Und da stand sie nun. Stand einfach nur an diesem Abgrund und genoss die Aussicht, betrachtete die Welt wie sie sich ihr bot. Stumm, weit, unberührt und wunderschön.
Sie sah hinunter, hinunter auf die Landschaft aus dichten dunklen Wäldern, weiten Feldern oder Wiesen, glitzernden Seen und Flüssen, die sich strahlend in der Sonne durch den Grund schlängelten und wanden. Von hier oben war alles so klein – klein und doch so weit, dass es sich bis zum Horizont erstreckte, an dem es sich schließlich in einem verschwommenen Bild verlor, einer undeutlichen Linie, wo die Grenze von Erde und Himmel aneinander stieß und ineinander überging, der Himmel, der dort von einem so hellen Blau war, dass er fast weiß schien.
Wolken erstreckten sich in schmalen, langen Schweifen über den klaren Himmel, so fein, dass sie fast durchsichtig schienen. Die Luft war frisch, kühl und so rein, dass sie sie durchströmte, ihren ganzen Körper durchflutete, sie säuberte und ausfüllte, von Kopf bis Fuß. Es fühlte sich an als hätte sie ein Loch in sich getragen, das nun ausgefüllt war und ihre Brust anschwellen ließ, so sehr, dass sie dachte, sie würde jeden Augenblick zerbersten.
Noch nie hatte sie etwas vergleichbares gefühlt, etwas, das sie mehr durchdrungen, mehr berührt hatte. Es war als würde dieser Moment einen völlig neuen Menschen aus ihr machen und sie war so erleichtert, so dankbar und berauscht, dass es ihr den Atem nahm.
Vögel zogen über ihrem Kopf ihre Kreise, kreischten und schlugen mit den Flügeln, schwebten und ließen sich treiben, segelten mit der Thermik über alles hinweg, was unter ihnen lag, würdigten den Grund keines Blickes, glitten einfach so dahin, als wären sie schwerelos und würden jedem Gesetz der Physik trotzen – als gäbe es nichts, was sie halten würde – als würden sie jeden Augenblick noch etwas weiter aufsteigen, um der Sonne noch näher zu kommen, so lange bis sie die Atmosphäre der Erde verließen und zu einem Teil des Universums würden – unentdeckt, unberührt, unendlich. Als würden sie einfach immer weiter fliegen, bis zu einem unerreichbaren Ziel, eines, das nie mehr sein würde als ein zarter, angedeuteter Streifen am Ende ihres Blickfeldes – etwas, bei dem man sich nie sicher sein konnte, ob es wirklich da war oder nur Einbildung. Ein Ziel, das sie Ewigkeit nannte.
Und plötzlich verspürte sie den Drang mit ihnen zu fliegen, sich von ihnen den Weg zeigen zu lassen und nie mehr zurückzublicken.
„Das ist Freiheit.“, dachte sie.
„Hier stehen und zu atmen, vollkommen allein, vollkommen bei sich. Ganz still und bewegungslos.“
Und dieser Moment war der Abschied, wegen dem sie hergekommen war. Jetzt hatte sie das erlebt, auf das sie schon ihr ganzes Leben lang gewartet hatte – völligen Frieden und zweifellose Sicherheit – Bestärkung in alldem, was sie mit Fragen geplagt hatte in all den Nächten, in denen sie wach gelegen und an ihre Zimmerdecke gestarrt hatte, sich gefragt hatte, ob das „Richtige“, die einzige Lösung in einem unwiderruflichen Abgang lag, ob es der einzige Ausweg war und ob sie letztendlich nicht doch zu feige sein würde.
Aber in diesem Moment, in dem sie so ruhig und objektiv war, und alles ganz nüchtern betrachtete, wurde ihr klar, dass sie nicht feige war. Sie lief nicht davon oder gab auf, sie ließ niemanden im Stich, ja sie ließ nicht einmal jemanden zurück – sie traf lediglich eine Entscheidung. Eine Entscheidung, von der sie sicher war, dass sie sie glücklich machen würde. Sie entschied sich für ihr ganz eigenes Glück und dafür konnte sie wohl kaum jemand verurteilen. Denn wenn man die Wahl hatte, dann würde sich doch wohl jeder von uns so entscheiden, oder?
Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, sie ließ ihre Lider flackern bis sie sich schließlich schlossen, doch auch so sah sie noch das Bild, das vor ihr lag – ihr Ideal von tiefer, reiner Schönheit. Der Wind ließ ihr langes Haar tanzen, streifte sanft ihr Gesicht und ihren Hals, als würde er sie liebkosen. Wärme, Freiheit und Glück durchströmten sie wie das Blut, das ihr Herz pulsierend durch ihre Adern rauschen ließ. Alles war gut, sie war frei.
Sie breitete die Arme aus, während sie noch einen kleinen Schritt nach vorne tat. Ihr Fuß glitt von der Schräge des Abgrunds und während sie fiel, wusste sie, dass das nicht wirklich Fallen war – es war viel mehr wie fliegen – und die ganze Zeit über hielt sie die Augen geschlossen, nicht angestrengt zusammengekniffen, sondern so, dass der Wind noch daran zog, sie ab und an einen Spalt gleißenden Sonnenlichts erhaschen ließ. Sie wusste, dass sie flog, mit den Vögeln zusammen, die sie zuvor so beneidet hatte. Sie flog mit ihnen, wurde von ihnen getragen, der Sonne entgegen, geradewegs bis in die Ewigkeit.
Tag der Veröffentlichung: 15.09.2011
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