Eine Stadt, Häuser um Häuser, nichts außer Häusern und engen Straßen, manchmal so eng, dass man mit den Händen gegenüberliegende graue Wände berühren kann. Die Wände sind feucht, die Pflastersteine sind glatt. Auf solchen Straßen läuft man nicht gut. Es wäre so schön, fliegen zu können in dieser Stadt, dann könnte ich endlich den Himmel aus der Nähe sehen. Nein, fliegen - das kann ich nicht. Und der Himmel bleibt nur ein schmaler Streifen blau weit oben. Oder weiß, oder grau. Jetzt ist der Himmel grau, es ist alles grau um mich und auch die Häuser sind mit einem grauen Schleier bedeckt. Sie sind fast alle gleich: Putz, Fenster, weiße Vorhänge. Alle Fenster sind menschenhoch, Fensterrahmen wie Gitter, unzählige kleine blinde Fensterscheiben, nie geputzt. Und auf jeder Fensterbank - eine Blume, immer eine Lilie. Immer eine weiße Lilie. Ich weiß, sie sind nicht echt, diese Lilien. Ich muss die wahre Lilie finden - dann finde ich Dich. Vielleicht...
Ohne die wahre Lilie bin ich verloren, ohne die wahre Lilie bis Du verloren. Aber wie finde ich sie? Wie finde ich Dich? Ich kann keinen fragen. Besser gesagt, ich kann fragen, aber ich bekommen hier keine Antwort, in dieser Stadt.
Die Menschen, die auf den Straßen unterwegs sind - sie sind schweigsam. Sie sind jeder für sich und niemand blickt um sich herum. Niemand richtet seinen Blick gegen den Himmel, niemand hat Hoffnung auf etwas Anderes.
Die Menschen laufen durch die engen Gassen, sie sind alle in Eile. Dort wohin führt ihr Weg? Sie schließen auf und verschwinden hinter den schweren Holztüren, deren Farbe einst rot war, jetzt sind sie braun und grau. In jeder Tür - ein Spion.
Die Menschen hier mögen ihre Häuser nicht, sie mögen ihr Leben nicht. Das Leben, das grau ist und immer gleich abläuft. Aber sie haben kein anderes Leben, sie haben keine anderen Häuser außer denen, die sie nicht mögen. Ich vertraue diesen Menschen nicht, sie sehen zu seltsam aus, sie haben wohl jedes ein ungutes Geheimnis. Ich habe Angst vor den Bewohnern dieser Stadt.
Das ist nicht meine Stadt, aber ich habe vergessen, woher ich gekommen bin. Ich habe alles vergessen. Ich weiß nur noch eins: in dieser Stadt habe ich Dich verloren und seither bin ich auf der Suche. Ich gehe, ich laufe, ich renne, ich bin außer Atem und mir ist es schwindelig und kalt. Meine Augen sehen nicht mehr deutlich, sie sehen nur grau. In dieser Stadt gibt es nichts mehr zu sehen, auch in der Welt nicht. Was soll ich sehen, wenn Du dich nicht mehr in meinen Augen spiegelst.
Wann ist es passiert, dass Du mir verloren gegangen bist? Wie ist es geschehen? Gerade eben warst Du noch hier, ich saß an dieser Brücke auf einer Holzbank - oder auf einer gusseisernen Bank - oder auf einer steinernen Bank. Ich saß und schaute Dir zu - wie Du spielst. Du hast etwas gebaut, so wie Du es gerne machst: aus kleinen Plastik-Steinen hast Du einen Schloss errichtet, dieses prächtige Schloss - das was das einzig bunte in der grauen Stadt. Du saß da und warst ganz vertieft in Deine Arbeit. Das hohe wehrhafte Schloss war fast fertig.
Wir waren nicht allein hier. Andere Mütter haben ihre Kinder zu dieser grauen mächtigen Brücke gebracht. Wahrscheinlich war hier ein beliebter Spielplatz. Ein grauer Spielplatz ohne Grün. Die Mütter redeten miteinander, doch ich hörte keine Laute. Die Kinder blieben jedes für sich, Du auch - wie immer.
Die Brücke war aber schön: verziert mit einem verschnörkeltem Geländer: Laub und Drachenköpfe dazwischen. Die spitzen Zähne der Drachen, zackige Ränder der Ahorn-Blätter. Und noch Laternen - wie Schlangen gemacht, jede Schlange hat einen Apfel in ihrem aufgerissenen Maul. Wen wollen sie verführen? - dachte ich mir. Und versank in diesen Gedanken und überlegte mir, ob ich weiß, was gut und was böse ist. Und kam zu dem Schluss, dass ich es nur ahnen kann, aber nicht wissen. Und auch kam ich zum Schluss, dass ich nicht gut bin. Wie kann ich denn gut sein, seit ich Dich einmal geschlagen habe. Was ist in mich gefahren, dass ich es getan habe? Mir schien es, eine fremde und böse Kraft ist in mich gefahren, und ich habe Dich, den ich mehr als mich selbst liebe, für eine Sekunde gehasst. Und in Deinem Blick - nach diesem Schlag - habe ich die Spiegelung meines Hasses gesehen. Dann war alles vorbei, oder nicht?
Und wenn ich meinen Blick wieder auf Dich richten wollte, auf meinen Ruhepunkt und auf meinen Lebenssinn - dann bist Du nicht mehr da gewesen. Ein anderes Kind baute eifrig an dem Schloss. Keine Regung unter den Müttern, kein Schatten, der schnell in einer Gasse verschwindet. Niemand, der seinen Schritt verdächtig beschleunigt und etwas zu verbergen scheint. Keine Eingangstür, die zugemacht wird und keine, die auf ging. Stille.
Diese Stadt ist still. Es fahren hier keine Autos, es weht hier kein Wind, und die Menschen reden lautlos. Wieso? Die Stadt scheint nicht zu leben, sondern einfach da zu sein.
Habe ich Stille gesucht, als ich hierher gekommen bin? Das kann sein, denn mein Leben - das ist Reden, das sind Monologe und Dialoge und Streitgespräche. Das sind Autohupen draußen und Musik drinnen. Das ist lautes Lachen und Weinen. Dein Lachen und... Dein Weinen. Deine Musik, Deine Gespräche. War mir das zu viel? Oder hatte ich ein anderes Ziel? Ein viel wichtigeres, das wichtigste Ziel überhaupt. Ich habe es vergessen, warum habe ich solche Dinge vergessen?
Aber Dich, nein, Dich kann ich nicht vergessen! Hier ist der Fluss, bist Du in den Fluss gefallen?
Ich renne zur hohen Brüstung, ich schaue hinunter in den schnellen kalten Strom. Gleichgültig und gnadenlos fliessen die Wassermassen und stürzen in den Abgrund einige Hundert Metern weiter. Das Wasser ist klar, ich den steinigen Grund sehen. Du bist nicht im Fluss. Oder doch? Ich will es nicht glauben!
„Haben Sie hier ein Kind gesehen?“ - frage ich die Mütter. Sie sind in ein Flüstergespräch miteinander vertieft, ihre Lippen bewegten sich unermüdlich, doch es kommt kein Ton heraus. Eine Frau schielt zu mir herüber, ihre Lippen werden für eine Weile langsamer, doch nur für einen kurzen Augenblick. Sie redet weiter, sie vergisst mich sofort. Ich will sie wachrütteln, herausholen aus ihrem Gespräch, ich berühre ihre Schulter - doch sie reagiert nicht. Ich schüttele sie, aber sie merkt es nicht. Ich schreie sie an, doch die Stille verschlingt meinen Schrei.
Ich renne auf die Brücke und hier, von oben, sehe ich den schwarzen Abgrund und die weit entfernten Berge. Ein Schwan gleitet von unterhalb der Brücke, ein schöner weißer Vogel, aber in seinen Augen ist Panik und sein Schnabel ist mit Blut beschmiert. „Suche die wahre Lilie, nur sie kann Dir helfen!“ - höre ich seltsame Worte in meinem Kopf. Wer hat sie gesprochen? Sind ise für mich bestimmt? Der Schwan erhebt sich schwerfällig, er fliegt langsam und etwas unsicher über die Schlucht zu den Bergen in der Ferne.
Ich denke über die Worte nach und sofort erzittere ich, denn ich sehe einen toten Schwan im Fluss treiben. Dann noch einen, dann einen, der schwache Bewegungen mit seinen Flügeln macht, doch ihm fehlt die Kraft um in die Luft zu steigen. Das Wasser trägt ihn weiter, immer weiter - und sein lebloser Körper kippt in die Tiefe. Ich sehe einige Eisschollen schwimmen, mir scheint es, dass der Fluss etwas langsamer fliesst. Vermutlich eine Sinnestäuschung. Ist mir auch egal, wie der Fluss ist. Ich weiß nicht einmal, wie er heisst. Doch wo bist Du?
Die Berge, unglaublich hoch und unerreichbar weit, von der Abendsonne rosa gefärbt, ziehen meinen Blick auf sich und meine Seele fliegt eine Weile mit dem Schwan und flattert ungelenk mit den Flügeln und stürzt bald in die schwarze Tiefe ohne Licht und ohne Wiederkehr. Denn Du bist nicht da.
Ich rufe Deinen Namen. Wieder und wieder versuche ich mit diesen drei Silben die Leere zu durchdringen. Ich sehe die Töne wie kleine Funken fliegen, in der Luft tanzen und ich sehe sie erlöschen. Das kalte schnelle Wasser verschlingt sie und schleudert sie herunter in den Abgrund.
Ich schaue mich um: hinter mir steht ein Mann, er scheint mir sehr jung zu sein und in der nächsten Sekunde - uralt. Er steht regungslos und schaut zu den Bergen. Seine Augen sind matt und unbeweglich. Ist er blind? Ich weiß aber, dass er jemand ist, der Macht hat in der grauen Stadt. Vielleicht weil er einen Stock mit dem Drachenkopf in der Hand hält?
„Ich habe mein Kind verloren,“ - spreche ich zu ihm. - „Gerade eben war es hier - und spielte - und jetzt ist es nicht mehr da“. - Ich zeige zum jetzt leeren Spielplatz und merke, dass auch das bunte Schloss verschwunden ist. Das Schloss, das Du so liebevoll und mit so viel Mühe gebaut hast! Als ob es nie existiert hat, als ob Du, mein Kind, nie existiert hast.
Ich frage mich „Habe ich das alles geträumt? Hatte ich jemals ein Kind?“
Der Mann schweigt, aber der Drachenkopf an seinem Stock beginnt krächzend zu reden und seine kleine Augen funkeln rot. Er sagt: „Wusstest Du nicht, dass Kinder frei sind ? In dieser Stadt suchen sie Ihre Eltern selbst aus. Du warst keine gute Mutter, und Dein Sohn hat Dich verlassen. Es ist nicht mehr Dein Sohn, und Du sollst die Stadt sofort verlassen, du hast hier nichts - GAR NICHTS - zu suchen!“
Ich starre auf den kleinen schwarzen Kopf. Ich sehe, wie seine Kiefern sich bewegen, wie eine flinke Doppelzunge zwischen den Zähnen hin und her zuckt und dass sein roten Augen keine Pupillen haben. Ich will schreien und der Schrei erstirbt in meinem Hals, denn ich sehe Dich. Eine Frau mit langem Haar und mit langem Gewand aus schwarzer Gaze zieht einen Bollerwagen hinter sich, einen Wagen voll mit Kindern. Kleine Mädchen und Jungs sitzen still in halten jeder ein Kuscheltier fest. Sie blicken einander nicht an, sie schweigen und scheinen mit offenen Augen zu träumen. Die Frau biegt von dem Quai in eine der engen und dunklen grauen Gassen. Bald wird der Bollerwagen aus meiner Sicht verschwinden und ich sehe Dich nie wieder. Ich rufe nach Dir, doch Du antwortetest mir nicht.
„Du sollst die Stadt verlassen! Du darfst nicht nach deinem Kind suchen, du bist hier nicht erwünscht! Deine Strafe wird der Tod sein! Wir werden Dich verfolgen, verhaften, vernichten!“ - der Kopf schreit und der Mann streckt seinen Arm aus um mich zu ergreifen, doch ich bin schneller. Ich laufe hinter Dir her, ich renne, doch die Frau mit langem Haar entfernt sich mit jedem Schritt. Sie eile hinter ihr her und Dein Name hallt zwischen den hohen Hausmauern, und mein Atem wird zum Nebel. Ich merke, dass es kalt wird. Ich aber habe ein Sommerkleid an und bin barfuß. Wo habe ich meine Schuhe verloren?
Es wird immer kälter und immer dunkler, und es gibt keine Laternen in dieser Stadt, und in keinem Fenster ist Licht, und kein Mond leuchtet im Himmel und nicht einmal ein Stern. Ich höre das Quietschen der Räder des Bollerwagens, doch ich sehe ihn nicht: er ist gerade um die Ecke verschwunden, er entzieht sich meinem Blick.
Ich höre nur diese Geräusche und mein Ächzten und mein Stöhnen. Eine Haarsträhne fällt mir ins Gesicht und sie ist steif und weiß vom Reif. Ein eisiger Wind kommt auf und will mich aufhalten. Ich irre ziellos durch die Straßen, ich weiß nicht mehr, wo ich bin, ich bin erschöpft und bald verliere ich jede Hoffnung. Wenn ich nur die wahre Lilie finden könnte - aber sie bleibt verborgen.
Die graue Stadt ohne Licht und ohne Leben, die Stadt, in der es nie gelacht und nie geliebt wird. Die Stadt, in der ich sterben werde. Ohne Dich sterbe ich, denn Du bist mein Leben. Warum bist Du weg?
Ich habe nicht bemerkt, wie eine der schäbigen Eingangstüren aufgegangen ist, aber ich werde gerufen: „Hey, Du!“ Ich werde am Arm gepackt und gezerrt. Ich versuche mich zu befreien, doch jemand ist stärker als ich, und seine Hand ist knorrig und seine Fingernägel sind spitz. Sie schneiden sich in mein Fleisch, aber ich spürte keinen Schmerz, nur Wut, dass ich in meiner Suche unterbrochen wurde.
Im Treppenhaus riecht es modrig und ist stockdunkel. Ich stolpere über etwas Weiches und entsetze mich. Ich werde die unsichtbaren Stufen herauf gejagt, es sind drei Treppenabsätze mit jeweils dreißig Stufen. Denn du bist drei - und ich bin dreißig.
Eine Spinnwebe klebt auf meinen Lippen, ich rutsche auf feuchten Steinplatten aus. Aber die feste Hand eines Unbekannten zerrt mich weiter, ich erhebe mich mühsam, meine Knie schmerzen. Dann sehe ich zwei blaue Augen im Dunkeln. Sie scheinen in der Luft zu schweben, aber ich vertraue diesen Augen: Schmerz und Leid sind in den Augen, auch Angst und Verzweiflung, doch kein Hass und auch keine Drohung.
„Komm, Du musst weiter gehen, es ist nicht weit!“ - sagten mir die Augen sanft.
Eine weitere Tür, eine alte, wie alle Türen hier, wird geöffnet, und endlich kann ich mehr sehen. Im dämmerigen Abendlicht erblicke ich einen leeren Raum, kahle Wände, mit blauer Farbe bis ganz oben gestrichen, die Decke weiß, und dort, in schwindelerregender Höhe, eine Glühbirne ohne Schirm, sie pendelt leicht und brennt nicht. Das Fenster ist groß, verstaubt und lässt kaum Licht herein. Eine weiße Lilie in einer einfachen Glasvase auf der Fensterbank - das einzig Schöne in dem öden Raum.
Die Augen sind direkt vor mir stehen geblieben. Ich nehme eine vage Gestalt wahr, Umrisse einer Hand, eines Kopfes, doch es löst sich wie Nebel auf und es bleiben nur die Augen und eine Stimme.
„Ich bin der Letzte hier“ - sagt die Stimme traurig. - „Bald bin ich auch weg.“
„Wer bist Du?“ - frage ich.
„Der Letzte Lebendige. Alle anderen sind tot. Aber sie haben mich gefunden, bald werde ich auch so sein, wie alle hier - eine tote Puppe.“
Ich bebe vor Angst und Entsetzen und schweige.
„Du suchst Dein Kind“ - sagte die Stimme bestätigend.
„Er ist weg gegangen, er wollte mich nicht.“
„SIE wollten, dass Dein Kind geht.“ - spricht die Stimme leise und fügt hinzu: „Hast Du Dein Kind jemals geschlagen?“
Ich schweige bedrückt.
„Sag die Wahrheit, sonst kann ich Dir nicht helfen!“
„Ja“ - antworte ich kurz, ich will mich nicht daran erinnern. Nicht jetzt.
„Dann haben SIE etwas gegen Dich in der Hand“ - sagt die Stimme bitter.
„Wer denn?“
Die Augen rücken näher, und ich sehe, wie die Pupillen sich weiten, und wie das Blau der Iris dunkler wird.
„Die Dämonen natürlich, die Boten des Nichts.“
Ich erinnere mich an den redenden Drachenkopf.
„Ja, das sind SIE, die Dämonen, sie haben diese einst schöne Stadt erobert und vernichtet. Sie haben alle Einwohner ausgelöscht. Hier sind nur leere Häuser und leere Körper, die Seelen wurden alle in den Fluss geworfen. Weiß Du, was für ein Fluss das ist?“
Und da weiß ich es plötzlich: „Mein Sohn und ich wollten doch den Fluss der Zeit sehen und mit etwas Glück dort etwas Wasser holen. Mein Sohn ist schwer krank und er wollte so gerne etwas länger leben!“
„Und wieso hast Du Dein krankes Kind geschlagen?“ - forschte die Stimme nach.
„Das war schon lange her!“
„Lüge nicht, Du machst alles noch schlimmer! Und die Zeit fließt uns davon!“ - mahnt mich die Stimme und ich merke, dass sie immer leiser wird.
„Tut mir leid. Das war wirklich erst vor einigen Tagen. Es ist etwas Böses in mir gewesen. Ich war nicht ich selbst damals... Was soll ich nur tun!“ - ich breche in Tränen aus.
„Tränen helfen hier nicht. Die Dämonen sind Meister des Bösen, sie löschen alles Gute aus und lassen das Böse regieren. Sie haben Euch getrennt, und sie ließen die Seele Deines Kindes erkalten. Du warst so blind, dass Du es nicht bemerkt hast. Ausserdem ist es nicht möglich, aus dem Fluss der Zeit Wasser zu schöpfen, denn die Zeit gibt nichts davon ab, was sie besitzt. Wer hat Euch das erzählt? Das waren sicher auch SIE, die Dämonen. Und jetzt höre: Wenn die Dunkelheit kommt, dann wird die eisig kalte Seele des Kindes in den Strom geworden, und vielleicht wird sie der letzte Tropfen sein, der den Fluss gefrieren lässt. Weißt Du, was passiert, wenn der Fluss der Zeit nicht mehr fließt?“
„Dann ist alles tot?“ - sagte ich zitternd.
„Dann zerfällt alles Seiende, und das Nichts nimmt den Platz von allem an. Vor Zeiten hat Gott die Welt aus dem Nichts erschaffen und den Fluss in Bewegung gesetzt. Wenn diese Welt wieder zum Nichts wird, dann kreieren die Dämonen des Nichts ihre eigene Welt. Auch wenn wir diese Welt auch sehen könnten, wir würden dort auf keinen Fall leben wollen. Finde Deinen Sohn, vielleicht kannst Du noch die letzte Katastrophe abwenden. Finde ihn und bitte ihn um Vergebung!“ - die Stimme flüstert jetzt kaum hörbar, und die Augen verlieren immer mehr an ihrem Glanz.
„Meinst Du, er wird mir vergeben?“
„Frage mich nicht. Suche ihn! Hier, das ist die letzte wahre Lilie in der ganzen Stadt, und nur eine wahre Lilie kann Dir helfen. Lasse sie nicht aus der Hand und sie wird Dich führen. Ich aber habe keine Kraft mehr. Sie haben mich überwältigt, und ich werde - ein Nichts...“ - dort, wo die Augen gerade eben waren, sehe ich nur einen Fetzen Nebel, eine winzige Wolke, die zu der Lilie fliegt und sich wie Morgentau auf der Blume niederlässt. Die Lilie aber fängt an zu leuchten. Ihr Licht ist unstet, flatternd, ängstlich. Ich nehme die Blume in die Hand, und das Licht beruhigt sich und wird heller.
Ein großer Schatten huscht hinter dem Fenster vorbei und lässt mich erschaudern. Wie soll ich nach draußen gehen, dorthin, wo ich keinen Schutz vor Dämonen habe? Keinen Schutz, außer der zarten weißen Blume.
Draußen wird es immer düsterer. Ist schon die gefürchtete Dunkelheit da? Bald, ganz bald bricht die Nacht herein und dann bist Du, mein Kind, tot. Dann ist mein Leben beendet, und unsere Welt ist nicht mehr, und es herrscht das Nichts. Aber das ist mir egal, wichtig ist nur, dass Du nicht bei mir bist und dass es keinen Ort in keinen Welten gibt, wo Du bist. Ich muss Dich finden. Ich finde Dich.
Und ich mache die Tür auf, und gehe die Steintreppe herunter, das Licht der Blume ist keine große Hilfe, aber ich bete laut und vielleicht deshalb stürze ich nicht. Es ist noch etwas Helligkeit da, und das heißt: es gibt noch Hoffnung. Der Himmel über den Dächern leuchtet es rosa-rot, ich weiß: wenn er sich lila verfärbt - dann wird es zu spät sein.
Doch wo soll ich Dich suchen? Ich frage die Blume und glaubte, eine Antwort zu vernehmen. So gehe ich weiter - der Blume nach. Schwarze Flügel erschrecken mich, scharfe Krallen wollen mir die Blume aus der Hand reißen - doch die Blume schmiegt sich an mich, und ich halte sie ganz fest. Hässliche Fratzen tanzen einen wilden Reigen um mich und wollen mich einschüchtern - doch ich schließe die Augen und laufe weiter. Aber auch in meinem Verstand tanzen sie weiter und ich danke daran, wie Du, mein Kind, ungehorsam warst und wie Du mir böse Worte ins Gesicht geworfen hast. Ich erinnere mich, wie sich meine Hand erhob und auf Deinem Po landete und wie Dein kleiner Körper von dem Schlag erschüttert wurde und wie sich Deine Augen mit Tränen füllten. Deinen Blick konnte ich damals nicht deuten, dich jetzt weiß ich: es war eine Mischung aus Hilflosigkeit und Wut. Und ich selbst war so wütend auf Dich und habe Dich gehasst. Ich wollte Dir noch einmal schlagen - doch Du bist weggerannt. Dank sackte ich zusammen und blieb wie versteinert sitzen. Lange. Wenn ich Dich damals um Verzeihung gebeten hätte, wäre nichts von dem passiert, was passiert ist.
Ich renne und irre durch Straßen und traue mich nicht, hoch zu blicken um nicht sehen zu müssen, wie der Himmel lila wird. Ich will hoffen, dass ich noch Zeit habe und ich will nicht wissen, dass ich sie nicht mehr habe.
Ich weiß nicht, wohin ich gehe, ich vertraue meiner Lilie, meinem kleinen Lotsen durch das tosende Meer des Nichts. Seine Dämonen wüten um mich herum, sie zerren Grimassen, sie strecken ihre Klauen nach der Blume, sie sind überall und flüstern mir zu: „Geh weg aus der Stadt, sie gehört uns und Dein Kind gehört uns. Du sollst verschwinden, sonst stirbst Du!“
Ich denke, ich sei sowieso tot. Ich denke: Ich lebe, solange ich Dich liebe. Meine Liebe hält mich am Leben und hält die Dämonen zurück. Meine Liebe wärmt mich in dieser eisig kalten Stadt.
Es fängt an zu schneien, zuerst lassen sich große langsame Schneeflocken auf meinem Haar nieder, dann kommen kleine, spitze, sie stechen mich, sie tun weh. Meine Füße spüre ich nicht mehr, sie sind taub, doch ich freue mich, dass sie sich noch bewegen. Ich versuche, meine Blume mit meinem Atem aufzuwärmen, doch sie wird immer bleicher, ihr Licht ist schon fast erloschen.
Es ist fast dunkel geworden, ich hoffe, das ist noch keine Nacht, das ist nur der Schneegestöber. Ich komme zum Fluss, zu der gleichen Stelle, an der ich Dich verloren habe. Jetzt ist hier niemand, der Spielplatz ist mit einer Schicht Schnee bedeckt. Ich sehe, dass der Fluss Hunderte Eisschollen trägt, runde, weiße Eisschollen, die sich unaufhörlich drehen. Der Strom fließt langsamer und langsam stürzt sich in den Abgrund.
Ein Schwan taucht von unterhalb der Brücke auf und ich sehe, dass seine Füße im Eis eingefroren sind. Der große Vogel flattert hilflos mit den Flügeln, doch der Eisbrocken ist zu schwer und hält ihn wie eine Fussfessel. Er kann sich nicht von der Wasseroberfläche erheben, er dreht sich mit der Eisscholle, seine Flügel bewegen sich immer noch, doch es ist offensichtlich, dass er bereits aufgegeben hat. Der Strom fließt langsam, bald ist er mit einer Eisschicht bedeckt und bleibt stehen. Dann hört die Zeit auf. Dann hört unsere Welt auf. Dann finde ich Dich nicht mehr. Wo bist Du?
Der Schwan, eingekettet ins Eis, er ist schon nahe am Abgrund. Ich sehe, wie er seinen Schnabel aufmacht und schwer atmet. Er liegt erschöpft auf der Eisscholle und lässt sich treiben. Was soll ich nun tun? Ich habe nur diese meine Lilie, eine kleine Blume, in der nur wenig Kraft ist und die fast erloschen ist. Meine letzte Hoffnung, Dich zu finden.
Die fernen Gipfel haben noch einen Hauch Rosa, aber weiter unten sind die Berge lila und noch tiefer sind sie dunkel-blau und schwarz. Die Dunkelheit klettert die Berghänge empor und erobert immer weitere Höhen.
Der Schwan schaut mich an, in seinen schwarzen Augen sehe ich Klage und Wut. Er klagt mich, die Zögernde und die Schwankende, an. Er ist auf mich wütend, dass ich ihm seine Hilfe verweigere. Nein, ich halte es nicht aus, ich muss handeln. Ich denke nicht mehr, ich renne am Quai entlang, ich sage dem Vogel: „Halte durch!“ und „Gib nicht auf!“ und sehe, wie seine Augen sich schließen.
Ein Dämon rast auf mich zu, zum ersten Mal sehe ich einem direkt in seine Fratze. Er ist grau, wie alles hier, er scheint aus einem Schleim zu bestehen, aus einer glitschigen halbdurchsichtigen Masse, durch die eine öde steinige Landschaft hindurch schimmert. Der Dämon hat keinen Kopf, sondern irgendwo in seiner Mitte erscheinen hier und da entsetzliche verunstaltete Gesichter. Erscheinen um gleich wieder zu verschwinden, verschwinden um Platz den anderen noch hässlicheren zu machen. Ich weiß, dass der Dämon stärker als ich ist und dass er mir meine letzte schwache Hoffnung entreißt. Er soll sie nicht bekommen, ich weiß, wer sie bekommen soll. Ich sage meiner Lilie: „Flieg doch zu ihm, rette ihn!“ und werfe sie wie einen Speer in den Fluss, dorthin, wo der Schwan im Todeskampf liegt.
Die Lilie fliegt leicht und schnell, der Dämon aber versucht sie aufzuhalten und verfehlt sein Ziel. Die Lilie bohrt sich ins Eis mit ihrem Stiel und das Eis beginnt zu schmelzen, und der Fluss der Zeit, der fast stehen geblieben ist, kommt in Bewegung. Das Wasser sprudelt und die Eisschollen tauen und krachen aufeinander. Es kommt Leben in den Fluss und die Stadt erfüllt sich mit Tönen.
Der Schwan, obwohl befreit, lässt sich weiter treiben, und ich halte meine Hände vors Gesicht um nicht nicht sehen zu müssen, wie sein schöner weißer Körper den Abgrund hinunter stürzt. Aber im letzten Augenblick breitet er seine Flügel aus und erhebt sich in die Luft, fliegt zuerst schwerfällig und langsam, dann immer freier und schneller.
Er macht eine Runde hoch über mir und schaut mich von oben herab an. Und plötzlich erkenne ich Deine Gesichtszüge in seiner Gestalt. Ich falle auf meine Knie und rufe ihm - oder Dir - zu: „Vergib mir!“ Der Schwan - oder Du - kreist und kreist und steigt immer höher und schon ist er nur ein Punkt im blauen Himmel. Ja, es ist wieder Tag und die Sonne scheint, und der Fluss der Zeit donnert in den Abgrund, und ich... Ich bin allein.
Das Nichts konnte die Zeit nicht anhalten, aber eins hat es erriecht: es hat uns endgültig, unwiederbringlich getrennt. Ich weiß, Du hast mir vergeben. Ich weiß, ich werde mir selbst nie vergeben können. Ich bin leer, ausgelaugt, ich bin am Ende. Ich weiß, gleich werden die Dämonen sich über mich stürzen, mich vernichten, mich zerreißen, mich auslöschen. Ich weiß, mir sind nur einige Augenblicke geblieben. Doch ich weiß auch, dass ich nicht zum Nichts werde - denn auch jetzt, im Angesicht des Todes - ich liebe Dich!
Texte: Alle Rechte liegen bei mir
Tag der Veröffentlichung: 14.07.2012
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