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Die Königsgärten

Es war heiß, es ist bei uns meistens so heiß. Es sei denn, es weht ein Ostwind. Der Wind vom fernen Meer, wo mein Vater einmal gewesen war. Er konnte das Meer so gut beschreiben, dass es mir schien - ich war dort mit ihm zusammen gewesen. Er wollte einmal Mama und mich dorthin mitnehmen, und ein neues Leben anfangen. Er meinte, am Meer, sei es ruhiger, dort sie kein Krieg.
Jetzt weiß ich, dass er sich irrte. Der Krieg ist überall.
Mein Vater wollte nicht in den Krieg. Er wollte Sättel machen und Geschirr für die Pferde, er wollte Pferde züchten, wir hatten acht von diesen Tieren; flauschige Gesichter, dunkle mandelförmige Augen, rötlich schimmernde Leiber, vier kräftige Flügel. Wie oft bin ich auf Nor geritten-geflogen! Er war das stärkste unserer Pferde, das schnellste.

Aber auch Nor hätte nicht über die Westwüste fliegen können.
Nein, die Westwüste kann man nicht überqueren. Niemand kann das, außer den Göttern. Die aber berichteten: dort, jenseits der Wüste, befinden sich die Gärten des Königs. Wenn man lange-lange geht, nur Sand und Sonne, und ab und zu eine Viper, eine von den Dreiköpfigen Vipern, der übelsten Sorte aller Schlangen, - dann sieht man diese Gärten, sie sind wunderschön. Doch sie sind auch furchtbar. Und jeder, der sie einmal gesehen hat, der stirbt vor Angst.
„Hast Du die Gärten gesehen?“ - fragte ich unseren Gott.
„Ja, und sogar ich bekam Angst, doch wir Götter sterben nicht, so bin ich auch nicht gestorben“.
„Was hast Du dort gesehen?“
„Hinter einem weißen Zaun wachsen gigantische Bäume, alle tragen Riesenfrüchte, die duften herrlich! Und noch habe ich einen Hochstand gesehen, eine ganz große Laube, alles mit Gold geschmückt, und mit Edelsteinen, und...“
„Ich hätte es auch gerne gesehen! - sagte ich verträumt, - „Und ich hätte noch versucht, mit dem König zu sprechen, vielleicht kann er uns helfen, damit es keinen Krieg mehr gibt“.
Der Gott wurde sofort bitterböse: „Wir brauchen hier keine Hilfe! Von dem König sowieso nicht! Der soll hinter seinem Zaun bleiben und schweigen! Wir können unsere Feinde ohne Hilfe besiegen! Und nun bin ich in euer Haus gekommen, um Deinen Vater mitzunehmen, er muss kämpfen!“
„Nein! Bitte nicht ihn!“
Doch gegen einen Gott zu streiten hat keinen Sinn.
Mein Vater ging in den Krieg. Er kam nie wieder.
Unsere Feinde habe eine neue Waffe erfunden, eine Feuerschleuder. Mit unseren Bögen und vergifteten Pfeilen war unsere Armee wehrlos. Der Feind konnte tief in unser Hinterland eindringen, viele Dörfer abbrennen.
Auch unser Dorf... Sie kamen, hellhäutige, fast weiße Menschen, solche habe ich noch nie gesehen. Grauenvoll! Sie ritten ihre Doppelflügler, wie schrecklich sind diese Tiere im Vergleich zu unseren Pferden! Sie treten, beißen - und lähmen jeden Widerstand mit ihrem Blick.
Üble Feinde, seid ihr verflucht! Ich habe gesehen, wie meine Mutter von einem Doppelflügler gebissen wurde, in den Hals - und das Tier trank ihr Blut aus. Ich habe gesehen, wie unsere Pferde geschlachtet wurden, ich habe erlebt, wie Nor starb, mein Liebster, wie seine dunklen Augen matt wurden, wie seine vier Flügel aufgehört haben zu schlagen, wie sein roter Leib schwarz wurde, von dem Tod überwältigt.
Und die Feinde fraßen sein Fleisch roh. Die Knochen aber kochten sie aus und gaben sie den Hunden, denn nur ausgekochte Knochen machen Hunde richtig stark.
Ich habe gesehen, wie sie unseren Gott hingerichtet haben: gepfählt haben sie ihn, und seinen Schrei vergesse ich nie. So schreit ein Mensch, kein Gott. Denke ich jedenfalls.
Ich habe überlebt. Wozu? Warum bin ich geflohen, ich hätte lieber meiner Mutter zur Hilfe eilen sollen, obwohl das nichts genutzt hätte.
Dann wäre ich aber sofort tot, jetzt muss ich einen langsamen Tod sterben, hier in dieser verdammten Wüste. Aber ich lebte noch, ich ging. Westwärts. Wohin sollte ich denn sonst gehen, wenn es kein Zurück gab? Meine Welt ging unter; sie war zwar nie gemütlich, sie war nie friedlich. Aber es gab sie. Jetzt war ich allein.
Nur ich und der Sand. Und noch die Sonne. Und diese Dreiköpfige Viper, die mich anstarrte. Und ich - sie. Ich wusste nicht, wie man mit Schlangen umgeht, im Dorf gab es sie nicht. Ich wartete einfach ab, bis sie weg war.
Die Schlange hatte große Geduld, oder hatte sie es nicht eilig, doch meine Geduld war größer. Ich hatte ja Zeit, jetzt, ich hatte nichts anderes.
Die Schlange kroch weg, vielleicht war meine Taktik richtig. Ich schleppte mich weiter.
Durst. Ich hatte Durst. Ich hatte kein Wasser. Ich habe mein Gepinkeltes getrunken, das half nicht gegen den Durst. Ich habe eine Dreiköpfige Viper mit meinen eigenen Händen erwürgt und aufgeschlitzt und ihr Blut getrunken. Das half, aber nicht lange.
Der dritte Tag brach an. Durst. Warum lege ich mich nicht hin und schlafe ein? Einschlafen, um nicht mehr aufzuwachen. Dann wäre ich endlich bei meinen Eltern und bei unserem armen Gott!
Ich war gestolpert, mein Knie tat weh und wurde dick. Wie gerne wäre ich zu Mama gelaufen, dass sie mir Kräuter auf meine Wunde legt und einen Spruch dabei flüstert. Aber ich habe keine Mutter mehr. Keinen Vater. Keine Welt.
Ich ging weiter. Ich fragte mich, wie lange hältst Du aus? Nicht mehr lange, habe ich mir selber geantwortet...

„Ich werde dorthin gehen, wo ich diesen Glanz sehe. Einen Glanz, der nicht von der Sonne kommt und nicht vom Sand. Eine Fata Morgana ist es bestimmt, doch was für eine schöne! Ich gehe dorthin...“

Und auf einmal stand ich direkt davor. Vor einem weißen Zaun. Weiß und endlos und keine Lücke, um zu spähen, was wohl dahinter ist. Doch ich konnte schon ahnen, was sich dort verbirgt: die Königsgärten! Ich bin doch angekommen. Über dem Zaun neigen sich Äste mit riesigen Blättern zu mir, die Äste sind schwer von roten und gelben Früchten. Und zwischen den Bäumen - ein Hochstand, ein prächtiges Gebäude war es, mit einer goldenen Kuppel, vielleicht wohnt dort der König und - kann das sein - sieht mich und hat mit mir Erbarmen.
Ich wusste nicht, ob das, was ich sehen, real war. Nach drei Tagen in der Wüste weiß man nicht mehr, was Wirklichkeit und was Schein ist.
Ich stand vor dem Zaun und dachte, hier und jetzt endet mein Leben. Ich bin am Ziel meines Lebens angekommen. An diesem weißen Zaun, der nicht aus Holz und nicht aus Eisen ist. Ich setzte mich im flüchtigen Schatten der Äste. Ich träumte von den unerreichbaren Früchten des Königs.
Denn lehnte ich mich an den Zaun - und da geschah Merkwürdiges: mich überfiel Panik. Panische Angst vor allem, was um mich herum war: Sand, Sonne, Zaun und der Hochstand darüber verwandelten sich in düstere Monster, die mir nach dem Leben trachteten. Ich wollte mich in den Sand eingraben, ich wollte wegrennen. Doch wohin sollte ich gehen? Wo sollte ich Kraft schöpfen, um zu fliehen?
Ich habe angefangen zu weinen, die Tränen flossen mir über die Wangen, und ich wollte und konnte nicht aufhören zu weinen, ich fühlte mich leicht und leer. So legte ich mich hin und schlief zum ersten Mal in diesen drei Tagen und vier Nächten ein.

Ich wachte im Jenseits auf, jedenfalls habe ich zuerst so gedacht. So ganz falsch war es auch nicht, denn ich war jenseits - auf der anderen Seite des Zauns, in den Königsgärten.
Der Raum war hell, groß und rund. Und kühl, aber nicht kalt. Durch die Glasdecke sah ich Riesenbäume, ihre Blätter in allen Schattierungen von grün.
Ich wollte aufstehen, doch es ging nicht, ich war zu schwach. Und ich war nicht frei, denn an mir hingen Schläuche und klebten blinkende Dinge, die ich zuerst für Frösche gehalten hatte. Doch es waren Dinge, keine Lebewesen.
Ich war hungrig, aber nicht durstig. Und eigentlich wollte ich nicht aufstehen, ich fühlte mich so wohl und ruhig. Wie zu Hause, wollte ich sagen - aber zu Hause habe ich mich nie so geborgen gefühlt, dort war es zu viel Krieg: in jedem Blick, in jedem Wort und in jeder Tat.
Ich war allein, aber nicht lange. Zuerst kam ein Mensch und lächelte mich an. Ein großer Mann, bei uns wurde man nicht so groß. Dunkelhäutig, noch dunkler als ich. Eine beruhigende Hautfarbe, vor Weißen kriege ich Angst.
Grüße Dich, Junge! Wie geht es Dir?
Bist du der König? - frage ich. Er lachte so, dass er husten musste.
Wie kommst du darauf, Kind? Ich heiße Lem, und bin ein Arzt. Wie heißt denn Du?
Ki-Kija.
Aber das bedeutet nur „Ein Kind des Stammes Kija“, mehr nicht. Wie viele seid ihr noch geblieben? - er wurde leise und traurig.
Wie viele? - ich dachte an mein Dorf, voll Rauch und Blut - und an das Schmatzen der Feinde. - Ich weiß es nicht, vielleicht bin ich der letzte.
Du armes Kind... Ein Kind namens Ki. Schlaf noch, ich komme später...

Er ging, aber so schnell schlief ich doch nicht ein - denn etwas plumpste auf die Glasdecke und sagte: Hey!
Im unruhigen Schatten der Riesenblätter habe ich ein Wesen entdeckt, das ich für einen gefährlichen Doppelflügler gehalten hätte, wäre es nicht so klein und dazu noch bunt. Das Wesen schlüpfte durch eine Öffnung hinein und flog zu meinem Bett. Krumme Hornnase, gelbe Augen, blau-gelb-rotes Gefieder.
Du hast ja einen komischen Namen, mein Freund! - sagte es, - Aber mein Name ist noch komischer - Ich heiße nämlich Koku.
Unsere Tiere können nicht reden, - sagte ich etwas störrisch.
Was meinst Du mit dem „Tier“? - wunderte er sich, und hat offensichtlich auf eine ernsthafte Antwort gewartet.
Na-ja, ich meine - Nicht-Menschen.
O, das ist ja spannend! - rief Koku - Sind dann Tiere irgendwie schlechter als Menschen?
Nein, so nicht... - ich erinnerte mich an Nor, - aber irgendwie nicht so klug. Reden können sie jedenfalls nicht, - sagte ich entschieden.
Hm, dann bin ich kein Tier. Aber auch kein Mensch, hast Du gesagt. Was bin ich denn, Ki-Kind? - das Wesen flatterte durch den Raum, setzte sich auf einen Stab, der vermutlich für ihn und für solche wie er gemacht wurde und guckte mich von oben herab an, stellte seinen Kopf schräg und schaute mich mit einem gelben runden Auge an. Und wartete wieder auf eine Antwort.
Ich weiß es nicht, Koku, ich weiß nicht einmal, wo ich hier bin. Sind es die Königsgärten?
Königsgärten! - das Wesen hüpfte auf seinem Stab und krächzte - Was für tolle Namen Du erfindest, Ki-Kind! Prächtig! Genial! Ja, die Gärten sind ja schön! Und groß! Und schattig!
Ich würde gerne eine Frucht von dem Baum da oben probieren, ich bin so hungrig! - sagte ich bittend.
Frucht! - Koku war begeistert. - Und wie nennst Du die Frucht?
Sieht wie unsere Melone aus, aber die wachsen nicht auf Bäumen, - sagte ich unsicher.
Tatsächlich, das sind Melonen, eine Art Melonen. Du bist wunderbar, Kind! - Koku öffnete seine Hornnase, die wohl auch eine Art Mund war, und berührte meine Stirn mit seiner kurzen dicken Zunge. Die Zunge war nass und weich, und ich erinnerte mich, wie meine Mutter mich geküsst hat. Meine Mutter, die ich nie wieder sehe...
Weine nicht! Kindchen, Ki-Ki! - Weine doch bitte bitte nicht! - das bunte Wesen hüpfte und flatterte um mich herum, plötzlich hing es kopfüber auf dem Stab und fiel herunter, und landete auf seinen Füßen, blickte erstaunt, als ob es nicht mehr wusste, wo es sich befindet. - Dann lachte ich wieder.
Er brachte mir eine schöne Mahlzeit, nicht vom Baum geholt, sondern durch die runde Tür auf einem fliegenden Tisch eingetroffen. Der Tisch wollte eigentlich, dass ich seltsame Zeichen entziffere, und Tasten drücke, um von mir ausgesuchte gewünschte Speise zu servieren, doch Koku meinte, das Ding sei dumm, weil es sich nicht vorstellen kann, dass jemand nicht lesen kann.
Als ich fragte, was Lesen ist, lachte Koku und meinte, er bringt es mir bei, ist eine kinderleichte Sache.
Koku hat sein Wort gehalten. Nach zwei Wochen konnte ich lesen. Eine faszinierende Sache ist es, lesen zu können, diese Buchstaben, die vor Dir aus dem Nichts auftauchen, sich zu Worten fügen und die Worte zu Sätzen reimen. So konnte ich diese wunderliche Welt erschließen, in der ich zu Gast war.
Eine Märchenwelt, eine Zauberwelt, eine Wunderwelt. Und das - nur drei Tage Fußmarsch durch die Wüste, nur drei Tage Flucht vor dem Mord und Krieg. So nahe und so weit, so unerreichbar weit und so schön.
Nein, es gibt in dieser Welt keinen König, doch es gibt dort einen anderen Herrscher, einen ganz besonderen.
Diese Welt ist Jahrtausende alt, ihre Geschichte begann während des Großen Krieges, während eines der vielen Großen Kriegen, die Menschen, geleitet von ihren Göttern, führten. Und immer noch führen. Damals hat jemand eine neue Waffe erfunden, eine Waffe, die die ganze Welt vernichten konnte: alle Lebewesen hätte diese Waffe in Staub verwandeln können - ach, wenn wir, Kiju, diese Waffe gegen unsere Feine besäßen!
Doch diesem jemand, dessen Name Somer war, ist ein Gott erschienen, ein unsichtbarer Gott - ich konnte anfangs nicht glauben, dass es solche Götter gibt, denn Götter sind ja stets bei ihren Menschen und leben mitten im Dorf in einem Hochstand, und tragen einen roten Lendenschutz aus der Haut der Pferdeflügel!
Nun, so habe ich gelesen - und Koku meinte, man soll dem vertrauen, was man liest, - es kam ein unsichtbarer Gott zu Somer und bat ihn, diese Waffe zu vernichten und in die Wüste zu gehen, und die Menschen und sonstige Lebewesen mitzunehmen, die mitkommen wollen.
Es sammelte sich eine kleine Schar von denen, die in die Wüste gehen wollten. Weg von dem Krieg und von den Göttern; alle, die in die Wüste gegangen sind, haben geschworen, dass sie keine Herrscher haben werden, dass sie in Frieden miteinander leben werden, nicht nur Menschen unter einander, sondern auch ALLE Wesen.
So hat dieser unsichtbare Gott sie gelehrt: ich sei kein Herrscher für euch, sondern ein Freund, und ihr sollt mit einander in Freundschaft und in Liebe leben.
Zwei Dinge hat dieser Gott für seine Freunde gemacht: eine grüne Oase zum Leben, und eine Wüste drum-herum zum Schutz gegen die Feinde.
Die kleine Schar wurde verfolgt, man hat geschrieen: „Kriegsverbrecher! Volksfeinde! Götterlästerer!“
Aber die kleine Schar ließ sich in der Oase nieder, im Schutz der Wüste, und begann zu leben, zu arbeiten, Felder zu bestellen und Gärten zu pflanzen. Städte zu bauen, und Straßen, und Maschinen zu erfinden, um das Leben zu erleichtern.
Die Oase wurde größer und schöner.
Bis eine Katastrophe ausbrach: noch einer hat eine tödliche Waffe erfunden, und auf den unsichtbaren Gott nicht gehört, und die Waffe eingesetzt.
Eine giftige Wolke bedeckte den Planeten - Koku ist schier verrückt geworden, bis er mich doch überzeugt hat, dass unsere Welt ein rundes Ding ist - und fast alles Lebende starb.
Die Oasen-Bewohner haben ein Gegengift erfunden und konnten sich retten. Für den Rest der Welt hat das Gegengift nicht gereicht, von den Menschen dort blieben nur einige wenige übrig. Aber sobald sie wieder zu Kräften gekommen waren, haben sie wieder einen Krieg angefangen gegen einander. Und dann noch einen Krieg, und noch viele Kriege.
Seitdem haben die Oasen-Bewohner einen Zaun um ihre Welt gezogen, einen Zaun, der alle Eindringlinge in eine furchtbare Panik versetzt, aber auch Gifte und sonstige Gefahren abwendet.
Seitdem leben die Oasen-Bewohner von dem Rest der Welt gänzlich abgeschnitten, der Rest der Welt aber führt seine Kriege, dessen Sinn die Oasen-Bewohner nicht nachvollziehen können.
Ich habe protestiert, ich habe versucht Koku zu erklären, dass wir den Krieg für unsere Götter und für unsere Dörfer führen und dass die Feinde uns das alles nehmen wollen. Ich habe von dem Überfall auf unser Dorf erzählt, und Koku hat geweint. Kleine Tränen hingen an seinen kurzen Wimpern, er rieb sich an meinem Bett und hinterließ nasse Spuren auf dem Bettuch.
Aber er hat mich nicht verstanden: „Und wozu Krieg? Mann kann doch alles besprechen, warum kämpft ihr denn?“
Er hat einen Menschen - also jemanden, der mir ähnlich sieht - zur Hilfe gerufen. Dieser meinte, wir hören zu viel auf unsere Götter, die sind aber blutrünstig und brutal. Ich meinte, man soll auf Götter hören, sonst werden sie einen bestrafen. Der Mensch meinte, unsere Götter werden wohl keinen strafen können, denn sie sind keine echten Götter, sondern wie wir.
Sie sind nicht wie wir, - sagte ich empört! - Sie sterben nicht!
Du hast doch einen Gott sterben gesehen! Sie leben länger, als die meisten von euch, das stimmt, denn sie ziehen nicht in den Krieg, sondern treiben nur euch an.
Dem musste ich zustimmen: die Götter sandten Menschen in den Krieg, feuerten sie an - sie haben meinen Vater genötigt, in den Krieg zu gehen. Sie selbst blieben aber in ihren Hochständen, weil sie die Daheim-Gebliebenen beschützen sollten. Aber als die Feinde unser Dorf verbrannten, konnte auch unser Gott uns nicht retten.
Euer Gott ist stärker als unsere Götter, - sagte ich.
Es geht nicht um Stärke, sondern um Weisheit, - meinte er.

Je besser es mir ging, desto mehr durfte ich von der Gartenwelt - so habe ich sie für mich genannt - sehen.
Ich habe gelernt, wie ich eine durchsichtige Kapsel lenke, um zwischen den Bäumen zu gleiten und über den hohen Häusern zu schweben, und ganz tief über den Feldern zu sausen.
Ich habe so viele neue Freunde gefunden, und ich habe aufgehört mich zu wundern, dass ich mit Tigern und Pferden und mit Hunden reden kann. Ich konnte ein langes Gespräch mit einem Hüpfhuhn führen, einem Tier, dessen Fleisch meine Mutter so gut kochen konnte. Ich konnte einen wertvollen Rat vom Schleifenschwein bekommen, einem aus meiner Sicht urkomischen Lebewesen, das einen flachen Leib (lecker!) hatte, dessen spärliche Behaarung aussah, als ob das Tier mit kleinen zierlichen Schleifchen bedeckt wurde.
Und mein bester Freund Koku war der weiseste unter all meinen Freunden, und der treuste, und der gütigste. Er nahm sich viel Zeit für mich, nicht nur weil ich sein Forschungsobjekt war - denn Koku ist in der Gartenwelt ein berühmter Sprachwissenschaftler - sondert auch privat. Er hatte immer einen guten Witz für mich, und Zeit, um mit mir in den Gärten zu toben, und er brachte mir viel bei: wie man klettert, und wie man all die Maschinen steuert, die das Leben erleichtern, und auch wie man in der Not hilft. Als ich von einer schwebenden Kapsel gestreift wurde - muss zugeben, ich war selber schuld: ich stand am falschen Ort, mitten im Verkehr, wie er mir später erklärte, - flatterte Koku zu mir und berührte mich mit seiner dicken Zunge, so dass ich aus meiner Ohnmacht aufwachte, und mühte sich, und half mir weg zu kommen aus der Gefahrenzone.
Ich habe gespürt, wie sein kleines Herz rast, wie er seine Hornnase öffnet, um nach Luft zu schnappen - denn ich war ja zu schwer für ihn.
Koku, ich liebe Dich! - sagte ich damals.
Lieben! Das ist fantastisch! Grandios! Perfekt! Liebe ist das Beste, was es auf der Welt gibt! Aber meinst Du es ernst? Willst Du mich nicht vertrösten? - er legte seinen Kopf in eine unwahrscheinlich Schieflage. - Denn ich bin nämlich ein sehr einsamer Vogel, weiß Du!
Nein, Koku, ich liebe Dich wirklich! - schwor ich und umarmte ihn.
Du bist das beste aller Wesen! - rief er überglücklich.
Man hat über uns geschmunzelt, wenn wir durch die Gärte spazierten: er auf meiner Schulter sitzend und meine Haare nach nicht existierenden Läusen absuchend.
Die Gärten kannte ich in- und auswendig, jeden Pfad, jeden Winkel. Hinter den Gärten begann die Stadt, wo es weniger Grün war und mehr Trubel. Schön und stolz, funkelnd und laut, war mir die Stadt fremd.
Ich betrachtete sie am liebsten aus der Ferne, und kehrte dann wieder in die Gärten zurück, um dort zu wandern.
Nur eine Ecke in den Gärten habe ich gemieden. Ich ging nie dorthin, wo die Bäume besonders hoch waren, ihre Äste knorrig und dick, wo auf einer Lichtung große weiße Blumen blühten und folgten dem Tageslauf der Sonne mit ihren Gesichtern, und als die Sonne untergintg, leuchteten sie im Dunkeln wie kleine Sonnen und wiesen alle in eine Richtung: zum Hochstand.
Ohne jemals gefragt zu haben, wusste ich, Wer sich in diesem erhabenen Bau, mit einer goldenen Kuppel geschmückt, befand. Nein, doch nicht! Ich wusste, für Wen der Bau errichtet wurde, aber ob Der, für Den der Hochstand gebaut wurde, sich dort wirklich aufhielt - nein, das wusste ich nicht. Wie konnte ich es auch, wenn ich dort nie gewesen war?
Mich zog zu diesem Bau, seine geschwungene Formen faszinierten mich, ich träumte oft davon, die golden glänzende Leiter hoch zu steigen, und den Raum zu betreten. Ich habe mir immer wieder ausgemalt, wie prächtig der Raum - oder waren es viele? - eingerichtet ist, und wie ich Ihm begegne, Ihm, den niemand je gesehen hat.
Doch vielleicht werde ich in dem Raum niemandem begegnen? Vielleicht ist es dort wüst und leer und verlassen?
Aber wenn Er da ist, und stark und weise ist, so wie die Oasen-Bewohner Ihn preisen - vielleicht kann er dann meinen heimlichen Wunsch erfüllen? Meine Bitte, die ich mich nie getraut habe, auszusprechen? Die ich nur Ihm eröffnen würde - vielleicht...
Warst Du schon einmal in dem Hochstand? - fragte ich einst Koku, als wir uns unter einem Baum, den er Klang-Baum nannte, hingesetzt haben. Der Baum summte tatsächlich eine einfache Melodie, indem er seine Blätter aneinander rieb. Besonders laut wurde der Baum abends, dann war er in seiner besten Stimmung. Jetzt war es aber Morgen, und der Klangbaum ruhte sich von seinem Nachtkonzert aus.
Koku schwieg eine Weile, kratzte sich im Hinterkopf mit dem Fuß. Schüttelte sein Gefieder zurecht, putzte es an der Brust und sprach entschieden: „Die Zeit ist reif, mein Ki-Kind, wir müssen zu Ihm hin“.
Mir wurde es plötzlich kalt, als ob eine Wolke die Sonne verdeckt hatte, dann lief mir der kalte Schweiß den Rücken herunter.
Aber Koku flog schon voran und verschwand zwischen den Bäumen.
Ich musste aufstehen und schleppte mich hinter her.
Über mir - die Baumkronen, dort in der Höhe sangen die Vögel oder wer auch immer - vielleicht die Bäume selbst. Sie waren frei - ich nicht. Ich musste gehen, dorthin, wohin ich nicht gehen wollte, doch wusste, dass ich gehen musste.
Ich ging zwischen den weißen Blumen, und sie folgten meinem Gang mit ihren Gesichtern, sie folgten nicht der Sonne. Unter den Blicken der Blumen fühlte ich mich klein, noch kleiner als ich auch so bin.
Ich ging gebückt zum Haus Gottes, ich fühlte mich unwürdig und unrein.
Aus der Nähe war der Hochstand schwindelerregend hoch, ich stand am Fuße der Leiter und Koku, der bereits am Eingang gelandet war, war nur als ein winziger Punkt zu sehen.
Ich berührte die Leiter mit meiner Hand, ich stellte einen Fuß auf die unterste Sprosse - und wurde empor gehoben, hoch hinaus. Ich weiß nicht, war es Zauberei oder eine von vielen Maschinen; im Gottes Haus vermutete ich eher das Erste. Und schon betrat ich den Hochstand: ein leerer Raum, nach allen Seiten offen. Über meinen Kopf - die Kuppel, die über dem Raum schwebte. Schon wieder Zauberei? Mir wurde es schwindelig, und ich traute mich keinen Schritt weiter.
Koku war nicht da...
Der Hochstand, der Tempel eines unsichtbaren Gottes... Der Boden weich und weiß. Die Kuppel, von unten gesehen, wie ein goldener Schleier über dem Himmel. Auf diesem Schleier - Gestirne, nein, etwas anderes. Das waren doch Gesichter, Antlitze meiner verstorbenen Eltern, unseres armen Gottes und noch so viele andere, die ich nicht kannte: Menschen von meinem Stamm, aber auch die Weißen, und Gepunktete, und Zwerge...
Sie sind alle hier, ich gedenke aller Gefallenen! - nahm ich einen Gedanken wahr.
Wer denkt hier, in meinem Kopf? Ich schaute mich um - niemand. Stille. Baumkronen. Dahinter - die Wüste. Ach, lange habe ich dich nicht gesehen, du todbringende Wüste, du glühst ja immer noch, mein Feind!
Feinde! Wieso sehe ich sie dort, im Himmel, wie sind diese üble Typen dorthin gekommen?
Ich trauere um alle Toten, Ki-Kind! Schau hin!
Und ich sah meinen Nor, mein Lieblingspferd, sein flauschiges Gesicht, dunkle Augen, spitze Ohren, vier kräftige rote Flügel. Auch er war dort, auch er wurde bei diesem seltsamen Gott aufgehoben.
Dann dachte ich: jetzt oder nie! Ich werde meine Bitte aussprechen, ich traue mich, den fremden und fremdartigen Gott um etwas anzuflehen. Vielleicht straft er mich nicht, und wenn auch - dann hat er auch damit recht, denn Götter haben immer recht.
Nun, dann mal raus mit der Sprache!
Du, ewiger weiser Gott, Du hast den Menschen Frieden beigebracht. Seit ich in eurer Gartenwelt leben darf, habe ich verstanden, wie schön Frieden ist. Kannst Du aber so machen, dass in meine Welt, jenseits der Wüste, auch Frieden kommt?
Ich habe darauf gewartet, dass Du mich darum bittest. Ich bin stolz auf Dich, Ki-Kind, dass Du Deine Welt nicht vergessen hast und dass Du sie liebst. Meine Antwort ist aber: Nein! Ich kann keinen Frieden Deiner Welt bringen!
Warum, Gott! Der Frieden ist doch so schön! Wer in Frieden lebt - der lebt lange und glücklich, wer in Frieden lebt, der kann einen prächtigen Garten pflanzen, und seine Felder bringen eine reiche Ernte und niemand wird ihm die Früchte seiner Arbeit wegnehmen, und niemand wird ihm seine Eltern wegreißen und niemand wird seine Kinder töten und seine Pferde schlachten! Gott, wenn Du weise bist und gütig - hilf uns!
Er schwieg lange. Ein warmer Wind blies aus der Wüste, und die Baumkronen schaukelten hin und her, und ich konnte meinen Arm ausstrecken und sie berühren, doch ich machte es nicht. Ich dachte an den langen Weg die Leiter herunter und daran, dass ich in der Gartenwelt den Rest meines Lebens verbringen werde, und wie schön es sein wird, unbekümmert und sorglos mit Koku zu toben, und vielleicht werde ich Sprachenforscher - wie er. Später, wenn ich erwachsen bin.
Dann aber erklang Seine mächtige Stimme - und holte mich aus meinen Träumen heraus und erfüllte mich mit Zittern, denn Er sprach zu mir: „Solange Menschen den Krieg mehr lieben als den Frieden, wird es Krieg geben. ICH, Gott, habe alle Lebewesen zum Frieden gerufen, doch nicht alle sind mir gefolgt und wenn sie damals nicht gefolgt sind, warum sollen sie jetzt es tun? ICH werde nie jemanden zu etwas zwingen, so habe ich mir geschworen vor Ewigkeiten und so bleibt es.
Dann gibt es keine Hoffnung? - schrie ich.
Oh, Ki-Kind, die Hoffnung - die gibt es immer. DU kannst diese Hoffnung in Deine Welt bringen. Du kannst gehen und sagen: Der Frieden ist schön und süß, der Krieg aber hässlich und bitter. Du hast gesehen, wie man in Frieden leben kann; niemand in eurer Welt hat den Frieden erlebt. Nur Du! Geh und sprich zu den Menschen! Bring ihnen Hoffnung!
Ich? Ich bin zu jung, ich bin zu schwach, wer hört schon auf mich? Sie werden mich auslachen, sie werden mich verachten sie werden mich töten!
Und wieder schwieg der unsichtbare Gotte sehr lange, so lange, dass ich schon dachte, das Gespräch ist beendet. Doch dann hörte ich Seine leise Stimme tief in meinem Gehirn.
Mein lieber Junge, Du bist frei, Deine Wahl zu treffen: Du kannst hier bleiben und Du kannst in Deine Welt zurückgehen. Es gibt keine falsche Entscheidung, nimm den Weg, den Du gehen willst, und Ich werde den Weg mit dir gehen!
Ich schaute zur Kuppel hoch, ich suchte Rat bei all den Toten, die mich von oben anschauten, zu meinen Eltern und zu den Feinden, und zu Nor. Und alle Gesichter waren friedlich, ruhig, geläutert. Keine Spur von Hass und von Wut und von Qual. Alles überwunden, vergessen, vergeben. Kann es sein, dass ich jemals bei einem Lebenden diesen Gesichtsausdruck zu sehen bekomme? Dass ich meinen weißen Feind umarme und ihm vergebe? Alles vergebe, auch den Tod meines Vaters, auch den Mord an meiner Mutter, auch das Schlachten meines geliebten Pferdes?
Und gerade als ich an mein Pferd gedacht habe, schien es mir, dass Nor sich dort oben, in seinem goldenen Himmel, kurz bewegt hat.
Nein, es schien mir nicht - denn plötzlich stand er vor mir, lebendig und lebhaft und stark: mein liebes rotes Pferdchen, mein treuer Freund, mein Bruder. Er stupste mich mir seinem flauschigen Gesicht, und ich umarmte ihn ganz fest. Und so verharrten wir eine Weile, bis wir wieder die Stimme unseres unsichtbaren Gottes vernahmen: „Nun, Ki-Kind, Du hast Deine Wahl getroffen. Geh dann hin, Du bist nicht mehr allein. Dein Nor hat mich gebeten, Dich begleiten zu dürfen, wenn Du dich entscheidest zu gehen, und Ich habe ihm ein zweites Leben geschenkt, und auch Kräfte, die er in seinem ersten Leben nicht hatte: Kraft, über die Wüste zu fliegen und noch eine Kraft, Wunden zu heilen und eine dritte Kraft, Dich zu beschützen. Und Dir verleihe Ich eine Kraft der Liebe, und die Tapferkeit, und die Weisheit! Lebt wohl!
Lebt wohl, ihr Gärten und eure glückliche Bewohner! Leb wohl der Hochstand, Sitz eines unsichtbaren Gottes! Leb wohl, mein Koku, kleiner bunter Vogel! Lebt wohl alle meine Freunde, ich sehe euch nie wieder!
Nor und ich fliegen über der Wüste, die Sonne brennt, dreiköpfige Viper kriechen im Sand, und jagen Mäuse und Echsen und fressen sie, und ein Wüstenfuchs jagt die Viper und frisst sei, und ein Wüstendrache jagt den Fuchs und frisst ihn.Und Menschen töten den Drachen und alle Lebewesen, die sie Tiere nennen und von denen sie meinen, sie seien ihre Nahrung. Und die Menschen töten andere Menschen, von denen sie meinen, sie seien ihre Feinde. Woher wissen sie es?
Wir fliegen, und uns fliegt unsere Welt entgegen, uns fliegen Speere und Flüche entgegen, uns fliegen Pfeile und Spott entgegen.
Und ein Schimmer der Hoffnung in den Augen eines Jungen, dessen Vater gestern gefallen ist und dessen Mutter heute an Hunger starb.




Impressum

Texte: alle Rechte liegen bei mir
Tag der Veröffentlichung: 13.02.2012

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