Zog man die Luft nicht durch die Nase ein hatte das Umfeld fast eine Art Romantik. Von der Brücke aus sah man den Fluss, der sich durch das Tal schlängelte, silbern und schön. Am Ufer standen Hochhäuser wie Spargel auf dem Feld, hoch und weiß glänzend in der Sonne.
Kinder schwammen im Fluss, der aus der Nähe gesehen vor Abfall still stand.
In der Nacht hatte es geregnet. Ein kleiner schwarzer Junge in verschmutztem zerrissenem ehemals weißem T-Shirt, lies in einer Pfütze ein Papierschiffchen schwimmen und vergaß die Welt um sich herum.
Das neue Krankenhaus, eine Zierde für das ganze Viertel. Außerhalb der Stadt gelegen, rundum sah man noch die Reste der Bauarbeiten.
Die Schwebetüren gingen nach rechts und links auf. Man betrat einen großzügigen Empfangsraum mit einer riesigen Theke hinter der ausgesucht hübsche junge Damen in blauem Kostüm und Schwindel erregenden hohen Absätzen die Gäste empfingen und versuchen Ordnung in das Chaos zu bringen. Lautes Stimmengewirr empfing uns.
Aber dann war da ein anderes Geräusch. Das Gewirr der Stimmen wurde übertönt von einer Melodie. Im ersten Moment dachte ich „du lieber Himmel, irgend-
was ist mit dieser Schallplatte, merkt denn das niemand, die kratzt“. Dann sah ich, dass diese unendlich traurige, schaurig schön gespielte Melodie nicht von einer Platte kam:
Mitten im Raum stand ein großer grauhaariger Mann in einer Kakiuniform und spielte selbstvergessen auf einer Geige. Versunken in sein Spiel sah er nicht das Leben um sich herum, er spielte nur für sich oder für irgendwen den ich nicht sah oder kannte oder einen, der schon lange gegangen war. Die getragene Melodie ging mir durch Mark und Bein, ich hab sie immer noch im Ohr.
Vor dem Empfangstisch standen mindestens 15 Menschen und auch die Sitzplätze waren alle besetzt, alle sprachen wild durcheinander, erzählten lautstark ihre Krankheiten, drängelten um abgefertigt zu werden.
Zeitgleich mit mir traf ein älterer klapper dürrer Mann mit seinem Sohn ein. Irgendwas war mit seinem Magen, der Sohn stützte ihn und er stöhnte ununter-
brochen und hielt sich verkrampft seinen Magen.
Eine Mutter begleitete offenbar ihren Sohn hierher, denn sie steckte ihm noch CDs zu und fragte ständig ob er alles mitgenommen hätte, was ihm sichtlich peinlich war.
Eine hübsche junge Frau setzte sich neben mich und erzählte mir, dass sie extreme Magenschmerzen hatte. Wohlweislich sprach ich nicht ihre Sprache und sie nicht die meine, was der Verständigung aber keinen Abbruch gab. Ich lachte und meinte noch – mit den Händen erklärend – vielleicht liegen die Schmerzen tiefer und in einigen Monaten sehen wir es. Sie schüttelte lachen den Kopf „nein nein“. Wir lachten beide.
Ein Stück weiter ging eine Frau mit einem enormen Übergewicht und Elefantenfüßen*) auf und ab, beiderseits gestützt von ihren kleinen Töchtern. Ein wirklich schrecklicher Anblick. Beine, dicker als meine Hüften, an den Knöcheln überhängend, fast schwarz gefärbt mit großen Dellen kaputten toten Fleisches. Die Schmerzen trieben sie unaufhaltsam hin und her. Später sah ich sie auf dem Krankenhausflur. Mit 3 Infusionsnadeln im Bauch ging sie mühsam an zwei Krücken auf und ab und zog den fahrbaren Untersatz mit den Flaschen hinter sich her. Die Beine waren fest umwickelt und man sah ihr die Schmerzen an. Ein riesiger Berg menschliches, faulendes Fleisch.
Das Leben im Krankenhaus ist tagsüber vergleichs-
weise ruhig, erst am späten Abend, wenn es kühler geworden ist, kommen die Familien und Besucher und es herrscht ein reger Betrieb bis weit in die Nacht. Geräusche und Schläge als würde Billard gespielt nachts um 2 Uhr. Später stellte ich fest, dass der Lärm aus der Küche kam, in der in Handarbeit gearbeitet wurde.
Sah man aus einem der Fenster dann fielen vor allem die Straßenverkäufe auf. Eine Frau brachte einen winzigen Grill mit, befeuerte ihn und dann wurde Fleisch gebraten. Ganz schnell hatte sich eine Schlange von Käufern gebildet, offenbar eine begehrte und bekannte Schnellküche.
Der Erdnussverkäufer ging mit seiner Ware von Haus zu Haus. Die Beutel hingen an einer langen Stange.
Sobald ein Auto anhalten musste waren sofort die Fensterwäscher da – Kinder die sich etwas dazu verdienen wollten. Aber oft bekamen sie auch gar kein Geld für ihre Dienste, die ja nicht bestellt waren.
Ein alter Mann ging mit Lotteriescheinen herum und versuchte das Glück zu verteilen. Mit wenig Erfolg.
Ein Lumpensammler durchstöberte alle Mülltonnen nach Verwendbarem. Er sah begehrlich nach dem kleinen Grill, als der einen Augenblick unbeobachtet war. Allerdings genügte ein warnender Blick der Besitzerin und die Fronten waren geklärt.
Eine der Helferinnen in der Küche bettelte mich um Geld an. Aber mit einem Job und freiem Essen im Krankenhaus gehörte sie sicherlich zu den Privilegierten und nicht zu den Ärmsten.
Die dunkle Seite zeigte sich abseits des marmornen Eingangsbereichs und der hübschen Empfangs-
mädchen. Die Ärmsten der Armen sah man im Hof der Klinik ganz hinten sitzen. Im Keller gab es andere Behandlungsräume, die sich durch Spenden über Wasser hielten. Hier – wo sonst niemand hin kam – wurden sie behandelt, die, die keine Versicherung und kein Geld hatten und denen gar nicht mehr zu helfen war. Prostituierte mit Aids, Syphilis, Furunkel und schlimmerem. Männer wie Frauen nur noch herunter-
gekommene Klappergestelle, Bettler am Ende ihres Lebens.
Eines Lebens am Rande der Gesellschaft, die ihre letzte Hoffnung in die Wunderkraft der Ärzte und Medizin setzen zu einem Zeitpunkt, als es schon lange zu spät für sie war.
In Brasilien sah ich viele wunderschöne Kranken-
häuser mit glänzenden Glasfassaden, glitzernd in der Sonne. Wie bei uns die Supermärkte, eines schöner und gepflegter und größer als das andere.
Krankenhäuser sind aber nur den Reichen vorbe-
halten. Die, die Geld für eine Versicherung haben oder bar zahlen können.
„Wenn du arm bist musst du früher sterben“,
der Satz kam mir in Erinnerung.
*) Elephantiasis
Der Name des Auslösers ist Programm: Wuchereria bancrofti, ein Fadenwurm aus der Familie der Filarien, führt bei der Lymphatischen Filariose zu Lymphstauungen und Gewebeschwellungen von gigantischem Ausmaß. Mücken übertragen die mikroskopisch kleinen Erreger.
Elephantiasis heißt das Endstadium der Krankheit, bei der vor allem Beine und Genitalien abnorm anschwellen. In diesem Stadium entzündet sich die überdehnte und eingerissene Haut der betroffenen Gliedmaßen. Bakterien und Pilze siedeln sich an. Im akuten Stadium helfen spezielle Medikamente. Ist die Infektion erst chronisch, lindern Operationen, Hautpflege- und Bewegungs-
programme die entstellenden Auswirkungen der Krank-
heit.
Etwa eine Milliarde Menschen in über 80 Ländern leben in Risikogebieten. 120 Millionen Menschen haben sich bereits infiziert, ein Drittel davon ist dauerhaft behindert.
Besonders betroffen sind Indien, Afrika und Südasien. Wucheria bancrofti kommt in den feuchtwarmen Gebieten Zentral- und Südamerikas, Afrikas und Südostasiens vor. Ein anderer Fadenwurm, Brugia malayi, ist in Südostasien und China verbreitet, eine verwandte Art Brugia timori in Südost-Indonesien. Beide lösen ähnliche Symptome aus wie Wucheria.
Aus Fokus-gesundheit
Tag der Veröffentlichung: 07.01.2010
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