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Maria Thins

Der Köder


Das Böse lebt nicht in der Welt der Dinge. Es lebt allein im Menschen.
- Chinesisches Sprichwort -


12.01.2011



Sie hatte sich endlich durchgerungen, laufen zu gehen, bestand doch die Welt zurzeit aus nichts als Schnee und Kälte. Nach geraumer Zeit in heizungsluftgetränkten Räumen taten das Durchströmen der kalten Luft durch ihre Lunge und die geschmeidige Bewegung gut. Ein ganz normaler Joggingabend, wäre da nicht dieses Wimmern, ein leiser Hilferuf. Sie hielt inne. Sie drehte den Schlüsselbund in ihrer Hand. Sie hielt ihn immer dort. Es störte sie, wenn er beim Laufen in der Hosentasche klirrte. Sie überlegte. Sicherheitshalber ließ sie den Schlüssel mit dem längsten Schaft zwischen Mittel- und Ringfinger herausgleiten, die Faust um die restlichen Schlüssel als Widerlager fest umspannt. Sie hatte genau dieses Szenario tatsächlich schon hypothetisch durchgespielt, sagten ihr doch ihre Freunde immer, sie sei verrückt, um diese Uhrzeit allein joggen zu gehen. Sie ging auf die Stelle zu, aus der sie das Geräusch hörte. Manch einer hätte sie naiv gescholten, aber naiv war man doch nur, wenn man es nicht besser wusste? Das Wimmern wurde flehender, wie der Schrei einer Katze. Egal. Jemand brauchte vielleicht Hilfe: ein Tier, das in eine Falle geraten war, ein Kind, das sich verlaufen hatte, ein verwirrter alter Mensch aus einem Altenpflegeheim. Sie konnte nicht einfach vorbeilaufen.
„Hallo?“, rief sie fragend in die Dunkelheit. „Brauchen Sie Hilfe?“
Langsam ging sie auf die Stelle zu, das Gestrüpp wurde dichter und erschien im Halbdunkel fast schwarz: „Hallo?“ Einen Moment lang war es still, bis auf den sanft über den Schnee pfeifenden Winterwind.
Er sprang sie an. Riesige Pranken umschlossen ihren Hals, und sie stürzte rücklings in den weichen, kalten Pulverschnee. Sie versuchte zu strampeln, aber die schwarze Gestalt stemmte die Knie auf ihre Beine. Sein Gewicht fixierte sie, und Hände quetschten ihre Luftröhre ab. Sie kämpfte, sie dachte an ihr Ziel, aber im fahlen Laternenlicht war nichts zu erspähen. Sie hustete und ruderte verzweifelt mit den Armen im Schnee. Die schwarze Strumpfmaske hob sich in einem Atemzug über ihr Gesicht und öffnete höhnisch den Mund, wie um ihr etwas zu sagen. Sie wusste nicht, ob sie es schrie oder der Gedanke nur so laut in ihrem Kopf widerhallte. Jetzt!

Und mit aller Wucht, die ihrem schlanken Körper zur Verfügung stand, rammte sie den umklammerten Schlüssel in das Zentrum des seitlichen Halses.
Das schwarze Ungetüm bäumte sich schmerzverzerrt grölend auf. Sie sah ihn mit fragenden Händen über den Hals tasten. Plexus solaris, durchzuckte es ihr Gehirn, und sie trat mit beiden Beinen in den Oberbauch des halb über sie gebeugten Riesens. Lauf!

Hallte es in ihrem Kopf. Und sie rollte und rappelte sich auf und rannte, wie sie noch nie in ihrem Leben gerannt war.

◊ ◊ ◊


13.01.2011



Kriminalhauptkommissar Günther Hansen war genervt, als er morgens in seinem Büro ankam. Das Schneechaos kostete ihn jeden Tag Stunden seiner wertvollen Zeit. Er streifte seine heiß geliebte, altgediente Lederjacke ab und zog die Fleecejacke, die er darunter trug, aus. Er hatte sich mit seiner Frau ein altes Bauernhaus in einem der Dörfer abseits der Stadt selbst ausgebaut. Die Kinder waren schon lange ausgezogen. Die totale Idylle. Normalerweise brauchte man eine gute halbe Stunde bis zur Polizeidienststelle, daran war im Moment gar nicht zu denken. Die einsamen Landstraßen wurden kaum geräumt. In der Stadt selbst staute sich der Verkehr.
Das Telefon klingelte: „Lars Hegenwaldt am Apparat. Wir haben ein neues Opfer im Fall des Junaid-Mörders, schon bestätigt per DNA-Nachweis, nur: Diesmal lebt die Frau noch.“
„Wie?“, fragte Hansen in seiner gewohnt knappen Art.
„Das Opfer hat unserm Täter einen Schlüssel in die linke Halsseite gerammt und konnte fliehen.“
Hansen lachte sein von Tausenden Zigaretten aufgerautes Lachen. „Tja“, meinte er trocken, „da hat er sich wohl diesmal die Falsche ausgesucht.“

Wenig später hatte Hauptkommissar Hansen die Ermittlungskommission in seinem Büro zusammengetrommelt. Er blätterte durch das Protokoll des örtlichen Polizeireviers und schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn.
„Diese Torfköpfe, das Ganze ist gestern Abend schon passiert, und die haben den Tatort nicht von der Spurensicherung untersuchen lassen.“
„Die sind von einem Vergewaltigungsversuch ausgegangen“, warf Lars Hegenwaldt ein, „nicht davon, dass sie es mit einem Mehrfachmörder zu tun haben. Das kam erst bei Eingang der DNA-Untersuchung von den Geweberesten, die am Schlüssel klebten, raus.“
„Inzwischen sind doch fünfzig Leute über den Tatort getrampelt, und das Opfer hat dreimal geduscht“, fluchte Hansen. „Haben die die wenigstens in die Rechtsmedizin geschickt?“
„In die Notfallambulanz und zum Rechtsmediziner.“, Lars blätterte durch den Bericht. „Ein paar Prellungen und Hämatome, geringe Würgemale und geringes Kehlkopfödem – nichts Wildes. Dass sie den Täter relevant verletzt hat, sei auszuschließen. Selbst bei scharfen Waffen weichen die Halsgefäße beim beschriebenen Verletzungsmuster typischerweise zur Seite aus, schreibt der Rechtsmediziner.“
„Haben die die zum Gynäkologen geschickt?“
„Sie hat ausgesagt, sie sei nicht vergewaltigt worden“, erwiderte Lars.

Hansen hatte darauf bestanden, dass die Zeugenvernehmung noch am selben Tag stattfand. Lars Hegenwaldt hatte diese Aufgabe übertragen bekommen. Der Junaid-Fall war sein erster Serienmord. Er war erst vor einem Jahr zur Mordkommission gewechselt.
Die junge Frau betrat den Raum. Lars musterte sie: etwa Ende zwanzig, circa einssiebzig groß, schlank, blasser Typ, zurückhaltendes Auftreten. Bei genauerem Hinsehen sah man, dass die straff zurückgebundenen aschblonden Haare eigentlich lockig waren, Jeans, halbhohe braune Winterschuhe, dunkelblaues Sweatshirt. Langweilige graue Maus war die Kategorie, in die er sie spontan einsortierte. Mit lebendigen blauen Augen musterte sie ihn und scannte den zweckmäßig schmucklos eingerichteten Büroraum aufmerksam ab. Azurblau, schoss es Lars durch den Kopf, von einer Intensität der Farbe, für die sich andere Leute gefärbte Kontaktlinsen zulegten. Er war sich ziemlich sicher, dass an dieser Frau nichts künstlich war.
„Guten Tag, nehmen Sie doch bitte Platz“, begrüßte er sie.
Sie setzte sich auf den ihr angebotenen Stuhl vor seinem Schreibtisch.
„Ich nehme an, Sie möchten nochmals den genauen Ablauf des Geschehnisses wissen und haben noch ein paar spezifische Fragen“, begann sie in gesetztem Tonfall das Gespräch.
Gewählte Ausdrucksweise und keine Spur von Verunsicherung. Sie war augenscheinlich gebildet und nicht so schnell aus der Fassung zu bringen. Hm, langweilig? Unscheinbar traf es eher.
Er überprüfte die Eckdaten, die schon aufgenommen waren. Name: Henriette van Kampen, Alter: 29, Beruf: Assistenzärztin am Städtischen Klinikum, Fachgebiet: Kinderheilkunde.
Nachdem Lars den Ablauf des Angriffs nach ihren Aussagen en detail rekonstruiert hatte, kam er zu seinem eigentlichen Anliegen.
„Wir wissen vom Täter, dass er die Taten sehr genau plant und seine Opfer bis ins Detail kennt und folglich vorher ausspionieren muss. Ich halte es für nicht unwahrscheinlich, dass Sie ihn kennen. Geben Sie mir bitte eine Liste aller männlichen Bekanntschaften, auch flüchtiger oder Internetbekanntschaften, die Sie gemacht haben, seit Sie hier sind.“
Henriette nahm das ihr hingeschobene Blatt, kratzte sich am Kopf und schrieb einige Namen auf. Dann drehte sie den Zettel um und schob ihn Lars zurück.
„Das sind alles alte Freunde und Kollegen von mir, bis auf die zwei“, sie zeigte auf die Namen, „wir treffen uns ab und an und spielen ein paar Musikstücke, zwei Mädels gehören auch noch zu der Truppe. Das war's.“
„Ihr Freund oder Ehemann?“
„Ich hab keinen, bin Single.“
„Irgendjemand, der Sie mal in der Kneipe angesprochen hat oder so?“
Henriette stockte. „Ich gehe nicht groß abends weg. Wenn, dann war ich mit ein paar Kollegen essen, da hat mich niemand angesprochen.“
„Internetbekanntschaften?“, ging Lars die Liste weiter durch.
„Hab ich keine. Ich bin da sehr vorsichtig.“
„Vereine, Hobbys, eine flüchtige Begegnung?“
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, mir fällt nichts ein.“
„Also, so kommen wir hier nicht weiter. Sie müssen uns schon ein bisschen helfen!“, wurde Lars ärgerlich. „Sie müssen doch zu irgendwem Kontakt gehabt haben?“
„Na zu guten Freunden, meiner Familie und meinen Arbeitskollegen. Ich arbeite halt viel – ist ja nicht verboten.“

So recht wusste Lars nicht, was er von Henriette van Kampen halten sollte, aber er hatte auch nicht viel Zeit, darüber nachzudenken. Die Ermittlungskommission machte sich an die Arbeit. Jeder brütete an seinem PC. Lars überprüfte Henriette van Kampen selbst und die von ihr angegebenen Personen im Polizeiregister. Sein Kollege Jens Burkhard sämtliche Klinikmitarbeiter.
Die Polizeipsychologin Dr. Susanne Gärtner blätterte durch die Untersuchungsakten des Falles, die sie sowieso auswendig konnte. Sie spielte mit dem Finger nachdenklich mit der extravaganten langen Halbedelsteinkette, die sie selbst angefertigt und leger um den Hals geschlungen hatte. Menschliche Abgründe

, ging es ihr durch den Kopf. In menschliche Abgründe hatte sie wahrlich schon oft genug geblickt. Das jetzt ließ den ganzen Fall wiederum in einem anderen Licht erscheinen. Die bisherigen Opfer waren muslimische junge Frauen gewesen, die in ihren Familien relativ streng bewacht waren, und bisher hatten alle Indizien darauf hingewiesen, dass der Täter ausgesprochen gezielt und geplant vorging. Kein Affekttäter, keine spontanen Durchbrüche. Sie bekam kein Muster hinein.
Sie klappte die Akten zu. Sie musste los, ihre jüngste Tochter abholen.

14.01.2011



Die morgendliche Dienstbesprechung am nächsten Tag begann ausnahmsweise Dr. Gärtner: „Dass solch ein Täter so radikal sein Opferschema wechselt, ist mehr als ungewöhnlich: von streng muslimischen jugendlichen Frauen zu einer alleinlebenden, berufstätigen, erwachsenen, modern-westeuropäischen Frau. Ein krasserer Wechsel geht schon kaum. Wenn der DNA-Abgleich nicht so eindeutig wäre, ich würde nicht glauben, dass es derselbe Täter ist. Man könnte meinen, es war diesmal ein Gelegenheitsvergewaltigungsversuch. Was aber dagegen spricht: Er hat sie auf ihrer regulären Joggingrunde angegriffen. Sie läuft mit kleinen Abweichungen immer dieselbe Strecke, hat sie ausgesagt. Die Stelle ist recht abgelegen. Ich glaube kaum, dass der Täter zufällig dort war und auch nicht, dass er sich bei der Eiseskälte stundenlang hingehockt und darauf gehofft hat, dass irgendeine Frau vorbeikommt. Ich denke eher, er hat gewusst, dass sie dort lang laufen würde. Und: Er hat durch eine Art Wimmern auf sich aufmerksam gemacht. Er hätte damit rechnen müssen, dass jede andere wahrscheinlich umgedreht und weggerannt wäre. Er hat folglich einberechnet, dass sie darauf entsprechend reagieren würde, woher auch immer er das wusste. Ich denke, er kennt sie sehr genau.“
„Wer könnte das dann sein? Ein Kollege aus der Klinik? Ich werd ja den Verdacht nicht los, dass die uns irgendwas verschweigt”, sagte Lars.
„Warum sollte sie?“, entgegnete Susanne Gärtner. „Du glaubst, sie würde den Täter wissentlich decken?”
„Klinikmitarbeiter, glaub ich nicht“, rümpfte Hansen die Nase.
„Vielleicht ist der Täter doch auf Frau van Kampen aufmerksam geworden, ohne dass sie es weiß“, merkte Dr. Gärtner auf, „als Patient.”
„Die ist doch Kinderärztin!”, warf Jens Burkhard ein.
„Ach klar”, Susanne Gärtner fasste sich an die Stirn, „aber einer der Väter vielleicht?”
„Oh Gott!”, schrak Lars hoch. „Du meinst, der hat auch noch Kinder?”
„Hegenwaldt, wie naiv sind Sie eigentlich?“, verdrehte Günther Hansen die Augen, „Solche Taten haben schon die biedersten Familienväter begangen.“
Es würde zu lange dauern und zu wenig Erfolg versprechend sein, Patientenakten der letzten Jahre durchzukämmen. Die Aufgabe, zu überprüfen, ob die bisherigen Opfer im Klinikum behandelt worden waren, fiel Jens Burkhard zu. Lars sollte sich um Speichelprobenabgaben aller Klinikmitarbeiter und der Freunde und Bekannten von Henriette van Kampen kümmern.
Dr. Gärtner verließ mit Hansen das Zimmer. „Wir müssen uns was anderes einfallen lassen, und ich hab auch schon eine Idee“, zwinkert er ihr zu.

Dr. Gärtner kam die Aufgabe zu, auf Henriette van Kampen derart einzuwirken, dass sie mitmachte bei dem, was sie vorhatten. Zumindest war sie tough genug. Es war sehr wichtig, dass Frau van Kampen verstand, worum es ging.
Susanne Gärtner und Henriette van Kampen saßen sich abends im kalten Licht des fensterlosen, nur mit einem Tisch und Stühlen ausgestatteten Vernehmungsraumes direkt gegenüber.
„Ich möchte gern, dass Sie verstehen, was für ein Täter Sie angegriffen hat. Wissen Sie überhaupt, wie viel Glück Sie hatten? Das erste Opfer war ein sechzehn Jahre altes türkisches Mädchen. Er hatte sie auf dem Schulweg abgefangen. Gefunden haben wir die Leiche in einem Fluss. Er legt die Leichen immer im Wasser ab. Beim dritten Opfer hatten wir Glück. Er hat sie im Hochsommer umgebracht. Der Wasserspiegel des Baches, in dem er sie abgelegt hatte, wurde innerhalb kürzester Zeit so niedrig, dass man sie relativ schnell entdeckt hat und wir noch Gewebespuren sichern konnten. Die DNA haben wir mit den Spuren an Ihrem Schlüssel abgeglichen, daher wissen wir sicher, dass es derselbe Täter ist.
Das zweite Opfer war sechzehn, eine Pakistani. Sie wurde immer von ihrem älteren Bruder begleitet. Er hat sie entführt, als ihr Bruder einmal krank war.
Das bereits erwähnte dritte Opfer war siebzehn, streng muslimisches Elternhaus. Ihre Eltern haben sie außer für den Schulunterricht praktisch nicht aus dem Haus gelassen. Eines Abends hat ihre Mutter sie in den Keller geschickt, um etwas zu holen, dort hat er sie überwältigt. Es muss blitzschnell gegangen sein. Wir vermuten, dass er ihr ein Betäubungsmittel gegeben, sie herausgeschleppt, in einen Wagen gepackt und weggebracht hat.“
Dr. Gärtner legte Henriette, die merklich schluckte, nach und nach die Fotos vor. Sie glichen sich erschreckend. Man erkannte, trotz der vom Wasser weißlich aufgequollenen Haut, großflächige blutunterlaufene Hautareale an den Oberschenkelinnenseiten, Armen und Schultern. Die Fingerkuppen waren maulbeerartig aufgeworfen. Henriette sah die bläulich aufgedunsenen Köpfe und die blutunterlaufenen Bindehäute der Augen. Die leicht geöffneten Münder gaben den grotesk entstellten Gesichtern noch zusätzlich einen Ausdruck von Entsetzen. Das waren einmal fröhliche junge Mädchen gewesen.
„Der Tod wurde durch Erdrosseln herbeigeführt“, Dr. Gärtner zeigte auf die zirkulär um den Hals verlaufenden, wie eingebrannt wirkenden Strangmarken. „Die Opfer wurden mehrfach vergewaltigt. Sehen Sie sich die Verletzungen im Genitalbereich an.“
„Bitte hören Sie auf!“, unterbrach Henriette abrupt.
Susanne Gärtner machte eine kurze Pause. „Die Gemeinsamkeit ist: Alle drei kamen aus streng muslimischen Familien. Wir haben jeweils die gesamte rechtsextremistische Szene durchforstet, inklusive Speichelproben, aber ohne Erfolg. Mindestens die beiden letzten Opfer waren religiös familiär sehr eingebunden und selten unbeaufsichtigt.
Solche Taten sind beileibe nicht rein sexuell motiviert. Der Reiz daran für den Täter ist die absolute Machtausübung und Unterwerfung des Opfers, das kann man auch an der Art der Tatausübung festmachen. Genau das haben Sie ihm verwehrt. Wir wissen, dass er seine Opfer genau ausspioniert und kennt, daraus kann man schlussfolgern, dass er sich auch Sie bewusst ausgewählt hat. Dass Sie entkommen sind und in gewisser Weise den Spieß umgedreht haben, wird ihn erst richtig anstacheln. Wir gehen davon aus, dass er es wieder versuchen wird. Beim ersten Mal hat er mit so viel Gegenwehr nicht gerechnet, beim zweiten Mal wird er vorbereitet sein.“
Susanne Gärtner redete noch eine ganze Weile auf Henriette ein, die nur pflichtschuldig nickte.
„Wir wissen nicht, ob nicht noch weitere Opfer existieren, aber wir wissen, dass er mit Sicherheit weitere Opfer fordern wird: Das ist einer von denen, die niemals aufhören, und wir wollen diesen Typen fangen“, schloss sie ihren Vortrag.
Am Ende war Henriette einverstanden.

15.01.2011



Am Folgetag waren die Ergebnisse der Spurensicherung vom Tatort da – nichts Verwertbares. Lars hatte sich um die Vorbereitung der Speichelprobenentnahme gekümmert. Er betrat zusammen mit der Laborantin aus der Rechtsmedizin die weite, glasverkleidete Eingangshalle des Städtischen Klinikums, des größten Klinikkomplexes der Stadt. Er blickte sich suchend um, bis er die Information entdeckte. Vor ihnen in der Warteschlange kramte eine ältere Dame umständlich in ihrer Handtasche, während ihr Ehemann betulich auf sie einredete.
Sie warteten. Patienten wurden in Rollstühlen an ihnen vorbeigeschoben. Schwestern und Ärzte rannten von links nach rechts. Menschen in Zivil betraten die Halle und schauten sich irritiert suchend um. Junge Männer in grau-roten Sachen gaben Dinge an der Information ab. Geschäftiges Treiben. Sie waren an der Reihe. Die Dame an der Information erklärte ihnen den Weg. Lars lief durch einen der schlichten weißen Flure, während die Laborantin vorher abbog. Henriette van Kampen hatte Lars gebeten, das Gespräch mit ihrem Chef zu führen. Sie hatte argumentiert, ihr Chef würde von dem Anliegen nicht sonderlich begeistert sein und die Polizei habe bei der Durchsetzung mehr Autorität. Er hatte daraufhin einen Termin vereinbart.
Die Sekretärin ging Lars voran, klopfte kurz, steckte den Kopf durch die Tür, kündigte ihn an, dann ließ sie Lars vorbei und wies auf einen Bürostuhl vor einem ausladenden Schreibtisch.
Einen Chefarzt hatte er sich eigentlich älter vorgestellt. Henriette van Kampens Chef mochte Mitte vierzig sein, hatte ein äußerst korrektes Auftreten und einen ernsthaft konzentrierten Gesichtsausdruck. Er blickte von seiner Lektüre auf und nickte Lars kurz aufmunternd zu.
„Entschuldigen Sie die Störung. Ich will es kurz machen: Ihre Mitarbeiterin Dr. van Kampen ist beinahe Opfer eines Gewaltverbrechens geworden. Anhand von DNA-Proben konnten wir nachweisen, dass der Täter ein gesuchter Mehrfachmörder ist. Wir sehen uns gezwungen, Dr. van Kampen unter Personenschutz zu stellen. Das wird sich zum Teil auch auf die Klinik erstrecken. Wir sind nach längeren Diskussionen übereingekommen, dass es überzogen wäre, sie im normalen Tagesgeschäft unter Überwachung zu stellen. Sie hat eingewandt, da wären permanent genug Leute anwesend. Während der Nachtdienste halten wir das durchaus für notwendig. Bevor Sie Einwände erheben: Der Täter ist hochgefährlich, und in der Nacht sind die Flure und das Arztzimmer ziemlich dunkel und verlassen.“
Der Professor blickte ihn, die Stirn in Falten gelegt, an. „Ich gebe ehrlich zu, dass mir unbehaglich dabei ist. Sie hätten Einblick in teils empfindliche Patientendaten. Ich könnte Ihnen anbieten, Dr. van Kampen für die Dauer ihrer Ermittlungen von Diensten freizustellen.“
„Ich verstehe Ihre Bedenken. Wir garantieren, dass keinerlei Patientendaten nach außen dringen. Der Punkt ist, wir möchten nicht, dass sich etwas in Dr. van Kampens Leben ändert, was dem Täter auffallen könnte. Wir wollen sie als Köder einsetzen.“
„Als Köder?“
„Sie haben richtig verstanden. Wir sehen darin die einzige Möglichkeit, den Täter zu fassen: wenn er sie noch mal angreift.“
„Weiß sie das?“, fragte der Professor.
„Selbstverständlich, sie hat ihre Zustimmung gegeben. Noch eine letzte Frage: Wie würden Sie Dr. van Kampen beschreiben? Ist mal irgendetwas Auffälliges vorgefallen, besonders in letzter Zeit?“
„Eher ruhiger Typ, engagiert und gewissenhaft. Sie macht im Allgemeinen gute Arbeit, abgesehen von kleinen Nachlässigkeiten. Es hat nie Beschwerden gegeben.“
Sie einigten sich schließlich, und Lars dankte.
Er sammelte die junge Laborantin ein und musste sich beeilen. Um 15 Uhr war die nächste Lagebesprechung angesetzt. Gegen den lichtdurchfluteten hellen Klinikumsneubau wirkte der graue Siebzigerjahre-Dienststellen-Gebäudekomplex ziemlich muffig. Lars fragte sich jedes Mal, wer sich bloß ausgedacht hatte, grauen Linoleumbodenbelag mit lindgrüner Wandfarbe zu kombinieren.
Er traf sich mit Jens und Dr. Gärtner am Kaffeeautomaten, dann gingen sie zum Büro des Chefs.

Der Staatsanwalt, ein alter Freund von Hauptkommissar Hansen, tobte in dessen Büro. „Bist du verrückt geworden? Du kannst keine Zivilperson als Köder einsetzen, die Presse wird uns schlachten und dich wird das den Kopf kosten, wenn das schiefgeht. Außerdem kriegst du dafür nie ‘ne Genehmigung.“
„Realistisch betrachtet haben wir keine andere Chance – sie hat keine andere Chance.“, wehrte sich Hansen. „Unter Polizeischutz können wir sie eine gewisse Zeit stellen, aber nicht ewig, und dann? Danach lassen wir sie als Freiwild durch die Gegend laufen? Ich sag dir was: Dieser Täter wird alles dransetzen, sie sich zu schnappen. Außerdem: Glaubst du, ich bin so blöd und mache das offiziell? Sie geht halt joggen, wie sie‘s gewohnt ist. Da hat sie drauf bestanden, und sie gegen ihren Willen einzusperren ist Freiheitsberaubung!”

Lars krauste die Stirn. Wer weiß, ob Hansen recht behielt. Er hatte wenig Lust, einen Überwachungseinsatz zu fahren, bei dem der Täter vielleicht nie angriff. Das hieß wieder stunden- und tagelanges In-der-Gegend-Rumgehocke. Andererseits, mochte der Alte sein wie er wollte, er war ein sehr erfahrener Polizist und hatte nur zu oft mit seinen Einschätzungen recht gehabt.

So begannen sie einen der üblichen Überwachungseinsätze. Lars Hegenwaldt und Jens Burkhard mussten die Wohnung „verwanzen“, wie es im Polizeijargon immer noch hieß, obwohl sie natürlich längst keine Wanzen mehr einsetzten. Sie schickten Henriette van Kampen vor, damit sie die Vorhänge zuzog. Dem Täter war alles zuzutrauen, auch dass er die Wohnung überwachte. Dann halfen sie Gideon Starck von der EDV-Abteilung die Überwachungseinheit aufzubauen.
Die Wohnung war schnörkellos eingerichtet, wenig Möbel. An der Wohnzimmerwand reihten sich drei deckenhohe Regale, die mit Aktenordnern und einer Unzahl verschiedenster Bücher in unsortierter Reihenfolge vollgestellt waren. Vor dem Fenster stand ein großer Schreibtisch mit PC, Laptop und verschiedenen Zettelstapeln. Den großen Raum dominierend waren jedoch ein genau im Zentrum platzierter schwarzer Flügel und ein gleichfarbiges Digitalpiano an der Wand.
„Gleich zwei Klaviere!“, staunte Lars.
„Ja, meine Mutter ist Klavierlehrerin, ich konnte mich als Kind nicht wehren“, meinte Henriette van Kampen augenzwinkernd. „Nee, im Ernst, ich spiel für mein Leben gern, ist mein einziges richtiges Hobby, und spätabends kann ich nicht mehr auf dem Flügel spielen, wegen der Nachbarn.“
„Würden Sie was spielen?“, fragte Lars.
Sie legte den Kopf überlegend leicht schräg. „Wieso nicht?“
Sie setzte sich an das Digitalpiano, stöpselte den Kopfhörer aus und drehte den Lautstärkeregler leiser. Dann spielte sie.
Lars konnte nicht sagen, was sie spielte. Er kannte sich mit klassischer Musik nicht sonderlich aus, aber es klang leicht und zart, und die schlanken Finger glitten in fließenden Bewegungen, wissend, präzise und elegant über die Tasten.
Lars und Jens hörten angerührt zu.
„Wow, klingt richtig professionell“, staunte Jens
„Tja, hab ich lange für geübt.“ erwiderte Henriette wiederum lächelnd.

Lars hatte Feierabend. Zu Hause angekommen, drehte er die Heizung auf; die kleine Wohnung war nach dem langen Arbeitstag eiskalt. Er zog die Lederjacke aus und seinen heiß geliebten Norwegerpulli an. War auch echt eklig kalt draußen. Wenn er ehrlich war, war seine Wohnung genauso karg eingerichtet wie die von Frau van Kampen, nur hatte er nicht so viele Bücher und keine Klaviere, dafür eine recht stattliche CD- und DVD-Sammlung und den entsprechenden Flachbildfernseher und eine teure Stereoanlage dazu. Er überlegte, was er mit dem angebrochenen Abend anfangen sollte. Fürs Fitnessstudio war er zu müde, mit Kumpels wegzugehen hatte er heute keine Lust, eigentlich müsste er mal dringend den Abwasch erledigen, der sich in der Küche stapelte, aber dafür fehlte ihm gerade der Elan: würde wohl wieder ein Fernsehabend werden. Er ließ sich in seinen Lieblingssessel fallen und konnte nicht umhin nachzudenken, obwohl er wusste, dass eines seiner Grundprobleme war, die Arbeit immer mit nach Hause zu nehmen. Er fragte sich, ob Henriette van Kampen Angst hatte. Selbst er hatte bei manchen Einsätzen verdammt Angst und er war dafür ausgebildet. Dr. Gärtner hatte nachdrücklich erklärt, van Kampen habe völlig freiwillig eingewilligt. Er war sich nicht sicher, wer weiß, was für Strategien sie angewandt hatte. Viele, inklusive seines Chefs, hielten Dr. Gärtner für so etwas wie eine heimliche Koryphäe. Man musste erstaunt sein, was sie alles kaffeesatzlesenderweise zutage förderte. Man munkelte, sie habe damals ihr Psychologiestudium als eine der Jahrgangsbesten abgeschlossen. Sie hätte überall arbeiten können, aber mit ihren drei Kindern kam ihr der Beamtenjob bei der Polizei wahrscheinlich gerade recht.
Sein Kollege Jens war gleichzeitig ein Kumpel von ihm. Sie gingen gelegentlich abends ein Bier zusammen trinken, und Lars war froh, wenn er sich mal mit jemandem über die Arbeit auslassen konnte. Dick befreundet waren sie nicht. Manchmal fand er Jens ein bisschen prollig; er schmückte sich gern mit Klamotten und dicken Uhren, die er sich eigentlich nicht leisten konnte – na ja, war seine Sache.
Lars wagte zu behaupten, dass er von den beiden gleichgestellten Kollegen der intelligentere war. Sein Vater war Bergarbeiter gewesen, seine Mutter wegen ihm und seinen drei Geschwistern zu Hause geblieben. Sie waren nicht arm, aber das Geld war immer eher knapp. Lars war der Erste aus seiner Familie, der Abitur gemacht hatte. Manchmal ärgerte er sich: Hätte er damals nicht so viel Party gemacht, hätte er weit besser sein können, aber seinen Eltern waren seine Noten egal gewesen. Sie waren sowieso der Meinung studieren sei zu teuer. Er selbst war damals noch nicht vernünftig genug. Was soll‘s, er wollte schon als Kind immer Polizist werden, und immerhin hatte er es geschafft, sich in relativ kurzer Zeit vom Streifenpolizisten in den höheren Dienst hochzuarbeiten und das dazugehörige Studium nachzulegen. Er griff sich ein Buch über „Profiling“ aus dem Regal. Heute war mal nicht Fernsehen dran. Er wollte ja nicht dumm sterben.

16.01.2011



Die Ergebnisse aus der Rechtsmedizin waren am nächsten Tag da. Die Speichelproben-PCRs zeigten keine Übereinstimmung mit der Täter-DNA: Die Leute aus der Klinik schieden als Täter aus, Bekannte, Freunde und Familienangehörige von Henriette van Kampen ebenfalls. Jens hatte Einsicht in die Krankenakten genommen. Das erste und das dritte Opfer waren nie in der Klinik in Behandlung gewesen. Lediglich das zweite Opfer war 2000, 2005 und zuletzt 2009 relativ kurz vor seiner Ermordung dort in Behandlung gewesen. 2009 war Dr. van Kampen bereits an der Klinik, das Mädchen war aber im Notdienst wegen eines Infekts von einem ihrer Kollegen behandelt worden. Also ebenfalls negativ.

Die Überprüfung van Kampens hatte keine Auffälligkeiten ergeben. Blütenreines polizeiliches Führungszeugnis, Eins-a-Lebenslauf, nicht mal Punkte in Flensburg. Fast zu makellos, um wahr zu sein.
Lars konnte diese Frau nicht einsortieren. Tatsächlich war es seine Idee gewesen, Henriette van Kampen näher zu überprüfen. Er machte sich also auf den Weg zu ihrem Elternhaus in einem ruhigen Vorort einer benachbarten Stadt. Er trat durch ein quietschendes hölzernes Gartentor, durchquerte den einem Wintermärchen gleichenden Vorgarten des schlichten, aber gut gepflegten Einfamilienhauses und läutete an der Haustür.
Henriettes Vater öffnete freundlich lächelnd die Tür. Ein Mann Mitte sechzig, von gepflegtem Auftreten und relativ gedrungener Statur.
„Was möchten Sie denn über meine Tochter wissen?“, fragte er, nachdem er ihn ins Wohnzimmer geleitet und ihm einen Platz auf dem bequemen Sofa angeboten hatte.
„Ihre Frau ist nicht da?“, fragte Lars und blickte unwillkürlich auf ein Familienfoto auf der schwarzen Ebenholzkommode, auf dem Herr van Kampen, drei fröhlich lachende Kinder und eine freundlich blickende, zierliche Frau zu sehen waren – Henriettes Mutter.
Die durchdringend azurblauen Augen, mit denen Henriettes Vater sich nun Lars zuwandte, hatte seine Tochter augenscheinlich von ihm geerbt. „Nein, meine Frau gibt noch stundenweise Unterricht.“
„Nun, ich will gleich zur Sache kommen. Über den Fall an sich wissen Sie ja Bescheid. Wir gehen davon aus, dass der Täter irgendwie auf Ihre Tochter aufmerksam geworden sein muss und sie ihm daher zumindest flüchtig begegnet sein könnte, und sind auf die Mitarbeit Ihrer Tochter angewiesen. Ihren Angaben nach hat sie wenig Kontakte, weder einen Partner noch enge Freunde vor Ort, sie geht nicht aus. Als Begründung gibt sie an, sie arbeite viel und ansonsten spiele sie Klavier und gehe joggen. Kurz gesagt, das kommt uns etwas ungewöhnlich vor. Können Sie uns weiterhelfen?“
„Hm“, Henriettes Vater dachte nach, bevor er mit ein wenig Unbehagen in der Stimme antwortete: „Ich glaube, ich weiß, was Sie meinen. Meine Tochter wirkt auf die meisten Menschen ziemlich verschlossen und ungesellig. Ich darf das meiner Frau gegenüber nie sagen, aber ich halte Henriette von meinen drei Kindern für das intelligenteste und für sehr sensibel – haben Sie sie mal Klavier spielen hören? Und sie hat nahezu seismografische Antennen dafür, was in ihrem Gegenüber gerade vorgeht. Wenn ich von der Arbeit kam, ich hatte kaum drei Schritte in den Raum gesetzt, da wusste sie schon genau, was für eine Laune ich hatte, schon als kleines Kind. In der Schule war sie, glaube ich, nie sonderlich beliebt und als Streberin verschrien. Meine jüngste Tochter war das glatte Gegenteil. Ab der Pubertät ist sie nie ungeschminkt und ungestylt aus dem Haus gegangen, hat keine Party ausgelassen und war fürchterlich zickig. Henriette ist auch ab und an weggegangen, aber ich hatte den Eindruck, einfach um Freunde zu treffen, nicht um über die Stränge zu schlagen. Sie war immer ausgeglichen, freundlich, hat freiwillig Klavier geübt und sich dauernd in Büchern vergraben. Meine Frau hat immer versucht, sie umzuerziehen und sich die Zähne daran ausgebissen: Henriette solle sich doch für Mode interessieren und sich schminken. Henriette hat nur gesagt, sie habe eben andere Interessen und wolle ihre Zeit nicht mit oberflächlichem Kram verschwenden. Sie ist nämlich durchaus willensstark und ziemlich eigensinnig. Sie ist schon anders, aber ich finde gar nicht mal in einem negativen Sinne. Ich glaube, dass sie sich nie in die Karten blicken lässt, ist eher ein Schutzschild. Wenn man sie kennt, merkt man, dass Henriette ein herzensguter Mensch ist. Sie würde nie ein Tötungsdelikt absichtlich verschleiern.“
„Sie lieben Ihre Tochter sehr, nicht wahr?“
„Das ist nicht schwer, wenn man sie einmal so akzeptiert hat, wie sie nun mal ist.“
Lars verabschiedete sich und fuhr nach Hause. Ausnahmsweise konnte er mal eher Schluss machen. Für heute konnte er nichts mehr tun.

17.01.2011



Sie überwachten Henriette nun den dritten Tag; bisher ohne Vorkommnisse. Heute hatte sie Vierundzwanzig-Stunden-Dienst.
Um 16 Uhr zur Dienstübergabezeit stand Lars in der hellblauen Hose und dem hellblauen Kasack des Pflegepersonals vor Henriettes Arztzimmer. Er fand, er sah ziemlich albern aus, hatte er doch die Sachen zwei Nummern zu groß anziehen müssen, damit die Dienstwaffe und das kleine Headphone, die er darunter trug, nicht auffielen. Observationen waren eigentlich todlangweilig, die meiste Zeit passierte rein gar nichts. Manchmal bekam man jedoch Einblicke in Gebiete, von denen die meisten Leute keinen realistischen Eindruck hatten. Insofern war er gespannt auf den Einblick in den Mikrokosmos einer solchen Klinik. Henriette hatte bereits gemeint, wenn er glaubte, es ginge hier zu wie in der Schwarzwaldklinik, würde er ziemlich enttäuscht werden, außerdem würde keiner ihrer Kollegen Porsche fahren. Er mochte ihren sarkastischen, dabei aber niemals herabwürdigenden Humor. Henriette kam in weißen Sachen und offenem weißen Kittel aus der Tür, die Taschen vollgestopft mit zwei kleinen Büchern, losen Faltblättern, Plastik-EKG-Lineal, Reflexhammer, einer kleinen Lampe, diversen Kulis, einem Stempel und dem Stethoskop.
„Der Dienst-Kampfanzug des kleinen Assistenten“, meinte sie grinsend auf sich selbst zeigend. „Chefärzte haben üblicherweise lediglich einen vergoldeten Parker-Kuli mit Namensgravur in der Brusttasche.“
„Dr. med. H. v. Kampen, Ärztin, Pädiatrie“, stand auf dem Namensschild. Klang gut, fand Lars.
Das erste Kind, das in den Notdienst kam, war ein Zweijähriger, der die Treppe hinuntergestürzt war, in Begleitung der entsprechend aufgeregten Mutter. Lars wunderte sich, dass das Kind nicht stärker weinte. Henriette führte mit zügig routinierten Bewegungen die körperliche Untersuchung durch, plötzlich stockte sie. Es fand sich eine kleine Blutspur, aus dem linken Ohr laufend. Sie griff eine Art Leuchte und schaute sorgenvoll in das Ohr. Dann leuchtete sie in beide Augen und sagte kurz zu der Mutter: „Tschuldigung, das muss jetzt mal sein“, und kniff dem Kleinen vehement in die Oberarminnenseite. Das Kind verzog das Gesicht, weinte, wehrte sich und versuchte sich wegzurollen. Sie erklärte der Mutter ruhig, man müsse eine CT-Untersuchung vom Kopf machen. „Es kann leider gut sein, dass er einen Schädelbruch hat. Außerdem hat er eine Gehirnerschütterung. Aber er reagiert noch gezielt auf Schmerzreize, was per se ein gutes Zeichen ist, und der Gesichtsnerv funktioniert auch noch.“ Henriette telefonierte noch drei, vier Mal. Dann wurde das Kind in die Röntgenabteilung gebracht.
Nacheinander kamen die kleinen Patienten: zweimal Halsschmerzen, einmal leichte Lungenentzündung, eine Schürfwunde, ein Insektenstich, einmal wurde eine Zecke entfernt, einmal bei Bauchschmerzen unter lautem Geschrei des Kindes und, wie Lars fand, ziemlich brutalem Festhalten Blut abgenommen und das Kind für den nächsten Tag wieder einbestellt. Ein Kind musste wegen bellenden Hustens und Luftnot in der Klinik bleiben und ein Kleinkind wegen starker Durchfälle. Zwischenzeitlich gab Henriette ein paar Anweisungen übers Telefon durch oder rief irgendwo an, ging auf eine der Stationen, um Infusionszugänge in kleine Kinderarme zu legen oder mit traurigen, besorgten oder aufgeregten Eltern zu sprechen. Ein Kind hatte auf der Station einen leichten Asthmaanfall und eine Fünfzehnjährige eine Migräneattacke. Gegen 23 Uhr wurde es ruhiger.
Henriette sagte, sie müsse noch einen Besuch machen, bevor sie sich hinlegte. Lars folgte ihr auf eine der Stationen.
Im Bett lag ein etwa elfjähriger Junge mit bis auf wenige flaumige Haare kahlem Kopf und einer breiten Narbe von der Schläfe um das Ohr bis auf den Nacken reichend.
„Tobi, Fernseher aus. Es ist schon fast elf!“, rief Henriette.
„Och nööö,!“ protestierte der Junge. „Der Film dauert nur noch zehn Minuten, ehrlich!“
„Na gut, ausnahmsweise!“
Tobi versuchte ein zaghaftes Lächeln auf dem blassen Gesicht: „Hi, hi, du sagst immer ausnahmsweise!“
„Sonst alles okay?“
„Ich hab Kopfschmerzen und mir is‘ schlecht.” wimmerte er.
Henriette strich ihm über den kahlen Kopf. “In Ordnung, ich sag Bescheid, dass du noch was bekommst. Melde dich, wenn irgendwas sein sollte, ja?“
Im Stationszimmer entfachte sich eine kurze, aber hitzige Diskussion mit den Schwestern, ob man ihm wirklich noch höhere Medikamentendosen geben könne.
„Das Einzige, was wir jetzt noch tun können, ist, ihm die Symptome zu nehmen, alles andere hat keine Konsequenz mehr”, sagte Henriette mit ungewohnt eisigem Gesichtsausdruck.
„Ach“, seufzte sie, als sie von der Station gingen, „eins von unseren Chemokindern. Er hat einen Hirntumor. Armer kleiner Kerl. Und der ist so lieb.“

Drei Uhr nachts. Das Diensthandy klingelte. Lars rappelte sich widerwillig hoch und folgte Henriette mit fünf Metern Abstand. Der Türöffner surrte, und mit einem Knacken sprang die Automatiktür der Station auf. Henriette steuerte zielstrebig auf eines der Zimmer zu, in welchem ein Junge von vielleicht vier Jahren jämmerlich heulend im Bett lag.
„Na, was ‘n los?“, sprach sie ihn mit weicher, fast singender Stimme an.
Lars beobachtete durch den Türspalt, wie sie ihn in dem halbdunklen Zimmer mit dem Stethoskop abhorchte und ihm über den Bauch tastete.
„Tut dir hier was weh?“
„Nein!“, weinte der Kleine und zog die Nase hoch.
Henriette strich ihm immer wieder über den Bauch. „Ist alles gut. Dir passiert hier nichts.“
Nach einigen Minuten hatte sich der Kleine beruhigt und war eingeschlafen. Henriette stand auf und warf einen Blick ins Stationszimmer. „Alles soweit in Ordnung. Er hat wahrscheinlich bloß schlecht geträumt oder Heimweh.“
Sie kam auf Lars zu. „Sie müssen mir doch nicht folgen wie ein Schatten. Ich glaube, das ist jetzt echt übertrieben.“ Die Schritte hallten auf den totenstillen Gängen.
„Weswegen ist der Junge hier?“, fragte Lars, ohne auf Henriettes Einwand einzugehen.
„Eigentlich wegen einer Lungenentzündung, jetzt hat er über Bauchschmerzen geklagt, das ist häufig so, wenn Kinder Sorgen haben. Ach ja“, Henriette hob die Schultern, „er kommt halt aus – wie soll ich sagen – etwas dissozialen Verhältnissen. Von den Eltern ist die ganze Zeit noch keiner hier aufgetaucht, und er hat halt Angst allein im Krankenhaus. Kann man ja verstehen.“
Sie trabten einträchtig nebeneinander zurück in Richtung Dienstzimmer.
„Ich find‘s echt bewundernswert. Ich glaub, ich würde bei den ganzen schreienden Kindern irgendwann die Nerven verlieren. Ich bin schon vom Hinterherrennen und Zugucken fix und fertig“, meinte Lars, nachdem er die Tür des Dienstzimmers hinter sich ins Schloss gezogen hatte.
Henriette lachte herzhaft: „Womit man doch hartgesottene Polizisten platt kriegt.“
Sie streifte lediglich den Kittel ab, legte sich ohne weiteren Kommentar ins Bett und war sofort eingeschlafen. Lars manövrierte sich umständlich in seinen Schlafsack und versuchte, sich auf der Isomatte bequem hinzuruckeln.
Ich bin nicht hartgesotten, dachte er.


18.01.2011



Henriette ging morgens kurz nach offiziellem Dienstschluss in das Stationszimmer der Kinderintensivstation. Die Schwestern waren alle eifrig mit ihren kleinen Patienten beschäftigt. Sie öffnete den Medikamentenschrank und scannte die Aufschriften auf den Schildchen, die an den Ausziehschubfächern klebten. Schnell hatte sie gefunden, was sie suchte. Sie zog das Ausziehfach vor, nahm geschwind vier kleine Brechampullen aus der Faltschachtel, ließ sie in ihre Kitteltasche gleiten, schloss Schubfach und Schrank und sah sich noch mal um – niemand da, nur das wiederkehrende leise Piepen der Überwachungsgeräte.

Lars packte derweil im Arztdienstzimmer seine Sachen, um nach Hause zu gehen. Er zog sich Jeans, Pulli und die gefütterte Winterjacke an. Eigentlich hätte er sich gern noch ein bisschen mit Henriette unterhalten, aber sie musste noch Kleinkram erledigen, wie sie sich ausdrückte. In seiner Wohnung würde er wieder allein sein und alles, was er dort tun würde, war mehr oder weniger ein Ablenkungsmanöver.
Ja, er arbeitete zu viel. Wie oft hatte er sich das schon angehört. Nur, konnte er das ändern? Er hatte kein Problem damit, Frauen kennenzulernen, nur damit, ihnen zu erklären, dass er seinen Job nicht nur für Geld machte. Irgendwann hatten sie alle genug davon gehabt, dass die Opfer, die zukünftigen Opfer, die Gerechtigkeit dauernd Priorität hatten. Er vermutete, Henriette würde es ähnlich gehen. Nur hatte sie augenscheinlich schon so resigniert, dass sie keine sichtlichen Anstalten machte, jemanden kennenzulernen. Nein, sie wirkte nicht resigniert. Das war es ja, was ihn irritierte.

Henriette hatte, nachdem sie ausgeschlafen war, den Tag ganz ruhig in ihrer warmen Wohnung die Zeit verbracht, wissend, dass vor dem Haus ein Zivilfahrzeug der Polizei geparkt war. Jetzt starrte sie aus dem Fenster die Lichter der vertrauten Fassaden an und dachte nach, wie der Mörder auf sie gekommen sein mochte. Sie war und lebte ja nun ausnehmend unauffällig und hatte ihre perfekte Nische gefunden. Sie spürte in sich die Verpflichtung, dazu beizutragen, ihn zu fassen, damit nicht andere zu Opfern würden, nur weil sie zu feige war.


19.01.2011



◊ ◊ ◊

Er löschte seine Zigarette und schnippte den Stummel weg. Dann ging er auf seine Beobachtungstour, wie er es nannte. Zwischen den Plattenbauten drehten die Krähen kreischend ihre Kreise. Die Straßenbahn ratterte heran. Er fuhr durch das Industriegebiet, in dem sich eine triste Produktionshalle an die andere reihte. Menschen stiegen aus und ein. Die meisten waren einfache Leute, die von der Arbeit nach Hause fuhren. Niemand blickte ihn an; es war ihm nur recht. Er verhielt und kleidete sich unauffällig, das war wichtig. In der Innenstadt stieg er aus. Unwillkürlich strich er sich über die Wunde am Hals. Sie hatte ihn nicht wirklich verletzt, aber es schmerzte noch etwas. Er ging in die Strittmacher-Straße, die Straße, in der sie wohnte. Gegenüber lag ein Park, das war günstig, man konnte sich unbemerkt auf eine Bank setzen und lesen und gleichzeitig den Hauseingang und die Fenster im Auge behalten. Er war darauf gefasst, dass die Polizei etwas unternehmen würde. Er wurde nervös: Was, wenn sie den Park überwachten? Was bist Du bloß für’n gottverdammter Vollidiot!, schalt er sich selbst. Kein Mensch würde sich bei den arschkalten Temperaturen in den Park setzen und lesen; auffälliger ging‘s nicht. Er würde sich zurückziehen müssen, vorsichtiger sein. In der Wohnung tat sich plötzlich etwas. Henriette trat ans Fenster und zog die Vorhänge zu – irgendwas ging da vor sich. Gut sah sie aus. Unscharf sah er Figuren hinter den hellgelben Vorhängen hin- und herhuschen. Auch der dunkelblaue VW-Passat mit der wartenden Person sprach für die Anwesenheit der Polizei.
Er war nicht dumm. Wenn er wirklich so dumm wäre, wie sie alle dachten, würde er so etwas wie das hier organisatorisch gar nicht auf die Reihe bekommen. Gedankenverloren wanderte er durch den verschneiten Park.
Irgendwie waren in Bezug auf ihn immer alle resigniert.
Einmal hatte er zu einer Berufsberatung gehen müssen. Der Sachbearbeiter hatte gelangweilt durch seine Bewerbungsmappe geblättert und ihn dann mit zusammengezogenen Augenbrauen angesehen: „Zumindest sind wenig Rechtschreibfehler in der Bewerbung.“
Ich bin kein Analphabet, hatte Zac gedacht.
„Sie wissen aber schon, dass für Jobs in der IT-Branche grundsätzlich das Abitur vorausgesetzt wird?“
Zac vermeinte den Anflug eines abschätzigen Grinsens auf dem Gesicht wahrgenommen zu haben. Die Schere hatte vor ihm auf dem Schreibtisch gelegen und es hatte ihn impulshaft überkommen, sie dem Arschloch ins Auge zu rammen. Es war nicht einfach gewesen, es zu unterdrücken, aber er wusste natürlich, das man so was nicht machte, jedenfalls normalerweise nicht.
„Ich will ja nicht gleich Softwareentwickler werden. Irgendwas mit PCs halt, wo man die aufbauen, abbauen und einfache Reparaturen machen muss. Mach ich bei meinen Kumpels auch ohne Abitur.“
„Na, das können Sie ja Ihrem zukünftigen Arbeitgeber erzählen, woran die interessiert sind, sind Zeugnisse und die Noten die draufstehen.“ Er hatte resigniert einen Ordner aus dem Regal gezogen. „Wir gucken mal, ob wir eine passende Maßnahme finden.“
Um Arbeit hatte er sich lieber selbst gekümmert. Er hätte auch Hartz IV machen können, aber auf das ewige Zum-Amt-Gerenne, Anträge ausfüllen, irgendwelche bescheuerten Maßnahmen und dass die dauernd in seinem Leben rumgeschnüffelt hätten, darauf hatte er keinen Bock.
Seinen ersten Job hatte er durch Zufall bekommen. Just, als er einen der Vorgesetzten nach Arbeit fragte, kam jemand rein und meinte, der PC xy würde nicht funktionieren. Der Typ hatte grinsend gemeint: „Na, dann gucken Se mal, ob Sie das Ding zum Laufen kriegen!“ Es hatte kaum fünf Minuten gedauert. Zurzeit arbeitete er für ein großes Callcenter mit angrenzenden Büros, kümmerte sich um die EDV-Technik. Da war er gut drin. Auch seinen Spitznamen hatte Zac daher: Er hatte sich in einem Computerrollenspiel so genannt. Der Name gefiel ihm, und inzwischen nannten ihn alle so. Er war das jetzt.
Zac merkte erst, dass er die ganze Zeit vor sich hin geträumt hatte, als die Haustür aufging und Henriette in ihren Laufsachen auf die Straße trat. Sie ging also trotzdem laufen: Mit oder ohne polizeiliche Überwachung? Die Vorhänge waren wieder offen.
In ruhigem Schritt ging er in Richtung des anderen Endes des Parks – ein Spaziergänger mit einer dunklen Wollmütze. Er würde sich gründlich vorbereiten müssen.

◊ ◊ ◊

1. Laufeinsatz
Henriette kam von der Arbeit. Heute war ihr erster Laufeinsatz. Als sie ihr Wohnzimmer betrat, sah sie Hansen über den Stuhl mit ihren Laufsachen gebeugt, ihren Sport-BH bedächtig in den Händen hin- und herdrehend und dabei betrachtend. Hektisch legte er ihn zurück auf den Stuhl, als er sie bemerkte. Männer!,

dachte sie kopfschüttelnd. Sie ging nicht näher darauf ein.
Henriette zog sich die lange Thermounterhose an, darüber die leichte Jogginghose, der GPS-Sender wurde an ihrem T-Shirt angebracht und noch mal extra fixiert, ebenso ein kleiner Notrufknopf, darüber zog sie noch eine Neoprenjacke, dann die Turnschuhe: fertig. Sie trat nach draußen und lief über die Straße in den Stadtpark.
Der Winter hielt das Land in seinen eisigen Klauen, und die kahlen Bäume streckten ihre knorrigen Äste in den mondbeschienenen, klaren Abendhimmel. Der wenige Schnee knirschte rhythmisch unter Henriettes Füßen. Wenn es nur nicht so kalt wäre. Sie konnte sich aussuchen, ob ihr die Kälte allmählich in Mark und Bein kroch oder sie schneller lief und ihr die eiskalte Luft bei jedem Atemzug die Lunge zerschnitt. Mulmig war ihr, aber sie hatte das unbestimmte Gefühl, dass heute Abend nichts passieren würde. So schnell würde der nicht zuschlagen. Von daher trabte sie locker durch den knirschenden Schnee und beobachtete die weiße Dampfwolke der Ausatemluft, die sie vor sich hertrieb. Sie erreichte den Waldrand, das Dickicht wurde dichter, das Gelände unübersichtlicher, und sie begann, ihre Umgebung zu beobachten. Plötzlich sah sie ihn, in Hockstellung hinter einem Strauch. Ihr Herz pochte schlagartig. Unwillkürlich stoppte sie abrupt ab, spätestens jetzt würde er wissen, dass sie ihn bemerkt hatte. Es herrschte absolute Stille, sie nahm nur ihren Herzschlag in den Ohren pulsierend wahr. Sie musste ruhig bleiben, sich runterfahren, sonst würde sie keine folgerichtige Entscheidung treffen. Ein scharfer Windstoß pfiff eiskalt über das Land, die dürren Äste wiegten sich und wurden in ihm mitgezogen, und da war die Figur im Gesträuch verschwunden. Es war nur eine Überinterpretation ihres nervösen Geistes gewesen. Nur eine Illusion. In dem ruhenden Zweigwerk konnte man im dämmrigen Licht der Straßenlaterne eine Männerfigur vermuten. Sie lief weiter und erreichte immer noch klopfenden Herzens ihre Wohnung, den rettenden Hafen.
„Du bist zwischendrin stehen geblieben?”, Lars sah sie an, sie waren inzwischen per Du.
„Ich hab mich nur kurz erschreckt. War aber niemand da.”

◊ ◊ ◊

Zac war in seiner Wohnung zurück. Es war gerade 19 Uhr. Er saß auf dem zerschlissenen braunen Wohnzimmersofa vor kahlen Wänden. Der Abend fühlte sich leer und hohl an, schlimmer noch als der Tag: jeder stupide und gleichförmig ablaufend.
Manchmal kamen nachts Szenen von früher hoch. Seine Mutter, die teils stöhnend, teils kreischend mit einem ihrer Liebhaber zugange war. Es lag dann eine Menge “Spielzeug“ rum, von dem er erst im Pubertätsalter begreifen sollte, wozu es gut war. Er selbst, der halb neugierig, halb erschreckt um den Türspalt spähte. Seine Mutter fuhr ihn dann immer barsch an, er solle sich verpissen, und er verzog sich stumm. Sie wechselte ihre Männer ziemlich häufig. Einer von denen musste wohl sein Vater gewesen sein, er hatte ihn nie gesehen. Zumindest war sie schlau genug, die Typen rauszuschmeißen, wenn die anfingen, sie zu schlagen oder ihn zu schlagen oder ihr die Kohle abzuziehen. Sie hatte immer diesen säuerlichen abgestandenen Geruch an sich. Er hasste das und strampelte sich los, wenn sie ihn in den Arm nehmen wollte. Später sollte er lernen, dass es der billige Schnaps war, den sie trank. Immerhin kriegte sie es hin, dass es nach außen nicht auffiel. Sie verschwand ganz normal täglich zur Arbeit. Was sie machte, wusste er nicht, viel blieb dabei offensichtlich nicht übrig. Wenn sie ihm am Ende des Monats wortlos nur noch Nudeln-mit-Ketchup-Fraß vorsetzte. Wenn er widerwillig hungrig das Zeug runterwürgte und seine Mutter sah, die ihm, ruhig an ihrer Zigarette ziehend, dabei zusah, formte es einen dumpfen Klumpen in seinem Leib. Er wusste nicht zu fühlen, ob es der Hunger war oder der Widerwillen, Wut oder Traurigkeit, ein Benötigen oder ein Vermissen. Und wenn er nichts zu sagen und nichts zu konkretisieren wusste, fraß es sich in ihn hinein, wie ein Gewürm, dass sich in ihm wand und verkrampfte, und er bekam einen seiner Anfälle. Es warf ihn zu Boden, er strampelte, schrie sie an, trommelte mit geballten Fäusten in seinen Leib und zerrte mit den Händen an seiner Bauchdecke, als könnte er es aus sich herausreißen. Es half auch irgendwie. Sie sah ihn meist nur fragend an, selten weinte sie.

◊ ◊ ◊

20.01.2011



Lars war an seinem freien Tag im Fitnessraum der Polizeidienststelle und stemmte Hanteln – in der Muckibude, wie es im Dienststellenjargon hieß. Während er monoton die Hanteln hob und senkte, grübelte er darüber nach, was ihn an Henriette faszinierte. Eigentlich passte sie gar nicht in sein Beuteschema. Vielleicht war es die Tatsache, dass sie ihn faszinierte. Sie war eigentlich nicht hässlich, aber eine von den Frauen, bei denen er den dringenden Impuls verspürte, sie in die nächste Typ- und Kosmetikberatung zu schleppen. Er konnte sich ausmalen, was sie ihm bei dem Vorschlag entgegenschmettern würde, und musste bei dem Gedanken grinsen. Na ja, mit Frauen gegenteiligen Kalibers hatte er in den letzten Jahren genug schlechte Erfahrungen gemacht. Vielleicht war es gerade das. Er wollte etwas anderes. Eine, die es ernst meinte; eine, die blieb. Jemand ernsthafteres als Henriette hatte er kaum je getroffen. Aber es umgab sie etwas, wie eine unsichtbare Wand, gegen die man immer wieder stieß. Wie ein wertvolles Ausstellungsstück in einer Glasvitrine, das man andächtig betrachten, aber nicht berühren konnte. Er besah kritisch sein Spiegelbild: Nicht übel, dachte er sich, als untrainiert konnte man ihn wahrlich nicht bezeichnen. Henriette aber reagierte gar nicht auf ihn, außer wenn es ihm gerade nicht gut ging, wahrscheinlich war das in ihrem Fall einfach berufsbedingt. Letztens hatte er mit hängenden Armen am Überwachungs-PC gesessen. Sie hatte ihm spontan über den Rücken gestrichen, ähnlich wie sie es bei ihren kleinen Patienten tat, und gemeint: „Na, was ‘n los?“, und ihn mit ihren großen blauen Augen angeschaut. Er fand es beruhigend, ihr gegenüber nicht das Gefühl zu haben, immer stark sein zu müssen.

21.01.2011



Im Polizeipräsidium begannen sie, sich nebenbei wieder mit anderen Fällen zu befassen. Lars war nicht so recht bei der Sache. Er stützte den Kopf in seine Hände und überlegte, ob sie irgendetwas übersehen hatten, irgendeine Verbindung. Aber die Spuren waren alle ausgewertet. Alle auch nur annähernd verdächtigen Personen überprüft. Sie konnten nur noch überwachen und warten.
Lars und Hansen fuhren gegen Abend zu Henriettes Wohnung.

2. Laufeinsatz
Henriette sah blass aus, als sie nach Hause kam. „Ich werde heute durch keinen scheiß Wald rennen. Vergessen Sie‘s.“, schmetterte sie Hansen entgegen, steuerte schnurstracks auf ihr Schlafzimmer zu, knallte die Tür hinter sich ins Schloss und drehte den Schlüssel im Türschloss hörbar um.
Lars folgte ihr und klopfte leise an die Tür: „Henriette, was ist denn passiert?“
„Ach nichts“, klang es kloßig durch die verschlossene Tür.
„Komm schon. Mach die Tür auf. Bitte!“
Henriette öffnete leise die Tür einen Spalt und spähte hindurch. Sie sah sichtlich verheult aus. „Heute echt nicht!“
„Was ist denn? Komm, sag schon“, bat er.
„Der Tobi ist gestorben“, sie schluckte. „Erinnerst du dich? Der Junge mit dem Hirntumor.“
Lars schob sich vorsichtig durch die Tür.
„Eigentlich wussten wir ja, dass er sterben muss, aber das ging dann doch ziemlich schnell, und außerdem war Tobi einer der Ersten, die ich mitbetreut habe. Ich weiß noch genau: Am Anfang, ich musste ihm einen venösen Zugang legen und das hat nicht geklappt. Ich hab da ewig rumgestochert, und da saß dieser kleine Kerl aufrecht in seinem Bett und hat nur total abgeklärt gemeint: ‚Macht nichts Doktor, ich hab halt Scheißvenen.‘“
Henriette fiel zitternd auf dem an der Wand stehenden Sofa in sich zusammen. Sie hatte die Bilder noch genau vor Augen: Wie sie ihm nach der großen Operation den Kopfverband gewechselt hatte und ihm immer schwindelig gewesen war. Die Chemotherapie, die ausfallenden Haare, die Übelkeit und das Erbrechen, die Schwäche, trotzdem das Weiterwachsen des Tumors, Bewusstseinseintrübung, Atemlähmung, Koma. Und sie konnten nichts weiter tun, als die übelsten Symptome zu bekämpfen. Sie hatte nicht mal mehr die Chance gehabt, ihm zu sagen, was für ein tapferer kleiner Kerl er war. Schließlich die ruhig hantierenden Oberärzte zur Hirntoddiagnostik. Wie sie alle betreten auf die durchlaufenden Nulllinien auf dem Überwachungsmonitor gestarrt hatten. Das tote Kind. Und wie immer fand sie es bizarr, wie warm er noch war. Sie hatten gewartet, bis sichere Todeszeichen eingetreten waren, bevor sie ihn in den Leichenkeller gebracht hatten. Sie schlang die Arme um ihre angezogenen Knie, die Tränen liefen. „Das ist so gemein. Und dann noch die heulenden Eltern dazu.“ Der Schmerz brannte tief. In der Klinik hatte sie nicht geweint.
Lars setzte sich neben sie und legte den Arm um sie.
So saßen sie da, als Hansen den Kopf durch die Tür steckte: „Ich störe das heimelige Tête-à-Tête ja nur ungern, aber was bitte ist hier los?“

„Hm“, Hansen wiegte den Kopf hin und her, nachdem er die Geschichte gehört hatte, und lächelte Henriette milde an. „Ich verstehe Sie gut. Ich selbst habe schon mehrfach Eltern sagen müssen, dass ihre Kinder tot sind. Das ist alles andere als lustig. Wir lassen das heute. Erholen Sie sich erst mal. Sollen wir vielleicht Dr. Gärtner holen?“
„Nein, nein”, winkte Henriette ab, „ich kenne das. Heute ziehe ich mir die Decke über den Kopf, morgen geht‘s wieder.”
„Sie sind vielleicht ein bisschen zu weich für den Job.”
„Ich denke nicht“, erwiderte Henriette, „solange man noch fühlt und nicht total abstumpft, ist man noch ganz gesund.”
Hansen winkte Lars zu sich aus der Tür: „Ich beobachte Sie mit Sorge, Hegenwaldt. Sie verlieren langsam Ihre Objektivität, und ohne die denkt und reagiert man irrational und wird so einen Fall nie lösen.“
Hansen hatte recht, aber Lars war seine Objektivität gerade ziemlich egal.


◊ ◊ ◊

Zac saß nach der Arbeit auf dem Sofa und las ein Buch. Er war der Einzige von seinen Kumpels, der jemals las ,und die verstanden das auch nicht. Meist las er Mittelalterromane oder Comics oder Computerzeitschriften. Er musste an Edgar denken. Es war Edgar gewesen, der ihm das Lesen beigebracht hatte, dafür war er ihm bis heute dankbar. Edgar war total anders als die anderen Lover seiner Mutter, irgendwie passten sie überhaupt nicht zusammen. Zac konnte sich kaum entsinnen, dass er seine Mutter und ihn je hätte reden hören. Edgar redete überhaupt nicht viel. Seine Mutter sagte immer, er käme einfach nicht aus‘m Knick und würde ansonsten auch keine Frau abgeschleppt kriegen. Er lief ständig in so‘nem Beamten-Outfit rum. Was er genau machte, wusste Zac nicht, aber es musste ein langweiliger Bürojob sein. Er ging jeden Morgen pünktlich und kam jeden Nachmittag pünktlich nach Hause, war immer flüssig, trank nicht und wurde nicht gewalttätig.
Die erste Klasse war an Zac ziemlich spurlos vorübergegangen. Seine Klassenlehrerin äußerte seiner Mutter gegenüber zunehmend Besorgnis. Je nach Laune kümmerte es sie entweder nicht oder sie bekam eine ihrer – wie Zac es nannte – Brüllattacken: „Deine Lehrerin sagt, du kannst nichts“, hallte es noch heute in seinen Ohren. „Du setzt dich jetzt auf deinen Arsch und lernst die Scheiße!“ Er blickte in harte, hagere Gesichtszüge.
Edgar schaute sich das Ganze stumm an. Am nächsten Tag hatte er ein Buch mitgebracht, es hatte große Buchstaben und viele bunte Bilder. Zac erinnerte sich nicht mehr, worum es in den Geschichten ging, aber dass Edgar mit ihm dasaß, mit einem Stift und einem Zettel und mit nicht enden wollender Geduld die einzelnen Silben auseinanderklamüserte, die Zac, auf Edgars Schoß sitzend, nach und nach lang gezogen vorlesen konnte. Aus Silben wurden Wörter, aus Wörtern Sätze, und Edgar lächelte ihn freundlich an und sagte ihm, dass er das sehr gut machte. „Sehr gut!“, es war das erste Mal, dass jemand so was zu ihm sagte, und es rief irgendwie ein wohlig warmes Gefühl in seinem Brustkorb hervor.
Irgendwann war Zac traurig und weinte, er wusste gar nicht warum, und Edgar nahm ihn in den Arm. Irgendwann lief Edgar zunehmend nackt in der Wohnung herum – nicht dass Zac das ungewöhnlich gefunden hätte, hatte er doch schon häufiger einen nackten Mann in der Wohnung gesehen. Irgendwann ging Edgar dazu über, Zac beim Baden abzuseifen – Zac fand das seltsam, war er doch eigentlich schon groß und hatte das schon alleine gemacht. Irgendwann setzte Edgar Zac auf seinen nackten Schoß – Zac wehrte sich nicht, war Edgar doch freundlich zu ihm, sein Freund. Irgendwann fand die Beziehung zwischen Edgar und seiner Mutter ein jähes Ende. Er erinnerte sich nur lückenhaft, was Edgar an diesem Tag von ihm verlangt hatte, spürte nur bis heute den ekligen Beigeschmack, der an der Erinnerung klebte.
Er wusste auch nicht, wo seine Mutter so plötzlich hergekommen war. Er erinnerte sich, wie sie völlig ausgerastet war. Seine Mutter konnte cholerisch sein, hysterisch sein, vor Wut um sich schlagen, Geschirr, Vasen und andere Gegenstände zertrümmern. Sie ritzte sich nach den Wutanfällen mit den Scherben die Unterarme, hatte es mehrfach geschafft, sich brennende Zigaretten auf den Handflächen auszudrücken. Ihn hatte sie nie geschlagen. Diesmal verlor sie völlig die Kontrolle. Sie trat und schlug auf Edgar ein, der sich leichenblass nicht mal wehrte. Sie schrie wie von Sinnen. Zac konnte sich nur an einen Ausdruck erinnern, den sie Edgar immer wieder wie eine Waffe um die Ohren schlug: „Scheiß Kinderficker!“ Und dann klappte sie von einem Moment auf den anderen in sich zusammen und heulte. Zac hatte seine Mutter noch nie so weinen sehen. Sie heulte wie ein Schlosshund: „Ihr scheiß Kinderficker macht alles kaputt; alles macht ihr kaputt.“ Sie zeigte auf die Tür und sagte nur ein Wort: „Raus!“, und Edgar ging: ruhig und ohne ein Wort zu sagen und tauchte nie wieder auf. Seine Mutter nahm Zac in die Arme und wiegte ihn hin und her. „Und ich hab dich mit dem perversen Schwein auch noch allein gelassen.“ Zur Polizei war sie nicht gegangen, war sie doch der Ansicht, dass die einem eh nicht halfen und man sich die Bullen lieber weiträumig vom Hals halten sollte.
Irgendwie hätte Zac interessiert, was aus Edgar geworden war. Er blickte ungläubig zurück und wünschte sich, Edgar hätte ihn gezwungen oder misshandelt, dann hätte es einen Grund gegeben. Aber Edgar hatte keine Gewalt angewandt. Zac hatte stillgehalten und akzeptiert, wie er immer stillgehalten und akzeptiert hatte. Er könnte sich bis heute bekotzen. Heute würde das niemand mehr mit ihm machen.
Seine Mutter war vor ein paar Jahren gestorben, sie hatte sich die Leber kaputtgesoffen. Abgeklappert bis auf den grotesk aufgedunsenen Hungerbauch, die Haut von aschgrau-gelber Farbe. Er konnte nicht sagen, was er gefühlt hatte; er hatte eigentlich gar nichts gefühlt. Es war halt der Lauf der Dinge.

◊ ◊ ◊


22.01.2011



3. Laufeinsatz
Henriette hatte den Tag über wie in Trance gearbeitet. Einen gewohnten Schritt des Tagesablaufs nach dem anderen. In Tobis Bett, gesäubert und desinfiziert, lag schon der nächste kleine Patient: Das Leben ging weiter. Sie war nach Hause gekommen, hatte sich ans Klavier gesetzt und den Raum mit Klängen und Melodien gefüllt, die ihrer Stimmung entsprechend aus ihrem Gedächtnis flossen. Sie hatte sich angezogen und verkabelt, war losgelaufen, von ihrem dritten Laufeinsatz noch außer Atem in die Wohnung zurückgekommen. Sie schlüpfte aus den schneematschverdreckten Turnschuhen und der Jacke und ging ins Klavierzimmer, wo Lars hinter dem PC saß. Die Anspannung wich aus seinem Gesicht, als er sie sah: „Ah, hi.“
„So, Feierabend!“, rief sie ihm fröhlich zu. Henriette hatte kein klassisches Wohnzimmer. Im Schlafzimmer stand längs an der Wand am Fußende des Bettes das helle Sofa und in der gegenüberliegenden Ecke des Raumes ein kleiner Fernseher. Henriette schlüpfte flink aus ihren Sportsachen in einen bequemen Hausanzug, streckte sich auf dem Sofa aus und stellte den Fernseher an.
Sie versuchte, dem Lauf des Filmes zu folgen, dessen Anfang sie nicht mitbekommen hatte. Allmählich verschwammen die Bilder vor ihren Augen, die Stimmen rückten in weite Ferne, dann versank alles in der Dunkelheit.

◊ ◊ ◊

Zac war abends, aus der sauberen Bürowelt mit den adrett erfolgreichen Anzugträgern und den fröhlichen Angestellten, die zu ihren Familien heimkehrten, in seine Welt getreten. Im Hausflur des Wohnblocks begrüßten ihn in einer Bierlache unter den Briefkästen liegende Glasscherben, unleserliche Graffitis an der Wand und der latente Geruch nach Kotze, Urin und Zigarettenkippen, der in Fluren und Treppenhaus hängen blieb, so sehr sie auch immer wieder putzten. Die Leute aus der sauberen Bürowelt wussten gar nichts.
In seiner Wohnung angekommen, saß er, wie so viele Abende und Nächte, in dem dunklen, nur vom Bildschirm beleuchteten Schlafzimmer und surfte im Netz. Die Luft roch schweißig und abgeatmet, aber es war zu kalt, um das Fenster zu öffnen. Er loggte sich ins Forum ein: Name, Passwort, immer das Gleiche. Routiniert klickte er sich durch die Suchfunktion: Sie war nicht im Forum gewesen und hatte folglich auch nichts geschrieben. Wie auch? – Sie würde sich garantiert nicht da einloggen, wenn dauernd ein Haufen Polizisten um sie herumsprang.
Zac überlegte, wann es angefangen hatte. Es war einfach da gewesen, in seinem Kopf, wie seine Haare und seine Nase. Manchmal hatte er das Gefühl, schon immer. Die ersten Male, als er nach seinen Anfällen erschöpft im Bett gelegen und immer noch den Klumpen im Bauch hatte. Es tobte und er hatte den Würmern und Schlangen die Köpfe verdreht, bis sie abrissen. Später wurde es wahllos: Tiere, Mädchen, Jungen, Männer, Frauen, gleichgültig, es mussten nur lebende Wesen sein. Sie zappeln zu lassen unter seiner Hand, seine Übermacht aus totaler Überwältigung. Manchmal erschienen ihm konkrete Personen. In seiner Fantasie hatte er keine Angst vor ihnen. Seine Vorstellungen wurden immer bunter. Sie gehörten zu ihm.
Er mochte zwölf gewesen sein, als er bemerkt hatte, dass sich sein Penis dabei veränderte, ein angenehmes Gefühl. Er wusste bereits, was es war. Er lernte, es selbst herbeizuführen, es einzusetzen, damit zu spielen, und die Fantasien bekamen eine andere Färbung. Gesichtslose Frauen, die Körper wie durch Milchglas verschwommen, nur die Hälse waren klar und deutlich. Er fand Frauenhälse ungeheuer ästhetisch, und gleichzeitig liebte er es, sie zu zerstören. An ihnen vollzog er absolute und intimste Formen der Unterwerfung, und es war körperlich so real, als würde er es wirklich tun. Es wirkte wie eine geheimnisvolle Stimulanz, die seinen Puls hochtrieb, ihm Schauer über den Rücken jagte, und die unbestimmte Dumpfheit wich einem Gefühl von Lebendigkeit und Größe. Er masturbierte geradezu süchtig. Oft kam er deswegen zu spät zur Schule.
Wenn sie ihn dort dissten, und das taten sie oft, hielt er einfach die Klappe und verzog sich. Er hatte das Bestreben der anderen, beliebt und cool zu sein, nie verstanden. Wie sie sich dafür verdrehten. Niemand mochte ihn, niemand kannte ihn, niemand redete mit ihm. Wozu auch? Sie konnten ihm egal sein. Die Spielregeln, um nicht anzuecken, hatte er kapiert. Wenn sie ihn doch mal wütend machten, er vor sich sah, wie er ihnen ins Gesicht trat oder mit dem Knie die Kehle zerdrückte, wenn er den Druck nicht mehr aushielt, ging er nach Hause und reagierte sich in seiner Welt ab. Manchmal benutzte er Frösche, um es zu intensivieren. Mit einem dünnen Draht ließ sich beim Strangulieren der Kopf glatt abtrennen, punktgenau auf den Höhepunkt steuerbar, aber in seiner Vorstellung waren es nie Frösche.

◊ ◊ ◊

Henriette wurde wach. Sie war in eine Decke eingewickelt und lag irgendwo – nicht in ihrem Bett. Der Schreck fuhr ihr in die Glieder. Sie setzte sich auf. Sie lag auf dem Sofa, und Lars saß neben ihr. Sie musste eingeschlafen sein. Henriette rieb sich die Augen. Er musste sie zugedeckt haben, die Decke – ihre Decke – war vorher nicht da gewesen. „Was machst du denn noch hier?“
„Ich pass auf dich auf.“
Sie schaute auf die Uhr: 22:57. „Willst Du nicht langsam nach Hause?“
„Da ist eh niemand.“
„Aber die sind doch mit einem Wagen vor dem Haus postiert?“, fragte Henriette zweifelnd.
„Ja“, nickte Lars.
Henriette lachte leise. „Oh Mann, ich möchte nicht wissen, was die sich da draußen zusammenspinnen, wenn du um die Uhrzeit hier rausgestiefelt kommst.“
Lars blickte auf die Bierflasche, die er in seinen Händen hin- und herdrehte. „Ich wünschte, sie hätten recht damit.“ Er hatte es unüberlegt ausgesprochen und wusste im selben Moment, dass er das Falsche gesagt hatte. Henriette stand schweigend auf und legte langsam die Decke exakt zusammen.
„Tschuldigung, ich geh dann wohl besser.“
Henriette sah ihn einen warmen Augenblick lang an: „Gute Nacht und danke fürs Aufpassen.“

23.01.2011



Henriette war nachdenklich, als sie am nächsten Tag nach der Arbeit nach Hause fuhr wie auf einem ruhigen Fluss, die monoton weiße Außenwelt an sich vorbeiziehend. Neigte sie doch von jeher dazu, Dinge hinterfragend in ihrem Geist hin- und herzuwiegen. Natürlich hatte sie sich gefragt, warum sie anders war als die anderen. So hatte sie ihre Kindheit seziert, die Male aufaddiert, an denen ihr Vater sie schlecht gelaunt angeschimpft hatte, sie mit ihrer Mutter gestritten hatte, weil sie sich nicht wie die anderen Mädchen verhalten wollte. Ihre leichte Sonderlingsstellung in der Schule, immer leicht außerhalb des Kreises, ohne eigentlich aus ihm herausgemobbt worden zu sein. Sie selbst hatte sich herausgehalten, um weder verständnisloses An-die-Stirn-Tippen noch mitleidige Blicke zu riskieren, sei es offen oder heimlich. Und sie wusste genau, was sie sagen und welche Ausreden sie wählen musste, um alles normal erscheinen zu lassen: die perfekte Fassade. Niemand hatte je wirklich hinterfragt.
Henriette war angekommen und schlidderte über die festgetretene Schneeplatte auf dem Bürgersteig auf ihre Wohnung zu. Sie konnte nicht umhin, sich einzugestehen, dass sie sich freute, Lars zu sehen.

4. Laufeinsatz
Es war 19:30 Uhr, als sie die Wohnung betrat, und ihr stand eher der Sinn danach, sich aufs Sofa kippen zu lassen und sich den Rest des Abends nicht mehr zu bewegen, als im Dunkeln bei Eiseskälte mit einem Peilsender durch den Park zu rennen.
Seufzend zog sie sich an, trat aus der Tür in die kalte Nachtluft und lief los. Wenn er heute zuschlug, würde sie ihm rein gar nichts entgegenzusetzen haben. Henriette hatte nicht mal mehr Energie, noch Furcht zu empfinden, sie war selbst erstaunt darüber. Eigentlich müsste sie Angst haben, aber vielleicht war das sogar die bessere Variante. Sie setzte in einem gleichmäßig langsamen Trapp Trapp, die immer schwerer werdenden Füße einen vor den anderen, verfiel ins Gehen und blickte in den klaren Nachthimmel die Sterne an. Sie waren so schön, warum sollte sie sich immer quälen?
Auf der Brücke über dem Fluss blieb sie stehen. Der Strom rauschte gleichmäßig unter ihr hindurch, und Mond und Sterne spiegelten sich verzerrt im dahinfließenden Wasser. Sie ließ den Blick über die schneebedeckte Landschaft schweifen und atmete die klare Luft tief ein. Wie schön war das, was man jeden Tag um sich hatte und doch so selten bewusst wahrnahm. „So sind gar manche Sachen, die wir getrost belachen, weil unsre Augen sie nicht sehn“ , zitierte sie still. Vielleicht würde sie nie wieder die Chance haben, die Natur, die Sterne, den Mond zu betrachten.
Sie kürzte ihre Runde etwas ab und stieg langsam die Treppenstufen zu ihrer Wohnung hinauf.

„Du siehst fertig aus“, lächelte Lars sie an.
„Ich bin fertig!“, Henriette setzte sich erschöpft auf die Bettkante. Lars setzte sich neben sie, legte den Arm um sie und strich ihr über die Schulter. Irgendwie wusste er, dass er das heute tun konnte.
Henriette lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Sie hatte in letzter Zeit viel nachgedacht. Sie konnte sterben. Natürlich wusste sie, dass sie sterben musste, aber das erste Mal in ihrem Leben wurde die Möglichkeit des Todes konkret. Sollte man nicht den Moment bewahren? Sie hatte geradezu schmerzliche Sehnsucht danach, einfach so sitzen zu bleiben. Vernünftig wäre es, Lars abzuschütteln. Wenn er sie nur nicht immer mit so traurigen braunen Hundeaugen ansehen würde.
Er legte den anderen Arm um sie, umschloss sie und küsste vorsichtig ihre Stirn. Es war ein kurzer intimer Moment. Henriette löste sich aus der Umarmung und räusperte sich verlegen: „Ich schätze, das geht jetzt akut in die falsche Richtung.“
„War es so unangenehm?“
Henriette überlegte und sagte dann mit leicht sarkastischem Unterton: „Gehört so was auch zum Standard im Personenschutz?“
Lars spürte Enttäuschung in sich hochsteigen, Enttäuschung und einen Teil Traurigkeit und Verzweiflung. „Ach Mann! Ich bin doch nicht nur Polizist, ich bin auch ein Mensch!“
Henriette blickte ihm nur kurz in die Augen und nickte verstehend und, wie er meinte, fast ein bisschen traurig. „Das weiß ich.“
Sie musste ihm die Wahrheit sagen, sie wollte ihm die Wahrheit sagen – und sie hatte Angst vor der Reaktion.

◊ ◊ ◊

Zac wanderte unruhig in seiner Wohnung umher. 'Ne Freundin hatte er nie gehabt. Mit siebzehn hatte er versucht, mit einem Mädchen aus dem Viertel zu schlafen. Er hatte es ausprobieren wollen, machten doch alle, und hatte das Mädel abgeschleppt. Sie war widerstandslos mitgegangen, nachdem er sie charmant vollgelabert und ihr ein paar Drinks spendiert hatte. Unwillkürlich hatte er ihr die Hände um den Hals gelegt, und mit der zweifelnden Angst in ihren Augen kam erstmals Erregung auf. Seine Hände hatten um ihren Hals gezittert. Die Tatsache, dass sie unter ihm strampelte, um wegzukommen, hatte ihn weit mehr erregt als ihre Nacktheit. Er wurde von dem heftigen Drang überrollt weiterzumachen. Er kämpfte, er war schweißgebadet. Hör auf! Nicht jetzt, nicht hier!

Plötzlich war ihm der Gedanke gekommen, wer da schon alles drübergerutscht war, und er fand sie nur noch eklig – und es war vorbei. Er hatte von ihr abgelassen. Sie war mit geweiteten Pupillen zurückgewichen und heilfroh, als sie da raus war. Sie hatte einfach nur ein bisschen Spaß haben wollen, aber so was hatte sie noch nicht erlebt. Sie hatte lange fröstelnd zu Hause gesessen, das überhebliche Grinsen vor Augen, dass kein Lachen war, nur der Mund zu einer hässlichen Fratze gezogen, die Augen ausgespart, sich mechanisch hektisch hin- und herbewegend. Sie wusste nicht, was er wahrgenommen hatte, jedenfalls nicht sie. Sie erzählte niemandem davon, dafür gab es keine Beschreibung.
Er stellte fest: Die Realität war noch weit intensiver als jedes Vorstellungsvermögen. Die Flittchen aus seinem Viertel wollte er nicht, das war ihm dann auch klar. Dann hatte er ein Mädchen gesehen, auf dem Spielplatz, sie war ungefähr zwölf und hatte die ersten Anzeichen, dass aus ihr eine Frau werden würde, und sie war schön. Aber noch war sie ein Kind, und Kinder reizten ihn nicht. Er stellte sie sich vor, wie sie aussehen musste, wenn sie erwachsen geworden war. Und irgendwie durchzuckte sein Gehirn der Gedanke, dass es prinzipiell möglich wäre, sie abzufangen, bevor sie sich von jemand anderem flachlegen lassen würde, und diese Vorstellung fraß sich in sein Gehirn wie ein bösartiger Tumor. Von da an drängten die Vorstellungen gefährlich nach außen. Immer öfter lösten Frauen, die ihm gefielen, übermäßige Fantasie-Orgien aus. In seinem Kopf tat er es jeden Tag. Aber in der Realität wahllos irgendeine anzufallen, war niveaulos – sie musste passen, auch wenn der Druck ins Unerträgliche stieg.
Und irgendwann vollendete er es, und danach war er wohlig erschöpft und endlich ruhig. Sie taten ihm genauso wenig leid wie Tiere im Schlachthaus.

◊ ◊ ◊


Lars blickte Henriette direkt in die Augen.
„Ich kann so nicht weitermachen“, Lars machte eine Pause, „Henriette, du weißt es doch im Grunde.“
Sie nickte stumm und atmete tief durch.
„Versprich mir etwas“, sie sah ihn durchdringend an „Was ich dir gleich erzählen werde, wirst du niemandem sagen, auch deinem besten Freund nicht. Ich erzähle dir das, weil ich sehe, dass du unter der Situation leidest und ich der Ansicht bin, du hast es verdient, nicht mit irgendeiner billigen Ausrede abgespeist zu werden. Ich hoffe, du weißt das zu schätzen. Versprichst du‘s mir?“
Lars nickte: „Okay.“
„Also“, fing Henriette nach einer Pause an, „ich kam in die Pubertät und stellte fest, dass ich nicht auf Jungs stehe, zumindest nicht in der Weise, wie die anderen Mädchen in meinem Alter.“
„Oh nein!“, Lars schloss die Augen und wand sich, „Ich hab‘s geahnt.“
„Nein, nein, ich bin nicht lesbisch. Es ist anders.“ Henriette holte tief Luft. „Zunächst hab ich gedacht, ich sei eben ein Spätzünder, das kommt schon noch. Irgendwann war ich aus dem Alter, in dem ich mir das einreden konnte, definitiv raus. Dann hab ich mir ernsthaft Gedanken gemacht, ob ich vielleicht lesbisch sein könnte, aber ich stehe nicht auf Frauen. Dann war ich verwirrt.“
Sie wandte das Gesicht leicht von ihm ab und sprach mit fester Stimme: „Ich weiß nicht, ob ich‘s verständlich erklären kann: Ich kenne kein körperliches Verlangen, ich weiß nicht, wie es sich anfühlt, einen Menschen sexuell attraktiv zu finden. Ich habe es für mich in meiner Jugend immer so formuliert: Die meisten sind heterosexuell, einige sind homo- oder bisexuell und ich bin irgendwie gar nichts: asexuell eben.“
Sie redete. Sie versuchte zu erklären, wie verwirrend es gewesen war, etwas zu sein, was es laut Biologie, Medien, allen anderen um einen herum nicht geben konnte. Wie sie während des Studiums alle erdenklichen Fachbücher durchwühlt hatte, auf der Suche, was mit ihr los war, und nichts gefunden hatte, das wirklich gepasst hätte.
„Meines Erachtens bin ich einfach so auf die Welt gekommen, und darunter, dass ich keinen Sex habe, leide ich auch nicht. Man leidet ja nicht unter dem Fehlen von etwas, wonach man von vornherein kein Bedürfnis hat“, schloss sie.
Lars blickte sie verständnislos an.
„Ich bin kein emotionaler Krüppel“, fuhr sie fort. „Ich habe ganz normale menschliche Gefühle und kann mich auf emotionale Art verlieben. Eine Zeit lang hab ich überlegt, ob es nicht die bessere Variante wäre, eine Beziehung einzugehen und den Sex in Kauf zu nehmen. Aber – Tschuldigung, wenn ich das jetzt drastisch ausdrücke – ich glaube, ich wäre imstande, mich da hinzulegen und mechanisch die Beine breitzumachen, aber das würde im Kern das Problem nicht lösen und ich würde mich dabei auf Dauer kaputt machen.“
„Moment“, Lars schüttelte ungläubig den Kopf, „willst du mir jetzt sagen, dass du noch nie einen Freund und noch nie Sex hattest?“
„Exakt.“ Henriette sah ihm geradeheraus fest in die Augen.
Lars schüttelte den Kopf: „Das glaub ich jetzt einfach nicht. Woher willst du wissen, dass du keinen Sex magst, wenn du‘s nie probiert hast?“
„Woher willst du wissen, dass du nicht schwul bist, wenn du noch nie mit ‘nem Mann im Bett warst?“, konterte sie.
Lars war gebannt: „Was machst du, wenn du dich verliebst?“
„Ich ignoriere es und halte Abstand.“ Henriette zuckte mit den Schultern. „Die Wahrscheinlichkeit, jemanden zu treffen, der das akzeptiert, ist nun mal denkbar gering, das weiß ich realistisch einzuschätzen. Im Wesentlichen habe ich mein Leben aufs Alleinsein eingerichtet – damit kann ich umgehen.“
„Henriette?“, sagte Lars leise, „Die eigentlich entscheidende Frage hast du mir nicht beantwortet: Empfindest du etwas für mich?“
Henriette kaute verlegen auf ihrer Unterlippe: „Wenn‘s nicht so wäre, hätte ich hier nicht so‘n Seelenstriptease hingelegt. Aber ich glaube, du hast es noch nicht verstanden: Du müsstest auf etwas verzichten, das du nun mal brauchst.“
Er zog ihren Kopf sanft zu sich herum: „Vielleicht könntest du es mir überlassen, zu beurteilen, was ich brauche und was nicht und auf was ich verzichten kann und auf was nicht.“

Lars war schließlich nach Haus gefahren. Er hatte das Gefühl, in seinem Kopf surrte alles durcheinander. Das war unglaublich und doch irgendwie stimmig. Was bedeutete das für ihn, und was sollte er jetzt machen? Lars griff sich, zu Hause angekommen, ein Bier aus dem Kühlschrank und ließ sich in einen Sessel fallen, schloss die Augen und versuchte, zunächst den Kopf klar zu bekommen. Und plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Genau das war der Schlüssel! Lars sprang auf, er musste Dr. Gärtner anrufen.

Susanne Gärtner hatte schon geschlafen, als das Telefon klingelte, ihr Mann neben ihr warf sich brummelnd auf die andere Seite. Sie beschloss, es einfach klingeln zu lassen, aber für den Anrufer war es augenscheinlich wichtig. Das Klingeln nahm kein Ende, bis Susanne schließlich entnervt den Hörer abnahm. Lars Hegenwaldt, hörbar aufgewühlt: „Susanne, ich hab‘s! Ich hab den Schlüssel zu unserem Fall! Wir müssen uns treffen.“
„Jetzt? Geht das nicht am Telefon?“
„Nein, ich muss das Auge in Auge besprechen.“
Susanne Gärtner wälzte sich schwerfällig aus dem Bett und seufzte, Lars Hegenwaldt hatte eine so jungenhafte Art, die sie fatal an ihre Söhne erinnerte. Sie konnte ihm einfach nie wirklich böse sein.

Fünfzehn Minuten später saß Lars in Susanne Gärtners privatem Arbeitszimmer. „Frau van Kampen hat mir etwas erzählt, was den ganzen Fall in einem anderen Licht erscheinen lässt.“ Er räusperte sich: „Sie ist komplett unberührt.“
Dr. Gärtner blickte ihn irritiert an: „Was meinst du damit?“
„Sie ist jungfräulich.“
„Sie ist was? Wie jetzt? Und wenn es so ist, warum erzählt sie dir das?“
„Ja, wie soll ich anfangen“, er blickte Hilfe suchend umher, „ich hab ja nun zwangsläufig viel Zeit mit ihr verbracht.“
„Und hast dich in sie verliebt“, unterbrach ihn Dr. Gärtner.
„Ist das so offensichtlich?“ Lars wurde rot.
„Wenn man ein bisschen Beobachtungsgabe hat und eins und eins zusammenzählt°...“
Er stockte: „Ja, es ist so. Ich hab es ihr gesagt, und daraufhin hat sie ‘s mir erzählt. Sie sagte, sie sei asexuell, was bedeutet, wenn ich das in dürren Worten wiedergeben soll, sie hat von Natur aus kein Interesse an Sex in irgendeiner Hinsicht. Die Parallele zu den anderen Opfern ist: Alle waren sexuell unberührt. Der Täter hatte kein rechtsextremistisches Motiv, er steht auch nicht auf ganz junge Frauen, im Gegenteil, er findet wahrscheinlich erwachsene Frauen attraktiv, nur: Erwachsene jungfräuliche Frauen sind in Westeuropa eben selten. Bei dem strenggläubigen familiären Hintergrund der anderen Opfer konnte er davon ausgehen, dass sie jungfräulich waren.“
Susanne Gärtner zog die Stirn in Falten: „Klingt erst mal schlüssig, wenn das mit dem asexuell tatsächlich stimmt.“
„Ist so was beschrieben?“, fragte Lars.
„Na ja, was beschrieben ist, ist Sexualphobie, teils gekoppelt mit pathologischen Ekelgefühlen, und der Begriff des kompletten sexuellen Appetenzverlustes, als Störung, jeweils nach schweren psychischen Traumata oder als Folge von Misshandlung, Vernachlässigung, Missbrauch oder im Rahmen von Erkrankungen wie schwerer Depression oder Magersucht. Gelesen hab ich davon, dass es einen vergleichbaren Zustand ohne psychiatrische Komorbiditäten und ohne Leidensdruck für die Betroffenen geben soll, aber man wird das im Einzelfall hinterfragen müssen.“ Sie blickte Lars erwartungsvoll an: „Du glaubst ihr?“

24.01.2011



Lars hatte Magengrummeln, als er am nächsten Morgen vor Hansens Büro stand. Er hatte frühmorgens um einen Termin gebeten und gleich um acht Uhr einen bekommen. Ihm war verdammt unwohl dabei, es Hansen zu erzählen, aber der musste es ja sowieso erfahren.
„Ich habe vielleicht den Schlüssel dazu, warum der Mörder es gerade auf Frau van Kampen abgesehen hat.“
Hansen blickte ihn gespannt über seinen Brillenrand hinweg an.
„Henriette van Kampen ist noch Jungfrau.“
„Was?!“ Hansen stieß ein kurzes Lachen aus, „Schnucki, das hat sie dir also erzählt?!“
„Ja, und ich halte es für glaubwürdig.“
Hansen stieß einen verächtlich grunzenden Laut aus. „Verarschen kann ich mich auch alleine. Schaff die Kleine her.“

Gegen Abend stieß Henriette die Glastür zum Präsidium auf und stapfte durch den Flur unbeirrt auf Lars‘ Büro zu. Sie hatte sich gar nicht erst die Mühe gemacht, ihre dicken Winterschuhe abzuklopfen, und hinterließ eine Spur grauen Schneematsches. Lars hatte ihr am Telefon unmissverständlich erklärt, warum sie noch mal aufs Revier kommen sollte.
Sie war stinksauer: „Is‘ ja toll! Da bist du als erste Maßnahme gleich losgerannt und hast mein nicht vorhandenes Sexualleben in der ganzen Polizeidienststelle breitgetreten. Na danke auch!“, fuhr sie ihn an.
„Nicht in der ganzen Dienststelle, nur den Verantwortlichen der Ermittlungskomission gegenüber. Das ist sonst echt nicht meine Art. Hör mal: Es ist wahrscheinlich der Schlüssel zur Aufklärung einer Mordserie. Einer Mordserie, deren nächstes Opfer du selbst sein könntest.“ Sie musste sich wohl oder übel rationalen Argumenten beugen: „Na, ich seh‘s ja irgendwo ein“, schmollte sie.

Hansen hatte entschieden, in so einem Sonderfall die Befragung durch Dr. Gärtner vornehmen zu lassen. Diese war extra länger geblieben.
„Dr. van Kampen, Sie werden verstehen, dass wir Ihnen ein paar Fragen stellen müssen, um den Wahrheitsgehalt Ihrer Angaben zu prüfen.“
Henriette nickte.
Dann ging sie die Liste durch: Beruf der Eltern, Anzahl der Geschwister, Auseinandersetzungen in der Familie, Kindheit und Jugend, Schulschwierigkeiten. Ob sie jemals sexuelle Appetenz gehabt habe, was Henriette verneinte: Es sei nie anders gewesen. Körperliche und seelische Erkrankungen, stattgehabte Missbrauchserfahrungen oder Vergewaltigungen, Misshandlungen, Vernachlässigung in der Kindheit, alles negativ. Bei dem Punkt: „phobische Angst- oder Ekelgefühle in Anbetracht des menschlichen Körpers oder bestimmter Körperteile“ musste Henriette lachen: „Ich glaube, das wäre mir in neuneinhalb Jahren Medizinerausbildung nun wirklich aufgefallen.“
Es ließ sich nichts Auffälliges erfragen: Vater Anwalt, Mutter Klavierlehrerin, zwei Geschwister, keine besonderen Vorkommnisse.
Das Einzige, was Henriette wirklich beeinträchtigte, war das Gefühl, sich nie aus der Deckung wagen zu können. Ihre Geschichte war, so glaubte sie, ungefähr das einzige, womit man heutzutage noch jemanden schockieren konnte. Sie hatte immer in dem Bewusstsein gelebt, dass ihr jeder vor den Kopf sagen würde, sie habe schlicht ‘ne Macke. Zu Pubertätszeiten das Horrorszenario des Spießrutenlaufens in der Schule vor Augen. Eltern, die sie von einem Psychiater zum nächsten schleppen würden. Bis heute hatte sie beschlossen, sich in einem Medizinerumfeld nicht mit etwas zu outen, was gemäß der allgemeinen Lehrbücher und Diagnoseklassifikationen eine psychische Störung darstellt. Sie kannte doch die Maschinerie: Wenn sie sagte: „Mir geht es gut, ich brauche keine Therapie“, wäre sie renitent und hätte mangelnde Krankheitseinsicht.
„Zwangsläufig zieht man sich zurück“, erklärte sie. „Es fängt ja schon damit an, dass man um bestimmte Gesprächsthemen und Situationen immer einen großen Bogen machen muss.“
„Sie haben nie mit irgendjemandem darüber gesprochen?“, hakte Dr. Gärtner nach.
„Meine besten Freunde wissen es, mein Bruder, zu dem ich ein ziemlich gutes Verhältnis habe. Mein Vater ahnt es, glaube ich, hat mich aber nie direkt darauf angesprochen. Meine Mutter und meine Schwester glauben schlicht, ich bin verschroben und seltsam. Die würden es auch nicht verstehen.“
„Das ist jetzt mehr eine persönliche Frage“, Dr. Gärtner blickte von ihrem Formular auf. „Wollen Sie mal Kinder haben?“
Henriette zögerte: „Sieht nicht so aus, als wäre das in meinem Fall eine realistische Option.“
„Mögen Sie Kinder?“
„Sorry, ich bin Kinderärztin, als Kinderhasser ist man in dem Beruf eher fehlbesetzt.“
„Und eine Beziehung mit einem normal orientierten Mann ist, unter welchem Kompromiss auch immer, ausgeschlossen ?“
Henriette kratzte sich am Kopf: „Weiß nicht, der Punkt ist, dass ich nicht glaube, dass das auf Dauer funktionieren kann. Ich glaube, eine Beziehung würde nur funktionieren mit jemandem, der genauso tickt wie ich.“
„Sie haben aber bisher nicht versucht, denjenigen zu finden?“
„Na ja, bis vor Kurzem dachte ich noch, ich sei der einzige Mensch auf diesem Planeten mit so einer Veranlagung.“

Die Tür sprang auf, und Hansen stapfte herein: „Sind Sie fertig?“ Er nahm Henriette mit in sein Büro. Lars hatte er als Zeugen in die Ecke des Raumes platziert.
„Was ich in fünfunddreißig Dienstjahren bei der Kripo an menschlichen Abartigkeiten nicht gesehen habe, gibt es auch nicht.“
„Ach so!“, entgegnete Henriette mit hochgezogenen Augenbrauen, „wenn so ein Typ drei Menschen missbraucht und grausam abschlachtet, na ja, das gab‘s schon immer und wird‘s auch leider immer mal geben. Aber so was wie ich ist abartig und gehört in die Psychiatrie, ja?“
„Na ja, aus der ganzen Konstellation heraus, und dann dem Kerl ohne mit der Wimper zu zucken den Haustürschlüssel in den Hals zu rammen – Sie haben doch ein Problem mit Männern?!“
„Ach?! Weil ich mich nicht widerstandslos vergewaltigen lasse, hab ich automatisch ein Problem mit Männern, ja? Na das ist ja eine interessante Interpretationsweise“, giftete sie mit unverhohlener Ironie. „Welches Klischee wird als Nächstes ausgepackt? Ob ich einen Minirock und High Heels getragen hab, als der mich angefallen hat? Hab ich nicht: Ist beim Joggen bei Minusgraden eher unpraktisch.“
Lars konnte sich ein leises Grinsen nicht verkneifen, sie gab dem Alten wirklich Kontra.

„Kein Wunder“, grummelte Hansen in der anschließenden Besprechung mit Dr. Gärtner, „dass es mit der keiner aushält, und dabei ist die nicht mal hässlich. Aber vielleicht ist dem elitären Fräulein auch einfach kein Mann gut genug.“
Susanne Gärtner war irgendwie vorher klar gewesen, dass Hansen für so etwas kein Verständnis haben würde. Er glaubte die ganze Geschichte schlicht nicht. Trotzdem konnte sie ihn überzeugen, dass es die einzige reelle Spur war, die sie hatten. In einem Punkt jedoch hatte er recht: Wenn die Geschichte stimmte, woher sollte der Täter so intime Details über Henriette van Kampen wissen, die ja selbst deutlich gemacht hatte, dass sie das geheim gehalten hatte? Dahin gehend mussten sie Frau von Kampen noch einmal befragen.

25.01.2011



Dr. Gärtner hatte den Tag damit verbracht zu recherchieren und sich fachlich zu belesen, auch wenn Hansen das für Zeitverschwendung hielt. Lars und Jens hatten von ihm den Auftrag bekommen, die Aktenstapel auf ihren Schreibtischen abzuarbeiten.
Am Abend befragten Dr. Gärtner und Lars Henriette noch mal im Vernehmungsraum.
Nein, sie hatte keine Ahnung, wer der Täter sein könnte, und nein, sie hatte keine Kontakte zu irgendwelchen Männern gehabt.
Sollte er sich so in ihr getäuscht haben, fragte sich Lars, hatte sie ihn von vorne bis hinten angelogen? Aber schlussendlich war er es gewesen, der den Kontakt gesucht hatte.
„Sie haben einen Satz gesagt, der mir nicht aus dem Kopf geht“, wandte sich Dr. Gärtner Henriette zu. „Sie hätten bis vor Kurzem gedacht, Sie seien der einzige Mensch mit dieser Veranlagung. Was ist dann passiert?“
Henriette rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl hin und her. Dass ihr die Frage merklich unangenehm war, war ein Zeichen, dass sie auf einer richtigen Spur waren.
Sie räusperte sich: „Es gibt ein Forum. Wie für jede erdenkliche Interessengruppe gibt es im Internet ein Forum.“

◊ ◊ ◊

In der stockdunklen Nacht, das Zimmer nur vom Licht des Bildschirms beleuchtet, tippte Zac ihren Nicknamen in die Suchfunktionund innerhalb von Sekunden spuckte diese sämtliche Beiträge aus, 528 an der Zahl. Man musste sich wundern, was die Leute in der scheinbaren Anonymität des Internets so alles von sich preisgaben. Sie konnte sich gut ausdrücken; ihre Beiträge waren kurzweilig. Er hatte sie immer und immer wieder gelesen. Er wusste mehr von ihren wahren Gedanken und Gefühlen als all die Leute, die glaubten, sie zu kennen, und das faszinierte ihn. Auch wenn er nie mit ihr gesprochen hatte, er kannte sie wirklich gut.

Er war zufällig auf das Thema gekommen. An irgendeinem öden Abend hing er auf seinem fleckigen Sofa und zappte sinnlos von einem Sender zum anderen. In einer leicht reißerisch aufgemachten Vorabendshow hatte ein Typ kundgetan, er habe noch nie im Leben Bock auf Sex gehabt. Zac hatte zuerst bloß gedacht, dass die den garantiert gekauft hatten, aber irgendwie hatte der Typ was Überzeugendes. Zac war fasziniert. Das war unvorstellbar, so sehr das Gegenteil von dem, was er selbst empfand, und doch so sehr das, was er suchte. Er hatte getan, was er in solchen Fällen immer tat: sich ins Netz gehängt und wie besessen alle Informationen aufgesogen, die er kriegen konnte.
Das Netz konnte alles. Über das Netz bekam man alles und bekam alles heraus. Einzig Henriettes Passwörter zu den E-Mail-Accounts zu knacken hatte ihn richtig Arbeit gekostet. Nächte- und wochenlang hatte er sich in entsprechenden Foren rumgetrieben, noch erschwert durch seine dürftigen Englischkenntnisse. Na ja, Computerenglisch konnte er jetzt. Wenigstens war sie nicht bei allzu vielen Netzdienstleistern angemeldet, sodass die Zuordnung, welche Benutzername-Passwort-Kombi zu welchem gehörte, nicht sonderlich kompliziert war. Dass sie aus der Region war, stand in ihrem Profil, das Alter passte auch. Henriette war vorsichtig. Sie hatte ihren Forum-Nicknamen nie irgendwo anders benutzt. Bei einem Online-Musikversand hatte sie des Öfteren Noten oder CDs bestellt, hierüber hatte er ihren richtigen Namen herausbekommen. Zwei Fotos gab‘s bei Studi-VZ. Aus den Beiträgen in einem Medizinerforum konnte man rückschließen, dass sie im Gebiet Kinderheilkunde arbeitete. Sonst war sie nirgendwo angemeldet. Ihren Namen und Kinderheilkunde als Suchworte bei Google eingetippt, führten direkt auf die Klinikhomepage. Der Rest war einfach gewesen.
Seit er sie das erste Mal gesehen hatte, hatte er angefangen, von ihr zu fantasieren. Sie war klug. Sie war unberührt. Sie war unerreichbar. Sie war perfekt. Alle waren seltene Sammlerstücke gewesen, aber sie war ein besonders seltenes Exemplar. Die Vorstellung, sie zu haben, über sie verfügen zu können, war unwiderstehlich.

◊ ◊ ◊

26.01.2011



Lars und Gideon Starck hatten sich in Henriettes Wohnung an die Rechner gesetzt, nachdem sie ihnen die Zugangsdaten gegeben hatte und zur Arbeit gefahren war.
Gideon starrte gebannt auf Henriettes PC-Bildschirm. Lars saß daneben an dem Polizei-Überwachungs-PC und surfte durch das Forum. Das hatte er schon gestern getan und seine Gedanken zu sortieren versucht. Ihm wurde immer klarer, wie fremdartig und doch real es war, was er da las. Das Henriette real war, so wie sie war.
„Das ist echt abgefahren“, schüttelte er den Kopf.
„Hast du nicht mal Phasen, wo dir grad nicht danach ist, die nächstbeste Frau abzuschleppen?“, erwiderte Gideon gelangweilt.
„Doch, natürlich. Aber das hier ist ja wohl ‘ne andere Liga.“
Lars mochte Gideon, dieser hatte eine Art, andere, aber auch sich selbst, aufs Korn zu nehmen, die einfach zum Brüllen komisch war. Und der Typ war gut und hätte überall mehr Geld verdienen können, aber er sagte immer, Verbrecher jagen sei viel spannender. Zudem würde er es nicht überleben, als Mitarbeiter eines schnieken Unternehmens seinen heiß geliebten Rage-Against-The-Machine-T-Shirts und seiner Zottelfrisur „Good bye“ sagen zu müssen.
„Okay, zum Thema zurück“, Lars tat einen tiefen Atemzug. „Was sagt unser Super-Computer-Nerd, wie der Typ die Identität herausbekommen hat?“
„Dieses Forum ist, wie praktisch alle, Benutzername- und Passwort-basiert. Sich da anzumelden ist nu‘ nicht so die Hürde. Auf dem Server, von dem aus das Forum verwaltet wird, liegt eine Art Liste mit den Benutzernamen und Passwörtern, den IP-Adressen und wahrscheinlich den Privat-E-Mail-Adressen aller angemeldeten Benutzer. Ob die da sonst noch Angaben verlangen, weiß ich nicht. Die Daten sind allerdings mit ‘nem Geheimcode chiffriert. Wenn man über die Schiene da dran will, muss man in den Serverstandort einbrechen, sich die Daten vom zentralen PC runterziehen und mit entsprechenden Programmen dechiffrieren. Das ist echt nur was für Cracks, die das quasi professionell machen. Möglichkeit zwei ist, dass er ihren PC gehackt hat, aber um das rauszukriegen, brauch ich ’n bisschen Zeit: Sooo schnell geht das nicht.“

Für Henriette war es ein ruhiger Arbeitstag gewesen. Sie war ausnahmsweise sogar eine halbe Stunde früher gegangen und lief zu Fuß, absichtlich. Sie ließ die Gedanken schweifen. Manches Mal kam sie sich vor wie ein Alien, das fremde Verhaltensweisen beobachtet, mit Intelligenz ausgestattet, das biologische Konzept dahinter zu verstehen und das Verhalten der anderen zu interpretieren, ohne dass sie jemals den Drang verspürt hätte, dieselben Dinge zu tun, die sie tausendfach sah, die sie in Büchern, Zeitschriften, Film und Fernsehen umgaben und die ihr unwillkürlich abstrus erschienen. Die meiste Zeit ihres Lebens hatte es sie nicht beschäftigt: Sie war jung und ausgefüllt von den unzähligen Möglichkeiten, die sich vor ihr auftaten, wie ein bis zum Horizont reichendes buntes Blumenfeld in der Sommersonne. Aber irgendwann würden die Blumen verwelkt sein, und sie sah ihr Altwerden einer Vorahnung gleich. Sie würde vielleicht einmal sehr einsam sein.
Sie war angekommen und schloss die Haustür auf.


„Von diesem Forum hättest du uns viel eher erzählen müssen, das weißt du doch genau. Du boykottierst wissentlich unsere Arbeit!“, begrüßte Lars sie wütend, als sie in das Zimmer trat.
„Ja, es ist mir peinlich und unangenehm. Ich hab da, was mich heute manchmal ärgert, ziemlich intimes Zeug reingeschrieben.“
„Sonst ziehen wir weiß-ich-was bis hin zu Kinderpornografie von Rechnern, weißt du, wie unangenehm den Leuten das ist?“
„Das ist ja wohl was anderes! Kinderpornografie ist ein Verbrechen. Ich hab niemandem was getan!“
„Ja, schlechter Vergleich. Wie viele Bekanntschaften hattest du übers Netz?“
„Bekanntschaften kann man das nicht nennen. Insgesamt sechs Leute haben mich mal angeschrieben und zwei ich. Mit zweien hab ich mir ein bisschen länger geschrieben. Ich habe keinen von denen je getroffen. Entweder wohnten die zu weit weg, hatten dann selber kein Interesse mehr oder waren Idioten.“
„Ich glaube, für dich sind alle Männer Idioten.“
„Das stimmt nicht“, sagte sie mit fester Stimme „Nur weil ich nicht mit dir ins Bett will oder was?“
Lars wandte sich ab.
„Tschuldigung, das war gemein“, lenkte Henriette ein. „Soll ich euch ‘n Kaffee machen?“
„Jaaa!“, rief Gideon begeistert.
Nachdem sich Gideon und Lars wieder hinter die Rechner zurückgezogen hatten, hörte man nur noch das klappernde Hantieren aus der Küche.
„Bingo!“, rief Gideon triumphierend und freute sich: „Hier!“ Er zeigte auf eine unüberschaubare Buchstaben-Zeichen-Zahlenkombination auf schwarzem Bildschirmhintergrund. Lars verstand nur Bahnhof. „Das da“, Gideon zeigte erneut auf den Code, „ist ein Trojaner – ich sach nur Phishing. Also, jetzt ma‘ für Doofe: Hacker benutzen Trojaner, um fremde PCs auszuspionieren. Du schreibst eine Mail unter einem Absender, den das Opfer kennt: Tante Frieda, die beste Freundin, Forum-Nickname eines anderen Benutzers, was weiß ich, und hängst den Trojaner an die Mail, zum Beispiel getarnt als Comic oder Urlaubsfoto – einmal doppelgeklickt – schwups, hat sich das kleine Scheißerchen auf deinem Rechner installiert. Dieser Trojaner hier hat den Befehl: Schicke mir täglich alles per Mail, was innerhalb von vierundzwanzig Stunden auf die Tastatur geklimpert wird. Aus dieser ellenlangen Mail muss man nur noch alles, was nach Benutzername-Passwort-Kombi aussieht, rausfischen – alles unverschlüsselt. Dann haste Zugang zu allen Accounts: Foren, E-Mails, eBay, Facebook, und von da aus rauszukriegen, wo jemand wohnt, was jemand macht und so weiter, is nu‘ wirklich nicht der Aufriss. Alles klar?“
Lars war beeindruckt. „Kann man rückverfolgen, von welchem Rechner aus die Attacke gestartet worden ist?“
„Im Prinzip schon“, sagte Gideon, „lass mich mal noch ‘n bisschen wurschteln.“

Henriette kam einsatzfertig umgezogen und stellte die Kaffeetassen vor die beiden hin. Es war das erste Mal nach ihrem Outing, dass Lars und sie sich offen ansahen. „Bitte“, sagte sie, und der Ausdruck hing in der Schwebe zwischen beiläufiger Höflichkeit und innerlich empfundenem Wunsch, die Lars nicht zu interpretieren vermochte.


5. Laufeinsatz
Henriette war gut drauf. Der Tag war nicht sonderlich anstrengend gewesen, es war eine angenehm trockene Kälte und die Wege waren einigermaßen freigeräumt. Die Bäume, die den schmalen Weg säumten, sahen aus wie mit glitzerndem Puderzucker bestäubt. Locker joggte Henriette durch die tanzenden Schneeflöckchen. Innerhalb nicht mal eines Atemzuges, gerade als sie ihn vom Boden abheben wollte, verfing sich ihr Fuß in etwas Unsichtbarem. Zu überrumpelt, die energiegeladene Bewegung zu stoppen, schlug sie der Länge nach hart auf den Boden auf. Ein beißender Schmerz schoss durch Knie und Unterarme, etwas Massives stemmte sich auf ihren oberen Rücken, riss den Kopf an Mütze und Haaren empor, drückte etwas Flauschiges auf Nase und Mund. Sie nahm einen süßlichen Geruch wahr. Dann floss alle Spannung aus ihren Muskeln, und sie verlor das Bewusstsein.

Jens Burkhard, in seinem Zivilfahrzeug am Waldrand, wurde aufmerksam. Die Stirn in Falten gelegt, starrte er auf den kleinen Monitor des Navigationssystems.
Er griff zum Telefonhörer: „Zentrale? Burkhard hier. Irgendwas ist passiert. Sie bewegt sich nicht mehr.“ Bisher hatte er gelangweilt das langsame, gleichmäßige Dahinziehen des Cursors auf dem Bildschirm entlang des Waldweges verfolgt. Jetzt hatte der Cursor gestoppt.
„Ich fahr los. Verstärkung bitte.“ Er startete den Wagen und fuhr die wenigen Hundert Meter zu der Stelle, die das GPS-System anzeigte. Er blickte sich um. Er sah im Schnee Spuren, die nach frischen Schleifspuren aussahen. Weder van Kampen war zu sehen noch sonst jemand. Wo zur Hölle war sie? Er zog seine Waffe und folgte den Spuren. Im dichter werdenden Schneegestöber konnte er seine Umgebung nur mit halb zugekniffenen Augen wahrnehmen. Da waren eindeutig Reifenspuren. Wie hatte er sie so blitzschnell geschnappt? In der Ferne hörte er das Geheul von Polizeisirenen. Wenigstens kamen die Kollegen. Wenn er sie mit einem Wagen weggefahren hatte, warum…? Jens Burkhard wurde heiß und kalt. Er rannte zu seinem Wagen zurück, riss die Tür auf und starrte ungläubig auf den Monitor: Der Cursor des GPS-Senders befand sich immer noch an exakt derselben Position.

Gideon zuckte hinter Henriettes PC resigniert mit den Schultern: „Ich hab hier zwar was gefunden, aber ich schätze, das können wir uns sparen. Der ist nicht doof, der Junge, und er hat sich mit der Materie befasst. Das hat der nicht von seinem Rechner zu Hause aus gemacht. Ich schätze, er hat den Trojaner via Stick von ‘nem öffentlichen PC aus verschickt. Gern genommen sind gut frequentierte Internetcafés. Da kannste mal die Bedienung fragen, wer vor ‘nem halben Jahr an dem Rechner saß. Aber die IP-Adressen hier, die können wir überprüfen.“
Lars‘ Handy klingelte. Er hörte zu und schloss kurz die Augen.
„Hat sich jetzt eh erledigt. Los! Wir müssen sofort in die Einsatzzentrale.“ Er sprang auf und rannte so überstürzt gegen den Tisch, dass es die leere Kaffeetasse hinwegfegte, die klirrend auf dem Fußboden in tausend Scherben zersprang.


◊ ◊ ◊

Henriette wurde wach. Sie lag auf einer durchgelegenen, zerschlissenen Matratze in einem Bett in einer Ecke des Raumes. Die drückende Stille wurde nur von den bei jeder kleinen Bewegung dissonant knarzenden Bettfedern zerrissen. Unwillkürlich erinnerte sie sich an sein Gewicht auf ihrem Körper und ihr wurde übel. Als sie sich aufsetzte, stellte sie fest, dass sie mit einer Handschelle an der rechten Hand an einer etwa einen Meter langen Kette an das hintere Bettgitter angekettet war. Warum hatte er ihr so viel Bewegungsfreiheit gelassen und sie nicht komplett fixiert? Sie schaute sich um. Der Raum war steril, weiß gefliest, inklusive der Wände. Sie ahnte den Grund: So ließ es sich besser säubern. Ihr Blick verhakte sich an den Unebenheiten und dem leicht unregelmäßigen Verlauf der Fugen. Die Arbeit war von einem Laien ausgeführt worden. An der Wand gegenüber war eine Spüle befestigt, daneben ein windschiefer, deckenhoher schmaler Schrank aus dunklem Holz, welcher so gar nicht dazu passte. Durch den grauen Winterdunst, der durch ein Fenster drang, in unwirkliches Licht getaucht, wirkte der Raum noch surrealer. Wo zur Hölle war die Polizei, was hatten die ihr nicht alles versprochen? Hektisch und doch bedacht, kein Geräusch zu machen, glitt sie mit den Händen über die Neoprenjacke und tastete sorgsam – sie spürte nichts. Einen Moment lang setzte ihr Herz aus. Er war weg: Der Sender war weg! Er musste es geahnt und danach gesucht haben. Oder er hatte es von Anfang an gewusst. Sie war allein. Sie blickte aus dem Fenster, der Himmel war dunstig weiß, sie trat so weit an das Fenster, wie sie bei ihrer Ankettung konnte, und sah ihre Behausung umgeben von Plattenbauten. Krähen schrien und zogen ruhig ihre Kreise. Sie glaubte zu wissen, in welchem Viertel sie war. Schräg neben dem Fenster lag etwas unordentlich zusammengelegtes Hingeworfenes: ein Brautkleid. Ein schlichtes weißes Brautkleid.

◊ ◊ ◊

In der Einsatzzentrale angekommen, hackte Gideon Starck wütend auf die Tastatur ein: „Fuck, ich kann aus dem GPS-Sender auch keine anderen Daten herauszaubern, als er nun mal liefert. Ich denke, der Typ hat ihn entfernt und in den Wald geworfen.“
Dr. Gärtner kaute auf ihrer Unterlippe: „Jens hat angerufen. Die Reifenspuren führen auf die nächste Zufahrtsstraße in die Stadt, von dort sind sie natürlich nicht mehr nachzuverfolgen. Der Täter könnte überallhin gefahren sein: Wir haben sie verloren.“
„Scheiße“, schrie Lars, beide Fäuste auf den Tisch knallend, „welcher Vollidiot hat das verbockt?“
„Sie agieren unprofessionell, Hegenwaldt“, entgegnete Hansen ruhig, „Nur weil die Kleine Ihnen offensichtlich gehörig den Kopf verdreht hat, können Sie sich hier nicht aufführen wie der letzte Berserker.“
„Sie wird sterben!“, entgegnete Lars mit erstickter Stimme.
„So weit sind wir noch nicht“, Hansen lächelte inmitten der Panik sein gelassen breites Grinsen. „Leute, ich mach das hier seit fünfunddreißig Jahren. Ich kenn die Brüder in- und auswendig. Ich garantiere euch, der hat gewusst, dass sie polizeilich überwacht wird, und zumindest geahnt, dass wir einen Sender angebracht haben. Ums kurz zu machen: Sie trägt noch einen zweiten GPS-Sender.“
Lars, Jens und Susanne klappte vor Überraschung die Kinnlade weg.
„Ich habe Minisender in ihre Sport-BHs eingenäht, nicht mal Frau van Kampen wusste davon. Dieser Täter ist intelligent. Ich war mir nicht sicher, dass er uns nicht doch abhört, und musste sichergehen, dass er es nicht aus einer Unterhaltung heraus mitbekommt. Außerdem kam mir die van Kampen komisch vor, und ich wollte noch was in petto haben, falls sie irgendwas mit der Sache zu tun hat. Aktuell glaubt er, wir hätten den Kontakt verloren, und wiegt sich in Sicherheit, weil er den offiziellen Peilsender abgerissen hat. Das verschafft uns einen Vorteil.“
Zum wiederholten Male war Lars verblüfft von der umsichtigen Schläue seines nach außen oft tumb wirkenden Chefs. Nichtsdestotrotz hatten sie im Moment jeden Kontakt zu Henriette verloren. Hansen winkte die beiden Techniker heran. „Hier habe ich die Empfangseinheit. Fangen Sie mit der Ortung an.“

◊ ◊ ◊

Die Tür ihres Verlieses öffnete sich mit unerträglicher Langsamkeit. Henriette wusste nicht, ob sie hinschauen sollte oder lieber nicht. Ein von einer schwarzen Strumpfmaske bedeckter Kopf tauchte durch den Türspalt. Der schwarze Kopf drehte ihr die ausgesparten Augenschlitze zu. Sie konnte fühlen, wie ihr Körper im Schwall von purem Adrenalin durchflutet wurde, wie auf Knopfdruck pumpte das Herz in ihrem Brustkorb, dass sie meinte, man müsse es von außen sehen.
Langsam bewegte er sich auf sie zu, mit plumpen Bewegungen, immer noch grinsend: „Niemanden wird es hier interessieren, wenn du schreist, das kommt öfters vor, und die Wohnungen unter uns und neben uns stehen leer.“
Sie wusste, dass er die Wahrheit sagte. Sie musste Zeit schinden – irgendwie – und schaute mit weit geöffneten Augen direkt in die seinen, versuchte, seinen Blick zu fixieren. Manches Mal war ihr gesagt worden, sie habe schöne Augen. Schau mir in die Augen!,

versuchte sie, ihn gedanklich zu kommandieren. Er starrte sie an, den Mund leicht geöffnet. Ein Moment der Stille, den sie durchbrach: „Wie hast du mich gefunden?“

◊ ◊ ◊

In der Einsatzzentrale wurde auf Hochtouren gearbeitet.
„Es gibt Probleme. Bei dem Sender handelt es sich um einen reinen GPS-Minisender, kein DGPS, das heißt, eine Ortung ist lediglich auf eine Genauigkeit von bestenfalls acht Metern möglich“, erläuterte einer der Techniker. „Das Signal liegt in dieser Hochhaussiedlung am Stadtrand. Hier!“ Er zeigte auf den Bildschirm und vergrößerte einen in den Siebzigerjahren gebauten, jetzt heruntergekommenen Hochhausblock. „Irgendwo in diesem Häuserblock muss sie sein. Wir haben den Bebauungsplan von der Stadtverwaltung angefordert. Am Telefon wurde uns gesagt, das Gebäude habe acht Stockwerke und etwa fünfzig Wohnungen, allerdings teilweise leer stehend. Unser Messsignal kommt aus dem von hier gesehen linken Gebäudeteil, das reduziert die infrage kommenden Wohnungen auf knapp zwanzig.“
„Schöne Scheiße, aber hilft nichts. Wir fahren da mit zwei Spezialeinheiten raus, machen kurzen Prozess und stürmen das Gebäude“, beschloss Hansen.
„Wir brauchen trotzdem einen Durchsuchungsbefehl, und es wird Ärger geben, wenn wir da unbescholtene Bürger halb zu Tode erschrecken“, warf Susanne Gärtner ein.
„Ärger kann ich auf meinen breiten Schultern gut ertragen. Wir haben keine Zeit. Ich werde nicht riskieren, den Mörder vorzuwarnen. Das muss blitzschnell gehen. Wenn wir vorher sichtbare Vorbereitungen treffen, laufen die Handys heiß, und das hat sich ratzfatz rumgesprochen. Ich will, dass endlich Schluss ist mit dem Spuk. Ich werde jetzt den Oberstaatsanwalt anrufen, ich kenn den gut, den Durchsuchungsbefehl hab ich schneller, als Sie sich dreimal umgeguckt haben“, damit verließ er den Raum.

◊ ◊ ◊

Henriettes Plan schien aufzugehen. Er musterte sie gebannt.
„Zuerst habe ich immer gelesen, was du geschrieben hast. Es hat mir gefallen, daraufhin habe ich dich ausgewählt. Ich hab die Zugangsdaten zu sämtlichen Internet-Accounts gehackt. Ich will mich hier nicht darüber auslassen, aber aus den Angaben auf die wahre Identität zu schließen, ist keine Zauberei.“
Henriette schluckte.
„Eine ganze Zeit habe ich dich beobachtet, dich nur angeschaut, aber ich war immer da. Du bist ein kluges Mädchen, aber du wolltest dich nie einem Mann unterwerfen, nicht wahr?“ Einen Moment lang blitzte in seinen Augen ein kleiner Teil der Aggression und des Gewaltpotenzials auf, das man ihm auf den ersten Blick kaum zutrauen mochte.
„Darum geht es überhaupt nicht. Du hast gar nichts verstanden“, versuchte sie, das Gespräch aufrechtzuerhalten.
„Ich hatte überlegt, ob ich dir schreiben und so den Kontakt aufnehmen sollte, aber dann wäre meine Mail-Adresse auf deinem Rechner gespeichert gewesen und man hätte die IP-Adresse zurückverfolgen können. Ich bin nicht blöd, weißt du“, seine Stimme wurde schriller, und er hatte nun eine spitze Art, jedes Wort einzeln zu betonen.
„Ich halte dich nicht für blöd.“
„Ich habe viel auf mich genommen, um dich zu bekommen. Du wolltest dich nie unterwerfen, und jetzt werde ich der Erste sein. Zieh dich aus!“, warf er ihr barsch zu.
Henriette überlegte: gar nicht so eine dumme Idee. Sie machte ein paar ungelenke Bewegungen, zerrte mit der rechten Hand an der Kette und mit der linken am Bund ihrer Trainingshose.
„Ich kann das nicht mit links“, sagte sie weinerlich.
Er trat an den Holzschrank, öffnete ihn, holte eine Kiste heraus und kippte sie scheppernd über dem Fußboden aus. Sie wusste nicht, was das ganze Zeug war, einiges sah eindeutig nach Stöcken und Schlagringen und Eisenketten und Handschellen aus, und bei einigen Dingen ahnte sie es, wollte aber lieber nicht darüber nachdenken, wofür es gut war. Ihr Magen krampfte sich zusammen.
„Nur, damit du nicht auf dumme Gedanken kommst.“ Er nahm einen der Schlagstöcke und kam auf sie zu. Einen Moment dachte sie, jetzt ist es vorbei. Aus. Aber er öffnete tatsächlich die Handschelle um ihr Handgelenk und wandte sich zum Fenster, wo das Brautkleid lag.
Sie hatte die Hände frei. Sie zog sich zitternd zunächst die Trainingshose und dann die Neoprenjacke aus. Er schaute ihr dabei zu. Sie hatte Angst, dass er die leicht umständlichen Bewegungen bemerken würde, aber ihm schien nichts aufzufallen.
„Den Rest auch!“, gebot er ihr.
„Nein“, sagte sie mit fester Stimme
„Du bist widerborstig – ich mag das! Nicht wie die anderen wehrlosen, dummen Hühner, die einfach nur geheult und um Gnade gewinselt haben. Du wirst dich wehren, nicht wahr? Du kannst gar nicht anders.“
Sie sah das Grinsen um die Augen in den Aussparungen der Strumpfmaske. Macht und Unterwerfung

, ging es Henriette durch den Kopf, das ist es, worum es hier geht: Macht und Unterwerfung und eine gewisse Exklusivität in meinem Fall

. Sie schloss die Fäuste, die Finger zitterten und waren vor Angst so taub, dass sie sie nicht mehr spürte. Panik stieg in ihr hoch. Scheiße

, dachte sie, ich kann die Hände nicht mehr benutzen. Scheiße

, hallte es in ihrem Kopf. Ihr Puls rauschte in ihren Ohren, die Knie wurden weich, und sie hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Sie wusste, es würde nicht schnell vorbei sein.
„Wie hast du mich gefunden?“, fragte sie nochmals, jedes Wort betonend und blickte ihn unausweichlich direkt an.
Er kam langsam immer näher. Sie hielt sich mit hinter dem Rücken verschränkten Händen an die Wand gedrückt.
Sie standen jetzt direkt voreinander, nur noch die jeweiligen Augenpaare wahrnehmend. Verzweifelt nestelte sie mit tauben Fingern. Sie konnte seinen Atem in ihrem Gesicht spüren. Ganz ruhig

, wiederholte Henriette immer wieder in ihrem Geist: Ganz ruhig

. Sie sah dem Tod ins Auge, und sie hatte nur eine einzige Chance. In diesem Moment löste sich mit einem leisen Klicken die Verschlusskappe von der Kanüle und sie hieb die in der Faust umklammerte Spritze in seinen linken Oberschenkel und drückte den Stempel mit dem Daumen bis zum Anschlag durch. Das Letzte, was sie hörte, war ein ohrenbetäubendes Grölen wie von einem im Innersten verwundeten Tier, und das Letzte, was sie spürte, der Aufprall ihres Kopfes auf den Fliesen.

◊ ◊ ◊

Die unauffälligen dunkelblauen Bullis mit zwanzig bewaffneten Polizeibeamten in schusssicheren Westen fuhren ohne Martinshorn auf den Vorplatz des Gebäudes. Sie hatten klare Anweisungen. Im Laufschritt rannten sie zum Hauseingang, verteilten sich auf die Flure, klingelten je zu zweit an den Wohnungstüren. Bei Nichtöffnen brachen sie die Türen sofort auf und stürmten die jeweilige Wohnung. Es erinnerte an kriegsähnliche Zustände. Acht Minuten war die Zeitvorgabe, zwei Wohnungen für jedes Polizistenpaar, vier Minuten für jede Wohnung. Zu Tode erschreckte ältere Ehepaare, schreiende Kinder, lamentierende Betrunkene und deren blasse Ehefrauen wollten Erklärungen und brauchten Zeit, beruhigt zu werden. Komplett verkramte Wohnungen wollten gründlich durchsucht werden.
Acht Minuten? – Illusorisch.
Hansen zog neben einem der Polizeibullis auf dem Vorplatz des Gebäudes nervös an seiner Zigarette. Er hatte das ganze Spiel gestartet, und vielleicht war er dieses Mal in seiner erfahrenen Selbstsicherheit zu größenwahnsinnig geworden. Wenn die junge Frau starb, sah er das als seine persönliche Verantwortlichkeit.
Lars folgte den Beamten widerwillig in einigem Abstand. Er hatte solche Tatorte schon gesehen. Er hatte die Bilder der anderen Leichen vor Augen. Er wollte das nicht sehen.


27.01.2011



Henriette öffnete die Augen, sie lag in einem anderen Bett, das Laken fühlte sich glatt und klamm an. Der abgedunkelte Raum roch steril. Vorsichtig drehte sie, noch im Liegen, den Kopf und blickte sich um. Ihr Kopf war schwer wie Blei und dröhnte. Nur schwammig konnte sie sich an das erinnern, was bisher passiert war. Da saß jemand, ganz still und unbeweglich, in der Ecke des Raumes, ein großer Mann in dunklen Sachen. Wieder hämmerte ihr Puls, eigentlich konnte gar kein Adrenalin mehr übrig sein. Sie schloss die Augen und begab sich wieder in ihre Ausgangsposition zurück.
„Henriette?“
Sie schluckte, in ihrem Schädel begann es dumpf zu wummern. Sie konnte nicht nachdenken, es fühlte sich an, als ob sich jeder Gedanke mühsam durch wabernde Hirnmasse arbeiten müsse.
„Henriette? Bist du wach?“
Irgendwoher kannte sie die Stimme, aber ihr Gedächtnis konnte nicht greifen, wessen es war. Jemand klopfte ihr sanft mit der Hand auf die Wange. Er hatte gemerkt, dass sie wach war, sie konnte nicht mehr so tun, als würde sie schlafen. Sie öffnete die Augen. Lars stand über sie gebeugt.
Sie richtete sich langsam auf und kniff die Augen zusammen. „Wo bin ich?“
„Im Krankenhaus. Alles gut“, beruhigte Lars sie, „du hast eine Gehirnerschütterung und eine Kopfplatzwunde.“
„Und wo ist ER?“
„Liegt auch noch im Krankenhaus. Aber der entkommt nicht mehr. Was war in der Spritze?“
„Ein Schlaf- und Beruhigungsmittel, gibt man auch zur Narkoseeinleitung. War er bewusstlos?“
„Oh ja, wir kamen gerade noch rechtzeitig, der Notarzt musste ihn kurzzeitig beatmen.“
Henriette meinte, einen Hauch von Vorwurf herauszuhören. „Ich hatte mir halt gedacht, es wäre sicherer, irgendetwas zur Hand zu haben, falls was schiefläuft. Ich habe ihm ‘ne ziemliche Dosis verpasst. Ich wollte ihn nicht primär umbringen, nur außer Gefecht setzen. Im Zweifelsfall hätte ich mir das Zeug selber injiziert, bevor ...“, sie stockte. „Es wird eine Zeit gedauert haben, bis die Wirkung eingesetzt hat. Hat er, ich meine, in der Zeit, in der ich bewusstlos war …?“ Sie stockte wieder und sah Lars nur an.
„Nein, er war bewusstlos, als wir kamen, wir haben dich untersuchen lassen, es gibt für eine Vergewaltigung keinen Hinweis.“

Lars hatte noch genau die Auffindesituation vor Augen. Beide lagen lang gestreckt auf dem Fliesenboden des Raumes, in halbdunkles Licht getaucht. Henriette fast nackt, den Kopf in ihrer eigenen Blutlache. Eine Sekunde lang dachte er, sie sei tot, aber sie atmete sichtbar.
Hansen ging zu dem kräftigen Mann hinüber und zog ihm die Strumpfmaske vom Gesicht. Er war aschfahl und hatte merklich blaue Lippen.
„Scheiße, der ist tot, der atmet nicht mehr“, winkte er den Notarzt heran.
Dieser schnitt das schwarze Sweatshirt in einem Rutsch auf und untersuchte ihn zügig. Der Brustkorb hob und senkte sich tatsächlich nicht.
„Nee, er ist nicht pulslos“, sagte der Arzt. Bald herrschte hektisches Treiben. Ein zweiter Rettungswagen kam. Alle möglichen Elektroden wurden auf- und angeklebt, Überwachungsgeräte angeschlossen und Medikamente gegeben. Der Täter musste beatmet werden. Henriette schien es im Vergleich besser zu gehen. Die beiden Protagonisten waren bald auf Tragen umgelagert und wurden ins Krankenhaus verbracht. Die Polizisten standen etwas fehl am Platz daneben.
„Ich frage mich, was hier passiert ist“, murmelte Günther Hansen.
„Hm“, Lars zeigte auf eine achtlos in der Nähe des Bettes liegende Spritze, „vielleicht hat sie ihm irgendwelches Gift gegeben.“
„Schlauer Gedanke, Hegenwaldt“, nickte ihm Hansen zustimmend zu.


„Lars?“ Henriette riss ihn aus seinen Gedanken.
„Ich hatte solche Angst, wir würden zu spät kommen“, sagte Lars.
„Na ich erst!“, grinste Henriette.
„Mach‘s gut“, sagte Lars und strich ihr über die Wange. An der Tür drehte er sich noch einmal um und winkte lächelnd. Dann ging er hinaus und zog die Tür leise hinter sich ins Schloss.
Er kam nie mehr wieder.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 01.09.2012

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