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Mühsam öffnete er die Augen. Das Tageslicht tat weh, blendete und er schloss die Augen schnell wieder. Er hatte geschlafen, war in ein schwarzes Loch gefallen. Wo war er? Hatte er SIE laut gerufen? Hatte ihn irgendwer gehört? Langsam kamen Bruchstücke zurück. Er öffnete erneut die Augen. Sah sich langsam um. Wo war SIE? Er hatte sie doch gerufen, hatte geträumt von ihr, viele viele Jahre lang.

Mit Mühe sah er sich um. Er war in einem Krankenzimmer, nackte kahle Wände sahen ihn an, neben dem Bett ein fahrbarer weißer Nachttisch, daneben eine Stange, eine Flasche mit Flüssigkeit hing daran. Er verfolgte die Leitung in die die Flüssigkeit tropfte sie, führte zu einer Injektions-
nadel in seinem Arm. Nun kam langsam die Erinnerung. Er war im Büro unter Schmerzen zusammengebrochen, Krankenwagen. Er wollte den Arm heben, doch seine Arme waren festgebunden. Langsam tropfte die Flüssigkeit. Er war allein. Er hatte Durst, Alkoholdurst. Sein Mund war ausgetrocknet trotz der Flüssigkeitszufuhr der Infusionen.


Als er mehr und mehr ins Bewusstsein zurück kam erkannte er, dass er nach IHR gerufen hatte, die, die ihn vor vielen Jahren verlassen hatte und die er immer noch mehr liebt als alles andere. In dieser Sekunde wurde ihm seine Lebenslüge bewußt, dass es etwas gab was er in all den Jahr noch mehr liebte: Den Alkohol. Damals hatte sie ihn wegen einem anderen Mann verlassen, aber im Grunde war sie gegangen, hatte ihre Chance wahr-
genommen, weil er mehr und mehr dem Alkohol verfiel. Seine ganzes Sinnen und Trachten ging in Richtung Alkohol. Sie hatte es sehr sehr lange ertragen, viele Jahre lang.

In lichten Momenten, wenn er seine Wut in den Griff bekam und sein Hirn nicht umnebelt war, dann gestand er sich ein, dass nur er allein die Schuld trug, dass sie ihn verlassen hatte. Wie oft hatte er unter Tränen geschworen mit dem Alkohol aufzuhören aber immer und immer wieder verfiel er diesem Teufel. Mehr und mehr.


Wann hatte es angefangen? Sein Vater hatte schon getrunken und dann im Suff die Mutter angegriffen. Sein Bruder wurde suspendiert als Lehrer, weil er die Kinder nicht mehr unterrichten konnte. Sein Schwager war mehrmals auf Entzug. Und er, er kam über den Fußball-
verein auf diesen Weg, fast noch ein Kind. Da musste man ein richtiger Kerl sein, der saufen konnte. Und er war ein richtiger Kerl. Mehr und mehr.

Träge tropfte die Infusion in seine Vene, er konnte zusehen und sah doch nichts.

Wo war die Zeit geblieben. Warum war es damals so weit gekommen. Er erinnerte sich an die erste Zeit, die Zeit ihrer Verliebtheit. Jeden Tag hatten sie sich gesehen und abends hatten sie sich noch Briefe geschrieben. Die Tage waren mit den Gedanken aneinander ausgefüllt. „Irgend-
wann, wenn wir mal Probleme haben, werden wir diese Briefe lesen“. Und dann, als die Probleme da waren, wollte sie diese Briefe nicht mehr lesen. Er hatte sie am Anfang in sich ein gesogen, Wort für Wort und dann irgendwann in Wut verbrannt.


Sie war gegangen und zweifellos lebte sie heute ein besseres Leben. „Ich liebe deine Frau, ich möchte sie heiraten und ich werde sie gut behandeln“, dieser Satz des Anderen war für alle Zeit in ihn eingebrannt worden. Er hatte sie nicht mehr aufhalten können, zu viel war geschehen und er fühlte sich damals so wahnsinnig schuldig, trotzdem konnte er seinem Leben keine Wende mehr geben. Er wusste sie war glücklich, kam viel in der Welt herum. Manchmal hörte er von ihr über irgendeinen Bekannten.

Sein Leben war in der Flasche. Er war ein Gefangener, ein Flaschengeist, und niemand hatte die Kraft die Flasche zu öffnen in der er sich befand.

Schon morgens war er ins Wirtshaus gegangen und dann kam er heim und sie wartete auf ihn und er war jeden Tag betrunken und dann beschimpfte er sie, schlug sie manchmal und machte noch andere Dinge, aber er liebte sie, konnte es nicht ertragen, dass sie so stark war und er so schwach.


Er wusste, dass sie gehen würde, sie hatte es mehrfach gesagt und wahrscheinlich noch viel öfter gedacht. Er forderte es mehr und mehr heraus. Sie weinte nie, sie sah ihn nur an und er fühlte sich wie das größte Schwein auf der Welt.


Irgendwann – vor einigen Jahren - hatte er sie angerufen, aus dem Büro, wollte ihre Stimme hören. Damals war er schon lange wieder verheiratet, obwohl sein wahrer Partner immer der Alkohol war. Sie hatte die Nummer auf dem Telefon erkannt und zurückgerufen. Sie hatten miteinander gesprochen, wie Fremde. Noch immer war ihre Stimme in ihm drin. Er hatte sich gewünscht ihr Lachen zu hören. Er wünschte sich so sehr sie noch einmal zu sehen, er wusste, dass er sterben würde. Er hatte schon lange keine Kraft mehr für das Leben. Hatte nur noch die Kraft das Glas zu heben und seine innere Stimme zu betäuben.


Sie hatten ihm die Diagnose gesagt. Leberkrebs! Es gab kein Weg zurück. Er schloss die Augen. Wartete auf das Ende.


Der Tod war seine Befreiung. Der Tod befreite ihn aus seinem Gefängnis. Der Tod zog den Korken aus seiner Flasche und sein Geist lernte fliegen.

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Tag der Veröffentlichung: 08.01.2010

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