wurde mit Füßen getreten und mit Dreck vermischt. Die Liebe, dieses süßeste und nobelste Gefühl - verworfen und verschmäht. Viktor dachte an seine Mutter, an ihre Liebe, an ihre Treue - und an den Verräter.

„Er wird‘s bereuen!“ - rief Viktor aus und flüsterte schnell die kindischen Verse - und verschwand aus seiner Welt, und saß auf dem breiten Rücken eines Drachen. Und der Drache flog tief über dem Wasser, der Ozean tobte. Viktor wurde sofort nass vor Gischt, er konnte sich kaum festhalten, denn des Drachen Rücken war rutschig geworden. Schwarze Wolken rasten über den Himmel, und der Himmel war zwischen den Wolken glühend rot. Die Fremde Welt empfing seinen Gast auf eine unfreundliche Art. Er war hier offensichtlich nicht willkommen.

Doch er erreichte die felsige Insel. Und in dem Moment als der Drache auf den schwarzen Steinen landete, legte sich der Sturm und es wurde still. Vollkommen still. Ohne einen jeglichen Laut. Nicht einmal ein Blatt bewegte sich, keine Welle zerbrach an den Klippen. Alle Wolken standen still und der Drache saß wie versteinert.

Viktor spürte ein aufsteigendes Schwindelgefühl und Schwäche. Das stimmte wohl, dass die Reisen in die Fremde Welt nicht zu oft geschehen dürften. Doch er richtete sich auf und versuchte, seine Ohnmacht nicht zu zeigen.

Auf der leeren einsamen Insel stand Azael. Allein. Keine weiteren Dämonen waren zu sehen. Kein Fest wurde gefeiert. Keine entblößten Frauen, keine prächtig gedeckten Tafel. Nur Steine und welke Pflanzen. Und schräge Strahlen der Abendsonne, die alles rötlich färbten, auch das breite schwarze Gewand von Azael. In diesem Gewand sah er wie ein richtiger Zauberer aus einem Märchen aus.

„Ich weiß, dass sie tot ist. Ich weiß, dass du mich hasst. Ich weiß nicht, warum,“ - sprach Azael, und seine Stimme war tief und doch sanft.
„Du ... Du bist an allem schuld!“ - schriee Viktor ihm ins Gesicht. - „Du, Lügner, Mörder, Verräter, du...
Azael schwieg.
„Was hat sie dir erzählt, Kind?“ - fragte er leise.
„Wenn du mich noch einmal Kind nennst, bringe ich dich um!“ - sagte Viktor entschlossen.
„Du kannst mich nicht umbringen, ich bin unsterblich. Leider. Was hat dir Isa erzählt?“ - fragte Azael wieder.
„Die Wahrheit! Die ganze Wahrheit!. Mehr noch, sie hat mir die Realität gezeigt, das, was du vor uns die ganzen Jahre versteckt hast.“
„Ich habe nichts zu verbergen, außer meiner Schwäche. Der Schwäche, dass ich ein Kind mit einer Frau aus der Menschenwelt gezeugt habe und dadurch selbst ein Mensch geworden bin. Fast wie ihr, nur nicht dem Tode verfallen. Ich wusste, dass meine Untertanen mich nicht mehr als ihren Herrscher akzeptieren, wenn sie erfahren, dass ich liebe. Dass ich leide. Dass ich nur an diese Frau denke - die jetzt tot ist.“ - Azael wandte sich ab, doch Viktor bemerkte trotzdem eine große Träne, die seine Wange hinunterrollte.
„Ich habe deine Mutter geliebt. Vielleicht so, wie Leow, unser Anführer, damals, der sich in eine Frau aus eurer Welt so verliebt hat, dass er ihren Tod nicht überstehen konnte. Aber auch Sterben war für ihn unmöglich, also zog er sich zurück in die Weiten der Universums und flog zu einem Stern und versank in den Gluten des Sterns. Dort löste er sich auf - aber auch dies war nicht sein Ende. Nach Jahrhunderten entstand er wieder und seither wandert er zwischen den Welten und klagt um sein Schicksal. Ich wurde zum neuen Anführer gewählt, ich war gleichgültig und gelassen, Jahrhunderte lang - bis deine Mutter in unsere Welt gekommen war.“
Viktor war erschüttert, aber nicht überzeugt: „Ich habe es doch gesehen, wie die Dämonen sich quälen, weil du sie eingesperrt hast und angekettet.“
„Ach, mein Sohn, Isa war nicht die, für die ich sie gehalten habe. Seit ich liebe, habe ich Einiges an meinen magischen Kräften verloren, auch meine Sinnesstärke ließ nach - früher hätte ich erkannt, dass sie keine friedliche Dämonin ist, so wie wir hier. Ich dachte, sie sei eine von unserer Art, nur eine etwas aufgeweckte, die gerne fantasiert und etwas erfindet. Ich habe versucht, sie im Zaum zu halten, damit sie dir den Kopf nicht verdreht. Und doch habe ich dich in ihre Obhut gegeben, denn ich dachte, sie sei ein Kind wie du, ein ewiges Kind. Ich habe versagt. Isa war ein Lügengeist, ein listiges Wesen aus den schwarzen Tiefen des Universums. Ihr Zauber war stärker als meiner und so konnte sie dich auf ihre Insel entführen und die Insel mit einem Verbot für mich belegen, dass ich nicht brechen konnte. Dort konnte sie dir ihren Trank geben, den du für harmlosen Nektar der Pflanze gehalten hast: doch wenn man nur einen Schluck davon kostet, dann sieht man das, was nicht ist.“
„Ich glaube dir nicht. Das ist dein Wort gegen ihr Wort. Warum soll ich dir vertrauen, wenn du meine Mutter betrogen hast“ - sagte Viktor, doch seiner Stimme fehlte schon etwas an Sicherheit.
„Ich habe sie nicht betrogen, sie war die einzige Liebe meines Lebens, weder davor habe ich jemanden geliebt, noch werde ich jemals jemanden lieben. Aber du glaubst mir nicht. Vielleicht glaubst du Isa, wenn du sie siehst. Komm, fliegen wir zu ihr!“
„Wieso? Ist sie hier? Sie sollte doch frei sein!“
„Auch eine Dämonin, auch eine Lügnerin, fällt auf Lügen und Märchen herein. Sie hat der alten Prophezeiung geglaubt, dass die Vermischung der Welten ihr und ihresgleichen freien Zutritt zu eurer Welt gewährt und dass sie endlich einen Krieg gegen euch beginnen und gewinnen könnte. Aber wir, friedliche Dämonen, sind heimliche Wächter eurer Menschenwelt. Wir haben diese Prophezeiung als einen Schutz für euch Menschen ausgesprochen - damit unser Schutz stark bleibt, sollen wir und ihr getrennte Wege gehen. Auch als eine Abwehr gegen Eindringlinge sollte die Prophezeiung dienen: denn die Vermischung der Welten entfacht keinen Krieg, sondern schwächt die Angreifer ab. Du siehst doch mich, hier stehe ich vor dir, dein armer Vater. Ich bin kein stolzer Wächter, sondern nur ein am Boden zerstörter Halb-Mensch. Doch nun los, zu Isa!“
Vater und Sohn setzten sich auf den breiten Drachenrücken und Viktor zuckte zusammen, als Azaels starker und doch etwas zittriger Arm ihn umarmte und fest hielt. Der Flug dauerte nicht lange und schon kreiste der Drache über dem kahlen Eiland.

***
Sie war da. Sie sah wieder wie die frühere Isa aus, Isa, in die er sich unsterblich verliebt hat. Sie saß regungslos auf einem schwarzen Stein, sie streichelte ihren Drachen, der ganz nach Hundeart ihre Hand leckte und leicht mit der zackigen Schwanzspitze wedelte. So wie Azaels Kleider, war auch ihr Gewand breit und schwarz, ohne jegliche Verzierung. Sie sah gealtert aus, ihre Haare waren schütter und nur die Augen, die wieder ihre ungewöhnliche Farbe bekamen, lebten in ihrem eingefallenen Gesicht.

„Oh, Viktor!“ - sprach sie. - „Das ist so schön, dass du zu mir gekommen bist, ich warte die ganze Zeit auf dich,“ - sie stand langsam und mühevoll auf, bewegte sich auf ihn zu.
„Isa, das stimmte doch nicht, was du mir erzählt hast. Es gibt keine rauschenden Feste und keine angeketteten Dämonen, und keine Tausende Frauen, die jeden Tag hierher kommen. Wie konntest du nur so grausam sein?“
„Wie konnte ich? Ich war eben kein Mensch. Doch jetzt - jetzt bin ich einer geworden. Ich habe vom Krieg geträumt, ich wollte euer Menschengeschlecht ausrotten, aber jetzt - jetzt liebe ich einen Menschen und weine, weil er meine Liebe nie entgegnen wird. Das ist meine Strafe gewesen, ewig zu leben und ewig zu lieben. Viktor, kannst du mir vergeben?“
„Du hast mein Leben zerstört mit deinen Lügen, Isa. Du hast meine Mutter umgebracht. Du hast meinem Vater das Herz zerbrochen,“ - sprach Viktor und wandte sich ab. Er spürte keinen Hass und auch keine Abscheu. Nur Müdigkeit. Und Schwäche. Er spürte, dass seine Zeit in der Fremden Welt rasant ablief.
Isa weinte. Sie setzte sich wieder hin, sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen, ihre schmalen Schultern zuckten.

„Ich muss zurück, ich kann hier nicht bleiben,“ - sprach Viktor, als sie wieder auf dem Drachen saßen und durch die Lüfte flogen. Viktor stellte sich seine leere Wohnung vor, seine graue Zukunft ohne Freude - und seine Besuche in der Fremden Welt, die wie Perlen durch sein ödes Leben gestreut sein würden - wie rare Perlen.
„Du hast einen Ausweg - sprach Azael. - Du kannst einer von uns werden, ein einsamer ewiger Dämon, ein geheimer Wächter der Menschen. Du bist frei und gleichgültig. Nichts wird dich berühren, nichts ärgern, nichts aufregen, nichts begeistern. Es sei denn - er spürte, wie Azael lächelt - du verliebst dich in eine Menschenfrau. Dann wirst du sein wie ich.“
„Das ist nicht das Schlimmste, was einem passieren kann. Auch eine tragische Liebe ist besser als keine. Doch jetzt möchte ich frei sein - wie ein Dämon. Was soll ich dafür tun?“
„Nur eins - springen! Ohne Angst, ohne Zweifel. Nur mit Hoffnung und im Vertrauen, dass es weiter geht.“

Viktor schaute herunter: sie flogen so hoch, dass kleinere Insel wie Nadelköpfe auf der glatten Wasseroberfläche aussahen.
„Vater, wirst du mich auffangen?“ - fragte Viktor.
„Unsere Welt wird dich auffangen und annehmen. Für immer. Und ich bin stets bei dir, Sohn. Diesen Weg ist dein Großvater gegangen. Ich habe versucht ihm es auszureden, weil seine Tochter noch so jung war, doch er hat es getan. Diesen Weg wollte deine Mutter gehen, wenn du alt genug bist, allein zurechtzukommen. Und du?“
„Ich?“ - wiederholte Viktor wie im Traum. - Er richtete sich auf, breitete seine Arme aus - und sprang.

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Texte: alle Rechte liegen bei mir!
Tag der Veröffentlichung: 15.08.2012

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