Alles begann damit, dass ich mich zum dritten Mal innerhalb eines Monats vor der Wohnungstür von Célestine befand und auf den Klingelknopf drückte. Meine Freundin Sibylle war wie gewohnt überpünktlich. Sie öffnete mir die Tür. ‚Célestine’ war übrigens ein Pseudonym. Eigentlich hieß unsere gemeinsame Bekannte Susanne Schmid. Ihr „Seelenname“, so bezeichnete sie ihn, sollte vermutlich ein eindeutiger Hinweis auf ihre Berufung als Hellseherin sein. An der Tür stand darum auch nicht ihr richtiger Name, sondern: „Célestine / Spirituelles Medium / Termine nach Vereinbarung“.
Meine Freundin hatte mich überredet, hier den Kurs „Schamanisches Reisen für Anfänger“ zu buchen. Er bestand aus sechs Sitzungen. Der Stress, dem ich schon seit Wochen ausgesetzt war, hatte mich so mürbe gemacht, dass ich ihren Argumenten nichts Stichhaltiges entgegensetzen konnte. Zumindest besaß ich die vage Hoffnung, dieser Zeitvertreib würde mich ein wenig von meinem Job als Fremdsprachen-Lehrerin ablenken. Zu jener Zeit sah ich nämlich keinen Sinn mehr in meiner beruflichen Tätigkeit, ohne jedoch zu wissen, wodurch diese Unzufriedenheit entstanden war. Außerdem hatte ich mich auf zu viele Überstunden eingelassen. Vermutlich um dem Gefühl Leere zu entgehen, das mir zu schaffen machte.
Leider waren mir während der ersten beiden Reisen keine übersinnlichen Erfahrungen vergönnt gewesen. Ich hatte fest geschlafen, und konnte mich an rein gar nichts erinnern. Vielleicht war das rhythmische Trommeln schuld? Oder es lag an Susannes monotoner Stimme, mit der sie die Anwesenden aufforderte, sich den „inneren Rückzugsort“ vorzustellen. Natürlich könnte auch meine Erschöpfung dabei eine Rolle gespielt haben. Schließlich befand ich mich nicht umsonst schon seit Monaten wegen meines Boreout-Syndroms in ärztlicher Behandlung.
Wie auch immer meine Müdigkeit zu erklären war, sie bewirkte jedenfalls, dass ich die entscheidenden Phasen des schamanischen Reisens verschlief. Dabei hatten die Sitzungen recht vielversprechend begonnen. Das Visualisieren eines Ortes, an dem ich zur Ruhe kommen sollte, fiel mir ausgesprochen leicht.
Ich stellte mir ganz einfach eine Höhle vor, die irgendwo im Mittleren Westen der USA lag. Dank zahlreicher Reiseprospekte hatte ich von der Gegend klare, farbige Bilder im Kopf. Eine zeitlang war es nämlich mein sehnlichster Wunsch gewesen, mir eine Auszeit zu gönnen. Frei von allen Zwängen meines Bielefelder Alltags wollte ich mindestens drei Monate lang durch die Vereinigten Staaten reisen. Vor allem die wunderschönen Prärielandschaften, in denen alte amerikanische Western spielten, hatten es mir angetan. Leider konnte ich nie das nötige Kleingeld für meine Abenteuerreise zusammen bringen. So blieb es bei einem Wunschtraum.
In meiner Vorstellung ging ich also jedes Mal ins Innere der besagten Höhle. Dort legte ich mich auf eine Pferdedecke, denn ich stellte mir vor, dass ich auf dem Rücken eines wunderschönen Pferdes dorthin geritten sei, und ruhte mich aus. Während ich mir meine Umgebung detailgetreu vorstellte, befolgte ich die Anweisungen unserer Kursleiterin bis Körper und Geist völlig entspannt waren. Dann schlief ich ein. Jedes Mal war ich so weggetreten, dass mich Susanne und Sybille gemeinsam wachrütteln mussten.
Vermutlich war mein Verhalten für meine Freundin peinlich gewesen. Jedenfalls sah sie mich aus ihren großen Kulleraugen ein wenig vorwurfsvoll an, als sie mir in Susannes Flur zuflüsterte: „Sophie, versuch heute doch wenigstens ein bisschen länger wach zu bleiben. Dir entgeht wirklich was!“
Wie gewohnt eröffnete Susanne, alias Célestine, ihren Kurs mit einem schamanischen Räucherritual. Der beißende Rauch von verbranntem Salbei stieg mir in die Nase, und ich bekam einen Niesanfall. Erneut schleuderte Sibylle vorwurfsvolle Blicke in meine Richtung. Unsere Kursleiterin teilte uns mit, dass Nora und Wibke die heutige Sitzung leider abgesagt hätten. Wir seien also ganz unter uns. „Toll!“, dachte ich. Eigentlich hätte ich auch lieber einen gemütlichen Abend zu Hause verbracht. Bequem auf meiner Couch liegend, mit einem guten Buch und einem Glas Wein. Doch dann wäre meine Freundin enttäuscht gewesen.
Im Schneidersitz nahmen wir auf dem Teppich im Wohnzimmer Platz. Zu Beginn der Sitzung fragte Susanne, wie es uns in der vergangene Woche ergangen sei, und ob wir darüber berichten wollten. Das war Sibylles Stichwort. Mir fiel an dieser Stelle ja leider nichts Weltbewegendes ein. Ich konnte jetzt besser schlafen, - aber wen interessierte das?
Meine Freundin wusste mehr zu berichten. Seitdem ihr beim letzten Treffen der „sehr intensive Kontakt mit ihrem Krafttier“ vergönnt gewesen war, gab es kein anderes Thema mehr. Dabei hatte es sich nach ihren Angaben um einen Raben gehandelt, der ihr als Mittler zwischen geistiger und irdischer Welt erschien. Sibylle berichtete stolz, dass sie in den folgenden Nächten ständig von ihrer verstorbenen Großmutter geträumt hätte. Und jedes Mal schien es ihr, also wolle „Oma Marie“ der Enkelin mitteilen, sie habe im Jenseits endlich Frieden gefunden. Ich kannte Sibylle seit meiner Schulzeit, also seit mehr als dreißig Jahren, daher nahm ich solche Geschichten nicht allzu ernst. Sie hatte immer schon eine blühende Fantasie. Doch Susanne war zutiefst beeindruckt.
„Ja“, meinte sie, „unsere Krafttiere sind nur Vermittler, sie führen uns an Orte oder zu Personen, die eine wichtige Bedeutung für uns haben. Bei dir, Sibylle, war das deine Oma Marie.“ Dann sah sie mich verständnisvoll an und fügte hinzu:
„Aber so etwas lässt sich natürlich nicht erzwingen.“
Jetzt fühlte ich mich erst recht wie eine Versagerin. Ähnlich wie früher im Matheunterricht, wenn ich keine Hausaufgaben hatte, und deshalb bei Sibylle abschrieb. Bei mir schlich sich der Verdacht ein, dass ich für das Übersinnliche genauso wenig begabt war wie für die Welt der Zahlen. Trotzdem befolgte ich tapfer die Anweisungen unserer Kursleiterin. Es war fast wie früher auf dem Gymnasium. Obwohl ich kein Wort von dem Mathezeugs verstand, und auch kein Interesse dafür aufbringen konnte, heuchelte ich Aufmerksamkeit.
Wir legten uns flach auf den zotteligen Flokati im Wohnzimmer. Jede bekam ein Kopfkissen und eine Decke. Währenddessen erklangen bereits schamanische Trommeln aus der Stereoanlage. Dann schickte uns Susanne ins Reich der "Geistigen Welt".
„Du gehst jetzt zu deinem inneren Rückzugsort. Den Weg kennst du bereits. Wenn du angekommen bist, lässt du alles los, was dich belastet. Du bist frei und ganz du selbst.“
Zu meiner Überraschung spürte ich so etwas wie Vorfreude. Mein Ruheort schien mir plötzlich so vertraut wie ein immer wiederkehrender schöner Traum. Vor meinem inneren Auge erschien der Felsvorsprung mit der Höhle, zu deren Eingang ich mit meinem Pferd geritten kam. Ohne Sattel, nur auf einer kunstvoll gewebten Pferdedecke, die ich später als Ruhelager verwenden würde. Die schwarze Stute kannte den Weg. Sie blieb von selbst vor dem rötlich braunen Felsen, in dem sich die Höhle verbarg, stehen. Ich stieg ab, nahm die Pferdedecke und machte mich auf den Weg zu meinen Rückzugs-Ort.
Im Inneren der Sandsteinhöhle roch es heute allerdings ein wenig modrig. Außerdem störte mich die völlige Dunkelheit. Also kehrte ich wieder um, und legte mich vor den Eingang in die Nähe des Pferdes. Es war schönes Wetter. Strahlend blauer Himmel. Meine Decke breitete ich vor dem Höhleneingang aus. Jetzt hatte ich meinen idealen Ruheplatz gefunden. Keine Menschen. Nur Sonne und Wind. Susannes Stimme wurden immer leiser: „Tief einatmen und wieder aus und wieder ein und...“ Mir tat die frische Luft gut, ebenso die Wärme der Steine. Hier war es deutlich angenehmer als im regennassen Bielefeld. Bleierne Müdigkeit überkam mich. „Jetzt bist du bereit, deinem Krafttier zu begegnen“, war das Letzte, was ich von Susanne hörte, bevor ich im Land meiner Träume versank.
Als ich erwachte, stand die Sonne schon über dem Horizont, der sich am Rand der Steppenlandschaft im Tal erstreckte. Der Himmel hatte sich blutrot gefärbt. Verwirrt sah ich mich um. Dann spürte ich einen warmen Atemhauch auf meinem Gesicht. Susanne? Nein! Ich musste noch träumen, denn ich befand mich ja am Eingang der Höhle. Der warme Atem, den ich gespürt hatte, kam aus den Nüstern der Stute, die sich vorsichtig meinem Gesicht näherte. Erschreckt richtete ich mich auf. Jetzt geriet ich in Panik. Hier stimmte etwas nicht. Ich sagte laut „stopp“. So wie wir es im Kurs gelernt hatten. Wenn uns etwas unangenehm sei, sollten wir laut „stopp“ sagen und unsere Reise sofort abbrechen. „Susanne, stopp!“, schrie ich so laut, dass das Pferd erschreckt den Kopf zurückwarf und zur Seite sprang. In diesem Moment erkannte ich, was los war. Ich befand mich mitten in einer Vision. Das Pferd war natürlich mein Krafttier. Ihm musste ich jetzt mit größtem Respekt begegnen, dann würde es mich zu meinem Kraft-Ort führen. Jedenfalls hatte Susanne das behauptet. Vorsichtig pirschte ich mich an die verängstigte Stute heran. Sie beäugte mich voller Misstrauen, blieb aber stehen. Als ich die Hand auf ihren Hals legte, um ihn sanft zu streicheln, blies sie mir wieder durch ihre Nüstern ins Gesicht. Offenbar hatte sie mir meinen Ausbruch verziehen. Ein wenig ratlos war ich schon. Es wäre mir lieber gewesen, wenn meine Kursleiterin mich von diesem Trip der Erkenntnis zurückgeholt hätte. Vielleicht musste ich sie mit ihrem Pseudonym rufen?
„Célestine“, schrie ich aus Leibeskräften. Die Stute ging wieder auf Sicherheitsabstand. Ich probierte es noch einmal mit „stopp“. Doch nur das Echo antwortete mir. Da beschloss ich, dem Pferd zu vertrauen. Schließlich war es möglicher Weise mein Krafttier! Also beruhigte ich das misstrauisch gewordene Tier mit einschmeichelnden Worten bis es mich aufsteigen ließ. Wenn wir denselben Weg zurück ritten, den wir in meiner Fantasie gekommen waren, würde ich hoffentlich aus der Vision erwachen und mich auf dem Flokati neben Sibylle wiederfinden. Soweit mein Plan. Leider war der Weg verschwunden. Ich stellte ihn mir genau vor, aber alles, was ich fand, waren riesige Felsbrocken, die kein Durchkommen zuließen. Doch die schwarze Stute hatte ohnehin anderes im Sinn. Meine Sucherei wurde ihr plötzlich zu langweilig. Vorsichtig stieg sie die felsige Anhöhe, auf der wir uns befanden, hinab. Als sie die Ebene erreicht hatte, begann sie im gestreckten Galopp über die Steppe zu rasen. Automatisch verkrallten sich meine Hände in der üppigen Mähne. Solch ein Tempo war ich von meinen Wochenend-Ausritten mit dem Reitverein nicht gewohnt! Ein eisig kalter Wind pfiff mir um die Ohren. Mit Mühe schaffte ich es, mich auf dem Rücken des Pferdes zu halten. Nach einer gefühlten Ewigkeit fiel die Stute vom gestreckten Galopp in einen geruhsameren Trab. In der Ferne erkannte ich die Umrisse eines Gebirges. Zielstrebig steuert das Tier jetzt ein Tal an, das uns zum Ufer eines Flusses führte. Dort angekommen senkte sie den Kopf, und trank mit gierigen Zügen von dem klaren Wasser. Auch ich hatte Durst. Sollte ich es wagen, aus dem Fluss zu trinken? Warum nicht? Dies war ja vermutlich nicht die Wirklichkeit, sondern eine Vision! Als ich mich vom Pferd gleiten ließ, spürte ich die Anstrengung des langen Ritts im ganzen Körper. Muskelkater in einer Vision? Nein, ich wollte jetzt nicht darüber nachdenken!
Nachdem ich meinen Durst gestillt hatte, fühlte ich mich erstaunlich fit. Alles wirkte real. So real, dass ich die Zweifel daran, mich in einer Vision zu befinden, nicht mehr leugnen konnte. Plötzlich hörte ich im Gebüsch am Ufer ein lautes Rascheln. „Susanne?“, rief ich voller Hoffnung. Die Stute spitzte die Ohren. War noch jemand hier? Wenn nicht Susanne, wer dann? Etwa ein wildes Tier? Mir schoss durch den Kopf, dass ich nichts dabei hatte, womit ich uns hätte verteidigen können. Schnell schwang ich mich wieder aufs Pferd. Nichts wie weg hier! Langsam wurde es stockfinster. Jetzt bekam ich es mit der Angst zu tun. Mutterseelenallein irrte ich durch die Wildnis. Ohne Orientierung. Ohne Nahrung. Ohne alles. Mein Verstand war nicht mehr in der Lage, die Situation zu erfassen. Was ich erlebte, war einfach zu unlogisch. Es konnte nicht wahr sein. Aber was war es dann?
Wieviel Zeit verstrichen war, wusste ich nicht. Es schien, als reisten die Stute und ich schon tagelang durch die Dunkelheit. Völlig entkräftet sehnte ich mich nach Schlaf. Doch wagte ich nicht abzusteigen, denn ich fürchtete, das Pferd könnte mich allein in der Wildnis zurück lassen. Aus keinem erkennbaren Grund blieb die Stute auf einmal wie angewurzelt stehen. Ihr lautes Wiehern drang durch die Nacht. Langsam wurde es gruselig. Eine Menschengestalt löste sich aus der Dunkelheit und stellte sich uns, nur wenige Meter entfernt, in den Weg. Mir blieb das Herz stehen. Im Schein des Mondlichts konnte ich erkennen, dass es sich um einen zierlichen Mann mit langem Haar handelte. Er sagte etwas in einer fremden Sprache. Mit vorsichtigen Schritten kam er auf uns zu. Jetzt waren nur noch seine Umrisse zu erkennen. In der linken Hand hielt er einen Stab oder Speer. Sein Oberkörper war in einen Umhang gehüllt. Eigentlich wollte ich in diesem Moment Reißaus nehmen, aber die Stute bewegte sich keinen Millimeter vom Fleck. Zu Fuß wäre ich verloren gewesen. Also musste ich wohl oder übel bleiben, wo ich war. Zu allem Überfluss schienen das Pferd und der Fremde alte Bekannte zu sein. Zumindest begrüßte die Stute ihn mit Kopfnicken und freundschaftlichem Schnauben, als er einige Meter vor uns stehen blieb. Sein Gesicht konnte ich in der Dunkelheit nicht sehen, aber ich reimte mir zusammen, dass es sich um einen amerikanischen Ureinwohner handeln musste. Mir fiel nichts Besseres ein, als ihn auf Englisch anzusprechen:
„Hi, my name is Sophie“. Daraufhin antwortete der Mann etwas für mich Unverständliches in seiner Sprache. Er hatte eine angenehme Stimme, und schien mir durchaus freundlich gesonnen zu sein. Aggression oder Feindseligkeit konnte ich weder dem Klang seiner Worte noch seinem Auftreten entnehmen. Zu meiner Überraschung drehte er sich wieder um und ging in die Dunkelheit zurück. Das Pferd folgte ihm. Mein Verstand arbeitete auf Hochtouren. War dieser Ureinwohner ein Mensch oder nur eine Erscheinung? Wenn das Pferd und ich real waren, müsste er es eigentlich auch sein. Wer war er? Wohin waren wir unterwegs?
Mir fiel unwillkürlich Johann Wolfgang von Goethes Gedicht „Der Zauberlehrling“ ein. Gewisse Parallelen zwischen dem Lehrling, der glaubte die Geister beherrschen zu können, und Susanne ließen sich nicht von der Hand weisen. Da wurde mir bewusst, dass ich mich reichlich naiv einer angeblichen Schamanin anvertraut hatte, ohne mich vorher über ihre Fähigkeiten auf diesem Gebiet zu informieren. Auf dem Rücken eines erdachten Rappen, in pechschwarzer Dunkelheit gefangen, wünschte ich mir nichts sehnlicher als dass ein Zauberer oder Oberschamane herbeigeeilt käme, um diesen Spuk zu beenden. Doch das Pferd marschierte weite unbeirrbar durch die Dunkelheit als hätte es ein Ziel vor Augen, das ich beim besten Willen nicht erkennen konnte.
Ich fror und war hundemüde. Gerade als ich glaubte, mich nicht länger auf seinem Rücken halten zu können, rissen mich menschliche Stimmen aus meinem Dämmerzustand. Vor uns sah ich einen schwachen Lichtschein. Es roch nach verbranntem Holz. Um eine Feuerstelle waren ein paar dunkle Gestalten versammelt, allesamt in Decken oder Umhänge gehüllt wie der Fremde, der uns zu diesem Ort geführt hatte. Als sie den geheimnisvollen Mann mit uns im Schlepptau bemerkten, standen sie auf, und begrüßten ihn mit tiefen Verbeugungen. Mir kam der Gedanke, er könne ihr spiritueller Lehrer oder Häuptling sein. Unter den Leuten entstand eine heftige Diskussion, die damit endete, dass mir der Fremde zu verstehen gab, ich solle vom Pferd steigen und zur Feuerstelle kommen. Vor Kälte und Übermüdung zitternd, schob ich sämtliche Bedenken beiseite und stieg ab. Als ich endlich wieder festen Boden unter den Füßen spürte, verließen mich meine Kräfte. Jemand legte mir eine Decke um die Schultern und brachte mich in die Nähe des Feuers. Dann verlor ich das Bewusstsein.
Leider muss ich jetzt meine Aufzeichnungen unterbrechen, weil das Schreibpapier verbraucht ist. Seit jener Nacht sind etwa vier Monate vergangen. Im Augenblick befinde ich mich in einem Kaff namens Starbuck. Morgen werde ich wieder zu den Ureinwohnern zurückkehren. Sie hatten mich damals zu ihrem Dorf in den Bergen gebracht. Seitdem bin ich ihr Gast. Falls morgen früh bei Mr. King, dem Inhaber des einzigen Geschäfts von Starbuck, kein neues Papier zu bekommen ist, schicke ich meine unvollständigen Aufzeichnungen mit der Postkutsche als Brief an Sibylles Adresse nach Deutschland. Zwar weiß ich nicht, ob er jemals in Deutschland ankommen wird, auch nicht, in welcher Zeit, aber einen Versuch ist es wert. Inzwischen lässt es sich ja nicht mehr leugnen, dass ich eine Zeitreise in die Vergangenheit der Vereinigten Staaten unternommen habe. Der Schamane, dem die Stute in jener Nacht so bereitwillig gefolgt war, hat mich mittlerweile unter seine spirituellen Fittiche genommen. Wir verständigen uns mit Handzeichen, auf Französisch (er weigert sich Englisch zu sprechen) und in seiner Sprache, die ich mit Hilfe der Kinder zu erlernen versuche. Der Stamm führt ein abgeschiedenes Leben jenseits der weißen Zivilisation. Normaler Weise beschränken sich ihre Kontakte zu Weißen auf Besuche von französischen Trappern, die mit den Ureinwohnern einen regen Handel betreiben. Von ihnen habe ich erfahren, dass es einige Tagesritte vom Dorf entfernt eine Ansiedlung mit Menschen unserer Hautfarbe gibt. Daniel, ein älterer Trapper, erklärte sich bereit, mich zu begleiten. Meine indianischen Freunde wollten mich zunächst nicht gehen lassen. Sie gaben mir zu verstehen, dass die Menschen, die in Starbuck leben, gefährlich seien. Aber meine Neugier ließ sich nicht mehr bezähmen. Ich wollte unbedingt wissen, in welcher Zeit ich jetzt ungefähr lebe. Außerdem benötigte ich Papier, um meine Erfahrung aufzuschreiben. Vielleicht wird ja irgendwer in der Zukunft diese Aufzeichnungen lesen, und daraus seine Schlüsse ziehen? Weil es hier bislang weder Zeitungen noch eine Telegraphenstation gibt, kann ich nur schätzen, dass ich mich in den 1860iger Jahren befinde. Einige Kriege zwischen Weißen und Ureinwohnern hat es also schon gegeben, aber das Schlimmste, die brutalen Massaker an der indianischen Bevölkerung, steht noch bevor. Vielleicht wurde ich hierher geschickt, um dem Stamm, bei dem ich lebe, zu helfen?
Das Volk, das mich so bereitwillig aufgenommen hat, verfügt über gut organisierte soziale Strukturen, die von einer hoch entwickelten spirituellen Tradition geprägt sind. Die Kultur der Weißen ist den Stammesführern nicht nur völlig fremd, sie sind sich auch der Bedrohung, die von ihr für das indianische Volk ausgeht, vollkommen bewusst. Der Schamane gab mir zu verstehen, ich sei ihm als Antwort auf seine Gebete geschickt worden. Nur ein Mensch, der sich in der Welt der weißen Krieger auskennt, könne ihm helfen, das Verhalten dieser sonderbaren Spezies zu begreifen. Ich bin also in seinen Augen so etwas wie ein Krafttier. Eine Mittlerin zwischen den Welten. Die schwarze Stute, die mich durch die Zeit an diesen Ort führte, gilt übrigens bei den Stammesleuten als heiliges Tier. Sie begleitet den Schamanen, wenn er sich auf die Suche nach Visionen begibt. Ich nenne sie „mein Geisterpferd“. Hoffentlich kann ich morgen genügend Papier ergattern, um meine Geschichte weiterzuschreiben. Mist, das Petroleum geht auch zur Neige...
IM FALL DER VERMISSTEN SOPHIE K. AUS BIELEFELD GIBT ES BISLANG KEINE HEISSE SPUR. DIE VIERZIGJÄHRIGE FRAU VERSCHWAND AM 19. JUNI 2011 UNTER BISLANG UNGEKLÄRTEN UMSTÄNDEN AUS DER WOHNUNG EINER BEKANNTEN IN GÜTERSLOH. DIE POLIZEI ERMITTELT IN ALLE RICHTUNGEN. SACHDIENLICHE HINWEISE NIMMT JEDE POLIZEIDIENSTSTELLE ENTGEGEN.
Texte: (c) Regine Kulawig, Saarbrücken 2012
Bildmaterialien: (c) Regine Kulawig, Saarbrücken 2012
Tag der Veröffentlichung: 19.05.2012
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