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Heimweh


Ich sitze am Fenster, das ist mein Lieblingsplatz in der Wohnung. Was für ein toller Ausblick - dieser Fluss! Schnell, quirlig - woher hat der Strom so viel Kraft hier, in unserer flachen Gegend? Ich kann den Fluss den ganzen Tag bewundern. Ich habe auch nicht viel zu tun. Außer mal wieder einen Tischläufer besticken. Mit Blumen, die gelingen mir am besten. Beruhigend, diese Stickerei.
Und Erinnerungen dürfen fließen. Strömen, wie das Wasser dort unten, schnell, manchmal zu schnell...
Mein Elternhaus, das Haus am Fluss. Am quirligen, lustigen Fluss. Mein Haus: bestickte Tischläufer. Ein Gummibaum, lange Gardinen mit bunten Blumen darauf...
Nein, nicht jetzt, Haus, komm später wieder, zuerst das Fröhliche.
Meine Hochzeit. Weißes Kleid, genäht von der Mutti. Mein Bräutigam in seiner Parade-Uniform. Der Gottesdienst auf English, feierlich; schade, dass ich wenig davon verstehe.
Unser Kuss - nicht der erste, aber der Süßeste.
Unsere Wohnung auf dem Militärgelände, drei Zimmer, aber „two bedrooms“, sagte John.
Ich nähte Gardinen für jedes Fenster, ich bestickte die Tischläufer und strickte einen Überwurf für unser Bett und eine Mütze für unseren Sohn. Was für eine kleine süße Mütze war das - und noch winzige Schuhchen für seine Füßchen, die noch nicht laufen konnten.
Ein Gummibaum an der Balkontür. Und unbedingt ein Bild an die Wand. Leider nicht das Bild aus meinem Elternhaus, das konnte ich nie finden, denn niemand wusste, wie der Maler hieß. Nun, es war trotzdem ein schönes Bild.
Die Wohnung sträubte sich dagegen, gemütlich zu werden, sie trotzte mit grünem Laminat-Boden, sie wehrte sich mit dem ebenso grünen Schimmel in der Küche. Und am meisten protestierte die Wohnung mit dem Ausblick auf einen dicken und hohen Schornstein! Hinter dem Schornstein verlieft eine Betonmauer mit einer Stacheldrahtspirale darauf. Kein Fluss, nirgends.
John kam jedes mal spät heim. Erschöpft, verärgert: namen- und gesichtslose „Damned beast“ und „lazy sod“ wurden verflucht, ich wurde verflucht, weil mein English - die Weltsprache! - zu schlecht war und nicht besser werden wollte.
Mein Sohn fluchte mit. Lachte mit. Mit ihm - über mich. Mit meinen bestickten Tischläufern und gestrickten Socken kam ich bei meinen Männern nicht gut an.
Als mein Sohn sieben war, wurden wir beide rausgeschmissen. Aus Johns Leben, aus der Wohnung. Er sagte schlicht: „Ich gehe zurück nach Amerika, ihr geht nicht mit“.
Ich fragte nicht warum, mein Sohn fragte - und bekam keine Antwort. Er weinte, flehte den Vater an, ihn in das Land seiner Träume mit zu nehmen. Das Kind wollte nicht mit mir bleiben. Ich konnte ihn verstehen. Doch er musste.
Wir - nein, ich - haben eine schöne Wohnung gefunden. Eine kleine Dachwohnung, eine Wohnung mit Weitblick. In der Ferne, über den Dächern - der Kirchturm. Mit einem Herrnhuter Stern in der Weihnachtszeit geschmückt; ansonsten - nur mit einer Glocke. Ich ging zur Kirche, immer mal wieder. Sie war hell, luftig, Der Pastor erzählte von unserem, der Gemeinde, Heimweh und meinte damit die Sehnsucht nach dem Himmel. Dorthin wollte ich noch nicht hin, ich hatte eine andere Sehnsucht: ich wollte in mein Elternhaus eintreten, die Tür hinter mir schließen und niemals wieder heraus kommen.
In der Kirche sang ich gerne die Lieder mit.
Ich betete dort für meinen Sohn, dass er glücklich werde.
Oft musste ich sonntags arbeiten und ging dann nicht zur Kirche - ich habe im großen Kaufhaus nebenan geputzt. Dort, im letzten Stockwerk, wo das Cafe und die Toiletten sind. Die musste ich auch sauber machen. Das war eine ruhige Arbeit, ich - allein auf der ganzen Etage. Stille.
Nach und nach habe ich unsere Wohnung eingerichtet: die Gardinen gekürzt für kleinere Fenster, Kissenhüllen bestickt mit Blumen, einen neuen Gummibaum gepflanzt, denn der alte war eingegangen, der Umzug hat ihm nicht gut getan. Auch ein Wandbild habe ich damals gestickt, eine Waldlichtung sollte es sein, und ein kleines Mädchen darauf, ganz allein. Ein Mädchen, das Heimweh hat.
Mein Sohn lachte über das Bild. Er fand das Bild peinlich. Das Bild ist auch nicht sonderlich gut geworden, stimmt schon.
Er fand mich peinlich. Er wollte keine gestrickten Fäustlinge, noch weniger - einen Pulli. Er wollte gekaufte Sachen. Teure, mit Angora.
Wenn Dein Vater uns ein bisschen Geld schicken würde, dann würde ich Dir gerne die teuersten Sachen kaufen.
Mein Vater ist gefallen! In Afghanistan.
Woher hast Du es?
Ich weiß es einfach. Sonst hätte er sich schon längst gemeldet.
Ich ließ John suchen, er wurde auch gefunden: als ein illegaler Waffenhändler in Deutschland verurteilt, nach dem Absitzen seiner Strafe - in die USA zurückgekehrt. Beschäftigung - unbekannt. Gefallen also...
Ich putzte und traf ihn. Er kam, um eine Leitung zu verlegen. Es war kein Sonntag, sondern einfach Abend. Den Rest des Abends verbrachten wir gemeinsam. Im Bett. Ich habe mich gewundert, dass es schnell ging. Doch der Mann war unwiderstehlich, seine Augen... Auch wenn ich mich jetzt, Jahrzehnte später, daran erinnere - werde ich schwach.
Seine kleine Wohnung habe ich auf Vordermann gebracht, sie glänzte. Einen Tischläufer bestickt mit Blumen, mit großen roten Rosen, und Gardinen genäht. Er wollte keinen Gummibaum, auf keinen Fall.
Mein Sohn fand ihn peinlich, besonders dass er jünger war als ich. Er zankte mit ihm, sie konnten keine Sekunde zusammen aushalten.
Mein Sohn legte sich damals mit allen an. Er schimpfte über den Geldmangel, über die Wohnung, darüber, dass wir kein Auto hatten und dass er keinen PC hatte.
Ich habe ihm dann einen gebrauchten gekauft, nicht billig war dieses Ding. Er saß Tage und vielleicht Nächte am flimmernden Bildschirm. Nachts war ich damals öfter nicht zuhause.
Einmal kam ich unerwartet heim, hatte Zoff mit meinem Geliebten, wie nicht selten zu der Zeit.
Mein Sohn lag mit einer Frau im Bett, die mindestens zehn Jahre älter war als er. Und er - erst vierzehn!
Du machst es genau so! - sagte es zu mir.
Die Frau ging ungern, die Wohnung war verraucht und irgendwie unrein. Mein Sohn redete drei Tage lang nicht mit mir.
Noch drei Tage später erwischte ich meinen Geliebten mit der gleichen Frau. Er schmiss den Tischläufer nach mir. Der Tischläufer taugte als Geschoß gar nichts, er landete hilflos und beschämt vor meinen Füßen. Ich nahm ihn mit, meine einzige Verbindung zu dem Leben, zu dem ich keinen Zutritt mehr hatte.
Ich habe einen Monat lang meine Wohnung nicht verlassen. Ich traute mich einfach nicht heraus. Ich habe meine geblümten Gardinen zugezogen, ich wollte keinen schönen Ausblick auf den Kirchturm. Ich fühlte mich in der Wohnung geborgen, ich habe noch ein Bild gestickt, und einen Pulli für meinen Sohn gestrickt. Den er auch getragen hat.
Damals war es eine schöne Zeit zwischen uns beiden: er holte einen Arzt, der mich krank geschrieben hat, einen guten alten klugen Arzt. Sonst hätte ich meinen Job verloren.
Mein Sohn ging einkaufen, er hat Zeitung ausgetragen, um dazu zu verdienen. Er war brav, lieb.
Wir haben uns zu hause gefühlt damals, in der kleinen Wohnung.
Und dann, es wurde schon Frühjahr, machte ich die Gardinen auf und kam heraus. Forsythien blühten und Schneeglöckchen, und Krokusse.
Die Welt war neu und sie war schön.
Und ich traf Jakob. Zufällig, im Park. Ich saß nach dem Feierabend am Teich und bewunderte den Schwan. Er saß auf der nächsten Bank und bewunderte den Schwan. Der Schwan bettelte nach Brot. Zuerst bei Jakob, dann - bei mit. Wir lachten über den Schwan, über uns selbst. Wir lachten viel, Jakob und ich.
Denn wir hatten einander gefunden - wie ein Wunder war das. Warum - wie?
Er war viel älter als ich, ich war 37 damals. Er hatte graues Haar. Brille. Er war kleiner als ich, obwohl ich nicht groß war.
Er hat seit 30 Jahren als Bibliothekar gearbeitet, in unserer Stadtbücherei, in der ich nie gewesen bin. Er hat viele Bücher gelesen, er lachte aber nicht über mich, die ich kein Buch seit der Schule gelesen habe. Er brachte mir Bücher, Tierbücher. Geschichten über Tiere habe ich gerne gelesen. Besonders über Katzen; in meinem Elternhaus lebte eine Katze, eine weiße kleine.
Und in unser neues Haus gehörte auch eine Katze, eine weiße. Das Haus haben wir gleich nach unserer Hochzeit gekauft, das Haus war weiß und stand am Flussufer, an unserem lustigen quirligen Fluss.
Mein Sohn mochte Jakob, und Jakob mochte ihn. Mein Sohn ging in die Bibliothek, las Bücher über ferne Welten, in denen furchtbare Kriege tobten. Er las Bücher über Drachen und über Elfen. Er hat versucht, sein eigenes Buch zu schreiben und tippte in seinen PC stundenlang.
Und in mir wuchs ein Kind. Mein zweites Kind, Jakobs erstes. Jakob lächelte ständig, manchmal lachte er ohne Grund. Warum ohne Grund - er hatte einen Grund zum Lachen.
Ich habe für alle Fenster Gardinen genäht, so viel habe ich nie im Leben nähen müssen. Und unser Gummibaum bekam einen kleineren Bruder.
Gestickte Bilder fanden ihre Plätze und Kissen machten unser Wohnzimmersofa gemütlich.
Ich saß oft am Fenster, habe in mich hineingehört, wie mein Kind einen Schluckauf hat. Das schnelle Wasser nahm mich mit, zog mich in weite Fernen, dorthin, zu meinem Elternhaus, und noch weiter, ins nirgendwo, die Wasserstrudel drehten ihre endlosen Kreise, immer schneller, es zog mich immer tiefer hinein.
Ich wachte auf dem Boden auf, in der Stille. Die Stille war unerträglich, ich musste sofort etwas hören. Ich hörte nichts. Langsam, ganz langsam kam ich hoch. Stand mich auf die Tischplatte abstützend, noch zwei Schritte - und das rettende Telefon ergreifen. Jakob anrufen, er kam schnell, holte den Krankenwagen, fuhr mit.
Sie konnten nichts mehr tun. Mein zweiter Sohn war gestorben. Ich konnte ihm kein Leben geben, nur den Tod. Mein Leib wurde zu seiner Todeszelle. Ich habe meinen Sohn Jonas genannt: ein Jona, der es nicht geschafft hat, lebend aus dem Bauch des Walfisches heraus zu kommen.
Jakob besuchte mich jeden Tag im Krankenhaus und schwieg. Er wollte reden, doch kein Wort kam aus seinem Mund heraus. So schwiegen wir stundenlang. Dann ging er.
Er kam nicht mich abzuholen. Stunden später kamen mein Sohn und die Polizei. Jakob war tot, er hat eine ganze Packung seiner Herztabletten geschluckt. Er hat es mir verheimlicht, dass er ein krankes Herz hat.
Nach der Beerdigung ging mein Sohn weg. Nahm einen Koffer und ging ohne sich zu verabschieden.
Das Haus gehörte mir nicht. Es gehörte der Bank. Ich verließ es, ich nahm nichts mit: keine Gardinen, keine Kissen, keine Bilder, auch die Gummibäume nicht. Die Katze wollte nicht mit.
Nun bin ich hier. Ich darf den ganzen Tag den Fluss anschauen, ich werde zum Essen gerufen, manchmal zum Basteln. Ich Pflegerin kommt ab und zu und misst den Blutdruck und sagt, er sei zu niedrig.
Diese Pflegerin habe ich gebeten, meinen Sohn zu finden, es war nicht schwierig. Er sein ein Bibliothekar in einer Universitätsbücherei, eine Stunde Zugfahrt von hier, hieß es. Ich habe seine Nummer gewählt - er ging nicht ran. Ich bin in die Bücherei gekommen - er sagte, seine Eltern seien beide tot, ich habe mich verkannt.
Und nun darfst Du in meine Erinnerungen kommen, Du kommst immer zuletzt. Du, mein Elternhaus, mein trautes Heim. Komm, lass mich durch Deine Fluren und Treppen und Zimmer wandern: hier ist die Diele, hier steht ein Gummibaum, dort weiter, durch den Gang - die Küche, geblümte Gardinen, von meiner Mutter genäht. Nach rechts aus der Diele - das Wohnzimmer, das Sofa mit bunten Kissen darauf.
Über dem Sofa - ein Bild: eine Waldlichtung, dort ein schwarzer Teich und ein Mädchen mit verweinten Augen. Es sitzt am Ufer, wahrscheinlich schon Stunden lang sitzt sie dort und trauert.
- Was macht das Mädchen hier im Wald? - fragte ich die Mutti.
Es hat sich verloren und hat Heimweh.
Kommt es irgendwann heim, Mutti?
Ach, irgendwann - bestimmt.
Die Treppe hoch: dort ist mein Zimmer, meine Mutter hat für mich weiße Gardinen genäht, „weiß wie Freude, so soll auch Dein Leben werden!“
Aber warum schrieen sie einander so an? Warum warf mein Vater mit einem Stuhl nach der Mutti? Ich versteckte mich in meinem Zimmer hinter den langen weißen Vorhängen und hoffte, sie finden mich nicht. Ich habe meine weiße Katze festgehalten und gestreichelt. Die Katze wollte fort.
Die Eltern ließen sich scheiden, und das Haus kam unter den Hammer. Derjenige, der das Haus gekauft hat, war am Haus nicht interessiert, nur an dem großen Grundstück am Fluss.
Das Haus wurde abgerissen. Mit all seinen Gardinen, Gummibäumen und Kissen, auch mit dem Mädchen am Teich.
Seither suchte ich Dich, mein Haus. Seither versuchte ich Dich zum Leben zu erwecken, in jeder von meinen Wohnstätten und Bleiben! Du ließest Dich nicht finden, Du bist nicht wieder lebendig geworden!
Aber vielleicht dort, in dem Himmel, der nicht mehr sehr weit zu sein scheint und nach dem ich mich immer mehr sehne, vielleicht dort treffe ich Dich wieder, und Du öffnest mir Deine Türen und erlaubst mir in Dir zu wohnen für ewig. Und vielleicht klopft es an der Tür, und Jakob kommt herein, und trägt den schlafenden Jonas auf dem Arm. Und vielleicht - aber nur vielleicht - kommt auch Simon, mein müder Sohn zu uns. Nicht jetzt, später, nach einem langen Weg...
Dann ist unser Weg zu Ende, dann haben wir kein Heimweh, sondern ein Heim...

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Texte: alle Rechte liegen bei mir
Tag der Veröffentlichung: 06.12.2011

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