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„Herr Castell, ich muß Ihnen leider mitteilen, daß Lennard keine Fortschritte macht. Seine Blutwerte werden immer schlechter, und wir sind mit unserer ärztlichen Kunst am Ende.“

„Das heißt…“

Er antwortet nicht, verzieht keine Miene, schaut mir aber bis auf den Grund meiner Seele.
Nicht, daß ich damit nicht irgendwie gerechnet hätte; seit einem Jahr wütet der Teufel in Lennards kleinem Körper, ließ sich hin und wieder abbremsen, aber niemals aufhalten.

„Herr Castell, entschuldigen Sie bitte die Frage, aber Lennard fragt nie nach seiner Mutter, und sie war auch noch nie hier. Anbetracht…“

Anbetracht wessen ? Außerdem fällt es mir schwer, diese Frau als Mutter zu bezeichnen. Sie lebt nicht mehr hier, sie zieht durch das Land wie eine Zigeunerin und ist nur mit einer Person beschäftigt, mit sich selber, hält sich für eine Autorin, schreibt lieber Kinderbücher für andere, als sich um ihren Sohn zu scheren, Problemen pflegt die Dame auszuweichen, der Junge fragt nicht einmal mehr nach ihr !

„Entschuldigen Sie bitte, das gehört nicht hier her und ist nicht Ihr Problem.“

„Sicherlich nicht, Herr Castell, es ist das von Lennard.“

Genau, ich verabschiede mich kurz angebunden und will jetzt nur noch zu meinem Jungen.

Ich gehe in sein Zimmer. Man sieht ihm die Strapazen des Therapiemarathons an. Nur seine Augen sind noch voller Lebensfreude.

„Vati, Vati, schau doch mal, ich kann meinen Namen schreiben !“

Er hält mir ein Blatt Papier entgegen, auf dem in Blockbuchstaben L E N N A R D steht. Ich schaue zur Schwester, und sie lächelt mich an. Ich bin so froh, daß die Schwester ihm die Zuwendung gibt um die seine Mutter ihn betrogen hat.

„Papa, bald ist Weihnachten, kann ich da wieder zu Hause sein?“

Ich schlucke, wie soll ich nur reagieren, er würde es spüren, würde ich lügen.

„Ich nehme Dich bald wieder mit nach Hause, Lennard.“
Der Blick der Schwester trifft mich wie ein Florett. Doch was will sie?

Ja, er kann jetzt seinen Namen schreiben, aber er wird auch sterben. Doch muß das hier sein?
„Lennard, Du hattest letztes Jahr doch einen ganz großen Wunsch zu Weihnachten.“

„Ja Vati, ich möchte den Weihnachtsmann besuchen. Die Rentiere streicheln und den Kobolden zuschauen, wie sie die ganzen Geschenke für die Kinder bauen!“

„Lennard, dieses Jahr fahren wir hin, Du und ich!“
Lennard umarmt mich und die Schwester schaut mich an, als wäre ich reif für die „Psychiatrische“.
Ich bleibe noch einige Stunden bei meinem Jungen, bis er tief eingeschlafen ist und gehe dann zur Stationsschwester.

Sie versucht gar nicht erst, mich umzustimmen, denn auch sie weiß, daß Lennard austherapiert ist, und ich erwähne natürlich nichts vom Nordpol, sondern von begleitender Sterbehilfe daheim.

Nach einer Flasche Whisky rufe ich meinen Freund Peter Nilmé in Schweden an. Er hat seinen ‚Absolut‘ auch schon intus, sodaß wir Nägel mit Köpfen machen.

Es braucht 2 Tage für den Papierkram und um über eine Pflegestation Schwester Claudia zu finden, die bereit ist, die Sterbebegleitung auch mobil zu leisten.

Am dritten Tag ist Lennard daheim, es ist gegen Abend, als ich ein bekanntes Geräusch höre. Es stammt von Peters altem Volvo, von dem er sich um keinen Preis der Welt trennen will. Zum Glück ist es ein Kombi, in dem wir alle Platz finden, inklusive des medizinischen Equipments.

Lennard scheint, seit er weiß, was wir vorhaben, seine Reserven zu mobilisieren. Fast vergißt man seine tödliche Erkrankung.
Schließlich sitzen wir im Auto, und es geht ab zum Weihnachtsmann.

Gegen Morgen erreichen wir den Überseehafen in Rostock, wo die Fähre schon ihr Riesenmaul aufsperrt um Autos und LKWs zu verschlingen, und mittags sind wir schon in Trelleborg.

Von hier aus beginnt unsere lange Reise, unser Ziel ist Korvatunturi in Finnland, dicht am Polarkreis, dort wo der Weihnachtsmann wohnt.

Nach sieben Stunden erreichen wir Stockholm, und Lennard schläft tief und fest in meinem Arm. Claudia übernimmt ihn so vorsichtig, daß er nicht einmal aufwacht, und ich Peter am Steuer ablösen kann.

Nach weiteren 15 Stunden und drei Fahrerwechseln haben wir die 1800 km hinter uns und sind am Ziel, in Napapiiri, einem kleinem Ort in Lappland, nördlich von Rovaniemi am Fuße des Korvatunturi den die Finnen Ohrenberg nennen, weil er Hasenohren nicht unähnlich ist.

Ich trage Lennard in das kleine Gasthaus und lege ihn vorsichtig in sein Bett, um anschließend tief und fest einzuschlafen.

Als mein traumloser Schlaf endet, bemerke ich, wie Claudia den Jungen mit seinen Medikamenten versorgt.
Die Fahrt hat ihn eigenartigerweise nicht geschwächt, er wirkt sehr vital, und ich ertappe mich dabei, an ein Wunder glauben zu wollen. Wenn es welche geben sollte, warum dann nicht hier, warum nicht jetzt ?
Ich schrecke auf, als das Eintreten von Peter mich aus meinen Gedanken reißt.

Es sind nur noch wenige Tage bis Weihnachten, und ich bin immer fester davon überzeugt, daß eine Wendung des Schicksals Lennard die Lebenszeit schenken würde, die ihm auf so grausame Weise genommen werden soll.
Ist er nicht jeden Tag ein wenig kräftiger geworden?

Ich nehme mir fest vor, an den Weihnachtsfeiertagen mit ihm wieder das Laufen zu üben, sicher haben seine Beine ihre Kraft wieder zurückerhalten.

Am Morgen des Heiligen Abends ist Lennard als erster munter und aufgeregt wie nie.

„Vati, jetzt müssen wir uns aber beeilen, sonst ist der Weihnachtsmann mit seinem Schlitten auf und davon, bevor ich ihn sehen kann.“

Ich zwinkere Peter zu, der schon alles arrangiert hat und er trägt den Jungen hinaus zu dem Motorschlitten, der uns an den Fuß des Berges bringen soll, und er weiß auch wo eine Rentierherde ihr Winterquartier hat.

Es dauert nicht lange. Die Scheinwerfer durchschneiden die Polarnacht, die hier 24 Stunden am Tag andauert und strahlen ein Gatter an. Hinter dem Draht stehen, ziemlich träge ein paar Dutzend Rentiere, und ihre Augen funkeln im Kunstlicht.

Ich trage Lennard zu der Koppel, damit er das eine oder andere Tier streicheln kann.
Peter schaltet kurz den Motor des Schlittens aus, und wir befinden uns für einen Moment in der großen Dämmerung.

Es ist keine pechschwarze Nacht. Irgendwo scheint noch Restlicht zu sein, und es wird immer stärker. Man sieht die Quelle nicht. Es ist ein Glimmen, das sich stetig verstärkt, ein kühles farbiges Licht, in der Erscheinung dem eines Glühwürmchens nicht unähnlich, nur daß es bald einen größeren Sektor des Himmels erfaßt.

Es ist das Nordlicht, ich habe es noch nie gesehen, nur darüber gehört und gelesen und selbst Peter, mein Schwede sah es selber noch nie.

Ich bin mir absolut sicher, daß dies ein Weihnachtsgeschenk für meinen Jungen ist, ein Zeichen des Himmels. Mein Herz klopft.

Lennard schaut in das Nordlicht, es scheint, als würde er in der Ionenwolke etwas sehen. Er lächelt.
Kann es sein, daß er etwas sieht, das mir verborgen bleibt.

Er bewegt seine Lippen, ganz leise höre ich das Weihnachtsgedicht, das er gelernt hatte. Er sagt es ganz leise auf, stockt nicht ein Mal, es verläßt seinen Mund in einem Guß, dem verzauberten Licht entgegen.

Als er zu Ende ist, meine ich, das Licht etwas
dunkler werden zu sehen, ja es erlischt ganz allmählich.

Wir beide sitzen im Dunklen, seine Hand in meiner Hand.

Es ist totenstill, Lennard atmet nicht mehr.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 20.12.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
allen guten Müttern

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