Cover

Haiti - Erdbeben

Die Erde dröhnt.

Ein Bild fällt von der Wand. Das Glas zerbricht.
Mama, Papa und sie mit ihrer Schwester liegen lächelnd in den Scherben. Letzten Sommer haben sie das Bild gemacht.

„Komm zu mir!" ruft ihre Mama.
Sie kann sich nicht bewegen. Starrt auf das Bild. Letzter Sommer.

„Schatz, komm unter den Türrahmen!"

Der letzte Sommer war so schön.
Was ist nur los? warum schreit Mama so? Warum wackelt alles?
Das ist lustig. Es kitzelt im Bauch.

Letzten Sommer konnte die Familie einmal Urlaub an einem See machen. Es war so schön dort. Sie konnten das Down-Syndrom vergessen.

Staub rieselt auf ihren Kopf. Das ist lustig. Wie duschen.

Es kracht. Ungläubig richtet sie den Blick nach oben. Mama kreischt laut auf.

Da bricht der Balken aus der Decke.

Australien - Hochwasser

Eigentlich wollten sie Silvester feiern. Die Raketen sind aber schon lange unter gegangen.

Und sein geliebter Kuschel-Drachen ist weg.

Er saß ganz friedlich auf seinem Spielteppich, als auf einmal Wasser durch das Fenster kam.
Er hatte nicht bemerkt, wie das Wasser gestiegen und gestiegen war. Ganz schnell war er von seinem Spielzimmer im Keller nach oben gerannt. Er mit seinem kleinen Bruder.

"So viel wie dieses Jahr hat es noch nie geregnet", hat sein Grandpa gesagt. Und der muss es wissen, der ist nämlich schon ganz alt. So alt wie ein Drachen.

Die Mommy ist ganz doll erschrocken und der Papa ist in den Keller gerannt. Da war das Fenster schon kaputt und das Wasser ganz tief.

Die Stadt musste kurz danach "ewankuliert" werden oder wie das heißt.

Jetzt sitzt er hier, bei der Granny auf einem großen, fremden Bett ohne seinen Drachen.

Draußen regnet es. Immer noch. Immer mehr.

Wo seine Freunde sind weiß er nicht.
Aber sein Drachen ist tot. Mausetot hat seine Schwester gesagt.

Und sein Daddy ist weg. Er hilft mit in der Stadt.
Seine Mommy weint ganz viel, weil sie nicht weiß, ob er noch lebt.

Er will nicht weinen. Er will doch groß und stark sein.

Nicht weinen. Nicht weinen.

Eine Träne läuft seine Wange hinunter.

Nicht weinen. Weinen. Weinen...

Ägypten - Arabischer Frühling

Überall sind Beine. Nur wo ist seine Mama?

„Mama! Hilf mir! Bitte lass mich nicht allein, ich hab solche Angst!"

Doch seine Mama kann ihn nicht hören. Zu laut brüllt die Menge um ihn herum.

Sie rufen, dass sie Muhammad Husni Mubarak absetzten wollen.

„Mama! Mama! Hilfe!"

Ein Mann stößt ihn um und läuft laut rufend weiter. Er sieht den kleinen, verstörten Jungen gar nicht.

Der Kleine bleibt einfach sitzen. Zu groß und Furcht einflößend sind die Erwachsenen um ihn herum. Wo kommen nur all die Menschen her? Und warum sind sie so wütend?

Eben noch saß er mit seiner Mama gemütlich auf einer Bank und sie hielt ihn im Arm.
Auf einmal war alles voller Erwachsener, die herum grölten und Lieder sangen.

Ein lautes Krachen reißt ihn aus seinen Gedanken. Die Meute hat ein Plakat angezündet und nun fällt es krachend zu Boden.

Eine Frau kreischt. Männer und Frauen treten ihn, weil sie ihn nicht sehen, nicht beachten.

„Panzer!" ruft plötzlich ein Mann ganz in seiner Nähe.
Ein paar Meter von ihm weg liegt eine Frau. Sie hat vorhin gekreischt. Blut läuft aus ihrer Nase, ihre toten Augen starren ihn an. Die Menschen trampeln einfach über sie hinweg.

Plötzlich läuft die Masse in die andere Richtung. Sie ist nicht mehr wütend sondern panisch.

„Mama! Mama! Wo bist du? Mama!" Tränen treten ihm in die Augen, laufen seine verdreckten Wangen hinunter. Eine Frau tritt ihn so heftig, dass er umfällt.

Da sieht er sie. Die Panzer. Sie kommen zu ihnen.

Überall ist Blut auf dem Boden. Die Frau, die sie tot getrampelt haben ist nur noch eine unförmige Masse.

Jemand packt ihn an seinem kleinen Ärmchen, reißt ihn grob hoch und schleift ihn hinter sich her.

Überall brennt es. Ein Hubschrauber kreist über dem Tahrier-Platz.

Der Mann, der ihn hochgerissen hat setzt ihn auf seine Hüfte. Blanke Panik spiegelt sich in seinem Blick. Der Kleine kreischt.

„Maaaamiiiii! Hiiiiilfeee!"

Die Tränen in seinen Augen vermischen sich mit Blut. Als er hinfiel hat er sich den Kopf aufgeschlagen und nun rinnt das warme Blut seine Nase hinab.

Der Mann stinkt nach Schweiß und Rauch.

Feuer. Überall ist Feuer.

Und hinter ihnen die Panzer.

Doch die Menschen kommen zurück. Sie rennen panisch umher, wissen nicht wohin, rennen im Kreis. Eingeschlossen. Sie sind eingeschlossen auf diesem Platz.

Er mit dem Fremden. Er mit tausend Fremden. Er ohne seine Mama.

Er... Wie lange?

Tunesien - Arabischer Frühling

Die Menschen schreien. Sie ist mittendrin. Sie versteht zwar noch nichts von dem was vorgeht, doch ihr Bruder zerrte sie aus dem Geschäft auf die Straße.

Sie sollte dicht bei ihm bleiben und mit demonstrieren. Es ginge um ihre Zukunft, beschwor er sie. Gaddafi müsse dringend gestürzt werden.

Nun haben sie sich verloren. Natürlich haben sie sich verloren. Es sind zu viele Menschen hier.
Sie hatte sich fest an seine Hand geklammert, doch die Menschen rissen sie auseinander.

Es riecht nach Feuer. Häuser brennen. Menschen werfen Steine auf andere Menschen. Es riecht nach Blut und Schweiß.

Das Mädchen lässt sich von der Masse treiben.

Die Masse tobt. Die Masse lärmt. Die Masse verheert alles, was ihr in den Weg kommt. Über der Masse liegt ein rötlicher Schein.

Feuer.

Langsam bekommt sie Angst. Und Durst.

Die Menschen schreien noch immer, sie machen ihr Angst. Doch die Angst um ihren Bruder ist größer. Er ist zwar schon einundzwanzig, aber ihre Mama sagt immer, er sei noch ein Kind.

Ihr laufen die Tränen die Wangen hinab. Warm und salzig. Jemand rempelt sie an.

Gerade noch kann sie sich an den Beinen vor sich festhalten.

Der Mann dem die Beine gehören lächelt sie an. Es ist ein schmieriges Grinsen, doch das Mädchen erkennt die Gefahr, die von ihm ausgeht nicht. Zu viel Angst hat sie vor den Menschen, die immer noch schreien.

"Komm, ich bringe dich in Sicherheit“, verspricht ihr der Mann und zieht sie in sein Haus.

Japan - Tsunami

Die kleine stolpert über ein Holzbrett und schlägt der Länge nach hin. Weinend bleibt sie liegen.

Sie weiß nicht wo sie ist. Sie weiß nicht, wo ihre Familie ist.

Ihr ist kalt, es hat zu schneien begonnen.

Sie muss sie finden, denkt sie und steht wieder auf.

Um sie herum, Trümmer. Nichts als zerborstene Holzbalken, zerschmetterte Dachziegel, zerdrückte Autos.

Ihre Zähne schlagen laut aufeinander. Sie umschlingt ihren Oberkörper mit ihren dünnen Ärmchen.

Sie dreht sich um und blickt erstaunt auf das Schiff. Ihre braunen Augen werden groß. Es liegt auf einem dreistöckigen Haus.

Sie zittert. Ihre Kleider sind nur noch Fetzen und zudem nass.

Die Welle hat sie mitgespült. Noch nie hat sie eine so große Welle gesehen. Und noch nie so ein starkes Erdbeben erlebt.

Ihr Magen knurrt. Ihr ist so kalt.

Dass sie von der Welle einen Kilometer weit ins Landesinnere getragen wurde ahnt sie nicht. Sie ist übersäht mit blauen Flecken und Schnitten. Ein Holzbrett ist ihr auf den Arm gefallen und die Welle hat sie herumgeschleudert wie einen kleinen Ball.

Sie muss mal und kauert sich hinter einen Mauerrest. Schneeflocken fallen auf ihr schwarzes Haar. Sie hat solchen Hunger. Sie überlegt, ihren Durst mit Schnee zu stillen, doch sie ist zu schwach. Sie winkelt die Knie an und legt den Kopf darauf.

Es ist so kalt, so bitter, bitter kalt.

Fokushima - Atomare Katastrophe

Die Schwangere schließt die Fenster. Und die Tür. Die Regierung sagt, dann sei die Strahlung nicht so schlimm.

Rauch steigt am Horizont auf. Seit Tagen. Seit dem schrecklichen Erdbeben.

Das kleine Baby in ihrem Bauch bekommt davon nichts mit.

Der Vater ist weg. Am Abend saßen sie noch gemeinsam im Bett und diskutierten über den Namen für das Ungeborene.

Doch jetzt ist er weg. Einfach weg. Ob er wohl jemals wieder kommen wird?

Was wird nur aus dem Baby? Ihrem Baby? Sie streichelt sanft über ihren dicken Bauch. Nächsten Monat soll es auf die Welt kommen.

Wie soll sie die Geburt überstehen ohne ihren Mann? Es ist ihr erstes Kind.

Es ist gesund hat der Arzt gesagt. Gesund! Gesund?

Und der Rauch am Horizont?

Jerusalem - Bombenanschlag

Da kommt ja der Bus endlich! Sie greift nach ihrer Tasche.

Ein Knall, sie wird umgerissen. Verstört rappelt sie sich auf, schaut sich um.

Der Bus! Er ist kaputt. Scherben überall. Blut. Erstaunt reißt sie die Augen auf.

"Was ist passiert?" fragt sie ihren Bruder. Doch der schüttelt nur den Kopf, weiß es selbst nicht.

Blut. Überall ist Blut.

Da kommen Rettungswagen. Sie kommen nicht durch die Menschen. Die Menschen, die da stehen und starren. Die nicht glauben können, dass es so viel Blut geben soll.

Menschen schreien, bluten, werden bewusstlos. Dem Kind ist das Ausmaß dieser Katatrophe nicht bewusst.

Menschen schreien, bluten. Ihr Bruder packt ihre Hand, zieht sie weg.

Sie dreht sich noch einmal um und sieht Menschen schreien, bluten, sterben.

Koh Samui - Hochwasser

Der thailändische Junge kickt ihm den Ball zu.

Fußball versteht einfach jeder auf der Welt. Im Regen stehen zwölf Jungs und vier Mädchen aus acht verschiedenen Ländern.

"TOOOOOOR!" Ruft das Mädchen aus Deutschland und springt ihrem Bruder in die Arme.

"Merde..." flucht er leise. Gegen ein Mädchen!

Sie sitzen auf dieser Insel fest.

Eigentlich wollten sie hier Urlaub machen. In der Regenzeit wäre nicht so viel los hat der Mann im Reisebüro zu seiner Mama gesagt. Jetzt sitzen sie hier fest.

Wenigstens sind hier ein paar Kinder.

"Jim, we can fly home! Come on, take your luggage!" ruft Jim’s Mutter. Die Touristen werden nach hause geflogen. Eine Nation nach der anderen. Die Kanadier sind schon weg. Jetzt gehen die Amis also.

Er dreht sich um zu den thailändischen Kindern. Was wird nur aus ihnen? Sie können nicht einfach verschwinden.

Madagaskar - Pest

Die schwarze, schmerzende Beule in seiner Achselhöhle bricht auf. Eiter läuft heraus. Die Haare kleben wirr an seinem Kopf. Seit einigen Tagen liegt er nur noch im Bett, von Fieber geschüttelt und zu schwach um die Augen aufzuschlagen.

Dabei muss er sich doch um seine Schwester kümmern!

Der Eiter breitet sich auf dem dreckigen Bettlacken aus. Sie haben kein Geld um ihm eine Behandlung im Krankenhaus zu bezahlen.

Das die Medikamente nichts kosten, davon weiß seine Familie nichts. Woher auch?

Ein Nagen ertönt. Unter dem Bett sitzt eine Ratte. Sie ist vor dem Regen, der um diese Zeit herrscht, in die Stadt geflüchtet.

Das Fieber steigt. Alles tut weh. Eigentlich will er gar nicht mehr leben. Nur, wer kümmert sich dann um seine Schwester?

Wirre Träume verfolgen ihn in seinem unruhigen Schlaf.

Duékoué - Bürgerkrieg

Die Sonne scheint zum Fenster rein.

Für einen kurzen Moment vergisst sie das Leben um sich herum. Die Machtkämpfe mit den Gbagbo´s und träumt von einem Leben, wie es die Touristen haben, denen sie täglich Obst am Bus verkauft.

Plötzlich kracht die Tür ein! Ein vermummter Mann steht im Rahmen, er hat sie einfach eingetreten! Ratatatatata Sein Maschinengewehr ist auf ihre Mama gerichtet.

Tot. Tot. "MAMAAAAAAAAAAAAAAAA!" Sie kann sich nicht bewegen. Starrt auf ihre blutüberströmte Mutter.

"Nein. Nein. Nein. Das geht nicht. Das kann nicht sein!" pocht es in ihrem Kopf.

Der Mann zielt auf ihren kleinen Bruder. Er ist doch erst vier Jahre alt! Wie kann..?

Schützend wirft sie sich vor ihn, hebt die Arme schaut dem Mann direkt in die Augen.

Sein Finger am Abzug, das ist die letzte Bewegung, die sie sieht.

Mittelmeer vor Lampedusa - Flüchtlinge

Ihr ist schlecht von dem ganzen geschaukel. Kalt ist es auch. Wie es wohl ihrem Papa geht?

"Ihr müsst fort von hier. Ich habe euch einen Platz auf einem der Boote besorgt", hatte er geflüstert. Keiner sollte es hören außer ihr und ihrer Mami.

Die hat einen ganz dicken Bauch. Bald kommt ihre kleine Schwester zur Welt.

Nach Lampedusa wollen sie.

Es ist eng. So eng auf diesem Boot.

In Lampedusa wird es ihnen besser gehen hat Papa versprochen. Besser als in Lybien, wo die Leute herumschreien und alles anzünden.

Es ist eng. Es ist eng hier auf diesem Boot. Und stickig. Und kalt. Es schaukelt, Wasser spritzt über die Reling. Viel Wasser. Das Boot neigt sich gefährlich nahe dem Wasser zu. Plötzlich klatscht es wieder zurück auf das salzige Nass.

Glück gehabt!

Ihre Mami streicht sich über den dicken Bauch. Sie versucht zu lächeln, doch sie kann es nicht.

Was der Papa wohl macht? Geht er auch demonstrieren?

Der Papa, sie hat ihn lieb, vermisst ihn und wünscht sich ihn bald wieder zu sehen.

Da neigt sich das Boot, jemand kreischt auf. Alles wird nass. Panisch schlägt sie um sich. Kann doch nicht schwimmen. Kann nicht mehr atmen. Sie will doch ihren Papa noch einmal sehen, noch einmal sein Herz schlagen hören, noch einmal mit ihm Mittagsschlaf machen. Noch einmal,...

Niewieder.

Rio de Janeiro - Amoklauf

"Eu vou, você vai, ele vai,..." Portugiesisch ist einfach zu langweilig.

Müde legt er seinen Kopf auf den Tisch und schaut zu Maria. Ihr langes, schwarzes Haar hat sie zu einem Pferdeschwanz gebunden. Es glänzt in der Sonne, die durch das Fenster hereinscheint. Aufmerksam hört sie der Lehrerin zu. Er erinnert sich an ihr Lachen.

Nie hätte er gedacht, dass er sich jemals verlieben könnte, aber dann kam sie in die Klasse!

Gestern ist dann etwas ganz wunderbares passiert! Heimlich haben sie sich geküsst! Wenn das die anderen Jungs wüssten. Die würden sterben vor Neid. Heute wollen sie sich treffen und dann zusammen ins Kino gehen.

Sie dreht sich um, lächelt ihn an.

Wahnsinn, ihm bleibt die Luft weg. Einfach so! Sie schaut wieder nach vorne.

Da klopft es an der Tür. Er hebt den Kopf, vielleicht passiert ja endlich mal etwas Spannendes im Unterricht. Ein Mann kommt herein.

"Ich soll hier einen Vortrag halten", erklärt er, schließt die Tür. Pedro freut sich, endlich mal was anderes als trockene Grammatik.

Da zieht der Mann einen Revolver hervor, noch einen, plötzlich, ein Knall!

Maria kippt vom Stuhl. Blut verteilt sich auf dem Boden. Ihr hübsches Gesicht ist nicht mehr zu erkennen, blutverschmiert ist es. Pedro schreit auf.

Sie wollten doch zusammen ins Kino gehen!

Golf von Mexiko - BP Bohrinsel

"Wieder nichts?" frag ihre Mutter besorgt. Der Vater schüttelt nur den Kopf.

"Wir brauchen doch Essen und Schulsachen und..."

"Ich weiß Liebling, ich weiß", antwortet ihr Vater. Die beiden Kinder sitzen im Wohnzimmer und schauen Fernsehen. Eigentlich. In Wirklichkeit lauschen sie dem Gespräch ihrer Eltern.

Der Vater ist Austernfischer. Früher hatten sie ein gutes Leben! Jeden Tag brachte er mehrere Kilo frischer Austern mit nach Hause. Doch jetzt sterben sie. Das Öl hat mittlerweile auch die Austernbänke Lassaignes erreicht und die Austern kommen mit den Giftstoffen nicht klar.

Sie vergiften, sterben und sind ungenießbar.

Der Vater bringt keine mehr heim, kann keine mehr verkaufen. Das Geld reicht nicht mehr für die neuen Schuhe, die die Tochter so dringend bräuchte. Auch nicht mehr für Schulsachen.

Sogar für das Essen bleibt manchmal nichts mehr übrig.

North Carolina - Hurrycane

Er schlägt die Augen auf. Alles tut weh. Sein Bauch, seine Arme, seine Beine. Der Kopf am meisten.

Über ihm schweben Wolken. Graue, unheilverkündende Wolken. Warum kann er sie sehen? Er sitzt doch auf dem Boden vor seinem Bett? Und wo ist sein Winnetou-Buch?

"JOOOHN! JOOOHN! WO BIST DU?!?" Das ist sein Bruder! Sein kleines Herz schlägt schneller. Er versucht sich aufzusetzen. Sein Bein ist eingeklemmt!

"JOOOOOOOOHN!!!"

"Hier bin ich! Hier! Ich stecke fest!" ruft er so laut er kann.

"Johm! John! Da bist du ja! Ich hab mir solche Sorgen gemacht."

Sein Bruder lässt sich neben ihn auf den Boden fallen, schiebt das Brett vorsichtig von seinem Bein und schließt ihn in die Arme.

Und dann passiert etwas, das Jim bis ins Mark erschüttert.

Sein großer Bruder fängt an zu weinen.

Misurata, Lybien - Dürre

Lebensmittel und Medikamente sind knapp. Seine Mutter hat ihn zum Supermarkt geschickt. Er soll versuchen, dort etwas Wasser zu bekommen.

Es ist warm, stickig und die Schlange unendlich lang. Vor ihm wartet geduldig eine alte Frau. Die Falten in ihrem Gesicht und ihre weißen Haare verraten, dass die trüben braunen Augen schon viel gesehen haben.

Seine Augen sind noch ungetrübt und frisch. Für sie ist das alles neu.

Sein Bruder hat sich den Rebellen angeschlossen. Er trägt eine schwere Waffe. Er ist gerade einmal 16 Jahre alt. Gaddafis Truppen tragen noch schwerere Waffen. Sie verkleiden sich als Rebellen und benutzen Frauen und Kinder als Schutzschilde. Seit einiger Zeit schießen sie auch auf Zivilisten.

Die alte Frau vor ihm in der Schlange zittert ein wenig. Halt suchend fährt sie mit den Händen durch die stickige Luft. Sie taumelt, greift nach seinem Arm.

„Ich brauche Wasser“. Ihre Stimme ist sehr leise.

Verschreckt ruft er: „Wasser! Hat jemand Wasser“. Nur wenige schauen sich um. Einige schütteln mitleidig den Kopf. Ihr dürrer Körper sackt in sich zusammen.

Mit seinen sechs Jahren ist er nicht stark genug, sie zu halten.

Eine junge Frau stürzt auf sie zu. Sie benetzt die Lippen der Alten mit den letzten Tropfen Wasser aus einer Plastikflasche.

Doch es ist zu spät.

 

Vielen lieben Dank an lillekatt, für diese berührende Geschichte!

Utøya, Norwegen - Amoklauf

"Der war gut!" lacht Patrik, "aber ich geh dann mal."

"Ja, bis gleich."

Oh man! Er liebt diese Sommerlager. Einfach mal alles vergessen, den Alltag hinter sich lassen, mit Freunden abhängen.

Er schlurft an den Toiletten vorbei, grüßt ein paar Freunde.

Und bei diesem Lager, da geht´s auch noch um was! Politik. Er hat hier schon viele Leute getroffen, die er später mal wählen würde. Die habens drauf! Die werden das Land auf den Kopf stellen. Ach was, das Land! Die ganze Welt!

"Hey!" ruft er einem Polizisten fröhlich entgegen.

"Hey!" grüßt der freundlich zurück.

Patrik schlendert weiter zu den Duschen. Gedankenversunken schaltet er das Wasser an und zieht sich aus, wartet, dass es warm wird. Plötzlich, ein lauter Knall, ein Schuss! Ein Schrei noch mehr Schüsse!

Schnell wickelt er sich das Handtuch um, stürzt raus. Nichts zu sehen. Doch da kommt Jan, sein Kumpel angerannt, die Augen weit aufgerissen. Schüsse und Schreie in der Luft.

"Lauf! Lauf! Der Bulle erschießt Menschen! Scheiße man!" Schüsse, Schreie, noch mehr Jugendliche die pansich davon laufen.

Patrik rennt. Nur im Handtuch.

In der Dusche läuft noch das Wasser.

Somalia - Hungersnot

Sie schreit. Vor Hunger. Ihre Mutter ist verzweifelt, hält sie an ihre Brust. Doch es kommt nichts!

Seit Tagen. Sie hat ja selbst solchen Hunger! Wenigstens hat der Schmerz im Magen nachgelassen und es fühlt sich einfach nur noch dumpf an.

Das Baby schreit wieder. Unnatürlich. Verzweifelt. Die Mutter hat keine Kraft mehr, möchte weinen, kann es nicht. Zu schwach, zu hungrig.

Vor ein paar Monaten noch sah alles aus, als würde es endlich besser werden! Sie konnten sich etwas mehr Reis leisten, zwei Schalen am Tag. Was für ein Luxus! Aber jetzt? Der Reis wächst nicht mehr.

Sie denkt an die Geschichten von dem Land in dem die Menschen genug zu essen haben. Sie kann es nicht glauben. Konnte es noch nie. Angeblich werfen sie das Essen sogar weg! Tonnenweise! Und ihre Frauen hungern freiwillig, um dünn auszusehen. Sie lacht. Oder, sie versucht es. Ist zu schwach.

Das Baby schreit nicht mehr. Ist es eingeschlafen? Zu schwach um nachzuschauen.

Ihr Mann kommt herrein, traurig, ausgemergelt. Er war so stattlich als sie vor einem Jahr heirateten, doch jetzt? Die Wangenknochen stechen hervor, die Augen liegen tief in ihren Höhlen. Tieftraurig. Er sieht nicht aus wie ein junger Mann, aber sie weiß, auch sie sieht nicht mehr aus wie ein junges Mädchen.

"Die Kuh ist tot." Zu schwach um entsetzt zu sein. Ihre letzte Hoffnung, ihr letztes Kapital. Sie haben nichts mehr!

Er beugt sich über das Baby, das nicht mehr schreit.

Nicht mehr schreit.

Nie wieder schreit.

Veromont, USA - Hurricane

Staub wirbelt auf. Wirbelt in seine Augen. Die Äste an dem umgefallenen Baum - blattlos, hoffnungslos - biegen sich in dem Wind der Rotorblätter. Langsam setzt der Hubschrauber auf den Trümmern auf. Langsam, als könnte er etwas kaputt machen.

Jack lacht.

Kaputt machen! Hier! Absurd.

Alles ist zerstört, einfach alles. Irene nennen sie ihn, den Sturm, der alles zerstörte.

Der Hubschrauber wird still. Der Pilot springt herraus, verteilt Lebensmittel und Wasser.

Wasser! Duschen! Seit dem Sturm hat er nicht mehr geduscht. Kann sich selber nicht mehr riechen. Aber dafür reicht das Wasser natürlich nicht, gerade dass es für eine Katzenwäsche reicht.

Und er verteilt etwas, dass hier allen noch viel wichtiger ist: Informationen aus einer Welt, zu der sie nicht mehr gehören.

Als er und seine Schwester ihre Essensration erhalten haben waten sie durch das knietiefe Wasser wieder nach Hause.

Nach Hause, pfff! Daheim steht nichts mehr, sie wohnen bei den Nachbarn. Da steht zwar das Wasser im Erdgeschoss, aber immerhin ist es oben wieder trocken.

"Schau mal!" ruft seine Schwester plötzlich und kniet sich aufgeregt hin. Ein kleiner Baum wächst dort zwischen den Trümmern. Er stellt die Lebensmittel auf den Schutthaufen und gräbt das kleine Pflänzchen vorsichtig aus. Es steckt in den Scherben eines Tontopfs.

Ein Lächeln stielt sich auf sein Gesicht.

Hätte ihn auch gewundert.

Wo sonst sollte hier ein Ölbaum wachsen?

Nairobi, Kenia - Pipelineexplosion

Er schaut von seinem Schulbuch auf.

Das schwarze Öl tropft auf den Boden. Die Männer halten einen Kanister darunter und bohren das Loch vorsichtig weiter auf. Das Öl ist wertvoll, schwarzes Gold.

Viele stehlen hier im Slum, aber leckende Pipelines anzuzapfen trauen sich die wenigsten. Es ist gefährlich. Doch diese Männer sind vollkommen verzweifelt, er sieht es in ihren Augen.

Er schaut wieder in sein Buch. Das einzige, das er hat.
Er lernt, weil er Hoffnung hat auf ein besseres, ein anderes Leben.

Plötzlich, ein Knall.

Noch zwei mal expodiert die Pipeline. Als sich der schwarze Rauch etwas verzogen hat ist seine trostlose Blechhütte verschwunden.

Er ist verschwunden.

In ein besseres, anderes Leben.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 20.03.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich widme dieses Buch all denen, nach denen keiner fragt. Ihre Eltern kämpfen für ihre Zukunft, doch lustig ist dieser Kampf nicht. Hier im schönen sicheren Deutschland bekommen wir nichts mit von ihren Schicksalen. Ich widme dieses Buch denen, denen nach Jesu Worten das Himmelreich gehört. Ihr seid nicht allein! Euer Vater im Himmel sieht und hört euch!

Nächste Seite
Seite 1 /