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Keinweiß




Weißbart schwamm an der Spitze des zwölfköpfigen Schwarms. Sie waren auf der Jagd nach Robben. Die Jährlinge schwammen in der Mitte, um zu lernen wie man als Schwarm jagte. „Gebt Acht“, es war Weißauge, eine sehr erfahrene Jägerin und Mutter von Keinweiß. „Dort kommen die Robbenfelsen. Wir müssen leise sein, sonst fliehen sie an Land.“ Ein nervöses Raunen ging durch die Schule als ein „still jetzt!“ von Weißbart kam. Sie tauchten noch etwas tiefer ab und postierten sich strategisch so, dass sie die Hauptroute der Robben einkreisten. Nach einer gefühlten Ewigkeit hörten sie die Robben. Die erfahrenen Jäger schossen wie Pfeile in Richtung Oberfläche. Die Jährlinge kamen etwas langsamer hinterher. Damit auch sie satt wurden, ließen einige Jäger die Verletzten Robben hinab gleiten zu ihnen, damit sie diese erbeuten konnten. Bei der nächsten Jagd würden sie mit der Gruppe mitschwimmen müssen und keine Sonderbehandlung mehr erhalten.

Am Nachmittag spielten Keinweiß und ihre Freunde. Voller Übermut und gut gelaunt wurde abwechselnd einer von ihnen von der Horde gejagt. Weißschwanz, Pünktchen, Flossenstreif und Närbchen waren gerade an der Reihe, Keinweiß zu fangen. Spielerisch schnappten sie alle nach ihren Schwanz- und Seitenflossen. Völlig aus der Puste legte sie sich auf den Rücken. Das war immer das Signal, dass die Jagt zu Ende war und die „Beute erlegt“. Weißschwanz und Pünktchen stupsten sie in Seite. „Was, du gibst schon auf? Hast wohl heute Mittag zu viel gefressen.“, neckten sie die anderen. „Ach, du hattest wohl mehr als wir alle zusammen.“ Pünktchen schmollte. Robben mochte sie nun mal sehr gerne.
Während sie dahin alberten, merkten sie nicht, wie sie sich vom Schwarm entfernten und immer weiter Richtung Küste schwammen. Sie schraken auf, als ein seltsamer Lärm durch das Wasser schnitt. Dieses seltsam fremde Geräusch tat ihnen in ihren Sinnen weh, spürten dies am gesamten Leib und verschreckt schossen sie auseinander. Keinweiß schwamm auf einen großen Schatten zu, sie hielt ihn irrtümlich für einen aus ihrem Schwarm.
Sie brauchte dringend Luft, ihre Lungen schrien vor Sauerstoffmangel. Sie tauchte auf. Da erkannte sie ihren Irrtum. Das Schwarze war keiner aus ihrem Schwarm. Es war viel größer und ragte weit in die blauen Weiten. Etwas Kleines bewegte sich darauf und gaben seltsame Laute von sich. Schon surrte etwas knapp an ihrem Kopf vorbei. Rasch holte sie Luft und tauchte ab so schnell sie ihre Flossen nur trugen. Schon spürte sie etwas in ihrem Rücken, sie wollte sich umsehen, „Nein. Nicht umschauen Liebes. Schwimm! Schnell!“ Ihre Mutter schob sie immer weiter in die Tiefe. Die Angst in der Stimme ihrer Mutter verlieh ihr ungeahnte Kräfte und mit kräftigen Schwanzschlägen schwamm sie zu einem Felsvorsprung und sah, dass sich dort der Schwarm versammelt hatte. Völlig erschöpft kam Keinweiß bei ihnen an. Sie wurde gleich in die Mitte der Herde aufgenommen und alle schmiegten sich aneinander. Dieses Schweigen machte ihr zu schaffen. Niemand sagte etwas. Dabei hatte sie erwartet, ausgeschimpft zu werden. Ein gellender Schrei drang zu ihnen und ein Zittern durchlief die Gruppe. Die Jährlinge blickten sich ratlos an. Was ging da nur vor sich, dass alle so erschraken? Der Lärm ließ nach und auch die Schreie waren verhallt. Die Gruppe verharrte noch einen Moment, um sicher zu sein, dass dieser große Schatten nicht mehr zurück kam. Schweigend schwamm Weißbart wieder Richtung offenes Meer. Er würdigte die Jährlinge keines Blickes. Alle folgten ihm. Nur Keinweiß blieb einen Moment zurück und suchte nach Weißauge, ihrer Mutter. Jedoch konnte sie sie nirgends entdecken. Närbchen kam zu ihr zurückgeschwommen. Ohne ein Wort zu sagen stupste sie Keinweiß an um sie zum Schwimmen zu bewegen. Eine Weile schwammen sie, als es Keinweiß nicht mehr aushielt. „Wo ist meine Mutter?“ Doch ihre Frage verhallte nur. Sie schwamm zu Weißbart vor. „Was ist passiert?“ Er verlangsamt sein Tempo und blickte sie streng doch mit voller Schmerz in den Augen an. „Sie haben Weißauge gefangen.“ Für ihn war damit alles gesagt und er schwamm wieder schneller. Doch Keinweiß wusste nicht, was er damit gemeint hatte. Taurücken kam zu ihr geschwommen. Sie war eine alte Waldame und für alle jüngeren Orcas immer wie eine Oma. Sie nahm das junge Orcamädchen zur Seite und erzählte ihr von diesen großen Schatten die an der Oberfläche so hoch in die blaue Weite reichten. „Sie kommen mit diesen großen lauten Walen, die mit niemandem reden. Sie leben auf ihnen, wie die Parasiten auf uns“, mit einer Flosse kratzte sie sich am Auge. „Was hat das mit Mama zu tun? Warum ist sie von ihnen gefangen worden?“ Keinweiß verstand einfach nicht, was ihr Taurücken sagen wollte. Die alte Dame seufzte und hielt an, damit sie beide etwas abseits von der Gruppe blieben. Sanft schmiegte sie sich an Keinweiß. „Ach Liebes. Diese großen Schatten fangen uns nicht nur.“ Tränen stiegen in ihren Augen auf, doch das Meer wischte sie sogleich weg. Wale sieht man eben nie weinen.
„Weißauge wurde von ihnen umgebracht. Darum ist Weißbart wütend und traurig. Wir haben euch immer gesagt, dass ihr nicht zu nah an das große Land schwimmen sollt, weil es gefährlich ist. Du weißt, dass Weißbart deine Mutter sehr lieb hatte.“ Wie erstarrt war der kleine Wal. Sie hatte ihre Mutter verloren, und es war auch noch ihre Schuld. Sie ließ alle Flossen hängen und wusste nicht, wie sie sich bewegen sollte. Taurücken schob sie Richtung Oberfläche. „Du musst Luft holen Kleines.“ Dies riss sie aus der Starre und sie merkte, dass sie kaum noch Luftreserven hatte. Als ihr Kopf die Wasseroberfläche durchstieß pustete sie die alte Luft aus und sog die frische Luft wieder ein. Von dem großen Schatten war nichts mehr zu sehen. „Wir müssen zu den Anderen aufschließen, komm jetzt.“ Träge folgte ihr Keinweiß. Es war der schlimmste Tag, den sie in ihrem jungen Leben bisher erlebt hatte.

Die Jahre vergingen und die Herde war wieder in den Norden gezogen. Die Robbensaison war wieder hereingebrochen. Weißschwanz war inzwischen der Leiter der Herde. Weißbart und Taurücken waren nicht mehr bei ihnen. Nun waren sie die „alten“ und „erfahrenen“ der Herde. Junge Orcas tummelten sich im Wasser und spielten. Pünktchen und Närbchen kümmerten sich um Übermütigen und wiesen sie zurecht.
Der neue Tag brach herein und das hieß für die Gruppe, es wird Zeit für die Jagd. Flossenstreif schwamm parallel zu Weißschwanz, um die Herde besser koordinieren zu können. Er gab das Signal und sie formierten sich. Die Jungen Wale waren, wie sie einst, in der Mitte der Herde und ließen sich etwas zurück fallen. Keinweiß schwamm mit an die Spitze und streifte mit ihrer Flosse an die Seite von Weißschwanz. Sie sahen sich liebend in die Augen und blickten zu den Jungen zurück. Nervös schwammen sie hin und her, eine von ihnen, ein kleines Walmädchen mit einem einzelnen weißen Streifen am Rücken wagte sich mutig vor.
Ihre Tochter, sie erinnerte sie mit jedem Tag an ihre eigene Jugend, und wusste, dass sie nur einen Fehler nie zulassen würden. Sie hielten sich immer weit entfernt vom großen Land und somit auch von den unheimlichen Schatten, die vor Jahren Keinweiß´ Mutter geholt hatten.

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Texte: Textcopyright gehört dem Autor. Layout und Grafik von BookRix.de
Tag der Veröffentlichung: 02.09.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle Wale dieser Welt

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