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„Besser du gehst
Besser du läufst
Besser du rennst
So schnell du kannst
Dreh dich nicht um
Vielleicht entkommst du irgendwann

Besser du Rennst

Sag Lebewohl zu allem
Zu den vergang´nen Tagen
Lass deine Sterne tanzen
Mach endlich reinen Tisch“
(Subway To Sally, „Besser du rennst“)


Mein linkes Ohr fühlt sich seltsam an. Auf unangenehme Weise stumpftaub, und es rauscht stählern, so als würde ich im Schwimmbad untertauchen und das Wasser in meinen Ohren klingen hören.
Manchmal rauscht mein Ohr so, wenn sich ein Schnupfen oder eine Erkältung anbahnt.
Den stechenden Schmerz, den das frisch gestochene Piercing in der Ohrkrempe hervorruft, spüre ich trotzdem. Ich hatte gedacht, der Stich täte mehr weh, außerdem habe ich Blut erwartet, keine Ahnung, warum.
Es hat nur gebrannt und ein schmerzhaftes Ziehen verursacht.
Ich beuge mich meinem Spiegelbild entgegen und betrachte den kleinen Stecker, der da silbern in meinem Ohr funkelt. Er ist ein ungewohnter Fremdkörper in meinem Ohr...aber ich mag ihn, diesen Fremdkörper. Mein Ohr kann schmerzen, wie es will, und das wird es die nächste Zeit wohl auch...aber der Fremdkörper bleibt. Ich verlasse das Bad und schalte auf dem Weg in mein Zimmer überall dort das Licht aus, wo noch welches brennt. Ich bin – wie so oft – als letzte noch auf.

Es ist nicht kühl, nicht warm...eher etwas dazwischen. Der Horizont wird langsam dunkler, seine Farbe verschwimmt von einem hellen Sonnenuntergangsgelb zu einem tiefen, milden Blau.
Die Nachbarshäuser und die Bäume, Büsche und Hecken in den dazugehörigen Gärten dunkeln langsam zu großen, schwarzen Schatten heran. Von der Schnellstraße rauscht der Lärm des langsam weniger werdenden Berufsverkehrs herüber. Sonst ist es still.
Ich sitze in meinem offenen Fenster. Die Beine lasse ich hinaus baumeln, sodass sich meine nackten Zehen um die Äste der Kletterpflanze schließen können, die bis zu meinem Fenster im ersten Stock empor rankt.
Gedankenverloren drehe ich das Piercing hin und her, zucke kaum, als mein Ohr darauf mit einem unangenehmen Ziepen reagiert.
Merlin ist schon so lange weg.
Nicht, dass er nicht sehr oft und vor allem sehr lange weg ist, aber so lang wie diesmal...so lang ist er noch nie weg gewesen. Jedes Mal, wenn er fort ist, kommt dieser Gedanke in mir auf und...die Zeit, die er reist, verlängert sich, die Zeit, die er hier ist, bei mir, verkürzt sich, von jedem seiner Besuche an mehr.
So kommt es mir wenigstens vor.
Jedes Mal, wenn ich daran denke, schwöre ich mir, wütend auf Merlin zu sein und es zu bleiben, jedes Mal aufs Neue. Beleidigt, wütend, gekränkt, all das will ich sein, wenn er wiederkommt, ich möchte ihn hassen dafür, dass er mich alleine lässt; ihn einfach vor die Tür setzen. Jedenfalls so lange, bis er mir verspricht, mich nicht mehr zu verlassen.
Aber ein Blick in seine Augen, in seine unglaublichen, grünen Augen, und er macht seinem Namensvetter aus der Artussage alle Ehre; meine Wut verpufft, wie weggezaubert, und ich nehme Merlin auf, bis er dann wenige Tage später wieder verschwindet, die Warterei wieder von vorne beginnt und neue Wut in mir hoch kocht.
Eine kleine Vespa tuckert draußen vor dem Haus entlang.
Ich renke mir den Hals aus, um den Fahrer zu sehen, beuge mich so weit vor, dass ich beinahe stürze.
„Merlin!“, möchte ich aus dem Fenster hinaus auf die Straße rufen. „Du kommst doch noch zurück!“
Doch...er ist es nicht. Natürlich ist er es nicht. Zu schön wäre es gewesen.
Zu viele Leute fahren Vespa.

Blitze zucken über den Himmel, Donner dröhnt in meinen Ohren (inzwischen höre ich wieder auf beiden, vielleicht ist der Schnupfen vorbeigezogen).
Ich lehne meinen Kopf gegen die kühle Fensterscheibe und beobachte, wie das Regenwasser unsere Straße ertränkt und all den Staub und den Schmutz der letzten Tage fortspült. Wie es mich ertränkt und Merlin fortspült.
Der Brief kam heute, aus Australien. Von Merlin.

Für dich bin ich immer Merlin gewesen.
Merlin, der Wanderer. Merlin, der Zauberer. Merlin, der Unberechenbare, der Heimatlose.
Nun ja, du weißt, meine Mutter starb früh, mein Vater einige Jahre später...und nun, nun sterbe ich. Wahrscheinlich ruft dich bald meine Verwandtschaft an.
Für sie war ich Tom, von Merlin wussten sie nichts.
Ich war immer Tom, der Draufgänger. Tom, der Träumer. Tom, der Nichtsnutz, der das hinterlassene Geld seiner verstorbenen Eltern in unnötige Reisen investierte, anstatt es anzulegen, es sinnvoll einzusetzen.
Dass sie so von mir dachten, ließen sie mich bei jedem Besuch spüren.
Du kennst sie. Nicht gut, freilich, aber ich erinnere mich, dass du sie gleich richtig eingeschätzt hast.
Sie hätten Merlin nie verstanden. Sie verstehen ja nicht einmal Tom.
Dass ich nicht zurückkommen werde, wird sie freuen.
Und das werde ich nicht.
Frag nicht, warum ich es weiß...ich fühle es.
Zauberer spüren ihr Ende.
Vergiss mich nicht.

Etwa drei Tage nach dem Eintreffen des Briefes hat das Telefon geklingelt.
Merlins Onkel.
Sterbliche Überreste habe man nicht gefunden, aber es sei bestätigt, dass sein Neffe während der Besichtigung einer Grotte in eine Felsspalte gestürzt sei, sagte er. Die Beerdigung finde in zwei Wochen statt.
Und ich dachte, Zauberer leben ewig.
Ich ziehe die Beine an, stütze die Stirn auf die Knie und beginne zu weinen.
Zauberer sollten nicht sterben, jedenfalls nicht so früh und unerwartet.

Der Grabstein ein grauer Block, darauf in schwarzen, schmucklos klobigen Lettern Merlins anscheinend richtiger Name, Tom, sein Geburtsdatum und sein Todestag. Alle Gäste in schwarz, mit aufgesetzten Trauermienen, die Stimmung ein inszeniertes Schweigen. Merlin würde das alles auch nicht mögen, am allerwenigsten seinen hässlichen Grabstein, unter dem er jetzt seine letzte Ruhe finden soll.
Es ist alles so unpassend.
Wir hatten nie direkt über den Tod und das Sterben gesprochen, aber als sein Vater damals starb...ich erinnere mich noch genau an Merlins Worte: „Ich will verbrannt werden. Und meine Asche...sie soll ins Meer. In einen Ozean. Auf den Friedhof kommt dann nur eine leere Urne. Und Rosen. Rosen sollen dort wachsen. Und anstatt eines Trauermarsches sollen sie Für Elise spielen.“
Hier wachsen keine Rosen. Hier steht auch keine Urne. Keine Musik spielt, nicht einmal ein Trauermarsch, und Asche haben wir auch nicht gestreut.

„Es passt zu Tom.“
Ich werfe dem Fremden neben mir einen flüchtigen Blick zu und wende mich dann ab. Keiner dieser Menschen mit den falschen Trauergesichtern soll meine echten Tränen sehen.
„Nicht zu dem Tom, den ich kannte“, murmele ich. „Der, den ich kannte, hätte das alles hier ganz furchtbar gefunden.“
Meine Stimme erstickt fast an den Tränen, die über meine Wangen laufen.
„Aah, dann kanntest du wahrscheinlich Merlin?“
Es ist mehr eine Frage als die Feststellung, die es wahrscheinlich hatte werden sollen.
„Ja.“
Seufzend drehe ich mich zu dem Fremden um, um ihn zu fragen, ob er meinen Merlin kannte, ob er ihn gut kannte, ob Merlin jetzt wirklich dort unter der Erde liegt, doch mir bleiben meine Fragen im Halse stecken.
Aus den Augen des Fremden erschlägt mich ein wundervolles, eindringliches Grün, wie ich es zuvor erst in einem einzigen Augenpaar gesehen habe.

Um uns Gelächter, Geschrei, Trubel. Menschen wuseln geschäftig umher, wie Ameisen in einem riesigen Ameisenhaufen. Alle bepackt mit bunten Taschen und Tüten, einige mit Kind an der Hand, andere mit Hundeleine und dazugehörigem Tier, einige wenige mit Hund und Kind.
Wir sitzen in der Haupteinkaufsstraße der Stadt auf dem Kantstein vor einem Café und schweigen uns an.
Lange schon.
Er hat mir alles erzählt.
Von seinem Bekannten, der die Höhlenbesichtigung durchgeführt hat. Der ihm dabei geholfen hat, Tom verschwinden zu lassen, Merlin zu einer eigenständigen Person zu machen, die ohne Tom existieren kann.
„Bist du...bist du mir sehr böse?“, fragt er.
Ich schaue Merlin an und zum ersten Mal sehe ich einen Funken von Besorgnis, Bedauern und Schuldgefühl in seinen Augen.
Meine Hand wandert zu dem Piercing in meinem linken Ohr und dreht es hin und her, wie immer in letzter Zeit, wenn ich nachdenke.
Gern hätte ich Merlins Frage mit „Nein“ beantwortet, aber es wäre nicht ganz die Wahrheit gewesen.
Mir fällt keine Antwort auf seine Frage ein, die genau das ausdrückt, was in mir vorgeht.
„Warum hast du mir nichts erzählt?“, frage ich dann statt zu antworten und betrachte Merlin dabei. Er hat seine Haare schwarz gefärbt und trägt sie als Dreads (ich wusste nicht, dass man Dreads tatsächlich färben kann), es steht ihm. Es passt gut zu seiner sonnengebräunten Haut.
Ich warte vergebens auf eine Antwort, Merlin schweigt.
Und ehrlich gesagt kann ich mir die Antwort denken.
Es war eines seiner Spielchen gewesen. Eines der Spielchen, die er früher als Kind schon geliebt hatte.
Wenn er es nicht beabsichtigte, fand ihn niemand beim Versteckspielen. Und er beabsichtigte nie, gefunden zu werden. Wenn ihn nicht irgendwann der Hunger aus seinem Versteck trieb, suchte man oft bis spät in die Nacht, bis er schließlich nachgab und sich finden ließ.
Außerdem konnte er sich so gut verkleiden und verstellen, dass nicht einmal ich, seine engste Vertraute, ihn wiedererkannte.
„Und was willst du jetzt mit deinem Leben anfangen?“, frage ich schließlich. „Du bist doch praktisch frei.“
Merlin schaut mich verwundert an – auch diesen Ausdruck sehe ich heute zum ersten Mal in seinem Gesicht – dann beginnt er zu grinsen, als er begreift, dass ich gerade dabei bin, ihm zu verzeihen.
„Ich warte, bis du auch frei bist. Mit achtzehn. Es gibt viele schöne Orte auf dieser Welt. Den schönsten suchen wir beide uns aus. Und da...da bleiben wir dann. Und genießen die Freiheit.“

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Tag der Veröffentlichung: 04.10.2009

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