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Überarbeitete Version 2008
© by Marcel Hermann


Renegat
-Hurensohn-

DEINE FREIHEIT
IST NICHT DIE
DER ANDEREN




Die wohnungslose Anna gebar Anfang der fünfziger Jahre in den eiskalten, tief schwarzgetränkten Januarstunden gegen 4.30 Uhr in der Maiklinik nahe dem Sendlinger Tor in der Innenstadt zu München einen gesunden Knaben, dessen Vater ihr vermutlich unbekannt war. Ihr Mutterinstinkt war von wichtigeren Ereignissen des Lebens ausgefüllt. Sie hatte schon eine Fehlgeburt. Daher nahm sie von Fehltritten keine besondere Notiz. Aus purer Vernunft hatte sie vor einigen Jahren bereits ein anderes ungewolltes Kind fortgegeben. Es lebte irgendwo in Niederbayern.
Während Anna weiterhin das Leben in vollen Zügen genoss, wurde der vor wenigen Tagen geborene Sohn auf Anordnung des Vormundschaftsgericht bei Pflegeeltern im Städtchen Amberg untergebracht, denn die Mutter hatte keine Verwendung für das Kind. Allein der Gedanke an das neugeborene hässliche Ding ekelte sie an. Was sollte sie damit anfangen? Sie würde es mit einem Beil erschlagen, waren die von Hass erfüllten Gedanken. Anna erlag ihrer Begierde nach Liebe und das im tiefen Sumpf des Männermilieus. Sie war unaufhaltsam unterwegs.
Sie gelangte im ehemaligen Konzentrationslager zu Dachau an eine Filmgesellschaft, die reichlich Sentimentales abdrehten. Dort spielte die vollbusige Anna ihre Rolle, zwar nicht als Schauspielerin aber als Mätresse eines Kabelträgers. Der Kabelträger war angeblich unersetzlich.
Jedoch die Langeweile bestimmte fortan das Miteinander. Sehr bald turtelten beide noch einmal wie langjährige Verliebte Hand in Hand der Trennung entgegen. Die Stunden der Zweisamkeit waren vorbei. Da standen sie ein letztes Mal mitten auf dem Lagerplatz in einem von einer Menschenansammlung ausgehenden lärmenden Durcheinander. In der schwer übersehbaren Straße, auf deren Gehweg beiderseitig Laubbäume nebeneinander reihten und sich wie Zwillingsblüten ergänzten. Diese einst von Blut und Wahn gezeichnete Lagerstraße war von unvorstellbarer Schönheit. Bei Sonnenlicht glitzerte das Grün trügerisch. Sie hatte den Anschein einer sorgfältig breit angelegten Paradestraße, auf der es sich nationalbewusst feiern ließ. In jener Zeit standen je Baracke zwei Pappelbäume verwurzelt zum Straßeninneren des Lagers. Es wuchsen in Abständen von etwa zehn Metern geradlinig hochgewachsene Laubbäume. Majestätisch ragten sie in den Himmel, bogen sich wie vollkommene Schwingen stumm im Wind in den Weiten der Lagerlandschaft. Dicht im Schatten dieser Pracht aneinandergereiht, Baracke an Baracke. Bei Dämmerung wurden die unbeleuchteten sandigen Seitenstraßen zwischen den Blöcken zur mörderischen Dunkelheit. Der einst feurige Geliebte, der kraftstrotzende Kabelträger, zeigte der Anna wiederholt zum Abschied das Nachtleben der finsteren Barackenstadt in der das Elend auf engstem Raum wohnte. Die darin Lebenden hatten nur einen Wunsch, dass sich ihr Dasein zum besten wenden möge. Sie alle kannten den Tod aus nächster Nähe. Der Tod zeigte sich in unzähligen Erscheinungen, wussten Überlebende des Konzentrationslager zu berichten.
Selbst unter den Gefangenen erschlich er sich mit List und Tücke das Vertrauen geschwächter Menschen. Erspähte er sein Opfer, erwies sich der Tod in beängstigender Härte als das Gesetz der unbesiegbaren Natur.
Niemand sah ihn kommen und gehen. Doch er vergisst niemanden auf Erden, demonstriert mahnend, dass er die unantastbare Wahrhaftigkeit im Universum ist. Seine Opfer holte er sich, mit Hungersnöten und Katastrophen und der Mensch war ihm stets in Kriegen behilflich. Die Natur kennt keinen Unterschied zwischen gut und böse. Sie entscheidet über Leben und Tod. Das Lagerleben von Überlebenden ehemaligen KZ-Häftlingen, der Einquartierten aus der Kriegsgefangenschaft und den vielen anderen Zugezogenen, erwachte spät nachts in den düsteren verqualmten Lagergaststätten, in der ebenso Soldaten der amerikanischen Armee ihre freie Zeit verbrachten.
Hier im Lager Dachau Ost waren Minderheiten, Staatenlose, Juden, Zigeuner, Strafgefangene, Homosexuelle, politisch anderweitig motivierte Frauen und Männer verschiedener Nationalitäten jung oder alt zu Hause. Alle wurden von der amerikanischen Besatzungsmacht vertreten, die im Siegestaumel ein geschlagenes Volk eroberte, dass aus Feigheit seine Gräueltaten leugnete. Keiner der Lagerinsassen brauchte mehr zu hungern. Manch anständige Frau schenkte in den Nachkriegswirren den Eroberern ihre Liebe. Anna war unersättlich. Als der junge Kabelträger sie sehr bald ohne große Worte im Lager Dachau-Ost zurückliess, hatte sie bereits viele Eisen im Feuer. Der inzwischen längst vertraute Alkohol tröstete sie über viele Unannehmlichkeiten hinweg. Es gab nichts mehr, was sie aus eigener Kraft hätte verändern können, zu tief steckte sie im erdrückenden Sumpf des Abschaums. Irgendwelche namenlose Männer, die ihren Spass suchten hielten sie über Wasser, wenn sie auch bis zum Hals darin stand und keine Zeit zum Ersaufen fand.
Die Lagerschwestern der Caritas gaben Hilfe durch Beratung, Lebensmittelkarten, Bekleidung und Kinderverschickungen. Meist kannten sie alle Lagerbewohner und deren Schicksale. Daher wussten sie über die Notsituation der Anna bestens Bescheid, dass sie spät in der Nacht hinter den verrottenden Bretterverschlägen neben dem der Lagerverwaltung gehörenden Schuppen auf dem blanken Erdboden hauste. Er diente zur Aufbewahrung von Brennholz, Kohlen und Naturalien für die kinderreichen Familien. Für die Ärmsten der Armen. Annas Trost, anderen erging es ebenso erbärmlich.
Eines Tages wusste Schwester Vicentia von einem recht kräftigen jungen Mann zu berichten. Er sei ein wenig behindert, aber das täte ja nichts zur Sache.
Er habe eine kleine helle Wohnung in der 4.Baracke. Dabei erwähnte sie, dass er eine Rente beziehe. Den Wink einen neuen Anfang zu wagen, verstand Anna auf Anhieb und bat ihn bald kennen lernen zu dürfen.
Sie fieberte vor Neugierde, Freude und fand keine Ruhe mehr. Am lichten Tage wusch sie sich im Bach hinter dem Schuppen, denn sie wollte nur schön sein. Beide lernten sich an einem vom Regen geplagten Nachmittag kennen. Anna lächelte und ihre dunklen Augen strahlten. Hans ein stattlich sportlich aussehender Mann, der stolze 1,80 Meter lang war wirkte auf Frauen anziehend. Er war ein gebräunter Typ mit schwarzen gepflegten Haaren, einem smarten Oberlippenbart, weissen Zähnen dazu blau in grün übergehende Augen. Sie dagegen wirkte blass, klein und zierlich. Von nun an waren sie leidenschaftlich ineinander verliebt. Es gab nichts auf der Welt, was diese Beziehung hätte erschüttern können. Sie waren jung und liebten das Leben auf ihre Art, denn es hatte wieder einen Sinn erhalten. Das Schmieden von träumerischen Plänen wob eine gemeinsame Zukunft. Es füllte die trostlosen Alltage aus. Kein Freiraum fand sich mehr, so sehr fesselten sie sich aneinander. Jedoch bald darauf übernahm die Eifersucht den Ablauf des Alltags. Ihre Beziehung nahm Formen des Misstrauens an. Ein vertrautes Miteinander war kaum noch möglich. Die immer häufiger werdenden Streitigkeiten banalen Ursprungs entarteten zu handgreiflichen Auseinandersetzungen.
Alkoholisierte Szenen in der Wohnung blieben den Nachbarn nicht verborgen. In ruhigeren Zeiten träumten beide aber von einer weissen Hochzeit. Annas innigster Wunsch, ein Kind von ihrem geliebten Hans zu haben, erfüllte sich bei ihr leider nicht. Nach mehreren Scheinschwangerschaften wurde das Paar standesamtlich getraut. Immer wieder sinnt sie nach dieser Zeit und verliert sich in ihren Träumereien.
Fast rührend versorgte Anna ein liebendes streitsüchtiges Weib den Haushalt, kümmerte sich um das Wohl des Ehegatten. Nachdem beide sehr sparsam mit dem bisschen vorhandenen Geld umgingen leisteten sie sich Vorhänge, Bettwäsche und ein Radio. Viel später folgte ein gebrauchtes rostendes Herrenrad für Fahrten in das Kloster nach Schönbrunn. Dort gab es eine Essenausgabe.
Die Nonnen füllten jedem Bittenden seine mitgebrachten Töpfe, Kännchen und Büchsen. Anna scheute sich nicht, dafür täglich viele Kilometer auf dem Rad abzustrampeln. In ihrer Sparsamkeit leisteten sie sich einmal im Monat das Vergnügen in der Stadt ein Lichtspielhaus zu besuchen. Obwohl der Eintrittspreis von einer Mark teuer schien, erlaubten sie sich den Luxus. Das Capitolgebäude innen war für sie das gemütlichste Cinema in Dachau und nicht allzu weit von ihrer Wohnung im ehemaligen Konzentrationslager entfernt. Neuerdings gingen beide besonders gerne spazieren. Anna liebte plötzlich die lauwarme Luft und den klaren Sternenhimmel. Ganz eng an ihn gekuschelt, als wollte sie ihn niemals mehr missen. Das entschuldigte all ihr Fehlverhalten. Selten hatte Anna das nicht mehr sättigende Bedürfnis, einem Mann auf Schritt und Tritt ihre Zuneigung zu erweisen. Der gesehene Film hatte es ihr angetan. Auf langem Wege nach Hause verzehrten sie sich verspielt wie jung Verliebte vor Glück. Wenn es auch nicht viel gab, worüber beide miteinander reden konnten. Nur banale Themen eben.
Nebensächlichkeiten und manchmal ein gemeinsam angesehener Film zogen sie gleichermaßen in den Bann. Besonders der Filmstreifen „Lasst mich leben“ wurde nächtelang diskutiert. Darüber sprachen sie viel, weil es eine Tragödie über menschliches Leid mit tragischen Ausgang war. An die Hinrichtung dieser Frau in der Gaskammer erinnerten sie sich immer wieder. Längst war die Geschichte eine andere geworden. Anna weinte während der Filmvorführung vor Mitgefühl Rotz und Wasser. Darüber musste selbst sie staunen. Anna, die sich rücksichtslos durch das Lagerleben boxte, weder im Leid noch in der Freude zu weinen vermochte, war plötzlich so sensibel geworden. Früher hatte sie stets einige unangebrachte Sprüche auf Lager wenn sie etwas zu Tränen rührte.
Nach einjähriger Ehe blieb der ersehnte Kindersegen immer noch aus. Dafür gab es für Anna eine einfache Erklärung: An ihr läge es nicht! Die Lagerschwester kümmerte sich auch weiterhin um ihre Schäfchen und hatte für alle anfallenden Probleme ein offenes Ohr.
So verhalf Schwester Vicentia nach längerer Zeit der Überprüfung in unzähligen Vorgesprächen der Anna und dem Hans, durch Fürsprache vor dem Vormundschaftsgericht zur Rückkehr ihres früher fortgenommenen Kindes. In der Annahme, dass Anna in Zukunft ihrem Sohn eine gute Mutter sein würde.
Alles Mögliche war es noch so sinnlos wurde mit Hilfe der Nachbarn zusammengetragen. Spielsachen, Kinderwagen, das nötigste an Kleidung und ein Kinderbett. Anna wusste nicht ob ihr Sohn Markus schon laufen konnte. Sie wünschte sich ein Baby. Tage voller Unsicherheit und Angst vergingen wie im Fluge und die Stunde des Wiedersehens rückte immer näher.
An jenem trübseligen von Unstimmigkeiten geprägten Nachmittag liefen Anna und Hans aufgescheucht im Raum hin und her. Das aufgezogene Unwetter stimmte nicht einmal einen Hund auf der Strasse fröhlich. Der Regen ging nieder, peitschte gegen die Fensterscheiben und der tobende Sturm liess die Holzwände knarren. Beide fanden Trost in der zärtlichen Umarmung. Dicht vor dem Vorhang, seitlich durch den ergrauten Store blickend, sahen sie tiefhängende dunkle Wolken hoch über der Baracke. Am Rande der Strasse prachtvolle Pappeln die sich im Winde wogen. Abfälle aus den nicht standfesten unverdeckten Mülltonnen wirbelten unruhig wie Herbstlaub durch die Luft. Als die schlechte Witterung wieder in die Ferne zog, begann das Leben in den Barackenstraßen. Vor dem Treppeneingang auf der anderen Seite des Weges gegenüber dem Kreuzfenster, dessen untere rechte Glasscheibe einen auffallenden Sprung hatte, spielten sitzend kleine verwahrloste Kinder. Die amerikanische Militärpolizei fuhr Streife in einem Jeep, pünktlich wie an jedem Tag. Um die Genauigkeit zu überprüfen warf Hans mit der gleichen Kopfbewegung einen Blick auf den alten Wecker ohne Sichtglas, dessen Zifferblatt durch Nikotinqualm schon seit vielen Jahren vergilbt war. Doch seine Gedanken waren bei Annas Sohn. Schritte im Aussenflur!
Hastig humpelte der gehbehinderte Hans ohne einen Laut von sich zu geben an die grau gestrichene Tür, um mit einem Anflug von Freundlichkeit zu öffnen. Aber es war nur die alte Trinkerin von nebenan, die etwas braunen Amyzucker erbat. Er gab ihr das Verlangte ohne ein Wort zu verlieren. Das ewige Warten zerrte an seinem und Annas Gemüt. Die Zeit wollte einfach nicht vergehen. So erlebten sie als kleine Kinder das Weihnachtsfest flüsterten sie sich leise zu, blieben dann stumm an die Wand gelehnt stehen.
Das wird ein Spass geben, platzte Hans gereizt heraus. Seine Stimme klang in der hallenden Leere des Raumes kräftiger denn je und sein Blick sagte Anna alles, was er dachte aber nicht aussprach. Mit einem Kind, noch dazu eines Fremden, hatte er wirklich nichts im Sinn.
Sobald das Tageslicht erloschen war hatte sie endlich ihren lieben Bub, dessen Vater ihr einfach nicht einfallen mochte bei sich. Ohne grosses Aufsehen standen Schwester Vicentia und der Herr vom Jugendamt plötzlich mit dem Jungen im Hausflur, öffneten leisen Schrittes die unverschlossene Tür. Anna brachte kein einziges Wort mehr über die Lippen, erhob in Schlangentempo wie gelähmt ihren Körper von dem Sofa und ging in Tränen auf Markus zu. Ihr blutete vor Schmerz das Mutterherz, als sie die Leere und die Gleichgültigkeit Markus zu spüren bekam. Der Junge erwiderte jede Art von Zärtlichkeit mit strikter Ablehnung indem er das Gesicht zur Seite wandte mit dem Blick zum Boden. Schwester Vicentia hielt das für ein normales Verhalten des Kindes. Schliesslich sei Anna eine Fremde für ihn erklärte sie beruhigend. Hans dagegen empfand keine väterlichen Gefühle. Der anfänglich gute Wille liess in jenem Moment nach, als er den Bauernjungen sah. Der stand da, die Hände in den Hosentaschen, in lässiger Haltung auf einen Bein abgestützt und sein unverschämter Blick starrte ausgerechnet auf das behinderte Bein von Hans. Der Vormund und Schwester Vicentia verabschiedeten sich sehr schnell, als hätten beide noch einen wichtigen Termin wahrzunehmen. Sie überliessen Markus seinem Schicksal.
Mit fest zusammengepressten Lippen weinte und strampelte der vor sich hin. Anna betrachtete ihr Kind mit lebhaften Interesse und versuchte erneut behutsam zu erklären, dass er nun für immer bei ihr bleiben würde. Der Junge reagierte mit abweisender feindlicher Haltung. In seinem kindlichen Widerstand erwiderte er jede Freundlichkeit mit eiskalten Augen und zeigte sich gegebenenfalls zu verteidigen.
Verblüffend bat Anna ihn zu Tisch, streifte beim vorbeigehen den Rücken von Hans der bis zuletzt Zurückhaltung übte. Während Kartoffelsuppe mit Würstchen serviert wurden, versuchte Hans ein Gespräch mit dem trotzigen Jungen zu führen. Markus starrte auf seinen zerkratzten Blechteller und verdrehte bei Hans Worten spöttisch die Augen. Ehe Anna Gelegenheit fand darauf zu reagieren, äusserte Markus auch schon den Wunsch ins Bett gehen zu dürfen. Hans dagegen war der Auffassung, dass er allein darüber entscheidet wann wer zu Bett gehe. Wieder wurde der Junge zornig und weinte, liess sich fallen, wälzte sich auf dem Fussboden und schrie was die Stimme hergab. Doch zum ersten Mal in seinem Kinderleben erfuhr er die Härte einer Strafe. Hans gab ihm Schläge für seine Ungezogenheit mit einem Rohrstock. Anna stand daneben und hielt Hans nicht von der Züchtigung ab. Das Einhalten von bestimmten Verhaltensregeln würde er diesem Bastard schon beibringen, sagte Hans in seiner lauter werdenden Stimme. Jeder beliebige Straßenköter liesse sich dressieren und mit etwas Beharrlichkeit auch dieser Bastard. Dabei sah er vorwurfsvoll die Mutter des Buben an. Dazu erklärte Anna den Jungen, abwechselnd mal den Bub und dann wieder den Hans ansehend. Hans sei künftig der liebe Papa von Markus. Der liebe Papa fasste Markus mit schmerzhaften Griff am Arm und schubste ihn vor sich her. Ein röchelnder Atemzug war der einzige Laut den Markus noch von sich gegeben hatte, denn Hans schleifte ihn hinüber in das Kinderbettstadel. Markus konnte einfach nicht fassen was ihm widerfuhr. Von Müdigkeit überwältigt holte ihn der Schlaf ein.
Wie gross er schon ist schwärmte Anna voller Bewunderung. Hans erkundigte sich nach dem Alter des Bastards. Viereinhalb oder fünf antwortete sie zögernd als wüsste sie es nicht genau. Sie räumte den Tisch ab, spülte die Teller, brachte ihm eine Flasche Bier, sang dabei “Solo Mio“. Bei den Aufräumarbeiten lief sie hin und her. Hans beobachtete mit funkelten glänzenden Augen den leicht schwunghaften Gang und näherte sich ihr. Er nahm die Gelegenheit wahr, sie an die Freizeitbeschäftigung Liebe zu erinnern. Mit einem Tuch wurde das Kinderbett bedeckt. Markus war für eine Zeit vergessen. Als die Uhr am nächsten Morgen nicht zur gewohnten Zeit wie üblich läutete, keiner hatte an das Aufziehen des Weckers gedacht, schlichen beide ganz leise an das Bettchen des Jungen. Markus schlief tief und fest. Als er die Augen aufschlug war es schon fast Mittag. Misstrauisch sah er in die beiden über ihn gebeugten rot angelaufenen Gesichter, richtete sich auf, kletterte über das Bettgestell und sah Anna fragend an. Sie stellte eine vorbereitete Schüssel warmes Wasser auf den Tisch, feuchtete ein Tuch an, um ihm das Gesicht zu säubern. Aber es blieb bei der Absicht, denn Markus liess sich von niemanden anfassen, ging an das rostig zerkratzte graue Metallwaschbecken und wusch sich das Gesicht und Hals wie er es bei seiner Mutti auf dem Amberger Bauernhof gelernt hatte. Tage voller unerfüllter Erwartungen und die schmerzliche Enttäuschung über seine neuen Eltern verstärkten das Empfinden der Gefangenschaft. Die Sehnsucht nach seinem richtigen Zuhause in Amberg trieb ihn fast in den Wahnsinn.
Für das Kind waren die ehemaligen Pflegeeltern sein eigen Fleisch und Blut. Im Alter von fünf Jahren glaubte er, dass ihm Leid und Unrecht zugefügt wurde.
Aus Verzweiflung begann er an seinen Fingernägel zu kauen, in der Nase zu bohren und seinen Körper zu beschädigen. Er brachte sich unübersehbare Kratzer und offene Wunden bei. Alles geschah in der Hoffnung, dass man ihn bald wieder zurückbringen würde. In der Nacht hatte er oft das Gefühl, als ob er sich ausdehne und die vier Wände um ihn herum immer enger wurden, ihn regelrecht einschnürten und irgendwann ersticken könnten. Die innere Unruhe lies ihn nicht mehr los. Ob es regnete oder schneite, er hatte nur ein Ziel, von hier fortzukommen. Immer wieder versuchte Anna den Kleinen anzuziehen, doch er verweigerte es stets sich von ihr anfassen zu lassen. Riss ihr die paar Sachen aus der Hand, zog sich selbst die Hose die fürchterlich auf der Haut kratzte, das Hemdchen, dass viel zu gross war an. Sie nahm ihn trotz seines Widerstands an die Hand und zog ihn hinter sich her. Er konnte mit seinen kurzen Beinen kaum Schritt halten und empfand den Druck ihrer Pranke sehr schmerzhaft. Doch er konnte sich nicht befreien. Mehrmals hielt sie beim Spazierengehen an, nahm ihn drohend ruckartig zur Seite indem sie ihm einen Schlag auf den Hinterkopf verpasste. Vor Leuten die ihr unterwegs begegneten spielte sie stets die stolze Mutter, denn es gab bei solchen Gelegenheiten unheimlich viel zu erzählen. Sie liebte Klatsch und Tratsch über alles. Wenn sich jemand nach dem Befinden des Kindes erkundigte, begann sie zu klagen. Nein, ihr fehle nichts! Aber der Junge war wieder einmal schwer ja unheilbar krank. Mit Bedauern nahmen die Nachbarn Neuigkeiten dieser Art auf. Mal hatte der ahnungslose Knabe Knochenschwund, die innere Pest oder vielleicht sogar die ansteckende englische Krankheit. Die vom Schicksal so grausam verfolgte Anna liess es sich nicht nehmen, den angeblichen Wasserkopf des geliebten Kindes vorzuzeigen. Sie genoss das Mitgefühl der anderen. So kam es, dass die ganze Nachbarschaft im Lager von der schrecklichen Kinderlähmung erfuhr. Damit sie glaubwürdig schien, trat Anna beim Verlassen ihrer Barackenwohnung ihm jedes Mal hart in das Schienbein, damit auch wirklich jeder sehen konnte wie stark die Behinderung zugenommen hatte. Wenn der Sohn wegen einer Grippe bettlägerig war, dichtete sie ihm Muskelschwund an. So blieb das tratschende Weib immer unter ihres Gleichen im Gespräch. Das Tratschen über Nachbarn hielt sich in Grenzen, denn durch Schläge zugezogene blaue Augen passten nicht mehr so recht in ihr Konzept.
Mit der Zeit machten die erfundenen Krankheiten keinen Eindruck mehr auf die Zuhörer.
Da wurde aus dem „dreckigen Juden“ wie sie ihn im Zorne betitelte, ein armes Findelkind. Und so ein armes Würstchen bedurfte ihrer Zuneigung und deshalb zog sie ihn hinter sich her. Beim Anhalten zuckte er jedes Mal zusammen, aus Angst vor den angewinkelten Fingerknochen Annas, die an seinem Kopf nicht nur Schmerz, sondern auch Beulen verursachten. Tag um Tag empfand er die Prozedur unerträglicher und wurde den Verdacht nicht los, dass sie Freude am Schlagen hatte. Wenn er am Abend zu Bett ging tat alles weh. Ständig zog sie ihn an den Ohren und Haaren. Kopfschmerzen wurden zum Dauerzustand. Er bekam im Laufe der Zeit grosse abstehende Ohren wie er glaubte und begann sich dafür zu schämen. Nacht für Nacht dachte er an jene Kinde,r die er tagsüber beim Spielen sah, an denen er nicht teilnehmen durfte. Dafür belohnte ihn der Schlaf mit wunderschönen Träumen. Gegen Mitternacht wurde er durch wiederholtes Geklopfe auf den Tisch aus seinem Schlaf gerissen. Anna und Hans hatten Besuch, spielten Karten und betranken sich dabei mit einem Mischgetränk “Futschi“. Weinbrand mit einem Schuss Cola. Danach lag Hans bald in der Ecke und schnarchte. Anna dagegen soff so manchen ihrer Kumpanen unter den Tisch. Jedoch der trinkfeste Besucher, Pascal ein spanischer Gastarbeiter, prostete ihr immer wieder zu. Anna brauchte nun keine starken Drinks mehr um dieser Imitation eines Toreros willig zu sein. Der Junge guckte wissbegierig unter der Decke vor. Das Geschnaufe, Gestöhne und Gehabe beider jagte Markus kalte Schauer über den Rücken. Es war weniger die Angst bei Annas Gejammer, sondern die kindliche Neugierde trieb ihn sich in seinem Kinderbettchen hinzuknien und durch die Gitterstäbe zu beobachten was da geschah. Anna lag nackt da. Ein grunzendes Gestöhne. Plötzlich zog Pascal seine bis zu den Knien heruntergezogene Hose hoch, schloss den Hosenschlitz und verschwand wortlos. Anna erblickte den wach gewordenen Markus, ging auf ihn zu, umarmte ihn herzlich und flüsterte wie lieb sie ihn hätte. Das Kind wehrte mit Händen und Füssen ab. Markus konnte ihren Körpergeruch nicht ertragen. Sie stank nach Alkohol, Zigarettenrauch und altem Schweiss. Enttäuscht, wütend sah sie ihn an. „Dreckiger Judenbastard“ schimpfte sie ihn wie Hans, wenn er sich den Knaben zur Züchtigung vornahm und bespuckte ihn. Markus verzog dabei keine Mine. Sie ertrug sich anscheinend in diesem Moment selbst nicht. Sie eilte hinaus. Die Kehle war ihr wie zugeschnürt und das freie Atmen fiel ihr schwer. „Bastard“ dachte sie weinend. Markus sass zur selben Zeit in der wüst aussehenden Wohnung, sah Hans zu wie der vergeblich versuchte aufzustehen. In diesem Augenblick überkam ihn Ekel und die schreckliche Erkenntnis gefangen zu sein. Als sie in die Wohnung zurückkam und sorgfältige Toilette machte, wohlgefällig ihrem Spiegelbildnis zublinzelte fühlte sie Erleichterung. Pascal hatte in ihr all die Wünsche auf Abenteuer geweckt und der Rausch dieser Empfindung trieb sie von nun an in die Arme vieler Männer. Die Einsamkeit ihrer Ehe mochte einiges entschuldigen. In ihr brodelte eine heisse Begierde gegen die sie sich wie früher vor der Ehe mit Hans nicht zu wehren wusste. Sie hatte das Verlangen danach körperlich gebraucht zu werden. Hans nannte sie nun öfter einen Waschlappen und sah dabei meist den schmächtig gewordenen Jungen an. Warum höre man nie das Wort „Mutti“ aus Markus Munde, fragte sie. Markus schwieg. Gekränkt betonte Anna immer wieder, dass nur sie und keine andere seine Mutter sei. Viel später wenn er gross und stark wäre würde er es verstehen. Angeekelt bis ins tiefste Innere seines Kinderherzens wandte er sich von ihr ab, kletterte in sein Kinderstadel und versuchte sich vor allem Lebensmüll unsichtbar zu machen und krampfhaft einzuschlafen. Die enttäuschte Anna zündete aus Verlegenheit eine selbstgedrehte Zigarette an und starrte auf die Glut. Wenn die Asche zu Boden fiel, überkam sie öfter der Wunsch die Baracke in Flammen zu sehen. Doch fürchtete sie die negativen Folgen daraus und zwang sich zur Mässigung Unglückbringender Gedanken. Sie unternahm verzweifelte Anstrengungen ihr Kind für sich zu gewinnen. Die Umstände machten es unmöglich. Mit ihrem Hans verband sie nichts mehr. Seit langem fühlte sie eine bedrückende Leere. Zu sagen hatten sie sich längst nichts mehr. Es war eine verstummte Zweierbeziehung auf Trauschein in der einer und zwar der Alkohol, das Leben zu bestimmen begann. Alkohol bot dem herbei geredeten Leid, Freude wie Lust und war selbst in der empfundenen Wertlosigkeit des Seins zugegen. Einmal wandte sie sich vertrauensvoll an die Caritasschwester und klagte ihre Unzufriedenheit. Schwester Vicentia hatte Mühe ein wenig Ordnung in die Ehegemeinschaft zu bringen. Streckenweise ging es einigermassen gut, aber die Untreue von Anna liess sich auf die Dauer vor Hans nicht verheimlichen. Ausserdem erwiesen sich mehrere Nachbarschaftskontakte nicht förderlich für beide. Falschheit ist die Eigenschaft charakterschwacher Menschen und davon gab es hier reichlich. Hätten sie vor der eigenen Haustür zu kehren begonnen, wären viele ausgelastet und fänden kaum Zeit über andere herzufallen. Auch Anna versuchte aus vergangenen Fehlern zu lernen, ohne wirklichen Erfolg. Ihre Launenhaftigkeit hat sich gefestigt. Selbst nach Monaten flüchtete sich Markus immer in eine freie Ecke, die nicht mit Gerümpel und Abfall der Behausung verstellt war und sass apathisch, fast leblos da. Mutter und Sohn sprachen kaum miteinander. Worüber auch. Markus klammerte sich an seine Erinnerungen die zum Tagtraum wurden. Er hatte Heimweh nach seinen Pflegeeltern. Er träumte von deren Bauernhof, Hühnern, Katzen, Schweinen und Kühen. Von seiner Mutti, Papa, Omi und Opa aus Amberg und fand keine Ruhe mehr.
Krank vor Sehnsucht und in dem Glauben, dass die Amberger Familie ihren Knirps niemals vergessen werden und ihn wieder in seine vertraute Umgebung zurückholen würden. Er lächelte bei der Erinnerung, wie Opa beim Sandburgen bauen am seichten Teich ins Wasser fiel.
Doch Annas Worte “Hau ab, geh spielen“ scheuchten ihn auf. Blitzschnell folgte er der Aufforderung, die fast wie ein Ruf der Freiheit klang. Das helle Tageslicht blendete die verträumten Kinderaugen. Das Gras auf der Rasenfläche des Waschplatzes war so hoch gewachsen, dass die Halme sich unter ihren eigenen Gewicht niederbeugten. Ausser den Geräuschen seiner eigenen Schritte, dem Zwitschern der Vögel war kein Laut zu hören. Aber mehr brauchte der Junge nicht, denn die Natur liebte er über alles. Auf dem Rasen stehend, mit zitternden Gliedern atmete er die kühle Abendluft in tiefen Zügen ein und aus. Solange bis ihn davon schwindelig wurde. Mit den Händen streifte er kniend über das feuchte Gras und dachte an den Papa auf dem Lande in Amberg für den er oft Regenwürmer zum Angeln gesammelt hatte. Einmal, so erinnerte er sich, war die ganze Familie weit hinaus gefahren. Im Gepäck viele Eimer und Wannen um Frösche einzusammeln und sie an verschiedenen Weihern auszusetzen. Umsiedlung nannte es der Opa. Aber auch in dem trostlosen Lager gab es viele interessante Dinge. Da war ein rotbrauner Ziegelbau entlang des ganzen Lagers unterbrochen von einem Fussgängerweg um auf die Römerstraße zu gelangen, auf deren anderen Seite eine riesige Gärtnerei war die zusätzlich Felder mit Zuckerrüben bewirtschaftete. Der lange Ziegelbau war innen mit Holzlatten in Einheiten aufgeteilt und wurde als Abstellplatz und Keller genutzt.
Nach der Befreiung der KZ-Inhaftierten wurden die Baracken lediglich mit Schieferplatten, Papp- und Holzwänden ausgestattet, um für die überall herbei gekarrten Familien möglichst viel Wohnraum zu schaffen. Wo einst KZ-Häftlinge zu Tausenden vernichtet wurden, herrschte nun reges Leben als sei nie etwas gewesen.
Anna rief inzwischen ihren Spatz zurück und die Nachbarkinder hänselten und verspotteten den Markus deswegen schon. Vor den anderen Buben nannte sie den Jungen “Spatzilein“ und das reichte als Angriffsfläche aus. Er begriff bald, dass das Leben in seiner neuen Umgebung etwas härter genommen werden musste. Die Erkenntnis verwandelte Markus, der von nun an Kontakte scheute und eine eigene Lebensweise führte. Er bot sich jedermann für Einkäufe an um an Taschengeld zu gelangen. Sobald er jedoch einige Mark mühevoll zusammengespart hatte, nahm Anna es ihm wieder ab. Da wusste er, dass aus dem Plan Geld zu sparen und dann zu fliehen nichts werden würde. Er musste es hinnehmen, dass Anna seufzend auf dem Bett lag, den Kopf abstützend und sein mühsam erworbenes Geld buchstäblich verqualmte. Mit einer Zigarette zwischen den Fingern fühlte sie sich wie eine Dame von Welt. Der Haussegen hing längst total schief. Hans war kaum noch nüchtern anzutreffen und wenn, dann sah er krank aus. Ein weiteres Problem bereite das Geld. Es war selbst für das Notwendigste zu wenig, so dass Markus auf den Gedanken kam zu stehlen. Zunächst beschaffte er Geld auf andere Weise. Er war oft stundenlang auf der Suche nach Pfandflaschen die von Touristen des Krematoriums weggeworfen wurden, ging von Papierkorb zu Papierkorb, von Mülltonne zu Mülltonne. Wenn er selbst einmal Hunger hatte, wandte er sich bettelnd an die Lagermetzgerei nach Abfällen. Bei den erhaltenen Brot- und Wurstresten vergaß er Anna nie, wenn er etwas bekam. Das Verhältnis zu ihr schien dadurch für ihn erträglicher und begann deshalb alles mit ihr zu teilen. Auf der nördlichen Seite des Krematoriums floss ein Bach in den die vielen Touristen Geldstücke warfen, wohl in dem Glauben sich durch eine gute Tat die Sympathie des Herrgott's zu erschleichen. Wenn sich in der Abenddämmerung der Rummel legte, trafen sich einige Lagerkinder und sprangen in den Bach, tauchten nach allem was einer Geldmünze ähnelte. Weil es Handgreiflichkeiten untereinander gab, teilten sie sich unterhalb der Brücke den Wasserbereich auf. Manchmal sahen KZ-Besucher vergnügt diesem Schauspiel zu und warfen zusätzlich Pfennige in den Bach. Falls Markus mal zu kurz kam, scheute er sich nicht an den Reisebus zu gehen um zu betteln. Verdreckt und verlumpt wie er inzwischen geworden war, eilte er oft noch an das Tor des Krematoriums, bevor es von den amerikanischen Wachposten geschlossen wurde. Er stellte sich auf den Schutthaufen in kindlicher Siegerpose und liess sich von den Touristen fotografieren. Anschliessend hielt er seine Hand auf, in der Hoffnung, dass auch dabei etwas für ihn abfiel. Manchmal gelang es ihm an so viele Geldstücke zu kommen, dass Anna nebst ihren Zigaretten, Kaffee und Flaschenbier für Hans etwas zu Essen kaufen konnte. Hans sprach daher bei guter Laune lobend vom nutzbringenden Bastard. Wenn Markus von seinen Betteltouren zuhause ankam. sah er oft die von Dampf beschlagenen Fenster. Das bedeutete, es wurde gebadet. Kürzlich hatte Anna eine grosse Metallwanne besorgt. Vorher säuberte jeder seinen Körper in einer Emailleschüssel, dann stieg Hans stets zuerst in die Wanne. Anna bereitete es Vergnügen ihren Hans abzuschrubben. Anschliessend liess er sich von ihr abtrocknen und setzte sich auf einen Stuhl um sie zu beobachten. Anna liess ihre Kittelschürze vom Körper nach unten fallen und stieg selbst in die Blechwanne. Fürsorglich nahm Hans sich ihrer an. Damit das Wasser nicht abkühlte wurde mehrmals von ihm heisses Wasser nachgegossen. Als Markus an der Reihe war, stieg er trotz Unbehagen in diese Brühe. Mit Begeisterung seifte Anna ihren Spatz ab und erzählte ihm wundersame Kindergeschichten. "Erzählt die einen Quatsch", dachte er und vergass dabei, dass er sich von ihr eigentlich nicht anfassen lassen wollte. Heute hatte er einen schlechten Tag gehabt, aber wenn er noch länger beim Betteln geblieben wäre, hätte er Furcht vor der Dunkelheit gehabt. Anna ermahnte ihn, sich nicht von der Lagerschwester erwischen zu lassen. Hin und wieder fühlte Markus sich durch den Zuspruch beider gestärkt. Hans hatte inzwischen das von Markus erbettelte Geld gezählt und bemängelte, dass es heute so wenig war. Er habe nichts versteckt, verteidigte sich Markus. Anna schwärmte den Hans von zwei G.I.‘s vor, die sie kennengelernt hatte. Sie arbeiten im Camp in der Küche und könnten allerlei mitbringen. "Mir doch egal" brummte er, da er inzwischen ohnehin nichts mehr zu sagen hatte und sich auf das frisch bezogene Bett fallen liess. Anna kleidete sich an und bemalte ihre Lippen mit einem kräftigen Rot. Es war nur dieser zur Auswahl. Sie ginge aus, erklärte Anna in unternehmungslustigen Ton. Der Junge bat ob er mitkommen dürfte. Nach langem Hin und Her willigte sie ein. Seine Freude war um so grösser geworden, als er sah, dass sie das Fahrrad holte. Die gefahrene Strecke war zum Teil holperig wegen dem beschädigten Straßenbelag.
Strampelnd und keuchend trat sie in die Pedale und er vergnügte sich auf dem Gepäckträger. Während er sich an ihr festklammerte spürte er ihre Körperwärme und lehnte sich ganz dicht an sie. Er bekam einen Schubs mit der Bemerkung, "Lass das sein!"
Sie waren an der Umzäunung der Lagerkirche angekommen. Markus musste auf das Fahrrad achten und Anna kroch durch das Loch im beschädigten Zaun, rannte unsicher auf Stöckelschuhen über den Kirchplatzrasen und verschwand. Die Stille machte ihm nach einer Weile in der Dunkelheit Angst. Er fasste Mut, liess das Rad stehen, kletterte über den beschädigten Zaun und lief die gleiche Richtung wie Anna um die Kirche herum bis zum mächtigen Eingangstor "Main Gate", dass zur Lagerseite eingezäunt verschlossen blieb. Die Riesenfläche davor wurde als Exerzierplatz genutzt. Das Gebäude neben den mit dem in weiss gehaltenen Haupttor war das Hauptquartier, ein Stützpunkt der Militärpolizei. Dicht dahinter, ebenso mit Stacheldraht umzäunt befand sich der Sperrmüll der Kasernen und genau dort fand er Anna etwas verspielt mit einem G.I. auf einer kaputten Matratze liegen. Sie bemerkte den Jungen und scheuchte ihn mit verniedlichten Worten fort. Doch Anna wusste genau, dass sie mit seiner Verschwiegenheit rechnen konnte, denn im Laufe der Zeit waren beide zwar nicht Herz und Seele, aber Markus war zu ihrem Komplizen geworden. Wenn Hans nicht in der Stube hockte schickte sie den Jungen los irgend einen G.I. aufzulauern und mitzubringen. Was er auch befolgte. Denn Anna war zeitweise unerträglich. Um Prügel zu entgehen brachte er von sich aus den einen oder anderen Mann mit, weil er wusste, am nächsten Tag war sie bester Laune. Natürlich sprach sich das in den Kasernen herum und so kam es vor, dass sich G.I.‘s bei dem Fünfjährigen anmeldeten, dafür Lebensmittel oder einen Dollar in Papier oder Münzen spendierten. Anna liess sich ebenfalls für ihre Dienste Naturalien, Zigaretten, Bohnenkaffee, Nylonstrümpfe und Kleider mitbringen. Ihr grosszügiges Gehabe den Nachbarn gegenüber in der Verteilung von Getränken und Essbaren usw. brachte Neider so auf, dass dieser Brunnen den Umständen entsprechend versiegte. Intriganten hatten mit ihr ein leichtes Spiel zumal sie sich in ihrem vulgären Gerede selbst schadete. Es hagelte geradezu Briefe vom Jugendamt Dachau, in denen Anna auf die Häufung von Beschwerden mancher Nachbarn hingewiesen wurde. Aus Behördenangst und Peinlichkeit verneinte sie viele Anschuldigungen, wies alles energisch von sich. Trotzdem kam eines Tages der mahnende Verweis, wenn sie nicht sofort für geordnete Verhältnisse sorgen würde, sehe man sich gezwungen das Kind in einem Heim unterzubringen. Nun schien bei Anna alles aus den Fugen zu geraten. Hans hatte bereits die Scheidung eingereicht. Er hielt sich bei seiner neuen Freundin auf, wenn er nicht gerade seine Zeit mit Krankenhausaufenthalte verbrachte. Die Ärzte stellten bei ihm Herzmuskelschwund und Rheumaleiden fest.
Anna zog jeden Abend um die Baracken. Jede Nacht klopfte irgend jemand am Fenster und wollte zu ihr. Markus schickte die Amis in die Lagergaststätte wo sich Anna vermutlich aufhielt.
Am folgenden Tag kam Schwester Vicentia und erinnerte Anna daran, dass Markus eingeschult werden würde und sie sich um eine korrekte Anmeldung kümmern müsste. Tüten und Schulranzen für die Einschulung besorge sie später. Bei der Gelegenheit machte Vicentia Anna erneut darauf aufmerksam, dass sie den Knaben nicht wie ein Mädchen anziehen dürfe. In der Gemeinschaft ernte er sonst Spott, dass würde ihm sehr schaden. Anna fuhr sich mit den Fingern durch das lange Haar, eine Bewegung die sie immer machte, wenn sie nach Worten suchte. Im Eingangsflur verabschiedete sie genervt die Schwester. Dann ging sie zurück in ihr Zimmer, öffnete eine Flasche Bier, liess sich auf dem Bett nieder und dachte über alles nach. Ihr Ruf interessierte sie so gut wie nicht. Ihretwegen könnte die gesamte Bagage draufgehen. Doch so wie all die Jahre zuvor könnte sie nicht mehr weiter leben. "Sie haben mich alle kaputt gemacht", dachte Anna. So sehr, dass ihre Selbstachtung dahin sei. Sie selbst könnte nichts dafür.
Den Tag darauf ging sie zur Schwester um sich einmal von Frau zu Frau auszusprechen. Tröstend sagte Vicentia sie würde Anna helfen. Als erstes ordnete sie an, dass Markus vor der Einschulung sofort in den Kinderhort zu gehen habe. Der Hort lag etwa 17 Baracken weiter und war neben der Barackenkapelle Tür an Tür in der Gottesdienste abgehalten wurden untergebracht. Die Fenster des Kindergartens daneben waren mit bunten zarten Fingerfarben bemalt, zeigten in kindlicher Wiedergabe allerlei märchenhaftes Getier, eine Schnecke auf Rollschuhen, eine wasserscheue Katze die einer fetten Spinne nachschwamm, lächelnde Sonnen, glitzernde Sterne und einen Mann auf dem Mond der Blumen goss.
Darüber würde sich ihr kleiner Bub bestimmt freuen dachte Anna. Doch er fühlte keine Spur von Freude, denn schliesslich war er verdammt erwachsen, und dann dieser Kinderkram!
Einige Zeit später wurde er für die Anmeldung zur Schule zurecht geputzt. Mit Verwunderung stellte er fest, dass er einen ganz anderen Namen hatte als bisher. Letztendlich war ihm das egal, er blieb Markus der unehelich geboren wurde. Zu diesem Zeitpunkt war das noch von Schande belegt. Als sie zurück in die Wohnung kamen war Hans mit seiner Freundin anwesend. Verlegen griff Anna nach einem Putzeimer und sagte wütend, dass sie sich über den Boden hermachen müsste. Sie warf den Scheuerlappen in den verrosteten Eimer und erkundigte sich beiläufig bei Hans, wie er sich das zu dritt vorstelle? "Wunderbar", entgegnete die aufgedonnerte Frau deren übertünchtest Gesicht einen verbitterten Ausdruck hatte. Kruzi Teufel dachte Anna, was er da wieder für ein altes Miststück aufgegabelt hatte! Wenn die alte Schachtel lächelte sah es aus, als würde eine Falte die andere verdrängen wollen. Anna eröffnete den Kampf um die Gunst des Mannes den sie einst liebte. Gleichzeitig wusste sie aber, dass nichts mehr zu retten war. Eigentlich wollte sie es auch gar nicht mehr, und nach einigen Stunden verflog der Rivalenhass. Schon nach kurzer Zeit verstand sie sich mit der alten Eva bestens. Von nun an duzten sie sich. Noch am gleichen Abend gingen beide ohne Hans aus, um sich in der Lagergaststätte zu amüsieren.
Nur der Bub verstand nichts. Er musste wieder alleine in der Bude bleiben, um auf sie zu warten. Warten hiess, dass viele Stunden vergehen würden.
Um Mitternacht, Markus hatte längst geschlafen, klopfte es am Fenster. Markus beugte sich auf, sah durch den seitlichen Spalt der Gardine und erkannte Glenn den Soldaten, der ihm früher Spielsachen mitbrachte. Mit ihm ins Kino ging, ihn mit auf das Münchner Oktoberfest nahm und mit ihm besonders viel Freizeit verbrachte. Markus tastete sich vor Freude durch den Vorhang, öffnete das Fenster und liess ihn einsteigen. Übermütig fiel er Glenn um den Hals. Denn er kam aus seinem Heimaturlaub und wollte alle wiedersehen.
Glenn hatte mit dem Jungen eines gemeinsam. Irgendwie war auch er in seiner Seele ein Kind geblieben und sehnte sich nach Zuneigung. Zu Anna pflegte er eine freundschaftliche Beziehung. Wie Anna einst urteilte, war Glenn ein junger ausgesprochen gut aussehender Soldat. Anna hatte schon immer einen Fabel für grosse breitschultrige, drahtig sportliche Männer. Glenn hatte blondes dichtes Haar, dass immer etwas unordentlich aussah. Seine Augen waren stahlblau, strahlend und ernst zugleich. Wenn er lachte, besass er den gewissen Zauber den nur Männer beim Lächeln haben. Leider lachte er nur selten.
Nun machten beide sich daran die Geschenke auszupacken. Markus hing immer noch wie eine Klette an seinem Arm und erzählte und erzählte. Glenn sagte zu allem "Yes". Der Bub gab sich besonders viel Mühe in seinem gebrochenen Hinterhofenglisch mit bayerischen Akzent. Markus zündete eine Kerze an und schaltete die Stehlampe aus, um Strom zu sparen wegen des Mahnbriefes des Elektrizitätswerkes. Kerzen dagegen waren kostenlos. Markus entwendete die Kerzen aus der Kirche. Nach einer kurzen Erholungsphase tobten sie beide umher, boxten sich und machten eine Kissenschlacht. Von einer Sekunde auf die andere wurde Markus nachdenklich und ruhig, legte sich zu Glenn aufs Bett und kuschelte sich ganz nah an ihn. Brüderlich nahm der G.I. ihn in den Arm und knuddelte ihn. Der Docht der Kerze war abgebrannt und es war dunkel im Raum geworden. Glenn unterbrach die Zärtlichkeiten, knipste sein Feuerzeug kurz an um auf die Uhr zu sehen, denn er musste gegen 6.00 Uhr am frühen Morgen in der Kaserne sein und versprach dem Jungen bald wiederzukommen. Glenn verliess die Wohnung durchs Fenster. Markus lehnte das Fenster nur an, in der Hoffnung das Glenn noch einmal zurückkommen würde. Kurz darauf schlief er ein. Der Junge empfand die gegenseitigen Berührungen als sehr angenehm und dieses Gefühl ging ihm nicht mehr aus den Kopf.
Bald darauf erschien Anna betrunken von ihrer nächtlichen Sauftour, und schlug wahllos auf den Bub ein, weil er in ihrem Bett lag. Schreiend vor Angst rannte er in das inzwischen zu klein gewordene Kinderbett und zitterte vor ihren Wutausbruch. Er zog das Kissen unter seinen Arm und träumte im Wachzustand es sei Glenn. Kurz darauf versank er mit seinen Träumen in den Schlaf.
Am Vormittag gegen 10.00 Uhr kam Vicentia und machte Anna eine Szene. Sie machte ihr klar, dass sie dieses nächtliche Herumtreiben nicht mehr länger mit ansehen könnte. Sie habe wieder allerhand gehört und warum sei der Junge nicht im Hort, fragte sie Anna. Anna schwieg dazu. Markus zog sich schnell an und die Vicentia nahm ihn gleich mit. Versuche ihn auszufragen scheiterten. So gab sie ihn im Hort ab. Da stand er nun und schien von allen der kleinste zu sein. Am liebsten hätte er sich fluchtartig aus dem Staub gemacht. Nach der Mittagsruhe hing er nur noch am Fenster, blickte nach draussen und verfluchte alles und jeden der in seine Nähe kam. Er hätte aus der Haut fahren können, sobald er nur die piepsige Stimme der Hortaufseherin hörte. Die anderen Kinder mochte er auch nicht leiden. Es war einfach zum Kotzen, dass ausgerechnet ihm das widerfahren musste, dachte er.
In Annas Wohnung spielt leise Musik. Sie tänzelte über den knarrenden Fussboden, öffnete das Fenster und lehnte sich an den Rahmen. Die Luft war frisch und sie fröstelte ein wenig, aber das kam nicht nur von der Kühle, sondern auch von der freudigen Erwartung die sie durchströmte. Mike befand sich gerade auf der Aussentoilette und sie erwartete ihn jeden Augenblick zurück. Die nächsten Stunden versprachen aufregend zu werden. Schliesslich war er das, wonach sie so lange gesucht hatte. Ein stämmig gewachsenes Mannsbild der sofort auf sein Ziel lossteuerte und sich mit Gewalt nahm was er brauchte. Aufgeregt stürzte er zur Tür herein und streifte seine schwarze Lederjacke ab. Sie warf ihm einen ungeduldigen Blick zu und öffnete einige Blusenknöpfe. Mike zog sie mit einem festen Griff an sich, riss ihr die Kleidungsstücke vom Leib und machte sich wie ein wild gewordenes Tier über sie her.
Markus kam gerade aus dem Hort und vernahm schon beim betreten des Hausflurs das Stöhnen und Jammern der Anna. Er beobachtete beide durch das Schlüsselloch. Dabei sah er wie Mike auf das Hinterteil der kniend auf dem Bett nach unten gebeugten Anna mit einem Gürtel peitschte und immer wieder sein behaartes Hüftbecken an sie klatschte. "Wie komisch", dachte Markus und klopfte. "Wer ist da?", schrie Anna. Ich bin’s, antwortete er zaghaft. Verschwinde, geh spielen, schrie sie.
Mit düsteren Gedanken ging er nach draussen, sah sich erst mehrmals um. Spontan entschloss er sich Tante Vicentia zu besuchen. Als er bei ihr eintraf, erzählte sie ihm sichtlich erfreut, was für einen arbeitsreichen Tag sie hinter sich habe. Neugierig fragte sie den Markus, was er denn so den ganzen lieben Tag mache. Bevor er erzählte bat er um etwas zum Essen da er sehr hungrig war. „Sag mal, wie bist Du denn zu Deiner aufgeplatzten Lippe gekommen“, fragte sie. Anna sei nicht zu Hause antwortete er zaghaft und wich verunsichert ihren Anfragen aus. Stottere mir nichts vor, sag mir was passiert ist", forderte sie ihn energisch auf. Ihr blieb fast die Sprache weg, als Markus schluchzend ihr einiges zu erzählen begann.
Mit Entsetzen versuchte sie seine Erzählung nachzuvollziehen, wobei sie das Verhalten dieser Mutter nicht verstehen könnte. Gestern genoss Anna voller Stolz eine Tasse Bohnenkaffee, rauchte mit einer extrem lange Zigarettenspitze eine selbstgedrehte Zigarette und summte zur Herbstzeit einige Weihnachtslieder. Dabei legte sie einmal das rechte Bein angewinkelt auf das Linke, dann wieder das Linke auf das Rechte, spielte mit der freien Hand in ihrem frisch eingedrehten Haar und kümmerte sich nicht um Markus. Der Junge wusste nicht, wann er das letzte Mal richtig gegessen hatte. Um so grösser war sein Verlangen nach Flüssigkeit, denn dadurch wurde ihm für kurze Zeit Sättigung gegeben. Darum bat er Anna, die sich nicht stören liess mehrmals um ein Glas Wasser. Ihre Gedanken waren abwesend. Er nörgelte ein wenig ungeduldig, denn ohne ihrer ausdrücklichen Erlaubnis durfte er sich nichts nehmen. Seine kindliche Ungeduld brachte das Fass zum überlaufen und erweckte in ihr einen bis dahin ungekannten Zorn.
Sie packte ihn an seinen Haaren, zog ihn an das Waschbecken, band mit einer Wäscheleine seinen Kopf an dem Wasserhahn fest, drückte das Kinn nach oben, dass der Wasserhahn im Mund seinen Platz fand, zog die Leine an und liess das Wasser voll laufen. Um zu überleben hatte er in Sekundenschnelle seine kindliche Raffinesse angewandt. Er schluckte nicht mehr, er liess alles Wasser aus dem Mund herauslaufen und atmete ganz langsam durch die Nase. Die Tritte und Schläge spürte er in diesem Moment nicht. Die Anna zu töten festigte sich in seinen Gedanken. Dann kam endlich einer ihrer Liebhaber. Als er das sah und das Dilemma überblickte, schlug er Anna zu Boden und befreite Markus von seiner Fesselung.
Wenige Tage später kam der Zeitpunkt, an dem das Jugendamt dank Schwester Vicentia vom Kinderarzt aufmerksam gemacht wurde, da der Arzt Striemen und Blutergüsse an Markus Körper feststellte. Der Verdacht auf Kindesmisshandlung lag nahe und die Caritasschwester informierte in der selben Stunde noch die Lehrerin der ersten Schulklasse, in der Markus seit Monaten als nervöser ängstlicher Schüler galt. Für den erforderlichen Lehrstoff zeigte er nicht das geringste Interesse, litt häufig an Müdigkeit. Sein verwahrloster Zustand wurde für die Mitschüler auf die Dauer eine Zumutung.
In der Lehrerkonferenz beschloss man sich um die Belange des Jungen mehr zu kümmern. Dazu besuchte eines Tages der Rektor der Grundschule die Anna, um sie vor den Folgen zu warnen, wenn sie ihn nicht regelmässig zum Unterricht schicke. Er war ebenso darüber empört, in welchem Zustand sich die Wohnung befand. In dieses Wirrwarr von Gespräch platzte Markus herein, brachte einen farbigen G.I. mit und rannte wie von Sinnen fort, als er den Rektor sah. Der G.I. packte seine mitgebrachten bis zum Rand gefüllten Tüten aus, in der Zigaretten und Weinbrandflaschen verstaut waren. Er machte es sich an Annas Seite bequem, platzierte die Füsse auf dem Tisch und ging auf Tuchfühlung.
Der Rektor griff seine Mappe und ging ohne sich von ihnen zu verabschieden.
Sie tänzelte während sie sich entkleidete zum Fenster, zog die Gardine etwas zu um den Lichteinfall zu dämmen um ihren neuen Lover in Stimmung zu bringen.
Während Anna ihre Liebespraktiken zum Besten gab, lief Markus ziellos immer nur geradeaus in Flussrichtung zum Campingplatzes der Zigeuner. Die Gegend war sumpfig, die Amper hatte Hochwasser. Dort erbettelte Markus sich eine Decke um weiterzuziehen. Doch er blieb und spielte bis in die Nacht mit den Zigeunerkindern Seilspringen und Verstecken.
In der hellen Mondnacht lief er ein Stück zurück, auf den mit Laternen beleuchteten Weg in die davor liegende Siedlung. Bog nach rechts ab, sah sich verstohlen um und flüchtete schnellen Schrittes den von Wildwuchs bedeckten Hang hinauf in den hügeligen vertrauten Wald. Dort wo die Hortgruppe ihren Platz zum Fussball spielen hatte fand er ein Erdloch, kroch hinein und liess sich nieder.
Noch einmal, wie an jedem Abend überträumte er mit offenen Augen die Bilder des abgelaufenen Tages. Angstschweiss sass ihm im Nacken, denn jedes Geräusch das er vernahm versetzte ihn in Schrecken. Sein kürzlich im Hort erlerntes Lied "Gott ist die Liebe", begann ihn während des Summens in den Schlaf zu wiegen.
Am frühen Morgen wurde er durch laut hörbare Schüsse, vermutlich von Wilderern geweckt.
Er klopfte das Laub von seiner verschmutzten Kleidung, schüttelte sich kurz und marschierte wieder an die Amper. Kilometer weiter hinter dem Hügel lag der Ort Schönbrunn, dessen Klosteranlage eine Irrenanstalt beherbergte. Regelmässig war er mit Anna auf einem verrosteten Herrenfahrrad hierher gefahren, um am frühen Morgen rechtzeitig an der Essensausgabe von den Nonnen verpflegt zu werden. Die Bedürftigen brachten jedes Mal mehrere Milchkannen, Schüsseln und Töpfe mit, die dann für den Mittagstisch zu Hause gefüllt wurden. Die Patienten der Psychiatrie bewegten sich frei im Hof. Einige Freigänger kannten Anna bereits. Besonders freundlich war sie zu jenen Behinderten, denen sie das Taschengeld mit leeren Versprechungen abnehmen konnte.
Auf seinen Marsch hatte er die Amper bereits hunderte von Metern hinter sich gelassen. Der Weg nach Schönbrunn schien kein Ende zu nehmen. Als Markus an der Straßenkreuzung stand, vernahm er schon aus der Ferne das Motorengeräusch von Militärfahrzeuge. Sein Vorhaben nach Schönbrunn zu laufen, war nebensächlich geworden. Vom Tal aus der Richtung vom Schiessplatz kamen einige Panzer angefahren. Das Schauspiel war für ihn so beeindruckend, dass er bei Sichtkontakt anfing die Hände zu schwenken und den Soldaten zuwinkte. Die unheimlichen mächtigen Fahrzeuge näherten sich. Für seine freundliche Begeisterungsgeste warfen einige amerikanische G.I.‘s ihm Kaugummis zu. Dieser ohrenbetäubende Lärm war Musik für seine Ohren. Die vorbeirollende Maschinerie hinterliess bei glühender Sonne dunkle Kettenabdrücke im Asphalt. Die Erde zitterte, was für ihn aufregend schien. Als das Spektakel vorüber war, marschierte er stolz wie ein kleiner Soldat mit zu kurz geratenen Beinen über Wiesen den steilen Hang hinauf auf den Leitenberg, von dem im Barackenlager gruselige Dinge erzählt wurden. Zu Tausenden lägen Leichen unter diesem angelegten Schuttberg. Deshalb dieser merkwürdige Geruch in der Luft trotz ausgiebiger Bepflanzung.
Fast erschöpft oben angekommen, wurde es ihm ein wenig unheimlich. So beschloss Markus, den Hang zur Unterführung Richtung Amperbrücke wieder runter zu laufen. Zuweilen begegneten ihm auf der verlassenen grauen Straße Radfahrer und Menschen, die ihr Hab und Gut in Decken, die zu einem Wickelsack gebunden waren fortschleppten. Der reissende Fluss vertrieb auch noch die letzten Zigeuner mit ihren Wohnwagen vom Stellplatz. Markus träumte oft davon, wie gerne er doch mit ihnen gefahren wäre. Bald schon waren die Lagertürme in Sicht und je näher sie dem Wege schienen, desto grösser wurde seine Angst vor Anna.
Die Tageswärme hatte sich längst gebrochen und er wusste in der aufkommenden Kühle keinen anderen Ausweg, als sich bei Anna zu melden. Den Hausflur zu betreten war nicht einfach für ihn, denn er rechnete mit Stockhieben, aber er schwor sich nicht mehr zu weinen, täte es ihm auch noch so weh. Markus öffnete ganz vorsichtig die Wohnungstür, trat ein und grinste Anna wie ein Lausbub an. Es geschah nichts. Nicht ein Wort kam über ihre Lippen. Fassungslos stand er vor ihr und wunderte sich über ihr stilles Verhalten. Augenblicklich begriff er nicht die für ihn völlig neue Situation. Immer noch sah er sie ungläubig an. Da holte Anna plötzlich zum Schlag aus, Markus konnte sich nicht mehr aufrecht halten. Er sackte zusammen und fiel zu Boden. Aus Angst vor ihren Fusstritten rührte er sich nicht mehr. Laut umher schreiend, holte sie aus der Kohlenecke zwei Holzscheite und hoffte, dass der Junge bald wieder zu sich kommen würde. Als Markus langsam zu sich kam, beschloss er sie eines Tages umzubringen. Wütend griff sie seinen Arm, zog ihn hoch, zerrte ihn in die Ecke und drückte den kleinen schmächtigen Körper auf seine blanken Knien nach unten auf die Holzscheite. Während er Qualen erduldete, steigerten sich ihre wutentbrannten Beschimpfungen auf schlimmste Weise. Ihr käme das Kotzen, wenn sie diese Missgeburt sähe, dass das gleiche Stück Scheisse sei wie der Vater.
Manchmal wünschte er sich seinen Vater, einen richtigen Papa, dachte er. Die sonst so tratschende Anna behielt den Namen des Zeugers von Markus für sich. Anna verlor völlig die Beherrschung, nahm die Stricknadel und forderte ihn auf, sich mit lieben Worten zu entschuldigen und zu gehorchen. Doch das Wort, die fünf Buchstaben "Mutti" brachte er aus Ekel nicht zustande. Dafür pikste sie ihn solange mit der Stricknadel in den Rücken bis er vor Schmerzen ihrem Wunsche entsprach. In diesem Augenblick war für ihn endgültig sicher, sich an Anna zu rächen. Erst als sich sein Hemd mit Blut tränkte, liess sie von ihren Misshandlungen ab.
Der Stoff war längst an den Wunden festgetrocknet. Markus durfte nun von den Holzscheiten aufstehen. Seine Knie schmerzten so sehr, dass er kaum stehen konnte. Zornig riss ihm Anna sein Hemd vom Leib, so dass die Wunden erneut anfingen zu bluten.
Es war Hochsommer und Anna begann den Kanonenofen zu beheizen und verbrannte das von Blut verschmierte Hemd. "Stubenarrest", schrie sie. Zog beim hinausgehen die Jacke an und sperrte die zugeschlagene Tür hinter sich ab. Ein Weinkrampf liess Markus seinen Hunger vergessen. Er fühlte sich jämmerlich und hoffte so sehr, dass bald ein Mann für sie auftauchen würde, um wieder Ruhe zu finden.
In ihrer Abwesenheit säuberte er die Wohnung, in der Hoffnung damit Einiges gutzumachen.
Er widmete sich seiner Spielzeugpuppe, nahm sie in den Arm und mimte eine liebevolle Mutter. Die Puppe schien ihm immer interessiert zuzuhören. Er vertraute ihr all seine grausamen Gedanken in einem Märchen an. Seine kindliche Phantasie liess die Anna auf grässlichste Weise immer wieder sterben. Die Puppe liebte er heimlich über alles. Sie bestimmte einen Abschnitt seines Lebens, wenn sie auch nur auf der rechten Seite ein Auge hatte, zur linken ein beschädigtes Ohr, am Fusse fehlte ein Zeh und ein Arm hing so dahin ohne Kraft. Deshalb gab er ihr keinen anderen Namen sondern nannte sie einfach nur Puppe. Noch bemerkte Anna nicht, was für einen Einfluss diese schmuddelige Puppe auf seine Person ausübte. Markus glaubte fest daran, dass sie mit ihm sprach und war völlig sicher einen Verbündeten gegen das Unrecht zu haben, dass Anna ihm zufügte. Gemeinsam planten sie Annas Unglück.
Er vertraute seiner geliebten Puppe, belauschte Gespräche die Anna bei einem Kaffeekränzchen mit der Nachbarin ausplauderte. Vor Markus Geburt sei noch ein Säugling auf der Strecke geblieben. Das Häufchen Elend verscharrte man auf dem Waldfriedhof. Seitdem bedeutete das Leben nichts mehr für sie, da der Vater des Kindes der einzige Mann war, den sie liebte. Er hatte nie von der Geburt Jörgs erfahren, weil er sie längst verlassen hatte.
Eines Morgens entschloss sich Markus, statt die Schule, den Waldfriedhof zu besuchen. Am Friedhofstor fragte er die Frau in der Gärtnerei, wie er das Grab seines Bruders finden könne. Da sie ihm nicht behilflich sein konnte, verwies sie Markus an das weisse Haus auf dem Wege. Aufgeregt ging er auf das Gebäude zu, sah keinen Menschen und versuchte die grosse schwere Tür zu öffnen.
Mit viel Kraftaufwand gelang ihm das öffnen auch. Nun lief er in einen Gang auf dessen rechter Seite es Schaufenster an Schaufenster gab die mit Blumen ausgeschmückt waren.
Als er sich dem ersten Fenster näherte, erkannte er am unteren Rahmen eine aufgestellte Karte die mit einem Namen versehen war. Markus konnte noch nicht lesen und als er seinen Kopf nach oben richtete, blieb ihm vor Schreck fast das Herz stehen. Die Tamara aus Baracke 7 lag schlafend hinter diesem Fenster. Die alte Tamara sah jünger aus, als zu Lebzeiten vor Tagen. So ist es also, wenn man tot ist, überlegte er und sah sich von Fenster zu Fenster ohne innere Anteilnahme die anderen aufgebahrten Leichen an. Schliesslich sah er einen weisshaarigen gekrümmten Herrn mit einigen Körben voll Blumen hantieren, um die Särge der aufgebahrten Toten auszuschmücken. Markus klopfte mit den Fäusten gegen die Scheibe. Einen Augenblick erstarrte der alte Herr, dann deutete er Markus durch Zeichen an, ihn aus dem Gang zu holen.
Aufmerksam hörte sich der Friedhofswärter auf den Gang ins Friedhofsbüro Markus Anliegen an.
Im Büro griff der Wärter zu einer Akte aus dem zimmerhohen Regal und blätterte in seinem Bestattungsbuch aus dem Jahre 1950. Nach kurzem Suchen fand er den erwünschten Namen. Er wandte sich Markus zu und meinte:"Von deinem Brüderchen" dürfte nichts mehr vorhanden sein! Nach vielen Fragen erfuhr Markus, dass Tote verwesen, verfallen und zu Staub werden. Als alles geklärt war begleitete der Friedhofswärter ihn zum Grab seines Brüderchens. Sichtlich enttäuscht stand Markus vor einem kahlen Fleckchen Erde, dass vermutlich noch nie einen grünen Grashalm wachsen sah. Auf einen schrägen Holzkeil, der nach all den Jahren schon morsch geworden war, konnte ein kleines unleserliches Schild wahrgenommen werden. Das sollte an seinen Bruder Jörg erinnern.
Der Wärter sah den enttäuschten Gesichtsausdruck des Jungens und mischte dem Erzählen ein wenig Phantasie bei. Jörg hatte nur wenige Tage gelebt. Er wurde aus dem Krankenhaus direkt ohne nahe Angehörige beigesetzt, erinnerte sich plötzlich der Friedhofswärter, der von der Grabrede des Pfarrers besonders angetan war. Alle Anwesenden beteten für Jörg und sangen Botschaften an den lieben Gott. Für Markus war es beruhigend.
Er nahm den Jungen an die Hand und führte ihn in Richtung Friedhofsausgang mit den Worten das wäre nichts für einen kleinen Jungen, es brächte nur Unglück.
Auf dem Heimweg war Markus in Gedanken bei Tamara, die er nur Mara nannte und noch vor wenigen Tagen angetrunken auf der Lagerstraße liegen sah. So schnell geht das Sterben, dachte er und hatte nur noch einen Wunsch nach Hause zu kommen.
Er kam im richtigen Moment an. Als er das Lager erreichte war gerade die Schule zu Ende und niemand fiel auf dass er fehlte. Vom Abgrenzungszaun konnte er die Schaumgummifabrik sehen, von der keiner genau wusste, was sie eigentlich herstellte, denn aus dem Lager war dort keiner beschäftigt. Markus wurde aus seiner Gedankenwelt gerissen, als plötzlich Fred atemlos in den Raum der Barackenwohnung stürmte. Sein schmales Gesicht war kreidebleich. Zitternd griff er nach seinen selbstgedrehten Zigaretten, suchte aufgeregt nach Zündhölzern die er mehrmals fallen liess. Die haben ihn gefasst stotterte Fred, während er sich nach den Hölzern bückte. Richtig so, meinte Anna und trank aus der Flasche auf sein Wohl. Es wurde höchste Zeit, dass dieses Schwein gefasst wurde. Im Bett hätte er ihr den Himmel auf Erden versprochen, eine Stadtwohnung wollte er ihr besorgen und auch von Liebe wurde gesprochen. Ihre Stimme klang gallen bitter. Nach diesen Worten reichte Fred ihr eine Filterzigarette und steckte sich selbst auch eine an, während die erste im Kippenbecher verqualmte. Mitwisserschaft sei ebenso strafbar meinte Fred.
"Quatsch, alles Quatsch" entgegnete Anna ihm.
„Du hattest davon recht gut gelebt“, fuhr er sie herrisch an. "Dafür habe sie den Jungen mitgegeben", verteidigte sie sich. Schweigend sassen sich beide gegenüber. Langsam verwandelte sich das weisse Zigarettenpapier in graue Asche. Markus wurde von Sekunde zu Sekunde immer nervöser und dachte über das was geschehen war nach.
In jener lauen Nacht stemmten Fred und Kurt in einem Lebensmittel Kiosk, an dessen Rückseite eine Holzwand war, mit einem Brecheisen ein kleines Loch auf. Der Bub musste einsteigen und auf Anweisung alles rausreichen, was sich in Kartoffelsäcken verstauen liess. Auf einem Handwagen fuhren sie die gestohlene Ware in Kurts Barackenwohnung. Belohnt wurde Markus Mithilfe mit drei gefüllten Lebensmitteltüten, einer Literflasche Weinbrand und Zigaretten für seine Anna. Das schien der Anna nicht genug und der Junge bekam Hausarrest für seine Dummheit, dass er sich mit dem Wenigen zufrieden gegeben hatte.
Es gab auch abenteuerliche Erlebnisse, die Markus von seinem familiären Schwierigkeiten ablenkten. Die Umgebung war wie geschaffen dazu.
Die leerstehenden Baracken mit ihren unterirdischen Gängen eigneten sich bestens für Cowboy und Kriegsspiele.
Mit Steinen Fensterscheiben einschmeissen, die Schieferplatten von den Wänden reissen, die Wärmeschutzverkleidung, deren Pappe zu demolieren machte den Kindern grossen Spass. Letzteres diente ausserdem einen guten Zweck. Die Lagerbewohner schafften Schubkarrenweise gesammeltes Brennmaterial in ihre Behausung für den nahen Winter. Die zerstörten Baracken wurden zum Tummelplatz asozialen Treibens.
Wenn der Haussegen bei Markus schief hing fand er in den unterirdischen Gängen der abrissreifen Baracken Zuflucht. Kinderfreundschaften hatte er immer noch keine. Die meiste Zeit verbrachte er allerdings eingesperrt bei Anna sofern sie ihn nicht nach Männern suchen schickte. In letzter Zeit wurde das jedoch immer seltener, da die Typen von selber kamen. Von diesem Anblick war er selten befreit.
Stundenlang stand Markus mit dem Gesicht zur Wand in der ihm angewiesenen Ecke während die Anna splitternackt im Rudel der Soldaten von Schoss zu Schoss wanderte und sich dabei betrank. Sie kannte keine Hemmungen mehr aber sie vergass nie den Jungen daran zu erinnern, dass er seinen Blick zur Eckwand richten sollte. Verstohlen äugelte er dennoch dem Treiben der Soldaten zu. Das Weib interessierte ihn weniger. Vielmehr begann seine Kinderfantasie sich innerlich mit dem Mann zu beschäftigen.
Der Soldat Glenn beobachtete Markus, der das ganze Geschehen mit kindlichem Interesse angewidert betrachtete. Auch Markus nahm den Blick des Mannes wahr, den er längst wie einen grossen Bruder über alles liebte und mit dem er sich in seine unsichtbare Fantasiewelt flüchtete. Eigentlich war Markus sich über sein Sehnsuchtsverhalten nach Glenn nicht im Klaren. Als er Anna wieder kreischen hörte, glaubte er Weiber zu hassen. Annas Humor war so übersteigert, dass sie krankhaft und hysterisch wirkte. Übertriebenes Lachen dazu die lallende Aussprache und ihr Mangel an Selbstbeherrschung im angetrunkenen Zustand machten sie stets zum Kätzchen im Korb bei den jungen, die von den älteren G.I.’s im Umgang mit billigen Schlampen vertraut gemacht und angelernt wurden. Im Laufe des Gefechts entschlossen sie sich hinaus an den stillgelegten Schützengraben an die Amper, nahe des US-Golfplatz zu fahren, um eine Runde zu schwimmen und sich dann wieder ihren Lüsten hinzugeben. Anna, die sich unentbehrlich vorkam war mit von der Partie. Einer der Soldaten, nämlich Glenn der sich nur als Zuschauer an der Orgie beteiligte blieb zurück, um die Nähe des Jungen zu geniessen.
Anna wusste von der Zuneigung und förderte unbewusst das Zusammensein der beiden. Glenn war hungrig nach der Anhänglichkeit des Jungen. Der sechsjährige Markus spürte eine unbekannte innere Gefühlsaufwallung. Zum ersten Mal empfand er Glenns Anwesenheit als Stärke der er sich zu unterwerfen hatte. Dieses blinde Vertrauen erweckte in dem Mann eine unvorstellbare Begierde, der körperlichen Getrenntheit zärtlich und behutsam ein Ende zu setzen. Der heimliche Wunsch zu erobern und erobert zu werden, zu verletzen und verletzt zu werden, dem Verlangen nachzugeben in Liebe.
In der Stille der Dunkelheit gab der Knabe aus Zuneigung in kindlicher Leidenschaft der Verspieltheit sich dem erotischen Spiel der Vertrautheit hin. Beim Abklingen von Zärtlichkeiten spürte Markus nackte Gewalt. In der Unterwerfung erfährt er, dass Sex, Energie und Kraft ist, Liebe von Stärke ausgeübt wird und man sich ihr zu fügen hat. Für Markus brach eine Welt zusammen. Ein Spiel von dem er nichts wusste, sich in der Fantasie alles mögliche ausmalte und sich danach sehnte. Es begann so zärtlich und endete für ihn schmerzvoll.
Erst mit der Zeit nach einigen liebevollen Begegnungen und schönen Gesprächen begriff Markus, dass er sich in Glenn verliebt hatte. In seiner Verliebtheit bemerkte Markus jedoch nicht welche Anschuldigungen und Verdächtigungen Glenn ausgesetzt war. Markus war sich auch über das eigene Fehlverhalten bewusst, aber hatte kein schlechtes Gewissen.
Zwar konnte der Junge nicht schreiben und lesen, aber dafür malte er in seiner Schwärmerei für Glenn bei jeder Gelegenheit Herzen auf Papierzettel, oder auf Liebesplätzen in den Sand am Baggersee, oder mit Kreide an Wände und zeichnete mit dem Finger an die oft von Feuchtigkeit beschlagenen Fenster in der Wohnung von Anna.
Unter Glenns Einfluss entwickelte Markus zunehmend eine weibliche Psyche. Immer dann, wenn Glenn selbst am Leben zweifelte, war Markus zur Stelle. Jede freie Minute die er aus der Kaserne entfliehen konnte, führte ihn zu seinen kleinen Freund. Das ausgeprägte Zusammengehörigkeitsgefühl beider wurde dem Stärkeren später zum Verhängnis. Abhängigkeit vermied Realitäten des Alltags überlegt anzugehen.
Am Tag als Glenn und Markus in Schleißheim auf einen Parkplatz in Streit gerieten hinderte er Markus am fortlaufen und zerrte ihn gewaltsam in den von einen Kollegen geliehenen Wagen. Er fuhr an dem um diese Zeit menschenleeren Baggersee. Bei erhöhter Geschwindigkeit lenkte er den PKW entlang dem Kiesweg am Abhang zum See. Der verliebte Glenn beugte sich über Markus Schoss, öffnete die Autotür und stiess ihn aus dem Wagen. Wie im Wahn wendet er das klapperige Fahrzeug und versuchte Markus anzufahren. Markus wurde von dem Wagen gestreift und stürzte schreiend den aufgeschütteten Abhang hinunter ins Wasser.
Spontan fiel Glenn ein, dass der See an den Steilhängen sehr tief war und machte daraufhin eine Vollbremsung. Sprang aus dem Wagen und hörte im gleichen Moment die Hilferufe Markus der nicht schwimmen konnte. Er rannte zum See als würde er um sein Leben laufen und erledigte sich dabei seiner Lederjacke.
Von der Hügelkante aus sprang er Hechtartig in den See. Er musste diesen Jungen, der sein Leben so verändert hatte retten.
Verzweifelt zog er ihn ans Ufer, sah den schon etwas feminin aussehenden erschöpften Knaben mit den Augen eines verunsicherten Halbstarken an.
Der Soldat in ihm hatte an alle Härtefälle im Leben gedacht, aber seine Gefühle verursachten genau das Gegenteil von Logik. Glenn erkannte in diesem Moment, dass er sich auf Abwegen befand. Sorgevoll sah er Markus an, der langsam wieder zu sich kam. In seinem amerikanischen Slang bat er in Deutsch um Verzeihung. Fürsorglich und behutsam half er ihn den Hang hinauf. Glenn trug ihn auf seinen Armen zum Auto, setzte ihn vorsichtig rein und schaltete die Heizung an. Dabei versicherte er ihm, dass sich so etwas nie mehr wiederholen werde. Trotz seiner verbindlichen Freundschaft zu den Jungen sass ihm die Angst im Nacken. Glenn wusste die Loyalität des Kindes nicht so recht einzuschätzen. Ihm wurde in diesen Minuten bewusst, dass er sich an einen minderjährigen Knaben von dem er nicht mehr los kam vergangen hatte. Auf der Fahrt in das Barackenlager schwiegen sie sich eine Weile an und plötzlich fragte Glenn ihn zaghaft, ob er ihn verraten würde. Ohne sein verschmitztes Lächeln, dass Markus so sehr an ihn mochte sah er den Jungen an, aber Markus schwieg.
In sich gekehrt sass Glenn da, zog seine Klamotten vom Leib um sie auszuwinden und wieder anzuziehen. Verstohlenen warf Markus ihm einen versöhnenden Blick zu. Er war sich ganz sicher Glenn niemals zu verraten. Dabei griff er ins überfüllte Handschuhfach, dessen Klappe mit einem Stück Draht gehalten wurde, damit nichts raus fiel. Wie so vieles, war auch das Schloss vom Handschuhfach defekt. Markus griff nach der Zigarettenschachtel, entnahm zwei davon und zündete sie an. Glenn fuhr derweilen mit überhöhter Geschwindigkeit von der Schleißheimer- in die seitlich entlang des Barackenlagers führende Römerstraße. Markus steckte ihm die zweite Zigarette in den rechten Mundwinkel dabei sah er Glenn einen Augenblick traurig an und lehnte sich nachdenklich in den Sitz zurück. An der nächsten Lagereinfahrt gegenüber der Gärtnerei hielt Glenn an. Wortlos stieg Markus aus dem Wagen. Glenn griff schnell nach seinem Arm um ihn mit Handschlag zu verabschieden und drückte ihm Geld in die Hand. Die paar Dollar konnten Markus Niedergeschlagenheit nicht aufwiegen.
Er ging nicht den eigentlichen Weg nach links den Schuppen entlang sondern geradeaus in den Lagerladen um sich einen billigen Vermouth zu kaufen. Nachdenklich in seinen Gedanken versunken hoffte er, dass Anna nicht zu Hause anzutreffen war.
Er war erleichtert. Unter der Fussmatte lag wie immer der Zimmerschlüssel. Er öffnete die Tür und verriegelte die Wohnung von innen. Markus drehte sich um und erstarrte vor Schreck. Alfons stand vor ihm, ein Liebhaber von Anna. Der von Anna den Auftrag hatte den Jungen die Leviten zu lesen. Markus, der Alfons lange genug kannte versuchte dennoch aufgeregt aus dem Zimmer zu entkommen. Wenn Alfons betrunken war machte es für ihn keinen Unterschied wo er seine Befriedigung fand. Hastig griff er nach Markus und stiess ihn zu Boden. Mit einem fiesen Grinsen öffnete er seinen Gurt, zog den Gürtel aus den Laschen des Hosenbundes und peitschte mit dem Gurt in die Luft damit Markus gehorchte. Mit dem Zeigefinger winkte er den Jungen zu sich und beugte ihn mit einem festen Griff über das wackelige Geländer am Fussende des Bettgestells. Es war so still, dass man das Herausziehen des Hemdes aus der Hose hören konnte. Markus nach unten gebeugter Kopf war knallrot angelaufen, der Herzschlag pochte hart in den Schläfen. Dann folgten peitschende Schläge mit dem Gürtel die noch ertragbar schienen. Angstschweiss perlte auf seiner Stirn.
Im Wissen, was nach dieser Prozedur geschah, den Gedanken kaum zu Ende gebracht, war er entkleidet bis auf den übergrossen Schlüpfer den Alfons der Anna schon unzählige Male vor Geilheit herunter gerissen hatte.
Der schnaufende Alfons, der innerlich in Fahrt war, liess sich von dem Wimmern des Jungen nicht abhalten. Die Schläge mit dem Gürtel hinterliessen blutrote Striemen. Er warf den Ledergürtel zur Seite und begann zügellos den Hintern des Jungen zu kneten. Währenddessen durfte Markus eine bequeme erniedrigende Stellung einnehmen.
Das tierische Gestöhne und Beschimpfen musste der Junge mit lustvollen Winseleien "wie gut es täte" erwidern um in Alfons nicht erneut Wutausbrüche herauf zu beschwören.
Er warf die Decke über Markus schweissgebadetes Gesicht und betätigte sich bei erschwertem Atem als Onanist. Der Junge stand unter der Zudecke unvorstellbare Ängste aus, wenn Alfons beim Orgasmus kurz aufschrie und dann sein Sperma auf Markus Oberschenkel verschmierte. Das Ausmass des empfundenen Ekel liess sich nicht erklären.
Markus durfte erst aufstehen, wenn Alfons aus dem Zimmer gegangen war. Als er endlich die Türe hinter sich zugeworfen hatte, kroch Markus aus dem Bett, ging an den verrosteten Wasserhahn und wusch voll Ekel dieses stinkige glitschige Zeug ab.
Der helle Schleim roch nach abgestandenen alten Wischwasser. Immer wieder würgte er, konnte aber nicht erbrechen da er seit Tagen nichts gegessen hatte. Er zitterte am ganzen Körper, als er die Petroleumlampe an diesen späten Nachmittag anzündete. Die bläulich rötlich flackernde Flamme fand er wunderschön. Der geringste Luftzug liess sie wellenförmig nach oben flackern.
Die Beobachtung half ihm abzuschalten und seine innere Ruhe finden. Es war nie jemand da, mit dem er sprechen hätte können. Vergeblich wartete er auf Anna. Zum ersten Male überkam ihn das Bedürfnis mit Anna reden zu wollen. Vergebens wartete er auf ihre Rückkehr. Als Anna auch am späten Abend nicht nach hause kam, glaubte Markus sie wäre fortgelaufen. In sich gekehrt flüchtete er in sein Kinderbettchen und krümmte sich zusammen. Schliesslich überwand Müdigkeit alle Trauer und Ängste.
Die Nacht bot der betrunkenen Anna am Rande eines herumliegenden Gehölzes, duftendes Laub als Lager, in das sie sich wie ein Sack fallen liess.
Jämmerlich murmelte sie vor sich hin, im Leben alles falsch gemacht zu haben und keinen neuen Anfang mehr zu sehen. Weinend sagte sie immer wieder „alles hätte keinen Sinn mehr". Wie so oft rief sie "Mama, Mama" ungehört in die Weite der Dunkelheit hinaus. Doch Annas Mutter lebte Hunderte von Kilometern entfernt und zeigte schon sehr, sehr lange kein Interesse für sie. Weshalb auch. Ihre beiden anderen Töchter hatten es im Leben durch eisernen Fleiss zu etwas gebracht. Monika war stolze Besitzerin einer der grössten Tierzuchtfarm in Niederbayern und will sich an Anna nicht erinnern. Elsa heiratete einen amerikanischen Soldat, der Sohn eines Fabrikanten. Sie folgte ihm in die Staaten und wurde Anfangs seine Sekretärin und später führte sie erfolgreich all seine Geschäfte. Elsa wusste nichts von Annas lausigem Dasein. Annas Mutter übernahm kürzlich von ihrem verstorben Mann eine Schreinerei mit siebzehn Beschäftigten. Viele Jahre sind seit dem letzten Kontakt vergangen. Die Geschwister waren sich längst fremd geworden. Schon damals zeigte Anna sich nicht von Ihrer besten Seite, so dass man sie ausser Haus vertrieb. Anna wurde ihre Vergangenheit nicht los. Stundenlang wartete sie hier im Dickicht der Natur vergeblich auf ein Wunder.
Am frühen Morgen raffte sie sich auf. Mit dem Vorsatz sich zu ändern, machte sie sich auf den Heimweg. Sie war fest entschlossen, alles zu tun, um ihre Probleme in den Griff zu bekommen. Vorsichtig schlich sie in das Zimmer, setzte sich an den Rand des Kinderbettes und sah immerzu den Jungen, ihren Jungen an. Dabei schloss sie krampfhaft die Augen um die Tränen zu unterdrücken. Hätte sie nur einen ehrlichen Menschen, der ihr aus dem Lagerelend heraus helfen könnte dachte sie. Anna verharrte einen Augenblick in ihrer eigenen Welt. Plötzlich schlug ihre Reue ins Gegenteil um. Wut stieg in ihr auf. Hasserfüllt dachte sie an Markus Vater. Wie eine Irre griff sie nach dem Kissen, stürzte sich auf den schlafenden Jungen und drückte es ihm aufs Gesicht um ihn zu ersticken. Während er sich zu wehren versuchte, fiel ihr Blick auf ihre hässlichen aufgeschwollenen Hände. Entsetzt liess sie von ihrem spontanen Vorhaben ab und versteckte die Hände unter den Achselhöhlen. Sie riskierte einen Blick auf das kleine verschmutzte Bett. Ob der Bub noch lebte. Er lebte noch!
Sein Weinen überhörte sie in diesem Moment, griff nach der Handtasche und ihrem Mantel und verschwand. Der Junge blieb in der beängstigenden Stille zurück. Er konnte nicht begreifen was hier vor sich ging. Seine Gedanken drehten sich im Kreise und er erkannte immer mehr, dass er hier nicht mehr bleiben könne. Er wollte weg von Anna.
Erneut griff er nach der in der Ecke liegenden Puppe die er für eine Zeit vergessen hatte und erzählte ihr der Reihe nach, was soeben geschehen war. Die Puppe, so glaubte er erwiderte, alles gesehen zu haben. "Wir bringen sie um", flüsterte er leise.
Er wusste, dass die Puppe es nur gut mit ihm meinte um zu helfen mit der Schlampe Anna fertig zu werden.
Er bedankte sich bei seiner Puppe dabei strich er ihr sanft über ihre Wange. Ihm fiel ein, dass der alte Pfaffe kürzlich in der Schule erzählt hatte, dass alle Menschen in den Himmel kommen würden. Und dass gönne er der Anna wirklich nicht. Sie sollte richtig leiden müssen, simulierte er vor sich hin.
Dafür werde er Tag für Tag beten, in seinen Gedanken über sie wachen und ihr alles erdenklich Schlechte was das Leben zu bieten hat wünschen. Niemanden gibt es den ich so hasse, verriet er seiner Puppe und begann ihr mit den Fingern streichend die letzten versenkten Haare zu ordnen. Etwas rabiat setzte er den Kamm zum Glätten und Legen der restlichen Strähne an, wobei die Puppe auf den Rücken kippte und die Augen schloss. Für Markus sah es aus, als hätte sie Freude daran gequält zu werden.
Die Zeit warf ihre Schatten auf sein Leben. Der Raum um Markus wurde immer enger. Um zu leben klammerte er sich an Hoffnungen und Illusionen, doch die Unzufriedenheit zerstörte alle Träume. Markus Leben hing wie das seiner Puppe marionettenhaft an Fäden. Jeder Versuch etwas daran zu ändern, zog ihn nur noch tiefer in die Gosse. Der Weg führte in die Kriminalität deren Chorgeist und heftige Gefühle Markus anzog. Es begann die Rutschpartie seines Lebens in der er immer wieder versuchte nicht zu versinken.
Sein kindliches Gemüt war längst dem eines Volljährigen gewichen aber hatte nicht die Reife eines Erwachsenen erlangt. In ihm brodelte das Verlangen für sich zu retten was zu retten ist.
Trotz der Abscheulichkeiten die er immer wieder erfahren musste, dachte er nicht darüber nach, was es hiess von betrunkenen "Männern" der eigenen Mutter sexuell missbraucht zu werden. Seine fehlenden Moralbegriffe auf diesem Gebiet liessen ihn all das ertragen. Was Anna wollte war massgebend, denn damit konnte er sich der drohenden Prügelstrafe täglich entziehen. Nebenher entwickelte sich Markus als Zuhälter der Mutter die ihr Stehvermögen, den inneren Halt immer mehr verlor. Oft musste er wie bei Alfons ihre Rolle übernehmen.
Durch seine wachsamen Beobachtungen erlernte er all die Tricks, um seine kindliche Habgier zu befriedigen. Geld nahm für Markus bald einen höheren Stellenwert ein, als der eigene Körper. Zeitweilig sorgte sein seelischer Verfall für Antriebsschwäche. Seine innere Verzweiflung führte ihn direkt in die Arme eines gestandenen Soldaten der mehr zu bieten schien, als sexuelle Abartigkeiten, nämlich Freundschaft und brüderliche Zuneigung.
Seine glänzenden dunklen Augen vermochten es, den eiskalten, unberechenbaren Blick eines Puppenjungen, der sich von einer Kinderdirne nur geschlechtlich unterschied zu verbergen. Markus kannte Hunde in der Nachbarschaft denen es weitaus besser ging.
Annas heimlicher Wunsch, statt eines Knaben, ein Mädchen geboren zu haben versuchte sie auf grausamste Weise zu erfüllen. Brutale strenge Erziehungsmethoden machten Markus klar, dass sein Zipfel etwas dreckiges sei. Mehrmals drohte sie damit das schwammige Ding mit einem scharfen Fleischmesser zu entfernen. Vor allem kam sie in Rage, wenn sie ihn beim Pullern im Stehen erwischte, er den ekeligen Schwanz auch noch anfasste, drohte sie ihn mit einer Schere abzuschneiden. Einige Sekunden überlegte Markus, ob er sich das nicht selbst erledigen solle, nur um seine Ruhe zu haben. Anna meinte, der Herrgott lässt ihn ohnehin noch abfallen. Dass sei eben der Lauf der Dinge. Erwischte sie Markus auf dem Klo stehend beim Pinkeln, schlug sie auf ihn ein, bis er begriffen hatte, dass er in die Hocke zu gehen oder auf der Kloschüssel zu sitzen habe wie es sich für ein anständiges Mädchen gehörte. Markus wagte sich nicht irgend jemanden davon zu erzählen. Er war voller Hass, ja er glaubte alle Frauen zu hassen.
Schwester Vicentia dagegen sah er nicht als Weib. Sie kannte den lieben Gott, dass gab ihm den nötigen Respekt vor ihr.
Seit längerer Zeit kleidete Anna den Jungen wie ein Mädchen. Jeder Aussenstehende sah hinter den langen Haaren ein ungezogenes Mädchen mit flittchenhaften Verhalten. Markus zeigte von da an zwei Gesichter und sprach doppelzüngig. Zum einen war er inzwischen verroht und verdorben, zum anderen sensibel, unberührt von Schlechtigkeit. Er passte sich Annas Welt immer mehr an. Wohin das eines Tages führen würde, darüber dachte er niemals nach. Er hatte ja auch keinen Vergleich um Änderungen herbeizuführen.
Anna versank weiter im Chaos. Früher waren die weissen Soldaten in der Barackenbude, nun kamen die schwarzen Soldaten. Es war die Manneskraft des dunkelhäutigen, die den Hunger Annas stillten. Als Negerhure im Lager verschrien, sorgte sie bei den Soldaten für Gesprächsstoff.
Anna hatte geradezu einen Hang für Perversitäten, wovon auch der Junge nicht verschont blieb. Bald malte sie ihm jeden Abend die Augen schwarz an und die Lippen rot. Ihre Jungs sollten sehen und wissen, dass sie eine Tochter hat.
Doch das Leben, zu dem Anna Markus zwang machte ihn krank. Im Alter von sieben Jahren rauchte und trank Markus zu viel. Allergien wären kein Hinderungsgrund, dieses und jenes nicht zu tun, meinte die Anna. Aber sein Zustand liess sich auf die Dauer nicht verheimlichen. Er konnte das Zittern seiner Hände nicht verbergen, seine plötzliche Schreckhaftigkeit nicht unter Kontrolle halten.
In die Schule ging er schon lange Zeit nicht mehr. Er erinnerte sich nicht einmal an den Namen seiner Lehrerin.
Als er zu Schwester Vicentia wollte, sie aber nicht antraf, wandte er sich an seinem neuen Freund den Sanitäter, der ihm aus dem Camp versorgte. Als Sanitäter hatte der Soldat den Verdacht auf Syphilis. Deshalb verabreichte er Markus regelmässig Medikamente. Schon Tage darauf stellte sich insgesamt Besserung ein. Offensichtlich erhärtete sich der Verdacht des Sanitäters nicht.
Anna tat nichts um ihm am Umgang mit G.I.s zu hindern. Markus hielt sich daran, was ihn der Sanitäterfreund geraten hatte. Er setzte alles auf eine Karte, zu verlieren hatte er nichts mehr. Es war Wut gegen Anna, die ihn aufsässig werden liess. Er gehorchte nur noch seinem Freund und nahm die Schläge von Anna in Kauf. Zeitweilig kam der Gedanke auf, zurück zu schlagen und ihr endgültig ein Ende zu setzen. Immer häufiger überkam ihn die heimliche Sehnsucht nach einem Mann der
ihn so liebte wie er ist und vor der gehassten Mutter schützte. Anna brauchte wieder Geld, Getränke und Zigaretten. Zum Ausgehen fehlten Strümpfe und ein gutes Duftwässerchen. Markus musste für Nachschub sorgen indem er ihr schwarze G.I.s zuführte. Der Junge blieb für Spielchen mit den farbigen Jungs verschont.
Eines Abends wurde er von einem deutschen Mann abgeholt. Der fremde Herr fuhr mit Markus in ein Gartenhaus am Rande der Ortschaft. Das Häuschen war der Treffpunkt gut situierter Herren reiferen Jahrgangs. Sie pflegten das Rollenspiel aus der Welt der Antike. Für Markus tat sich eine Glitzerwelt von unvorstellbarer Schönheit auf. So etwas hatte er noch nie gesehen. Für ihn war es wie die Samtkulisse eines Films. Süsslicher Duft verschiedener Parfums umgab diese Herren, die hier einer Scheinwelt nachhungerten. Verborgen, versteckt und heimlich, um nicht den Spott der Leute ausgesetzt zu sein. Dennoch machte deren Imponiergehabe grossen Eindruck auf den verarmten Markus. Die erotische Schwüle, die ihn in dem warmen rötlichen Licht verzauberte, erschien dem Knaben wie ein wunderbarer Traum. Er tauchte für Augenblicke aus seiner trüben Vergangenheit in eine völlig andere Welt. Sie reichten ihm zahlreiche Getränke, Knabbergebäck aber auch Zigaretten von üblen Geruch. Nach einigen Zügen war er hemmungslos und zog sich wie die anderen die Kleider vom Leib. Sofort war sein unbehaarter Körper Mittelpunkt aller Blicke. Die kultivierten Männer huldigten ihn, als sei er ein Kinderfürst einer vergangenen Epoche des Abendlandes. Qualm im Raum vernebelte Markus Sinne immer mehr. Ein mit Schmuck behangener Herr führte ihn behutsam zur Gummimatte, auf der sich in der Mitte ein kleiner Sockel aus Gips befand, auf den sich Markus stellte. In den Köpfen der reiferen Herren spukte die mythische Vorstellung der griechischen Geschichte, dass nur ein Knabe das Symbol der Sexualität wäre. In dieser Nacht war er Eigentum, das Spielzeug der Erwachsenen die ihn bei Anna für eine Nacht kauften. Die nackten alten Männer begannen ihren Händen freien Lauf zu lassen. Sie wuschen und bespritzten Markus mit Sekt, beschmierten ihn mit Honig und beleckten seinen Körper. Ihre verzerrten Gesichter wirkten verbraucht, aufgeschwollen und unförmig. Markus verfiel dabei langsam in sein übliches Gedankenschema. Er dachte dabei nur an seine Belohnung. Als sie endlich dem Schlafrausch erlegen waren, klaute Markus alles Geld der Männer, schlüpfte eilig in seine Klamotten und verschwand.
Stolz lief er mit sich selbst zufrieden über Wiesen und Felder zur Müllkippe am Sportplatz vor dem Lager. Abrupt blieb er wie gelähmt stehen, er konnte sich nicht mehr von der Stelle bewegen.
Bauchschmerzen und Hodenkrämpfe peinigten seinen schmächtigen Körper und liessen ihn schweissgebadet frösteln. Wie lange das zeitlich dauerte wusste er nicht. Nur ein Wunsch erfüllte ihn, dass die Schmerzen bald nachliessen. Einen Augenblick lang überfiel ihn die Angst, dass er nun sterben müsste. Doch seine jugendliche Natur siegte und so kam er, wenn auch spät bei der Mutter Anna an. An Schlaf war nicht zu denken.
Als es Tag wurde hielt er es vor Kopfschmerzen und Übelkeit nicht mehr aus. Ohne Anna Bescheid zu sagen, schlich er sich aus der Barackenwohnung und suchte Schwester Vicentia auf.
Der Junge brauchte sich ihr nicht mitzuteilen. Sie sah seine Augen und konnte ihm auf dem Kopf zusagen leberkrank zu sein und er sofort ins Krankenhaus gebracht werden müsste.
Die Caritasstelle veranlasste alles weitere. Schwester Vicentia informierte sofort den Vormund, der das Aktenkind nicht einmal kannte.
Der behandelnde Arzt stellte eine schwere Gelbsucht fest. Weitere Untersuchungen ergaben, dass Markus geschlechtskrank war. Der Kinderarzt erkannte seine psychische Verfassung, seine Willenlosigkeit und nach vielen behutsamen Gesprächen im Krankenhaus auch seine Situation. Der Charakter des Jungen war defensiver Natur. Markus fehlte das Bedürfnis nach Bindung und die Fähigkeit entgegengebrachte Gefühle zu erwidern. Mit seinen eigenen Fehlern konfrontiert suchte Markus Ruhe im Alleinsein.
Obwohl er sich in dieser Verlorenheit nicht zurecht fand, startet er keinen Versuch etwas daran zu ändern. Gelegenheiten waren im Krankenhaus genug gegeben. Aber er lehnte im wahrsten Sinne des Wortes buchstäblich alles ab, was an menschlichen Kontakte an ihm herangetragen wurde.
In den Wochen seines Aufenthalts im Krankenhaus unterrichteten Schwestern, Krankenpfleger und Patienten ihn abwechselnd in Lesen und Schreiben. Damit er seine Angst sich vor der Klasse zu blamieren verlor, wurde für ihn eine Unterrichtsstunde am Vormittag und eine am Nachmittag eingeplant. Markus brachte das Lernen Fortschritte.
An seinem Gemütszustand konnten allerdings auch die freundlichen Krankenschwestern und Ärzte nichts ändern.
Als Markus vom Krankenhaus wieder nach Hause kam spürte er das erste Mal, dass Anna sich freute ihren Sohn wieder bei sich zu haben.
In der folgenden Zeit unternahmen sie viel gemeinsam. Ab und zu gab es Augenblicke der Besinnung.
So erinnerte sich Anna ihrer eigenen Kindheit.
Es war für Momente die unbekümmerte Seele ohne Zeitbegriff. Jetzt befanden sich Mutter und Kind seit Stunden auf einem Spaziergang durch die Wälder, drüben in der nähe von Schönbrunn. Dabei erklärte Anna auf dem Wege, dass es dem Hans immer schlechter gehe. Markus musste erst einmal nachdenkliche Überlegungen anstellen welchen Hans sie meinte. In ihrem Männerharem gab es mehrere die Hans hiessen. Ach so, kam ihm in den Sinn. „Ihr früherer Ehegatte“. Über ihn hatte Anna einiges erzählt. Auf Grund seiner Krankheit Herzmuskelschwund brachte man ihn ins Irrenhaus. Ein leichtes Grinsen lag ihr auf den Lippen. Dabei handelte es sich um eine Kloster-Pflegeanstalt auf deren Anwesen ein Gebäude für geistig Behinderter integriert war. Nach Annas Meinung wurde Hans immer verrückter. Jetzt schrieb er ihr plötzlich zarte Briefe. Lauter unsinniges Zeug und Geschwätz. Was meinte sie damit, fragte Markus mehrmals. Was man halt so schreibt, wenn man irre im Kopf ist, antwortete sie dem Bub endlich auf sein ständiges von Neugierde geplagtes Bohren.
"Verflucht halt die Fresse", rief sie ärgerlich. Markus sah sie dabei aufmerksam an und beobachtete wie ihre Mundwinkel seitlich nach unten sanken und sich zwischen den Augenbrauen eine Zornesfalte bildete. Es war wieder mal so weit dachte er. Sie brauchte wieder ihren Alkohol. Seit Tagen hatte sie keinen Tropfen mehr angerührt. In ihren Augen funkelte plötzlich die Gier nach allem was befriedigte. Gerne hätte Markus noch mehr über Hans erfahren, aber Anna hatte augenblicklich was anderes im Kopf.
An der Straße angekommen, winkte sie einem Autofahrer zu. Er hielt an, kurbelte sein Fenster herunter und kam kaum zu Wort, da Anna dem älteren Herren sofort unvergessliche Stunden im Bettchen suggerierte. Voraussetzung wäre jedoch, und zeigte auf ihren Sohn, dass der Bastard mit einsteigen dürfte. Der ermüdete Junge sass auf den Sitz hinten, konnte mit ansehen, wie sie den Rock nach oben zog, nach der Hand des Fahrers griff und sie wer weiss wohin dirigierte. Der Fahrer sagte unaufhörlich "Oh Du kleines geiles Flittchen, du mieses Flittchen". Das wiederholte er dauernd bis Dachau-Ost in Sicht war. Auf der Fahrt durchs Lager wies sie ungeduldig auf die Baracke in der sie wohnte. Anna himmelte ihren Wagenbesitzer an, denn zu dieser Zeit gab es bei den Bewohnern im Lager kaum weiche die ein Auto besassen. Ein PKW war einfach Luxus.
Markus stieg aus dem Volkswagen und begab sich auf dem Weg geradeaus in den Kohlenschuppen, kroch durch eine zertrümmerte Fensterscheibe und schlich voller trüber Gedanken die dunklen Kellergänge entlang. Die Demütigungen, dass Anna jeder Mann wichtiger war als er und jedes Mal bei Wind und Wetter fortgeschickt wurde, ohne sich dagegen wehren zu können quälte ihn sehr. So vollzog es sich schon Jahrelang. Markus Sehnsucht nach einem Vater wurde immer stärker. Er war überzeugt davon, dass Männer besser sind als alle Frauenzimmer. Als Markus einen grossen unbeschädigten Karton fand leerte er diesen von Gerümpel, kletterte hinein und schob zum Verdunkeln einen Pappdeckel über sich. In der finsteren Stille grübelte er weiter bis ihn die Müdigkeit überfiel. Im Tiefschlaf zuckte er oftmals mit dem Körper. Die Schweissperlen standen ihm auf der Stirn als hätte er einen schlimmen Alptraum. Beim Erwachen spürte er so deutlich wie nie zuvor, welch ein beschissenes Leben er führen musste und in welch Aussichtslosigkeit er sich befand. Innerlich war er immer ganz allein in Gesellschaft von Traurigkeit und Depressionen. Er war gezwungen es so hinzunehmen, denn Klagen waren sinnlos. Niemals würde er begreifen, warum Anna sich so verhielt. Es sei doch sein Leben, dachte er. Zwischen dem Gossenleben und einem Leben in ordentlichen Verhältnissen wusste Markus inzwischen sehr wohl zu unterscheiden. Wenn sein Körper von Blutergüssen und Striemen gezeichnet war, verarztete Schwester Vicentia ihn. Währenddessen erzählte sie wunderschöne Geschichten intakter Familien. Tag und Nacht zerrte er von diesen traumhaften Märchen. Doch in seiner Sehnsucht nach Veränderung, war für seine „Mutter“ Anna kein Platz. Wenn er einmal gross wäre vertraute er sich der Schwester an, würde er sich rächen und Anna umbringen.
Schwester Vicentia machte sich grosse Sorgen um Markus und ihr Mitgefühl für den armen Jungen wurde immer stärker.
So schnell wie möglich musste für Markus ein neues zu Hause gefunden werden, ehe es zu spät war. Markus Mitteilungsbedürfnis wurde immer stärker und erschreckender. Um an Geld zu kommen lauerte er angetrunkene Soldaten auf und schickte sie nicht mehr zu Anna, lockte sie hinter die Barackenschuppen und bot sich selbst an, ihnen gegen Geld Gefälligkeiten zu erweisen. So kam er an das nötige Taschengeld und erhielt noch Zärtlichkeiten, die er der Anna nicht mehr gönnte. Dadurch wurden beide zur erbitterten Konkurrenten. Es führte dazu, dass Markus nur noch blinden Hass für sie empfand. Er besorgte sich bei einem GI ein Jagdmesser, dass ihn vor ihren Züchtigungen schützen sollte. Bei jeder Gelegenheit übte er in den Kellerverschlägen diese Selbstverteidigung.
Latten dienten als Zielscheibe und in seinen Gedanken galt jeder Messerwurf der Anna. Dabei fühlte er sich in seiner Haut nicht wohl. Um sich abzureagieren wusste er keinen anderen Ausweg als sich für den Fall aller Fälle vorzubereiten, um sich vor Anna zu schützen.
Vor Schwester Vicentia schämte er sich zutiefst für seine Ideen. Für Markus war sie sehr wichtig geworden, denn sie kannte den Grund für seinen Hass. Sie aber glaubte fest daran, dass in dem Jungen noch etwas Gutes steckte. Tägliche Gespräche miteinander minderten seine Wut auf Anna.
Die Gewissheit sich der Schwester anvertrauen zu können, genügte um immer häufiger mit seinen Sorgen zu ihr zu kommen.
Er begann Selbstgespräche zu führen sobald er allein war. In seinem Kellerversteck bemerkte ihn niemand und nach intensiven Grübeln verliess er endlich seinen Karton. Auf dem Heimweg murmelte er in sich hinein, dass er am liebsten aufhören würde zu essen. Er hatte sowieso keinen Appetit mehr.
Wie so oft war Anna nicht allein, dass konnte er schon durchs Fenster sehen. Bei zugezogenen Vorhängen hörte er beim betreten des Flurs seltsame Geräusche.
Stets schlich er sich vorsichtig in die Hölle des Satans. Die Matratzen waren auf den Fussboden gelegt und von einigen Lagerweiber mit ihren Macker in Beschlag genommen. Es stank in der Bude nach Rauch, Alkohol und verschwitzten Leibern. Das winzige Flackern einer Kerze erhellte das Fleisch in dem laut stöhnenden Treiben. Die Luft war stickig, dass ihm die Augen tränten. Markus fand neben dem Allesbrenner einen Platz von dem aus er die nackten Körper so weit das Licht es zuliess beobachten konnte. Die jungen Frauen wirkten im Gegensatz zu den Männern unförmig. Seiner Meinung nach war an den Frauen absolut nichts begehrenswertes. Die Frauen liessen alles was die Freier von ihnen verlangten über sich ergehen, als wären sie nicht aus Fleisch und Blut sondern ein Gegenstand den man je nach Bedarf biegen und drehen konnte. So sind also Frauen dachte Markus. Wie läufige ungesättigte Stuten, die von stolzen Hengsten bestiegen werden, egal aus welchen Verhältnissen sie kamen, erkannte Markus, wofür Weiber gebraucht wurden. Von da an war er sich schon in jungen Jahren in seiner Fantasiewelt sicher, niemals im Leben eine Frau an seiner Seite zu haben.
Als das Licht der Kerze erlosch, wog er sich in seiner eigenen Welt der Liebeleien und dachte dabei an Glenn. Er war so erregt, dass er zum ersten Mal ein Gefühl erlebte, das er bis dahin nicht kannte. Seltsam und fremd kam es ihm vor.
In den frühen Morgenstunden erfüllte sich Markus lang ersehnter Wunsch, von Anna wegzukommen.
Nach heftigen Klopfen an der Tür, folgte mit energischer Stimme die Aufforderung, sofort die Tür zu öffnen. In Windeseile kletterten die GI’s über Frauen, die vor Schreck zu kreischen anfingen, griffen nach ihren Klamotten und sprangen fast unbekleidet durch das von Anna geöffnete Fenster.
Aufgeregt noch etwas beschwipst versuchte Anna den Schlüssel in das Türschloss zu bekommen. Zitternd und schwankend gelang es ihr endlich. "Scheissbullen, Scheissbullen", rief sie ständig.
Kaum war die Tür einen Spalt geöffnet wurde die umher brüllende Anna regelrecht zur Seite geschoben. Schwester Vicentia stand im Türrahmen. Markus der noch auf dem Fussboden in der Ecke des Ofens sass erblickte die Schwester die ihm plötzlich wie die Freundin vom lieben Gott vorkam. In ihrer schwarzen Kutte wirkte Schwester Vicentia auf Markus überdimensional gross so wie nie zuvor. Der Herr vom Jugendamt trat hinter Schwester Vicentia hervor. Hilfsbereit reichte der Vormund dem verängstigten Jungen die Hand zum aufstehen.
Obwohl ein Polizist, die ausser sich geratene Anna festhielt, hatte sie genug Spielraum um wie eine Wilde um sich zu schlagen. Die Beamten hatten Mühe sie in Schach zu halten. Verzweifelte Schreie einer Mutter um ihren kleinen Sohn waren in der Barackenstraße zu hören. Anna schrie wie eine Besessene und weinte so bitterlich, dass die zusammengelaufenen Nachbarn ebenfalls den Tränen nahe waren. Doch Markus verzog keine Miene. Nüchtern verfolgte er das Geschehen als ginge es ihm letztendlich nichts an. Sein lang herbei ersehnter Tag war gekommen. Nichts konnte ihn traurig stimmen. Einen Augenblick sah er die Caritasschwester Vicentia strahlend an, als wollte er sich bedanken. Es bedurfte keiner Worte. Freiwillig, geradezu eilig stieg er in das Polizeiauto.
Während die Schwester noch die notwendige Kleidung für Markus zusammensuchte beschäftigte sich Markus neugierig mit dem Armaturenbrett des Polizeiautos.
Schelmisch bat er den Polizisten die Sirene einmal Aufheulen zu lassen. Der Polizist tat ihn den Gefallen. Schwester Vicentia übergab dem Vormund die Kleidung und verabschiedete sich mit einer Umarmung von Markus. Endlich setzte sich das Auto in Bewegung. Markus empfand kein Mitgefühl mit Anna die Hilfeschreiend hinter dem Polizeiauto herlief. Vielmehr liess er sich von den Beamten das lang angestarrte Armaturenbrett erklären.
Die Funkanlage war bedeutend aufregender als das Geplärre seiner Alten.
Man brachte Markus in die Büroräume des Jugendamtes. Eine junge Sachbearbeiterin stellte Markus ein Glas Orangensaft und einem Teller mit belegte Broten auf den Tisch.
Vor Hunger schlang er gierig alles in sich hinein und bemerkte dabei, dass er nicht mehr wisse, wann er das letzte Mal richtig gegessen habe. Der Vormund fragte nach seinem Alter. Markus runzelte die Stirn wie er es stets tat, wenn er nachdachte.
Er war sich nicht ganz sicher, doch er glaubte mehrere Jahre alt zu sein. Du wirst acht erwiderte der Vormund. Wer hätte das gedacht, meinte Markus erstaunt. Aus heiteren Himmel stand für Markus fest, den Vermund konnte er nicht ausstehen. Von nun an schwieg er wie ein Grab und folgte nur noch den Anweisungen. Ein kleiner Pkw stand vor dem Eingang bereit. Ein freundlicher Herr vom Jugendamt versprach mit ihm zu fahren. Das Ziel hiess Böbing bei Schongau.
Stunden vergingen ohne Ermüdungserscheinung. Mit weit aufgerissenen Augen sah Markus während der ganzen Fahrt aus dem Fenster. Sein Kopf war ständig in Bewegung. Fasziniert schaute er auf die hügelige Landschaft dem weidenden Vieh zu. Kühe und Pferde konnte er aus der Ferne nicht genau unterscheiden. Schliesslich waren die Viecherl fast gleich dick und gross. Der Fahrer des Vormunds grinste über Markus Selbstgespräche und das rege Interesse für das was um ihn herum geschah. Übermüdet waren die anderen nur er nicht. Schliesslich hielten sie an einer Raststätte, fanden einen geeigneten Parkplatz und kehrten ein. Markus durfte selbst auswählen und bestellen. Obwohl er gewohnt war Bier zu trinken durfte er es nicht. Jetzt konnte er den Fahrer auch nicht mehr leiden.
Freunde langer Rast waren die Beamten gerade nicht. Sie wollten schnell weiterfahren und drängelten. Markus beeilte sich, doch der schnellste war er noch nie.
Auf der Weiterfahrt erklärte der Vormund ihn, dass er lediglich Stellvertreter seines Vormundes sei. Er erzählte Markus von seinem neuen Zuhause. Markus wollte wissen wann er wieder käme. Beide kannten sich doch und hatten sich bereits schon zwei Mal gesehen. Ehe der Stellvertretende Vormund antwortete, erblickte er sein neues Zuhause. Ein Steingebäude mit hellem Mauerwerk, ein kleiner Glockenturm ragte in der Mitte des Bauwerks über das Dach.
Bevor die Herren vom Jugendamt Markus bei den Nonnen abgaben und Lebewohl sagten, zeigten sie ihm den grossen Spielplatz hinter dem Kinderheim, von dem aus bei guten Wetterverhältnissen die Berge zu sehen waren. Aus dem Gebäude kam leisen Schrittes eine Nonne mit gefalteten Händen in andächtiger Körperhaltung im schwarzen Gewande angerauscht. Schwarz hatte ohnehin für Markus etwas magisches an sich. Er fand es elegant schick und schön. Höflich fragte er nach dem werten Befinden der bedächtigen Nonne. Die Nonne sähe schlecht aus, tuschelte er dem stellvertretenden Vormund zu. „Die kennt den lieben Gott wie Schwester Vicentia", sagte er mit gerunzelter Stirn. Markus wurde auf das herzlichste begrüsst. Wie sich herausstellte war die nette Nonne die Mutter Oberin persönlich. Markus beeindruckte das wenig. Als sie ihn aufforderte die Hände aus den Hosentaschen zu nehmen grinste er die Nonne dreist an, tat aber zögernd was sie verlangte. Kurz darauf wurde der Junge Schwester Johanna übergeben die sein Händchen nahm und eiligen Schrittes mit ihm den Gang entlang rauschte. Dabei sah Markus sie immer wieder an und wünschte sich, auch so schweben zu können. Das Gewand der Schwester reichte bis an den Boden, aber berührte diesen nicht.
Im Aufenthaltsraum des hellen Klosterflügels wurde er von den anderen Kindern mit einem freundlichen „Guten Tag“ begrüsst. Markus überhört es. Erneut wurde er kritisiert und wegen seiner Ungezogenheit ermahnt und aufgefordert den Gruss zu erwidern. Markus schwieg verdrossen. Er sprach nur mit wem er wollte, dachte er ärgerlich. Schwester Johanna nahm ihn zur Seite und redete ihm gut zu, um sich an Regeln zu halten. Regeln seien für ein Miteinander wichtig.
Wenn die Kinder fragen würden, warum er hergekommen wäre, sollte er antworten: Weil die Mutti keine Zeit für ihn habe. „Aber das stimmt doch gar nicht", protestierte Markus. „Die Alte war immer besoffen". Geduldig spielte sie noch einmal mit ihm das Frage und Antwortspiel. "Lügnerin", dachte er böse und fand die lose schwarze Kutte inzwischen unmöglich. Und wie die Weiber von Gott um den Kopf rum aussahen. Völlig verpackt, nur die blassen Gesichter der Nonnen waren zu sehen.
Da die Fahrt anstrengend gewesen war, bekam er nachdem sich die Herren vom Jugendamt verabschiedet hatten, ein Gemüsesüppchen mit Sternchennudeln. Hierbei erfuhr er die Anweisung vor dem Essen und nach dem Essen zu beten.
Eine weitere Schwester kam nun hinzu und zeigte Markus die Schlafunterkunft. Auf dem Rückweg machte sie ihn mit der Kapelle vertraut. Die Schwester kniete nieder und zeichnete mit ihrer Handbewegung ein Kreuz ins Leere. Sie forderte Markus auf diese Geste nachzuvollziehen. Aber er stand aufrecht neben ihr, denn niederknien war für ihn ein Zeichen der Bestrafung die er in dieser Umgebung gar nicht verstand. Deshalb entfernte er sich unauffällig, während die Schwester in ihrer Andächtigkeit versunken war. Als ihr Gebet zu Ende war und sie bemerkte, dass der Junge verschwunden war, verbeugte sie sich hastig vor dem Kruzifix mit einem Knicks und rannte die verwinkelten Gänge des Hauses ab. Suchte draussen vor dem Tor, konnte ihn aber nirgends finden. Hurtig eilte sie im Dienstgewande „Gottes“ zum Spielplatz, dabei verfing sich ein lauer zarter Windstoss in ihrem Umhang und sie hatte Mühe ihre grosse Kopfbedeckung zu schützen.
Sie schnaufte schwer, pustete die Backen dabei ein und aus. Der für sie so schön begonnene Tag empfand sie am späten Nachmittag als sehr unangenehm. Wie viele andere auch, litt sie unter den bayerischen Fön. Den Fön wusste sie zu unterscheiden. Der Schweizer Alpenfön glich niemals dem bayerischen.
Obgleich sie den Jungen längst aus den Augen verloren hatte, hetzte sie die Dorfstraße hinunter. Es war ein herrlicher Tag, doch die Autogeräusche übertönten den Gesang der Vögel, weil das Sankt Hedwigs Kinderheim direkt an der Dorfstraße lag. Schräg gegenüber standen Bauernhöfe. Markus hatte einstweilen die dahinter liegenden Wälder, Wiesen und Felder im eiligen Fussmarsch erreicht. Ausser Atem irrte er so stundenlang umher. Seine Kräfte liessen langsam nach. Er brauchte eine kurze Pause. Markus setzte sich auf einen kahlen Sandsteinfelsen am Rande des wilden Baches und ruhte sich aus.
Eine grosse dunkle Wolke zog heran.
Ein Teil des Gewässers lag noch im Lichteinfall der Sonnenstrahlen und das Wasser das schimmerte leicht silbern, brach sich stürmisch an den Ufern. Die Natur wurde unruhig, denn die aufgezogene graue Wolke kam näher und näher. Der Wind wurde stärker und Regentropfen fielen schwer nieder. Die leere kalte Stille die Markus umgab riss alte Wunden wieder auf. Ihm schien als habe der helle Tag alles Licht verloren. Markus war wie in Schwermut erstarrt. Unter den sich auf der Haut abperlenden Wassertropfen glich sein Kindergesicht einer versteinerten Maske. An Weiterlaufen bei diesem Wolkenbruch war nicht zu denken. Jeder Atemzug war in der Kühle des Unwetters genau wie der schweissige Dunst der durchnässten Kleidung wie ein feuchter Schleier sichtbar. Mit seinen verschmutzten Händen tastete Markus am Hals entlang und verspürte mit den kühlen Fingerspitzen die Bewegungen der angeschwollenen Adern des laut pochenden Blutweges des Herzens. Er hing seinen Gedanken nach ohne sie richtig zu verstehen.
Die herannahende Dunkelheit erweckte in ihm ein beklemmendes Gefühl. Davon ergriffen dachte er an Rückkehr ins Kinderheim.
Derweil herrschte unter den Schwestern des Hedwig-Ordens Ratlosigkeit. Sie verständigten die Dorfwache und suchten Trost im Gebet. Nach einer kurzen lebhaften Diskussion einigten sich die beiden Polizisten, der Angelegenheit nachzugehen. Sie strampelten auf dem Fahrrad zum Kloster der Skt.Hedwigschwestern.
Stunden des vergeblichen Wartens folgten, doch der Ausreisser kam nicht in den barmherzigen Orden zurück. Eine der Nonnen brachte den frierenden Staatsdiener einen klaren kleinen harmlosen Schluck zum Aufwärmen. Die Gesichter der Nonnen, die vor Aufregung und kühle gerötet, verloren nie den Ausdruck von Würde. Ihre bedächtigen Bewegungen verrieten Bescheidenheit und zugleich auch Stolz, sich für ihren Heiland aufopfern zu dürfen.
Dem Lausbub gehörte anständig der Hintern versohlt ertönte die kräftige Stimme eines Beamten. Freundlich erwiderte die herbeigeeilte Mutter Oberin: „Markus brauche Zeit sich einzugewöhnen! Hier bei uns, ist er in guten Händen. Niemand würde ihm etwas Böses antun“. Mit diesen Worten verschwand Mutter Oberin hinter den Klostermauern und kehrte in ihre Gemächer zum beten. Dabei kniete sie nieder und betete zum Kreuz. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Ihre demütige Mimik im Gebet an Gott drückte grosse Dankbarkeit aus.
Der Junge draussen im Wald sammelte all seine Kräfte und erhob sich langsam. Angstvoll blickte er in das nahende Dunkel. Er flüsterte wirre Worte vor sich hin hatte aber zu keinem Zeitpunkt ein schlechtes Gewissen. Noch ehe es völlig dunkel wurde, entdeckte Markus ein Gerätehäuschen neben der Holzscheune eines Bauernhofes. Die Tür stand offen. Hinter dem Hof befand sich ein Gemüsegarten und Ackerland. Im Schuppen stapelte sich gesägtes und gehacktes Holz in Scheitel. Im Raum daneben bot sich Markus ein heilloses Durcheinander. Auf Ablagen und Boden lagen Hammer, Schraubenzieher, Schlüssel, Brechstangen, Fleischerhaken, Besen, Gartenwerkzeuge und die Bolzen alter Jagdgewehre. Vergilbte Fahrpläne längst stillgelegter Züge lagen herum. Neben einer verzierten, schwungvoll, gebogenen rostigfarbenen Laterne, befanden sich stapelweise Dienstvorschriften aus längst vergangenen Tagen. Markus öffnet in diesem Lagerschuppen ein kleines Fenster und sah in die Nacht hinaus. Der Mond spendete dem Dunkel sein Licht.
Seine Augen hatten sich an die Finsternis gewöhnt, so dass er sicher sein konnte, ein ehemaliges Bahnwärterhäuschen als Unterkunft gefunden zu haben. Doch vollkommen allein war er nicht, denn er erspähte ein Gebäude nahe dem Gleise, in dem Fenster erleuchtet waren. Er atmete tief durch und schlenderte zu dem etwas entfernten Wohnhaus gegenüber und klopfte zaghaft an die Tür, weil er keine Klingel fand.
Eine in sich hineinmurmelnde alte Frau öffnete die Tür. Es dauerte eine ganze Weile bis sie sich nach den Wunsch des späten Besuchers erkundigte. Freundlich bat die alte Bäuerin den Bub reinzukommen. Stumm beobachtete er die Bauersfrau, die sich im Sessel mit Wolldecken eingemummt hatte.
Der Bauer der nebenan in der beheizten Stube sass, würdigte dem Jungen keines Blickes. Markus bestaunte all die an der Wand hängenden Geweihe und präparierten Vögel. Das Mütterchen erhob sich aus ihrem Sessel und verschwand Wortlos in die Küche, beschmierte Brote mit selbst hergestellter Kräuterbutter und grober Leberwurst, die sie dann Markus mit einem Apfel als Beilage anbot. Auch ein Glas Milch wurde dem ungebetenen Gast gereicht.
Während sie ihm beim Essen zu sah, erwachten in dem mageren alten Mütterchen Erinnerungen aus frühere Zeiten, als sie noch glücklich war. Als gäbe es keine Momente des Schweigens, erzählte sie den Bub von ihrer Heimat und Erlebnissen aus der Kriegszeit. Sie war unsicher ob Heimat noch die Heimat war die sie kannte. Zu viel Jahre waren vergangen. Der zweite Weltkrieg sagte sie „war nicht so schlimm auf dem Lande“, es gab auch friedliche Momente. Eine Frau war damals noch Frau und Mutter. Heutzutage strebe die Frau danach, dem Mann immer ähnlicher zu werden.
„Ach, waren das damals noch Zeiten“, schwärmte das Mütterchen. Im Krieg waren Familien noch Familien. Vati ihr erster Ehemann kam in der Gefangenschaft im ersten Weltkrieg ums Leben. Aber wie er wirklich aussah konnte sie sich nicht erinnern. Es war zu lange her. Das schmerzte sie oft.
Die Bäuerin hatte zwei Söhne aus erster Ehe, die beide hart arbeiteten. An den Wochenenden genoss sie das gemütliche Beisammensein mit ihren Söhnen. Anschliessend fuhren die Buben in die Stadt, um sich abzureagieren. „Pfui Teufel“, wusste sie dazu nur sagen. In ihrem Leben habe sie nicht wenig Kummer erleiden müssen, aber so etwas wäre ihr im Traum nicht eingefallen.
Plötzlich schwieg die alte Frau und musterte ihren Gast. So ein kleiner Bub, der war doch irgendwo ausgerissen, grübelte sie vor sich hin. Nach einer Weile fragte sie Markus. Aus einem Kinderheim, antwortete er leise. „Oh allmächtiger Gott rief sie“, wie ist denn so etwas nur möglich? Kinder gehören zu ihren Müttern. „Grundgütiger Himmel“, fügte die fromme Alte leise hinzu. Kleines Bubelchen, nannte sie Markus und bot ihm eine Liege zum ausruhen an. Sie meinte: Wenn das Vieh sich in den Morgenstunden bemerkbar macht, müsste er aufstehen und verschwinden. Sie würde ihn nicht verpetzen, da war sich Markus sicher.
Voll Vertrauen schlief er ruhig ein. Und die alte Bäuerin verschwand hinter einer der verzierten Zimmertüren. Er sah sie nie wieder.
Sehr früh am Morgen erwachte er durch das Krähen des Hahns, sprang schreckhaft von der Holzliege hoch und eilte hinaus an den Wassertrog der Pferde. Während er sich wusch sah er für einen kurzen Augenblick im Haus gegenüber die alte Frau noch einmal am Fenster des oberen Stockwerks stehen. Das eiskalte Wasser munterte Markus so auf, dass er sich neugierig und verspielt ausmalte, was noch alles auf ihn zu kommen könnte. Doch von einer Sekunde zur anderen übermannte ihn die unsagbare Furcht wieder, die inneren Ängste, dieser Schatten über den es sich nicht springen liess. Das Gefühl Unrecht getan oder falsch gehandelt zu haben, zerrte an seinen Nerven. Er war ohnehin klein, dünn und blass und nicht sehr belastbar. Schon seit längerer Zeit bereitete es ihm Mühe sich zu konzentrieren. Doch auf seiner Wanderung kam ihm nicht in den Sinn, dass er nicht einmal wusste wo er sich denn eigentlich befand. Die Bergkette kam immer näher, wurde grösser und mächtiger. Dass München vor Dachau lag war ihm bekannt, doch an ein Gebirge konnte er sich absolut nicht erinnern. Er war in die verkehrte Richtung aufgebrochen. Bald hatte er die Wälder hinter sich gelassen und erreichte die Landstraße. Von hier aus wollte er nach Dachau trampen. Doch der erste Versuch liess ihn gleich an eine Zivilstreife der Polizei geraten.
Markus wusste auf ihre Fragen keine verständliche Antwort zu geben. Weder wusste er, wer sein Vater war noch hatte er die Adresse seiner Eltern. Die Polizisten nahmen ihn mit und brachten den Ausreisser nach Weilheim und gaben diesen auf einem Revier wie eine lebende Fracht ab.
Da stand er nun, wie ein Zwerg zwischen den Riesen von Uniformträgern und gestand aus dem Kloster abgehauen zu sein. Während des Gesprächs nannten die Beamten ihn einen Asozialen. Einer nahm den Heimzögling, das dünne Gerippe an die Hand und drückte Finger für Finger sorgfältig in ein Stempelkissen. Anschliessend wurde die Karte an ein unbeschriebenen Blatt Papier zur Anlegung einer Kartei geheftet. So klein, wie auf diesem Polizeirevier hatte er sich noch nie wahrgenommen. Einer der mächtig hochgewachsenen Herren brachte den kleinen Knirps in eine freie Zelle. Die ersten Stunden darin fand Markus recht angenehm. Hier fühlte er sich sicher und beschützt. Seine Zufriedenheit war nur von kurzer Dauer. Dann begann er sich ernsthaft Sorgen zu machen, dass man ihn vergessen haben könnte. Wie ein Besessener hämmerte er an die Tür, aber es geschah nichts. Dann begann er zu schreien, bis einer ihn hörte. Ein Polizist kam in die Zelle und sprach beruhigend auf ihn ein.
Das Kinderheim war bereits verständigt worden. Sie waren sich einig, dass die Beschreibung des gesuchten Kindes, die das Skt.Hedwigsheim abgegeben hatte, auf den asozialen Jungen in der Zelle passte. Markus wurde in das Heim zurückgebracht. Aus Enttäuschung war er auf der Fahrt unfähig etwas zu sagen und klar zu denken.
Der Beifahrer hänselte ihn fortwährend, ob er eine Macke habe oder nicht ganz dicht unter dem Pony sei. Der Fahrer konterte laut lachend: „Lass doch dieses arme Schwein in Ruhe“. Man sieht doch, dass er doof ist.
Markus hatte Angst, wahnsinnige Angst, denn er fürchtete sie könnten ihn schlagen, erschlagen. Markus fühlte sich so verdammt allein, dass seine Gedanken sich wie im Kreise drehten. Männer schlugen bisher nur die Anna. In seiner Gedankenwelt bastelt er sich seine Rettungsinsel. Anna soff bis zum umfallen. Er nicht! Anna rauchte bis zum abrotzen. Er nicht! Also gäbe es keinen Grund ihn zu schlagen. Der frische Wind, der bei heruntergekurbelten Fenster auf der Heimfahrt durch das Auto zog, würde alle ihre fiesen Gedanken vertreiben, wünschte Markus sich. Von der Anhöhe des Straßenverlaufs, deren Ausblick von fern den Kirchturm von Böbing erkennen liess, löste in Markus Nervosität aus. Innerlich war er aufgewühlt, denn er wusste nicht, ob die Nonnen ihn bestrafen würden. Immer näher kamen sie dem weissen Klosterhaus mit den schwarzen Schieferplatten bedachten Glockenturm. Die Zivilstreife fuhr in den Anfahrtsweg des Vorgartens des Kinderheimes ein und machte vor den Toren des Hauses halt, hupte und eine hagere Schwester kam um die Ecke durch das verzierte Eisentor auf die aussteigenden Polizisten zu. Was haben wir uns Sorgen gemacht, war der erste Satz den sie von sich gab. Als Schwester Dagmar stellte sie sich den Beamten vor, nahm Markus an die Hand und ging mit dem Bub ins Haus, dabei zeigte sie den Beamten den Weg zur Mutter Oberin. Unbeteiligt sass er im Aufenthaltsraum als ginge ihn das alles nichts an und griff nach einem Stuhl, zog ihm zum Fenster neben dem Goldfischaquarium, setzte sich und beobachtete die Fische.
An das Leben im Heim gewöhnte er sich sehr schwer. Wenn andere Kinder spielten, sass er in irgendeiner Ecke und beschäftigte sich in Gedanken mit sich selbst. Heute hatte er eine Erfahrung gemacht, die ihm zu denken gab und mit der er nicht fertig wurde. Er fühlte sich von den Begleitern gedemütigt.
Zudem stellte sich für ihn im Verlauf der Zeit heraus, dass die anderen Heimkinder ihn auch nicht mochten. Ständig wurde er in Streitereien verwickelt und bezog vom Heimstärksten auch noch Keile. In der Dorfschule kam er ebenso mit niemanden zurecht. Vom Klassenlehrer bekam er oft in den frühen Morgenstunden wegen Unachtsamkeit gleich Stockhiebe mit dem dünnen Rohrstock auf die Fingerspitzen und die anderen im Klassenzimmer amüsierten sich darüber. Da es bei Markus öfter der Fall war, von Vorgesetzten bestraft zu werden, fanden die Kinder von den Bauern aus dem Ort bald Spass daran die Prozedur ausserhalb der Schule fortzusetzen. Anfangs hielten sie ihn nur fest, damit er zu spät im Kloster ankam und dort seiner Bestrafung sicher war. Doch nach Tagen übten sie ihre Kräfte an ihm aus. Die Dorfjungen lauerten meist mehreren Heimkindern nach der Schule auf und verprügelten sie. Markus weckte anscheinend besonderes Interesse bei den Kindern der Dorfbauern. Die Buben konzentrierten sich speziell auf Markus, um ihn fertig zu machen. Für sie war es ein Erfolgserlebnis, Heimkinder zusammengekauert auf dem Boden liegen zusehen. Jetzt war er schon der Kleinste aus der Klasse, aber auf dem Boden liegend entsprach er genau den Vorstellungen der Dorfgang.
Die Heimschwestern kannten dieses Problem und versuchten allen klar zu machen, dass der beste Schutz die Geschlossenheit sei, gemeinsam den Schulweg in Richtung des Klosters zu gehen.
Mit der Zeit bekam Markus mit, dass es in der Heimgemeinschaft unter einigen Jungen mit denen er hin und wieder ebenso Probleme hatte eine verschworene Clique gab. Er suchte Schutz und Sicherheit in der Gruppe und passte sich den Gegebenheiten etwas an.
Eines Abends beauftragte Schwester Rose den frechen farbigen Mischling Kai sich Markus anzunehmen und dafür zu sorgen, dass dieser nicht wieder ausriss. Ausgerechnet dieser Negerzwerg dachte Markus wütend und schnaufend vor Zorn. Der Negerzwerg überragte alle Heimkinder in Körperlänge. Markus war Kai nun aufs Verderben ausgeliefert. Bald sah es so aus, als müsste Markus sich für die bisher bezogenen Schläge auch noch entschuldigen. Mischling Kai herrschte wie ein Vorgesetzter, dessen Befehle nie bezweifelt werden durften, sonst gab's was auf die Nuss. So kommandierte Kai eines Nachmittags Markus in den Umkleidekeller zur Mutprobe. Das war ausschliesslich Männersache. Markus sah darin eine Chance endlich dazu zu gehören. Daher wurden Heimmädels selten hinzugezogen.
Markus steuerte daraufhin den Keller an und ging sehr vorsichtig, schon übervorsichtig die dunklen kaum beleuchteten Treppen hinunter. Misstrauisch nahm er die seltsame Stimmung im Raum zur Kenntnis. Er wusste, dass sich jetzt entscheiden würde, ob er jemals zu dieser Gang dazu gehören wird. Der Raum war durch die Garderobenschränke unübersichtlich verwinkelt. In einer Ecke rief ihn Kai zu sich, forderte Markus auf sich niederzuknien und der Gruppe, die aus nur vier Mitgliedern bestand ewige Treue zu schwören. Grosskotzig befahl er Markus dann, seine ungeputzten abgelatschten schwarzen Straßenstiefel dreimal kurz zu küssen und einen extra dafür ausgewählten Jungen die linke Hand. Die Befehle gab Kai noch selber, da er erst die Folgsamkeit der andern Bandenfreunde prüfen wollte.
Dann sorgte Kai für die Überraschung des Abends. Das zottelige Hildchen, dessen fülliges Haar wild gekraust war kam in einem langen farblosen Stufenrock das unbeleuchtete Treppengeländer heruntergerutscht. Ihr verklärter Blick verriet in kindlicher Naivität ihre Vernarrtheit in Kai. Lässig stolzierte er hin und her, verkündete leise aber unüberhörbar „gleich werdet ihr etwas sehen, was ihr noch nie gesehen habt“! Nun führte er allen vor, wie man Weiber knutschte.
Seine Freunde fanden es supertoll, in Kais Geheimnisse eingeweiht zu werden. Im Befehlston forderte er Hildchen auf, den weiten Rock hochzuziehen. Mit grossen Augen himmelte sie Kai an und folgte seiner Forderung in Windeseile. In angeberischer Gebärde bückte sich Kai und zog ihr den zu gross geratenen Heimschlüpfer bis an die Fussknöchel runter. Als wäre es nicht das erste Mal, so schlüpfte Hildchen zuerst mit den rechten Fuss, dann mit ihren linken aus den Liebestöter. Das Höschen störte nun nicht mehr. Markus Mutprobe kündigte sich langsam an. Während Kai das Mädchen mit lieblicher Stimme zwang sich auf eine Kiste zu stellen, stand ein anderer Wache um Alarm zu schlagen, falls sich jemand den Keller näherte. Kai beschäftigte sich weiterhin mit Hildchen, griff ein Beinchen seitlich nach oben, damit sie nicht umkippte. Der über Frauen abgeklärte Markus rief: “Die hat ja eine Glatze zwischen den Beinen“. Irritiert bestaunte er die aalglatte Haut, in der sich bei Bewegung die Schamlippen teilten. Markus überkam Ekel, als er auf Anweisung von Kai, sich mit seinen Fingern in ihren Schoss reintasten musste.
Die Mutprobe war zwar überstanden, aber Markus fand für Kai kein gutes Wort mehr. Er empfand grosse Abscheu und hasste alles was weiblich war noch mehr. Uninteressiert erhob sich Markus und verliess die Runde. Eilig schlängelte er sich durch die verwinkelten Gänge und folgte den Lichtquellen der kleinen Kellerfenster zum Stiegenaufgang.
Der Gruppenhäuptling, wie Kai sich gerne nannte, befahl seiner Bande Markus aufzuhalten, aber es gelang ihnen nicht. Schnellen Schrittes lief er dem Lichteinfall folgend durch das Tor, riss die Haustür auf und verschwand. Wieder einmal hatte er das Heim satt.
Bei jeder Gelegenheit die sich bot, suchte er den Mesner auf.
Eigentlich mochte er Kirchen nicht, besonders aber die Fresken und verschnörkelten Figuren liebte er über alles. Deswegen war er von der Ausstattung der Gotteshäuser so angetan, dass ihn die vielen vergoldeten Engel an den Wänden in den Nischen und an der bemalten Decke täglich hier her lockten. Der Mesner kannte Markus schon. Keines der Kinder kam täglich zur Beichte, denn so viele Sünden konnte man in diesem Alter nicht haben. Markus erfand einfach neue Sünden, um einen Grund für seine Besuche in der Kirche zu finden.
Starr blickte er durch die fleckige verschmierte Fensterscheibe. In seinem Kopf herrschte gedankliches Chaos. Der Heimaufenthalt brachte ihn nicht die erwünschte Befreiung und innere Ruhe, nach der er sich so sehnte. Er hatte sich längst daran gewöhnt, regelmässig zu beten,wenn er sich verlassen fühlte.
Dieses tat er in voller Demut, wie die Schwestern es täglich vormachten. Tag für Tag steigerte er sich immer mehr in seine Gläubigkeit, in dem er Bittgebete in Psalmen sprach, Verse und Geschichten der Reue unentwegt betete. Seine Achtung vor dem Pfarrer im Messgewand bekundete er im Treppenhaus mit waghalsigen Verbeugungen. Den Regeln nach, die Jungen sich zu verbeugen und die Mädchen einen Knicks vor dem Personal Gottes zu machen hatten. Markus übertrieb alles ein wenig. Wahrscheinlich fassten die anderen Kinder sein Benehmen als Heuchelei auf, was wohl mit ein Grund war, dass es immer zu Streitigkeiten kam.
Nur Markus schien von seinem Tun überzeugt. Die Bibel und das Gesangsbuch weckten sein Interesse so sehr, dass ihm das Lesen lernen leichter fiel, als in Schulbüchern. Was auch immer beim lernen schief läuft „Gott würde es für ihn schon richten“. Deswegen ging Markus öfter zur Beichte als notwendig.
Markus Eigenarten waren dem Mesner ja inzwischen bekannt. Um Formlos zu beichten benötigte Markus keinen Pfarrer, ein Mesner tat’s auch. Er war bisher so eine Art Beichtvater für alles. Der Mesner jedoch erzählte dem Pfarrer von Markus Beichtsucht.
Nach einigen abgelegten Beichten beim Pfarrer erging es ihm so wie beim Mesner. Ihm fielen keine Sünden mehr ein. Darum erfand er immer neue Lügen.
Dem andächtig zuhörenden Beichtvater, fielen immer öfter Ungereimtheiten auf. Der Pfarrer wollte das „Schaf Gottes" nicht der Lüge bezichtigen, doch ihm war klar, dass der Beichtende um diese Jahreszeit keine Äpfel und Birnen im Garten des Bauer gestohlen haben konnte, da die Bäume zu dieser Zeit kein Obst trugen. Als der Pfarrer den Bub darauf ansprach, war Markus Sehnsucht nach Beichte und Vergebung seiner Sünden abgeschlossen, vergessen und vorbei. Eigentlich wollte Markus doch nur im Voraus seine Sünden beichten.
Eines Tages besuchte ein Ehepaar das Kinderheim, um sich Informationen über eine Pflegschaft einzuholen. Markus Neugierde drängte ihn das Gespräch zu belauschen. Er wollte wissen was da so wichtiges besprochen wurde.
Erst vor einigen Tagen war eine Dame und ein Herr hier. In den wenigen Minuten die erlaubt waren ,kümmerten sie sich liebevoll um ein elternloses Kind. Lauschend verharrte Markus in der Besuchergarderobe. Die Tür zum Büro war einen Spalt offen, so konnte er alles mithören.
In dem Gespräch erhielt das Ehepaar niederschmetternde Auskünfte. Die Mutter Oberin erklärte, dass nach ihren Erfahrungen in Erziehung und Betreuung dieser Individuen sich leider ergeben habe, dass diese bedauernswerten Geschöpfe Gottes mit der Unterbringung im Heim am besten aufgehoben seien. Weder eine Pflegschaft, noch eine Adoption schien daher ratsam, wegen der meist zerrütteten chaotischen Familienverhältnissen aus denen die Kinder kamen. Von diesen schlimmen Erfahrungen müsse man die Kinder neutralisieren, bis familienfähiges Verhalten gewahrt und gegeben sei. Allerdings war das ihrer Überzeugung, nach nur bei heimpädagogischer Betreuung möglich. Die labilen Kinder waren durch falsche Erziehung schon derart geschädigt, teilweise psychisch belastet, dass selbst im Kinderheim diesbezügliche Bemühungen vergeudet und erfolglos schienen.
Markus sehnte sich nach einem neuen Zuhause.
Doch er wusste, dass er für eine Adoption bereits zu alt war. Fast alle Ehepaare waren nur an kleinen Kindern interessiert. Sobald es schulpflichtig war, schien kein Interesse vorhanden zu sein. Ausserdem suchte das Kloster Pflegeeltern und keine Adoptiveltern. Da zerplatzte sein Wunschtraum wie eine Seifenblase, als er die Mutter Oberin sprechen hörte. Obwohl er selbst noch ein Kind war, konnte er sehr wohl Recht und Unrecht unterscheiden. Wenn doch alle Kinder Pflegeeltern fänden, dachte er. Wozu brauchte Gott eine solche Schar von Nonnen?
Er eilte in die kleine Kapelle auf das Dachgeschoss, kniete nieder, sah zu dem Kreuz und suchte eine Antwort auf seine Fragen im Gebet. Ohne Nonnen gäbe es bestimmt keine Heime mehr, waren seine Überlegungen.
Die Dämmerung liess eine ganz neue wunderbare Ruhe in ihn einfliessen. Er fühlte Stärke in sich.
Auf dem Weg zurück in seine Gruppe, stellte er sich an die Messlatte des Türrahmens im Gang, an dem alle Kinder regelmässig gemessen wurden.
Er freute sich, dass er wieder einige Millimeter gewachsen war. Von da an erfüllte ihn seine kindliche Leichtfertigkeit, die mit einer Portion Rücksichtslosigkeit verbunden war mit Stolz. Für ihn gab es nun keinerlei Bedenken mehr ein Zwerg zu bleiben.
Dieser enorme Wuchs beflügelte sein Selbstbewusstsein. Sein Wunsch, von den anderen Kindern akzeptiert zu werden liess ihn manchmal zu unerlaubten Mitteln treiben. Die Hand schnell in den Klingelbeutel der Kirche stecken, in dem Gläubige blanke Münzen hineinfallen liessen, um sich damit einen Platz im Himmel zu reservieren. Es fiel nicht weiter auf, wenn mal eine Mark aus dem Klingelbeutel fehlte.
Was gab es da schöneres, als diese Mark mit einem Heimkind zu teilen, das dadurch plötzlich zum Freund wurde. Einerseits war er Stolz, hin und wieder Aushilfsministrant sein zu dürfen, aber anderseits plagte ihm sein schlechte Gewissen. Markus fühlte sich schon wie ein richtiger Kumpel und übernahm die flotten Sprüche der anderen. Das stärkte sein Selbstvertrauen und gab ihn Mut genug auch Heimmädels unter dem Rock zu fassen, wenn sich gerade ein Kumpel in der Nähe befand.
Eines Tages bemerkte er beim spielen im Hort, dass Monika total verliebt um seine Aufmerksamkeit buhlte. Das Glücksgefühl der Freude, dass sich jemand für ihn interessierte verstärkte sein Kavaliersgehabe. Von nun an gab es nichts Wichtigeres als Monika. Es drehte sich alles nur um seine Monika. Bis er mutig genug war, ihre Nähe zu suchen, verging einige Zeit. Bis über beide Ohren hatte er sich in sie verknallt. Es erfüllte ihn mit Stolz, ihren schweren Ranzen nach der Schule ein Stück des Weges tragen zu dürfen. Dass Monika sehr dünn und grösser war als er, störte ihn nicht weiter. Er würde ja noch wachsen und sie irgendwann einholen. Für ihn war sie in Allem die grösste, egal was sie tat oder sagte. Wenn er zart ihr Händchen halten durfte, schmolz er jedes Mal dahin und fand in ihrer Gegenwart aber nie die passenden Worte. Gedankenlesen konnte die angehimmelte Erscheinung nicht. Kleine Zettel mussten für all seine Unfähigkeit herhalten und so blieb sein schamloses Mitteilungsbedürfnis auf dem Papier in Form obszöner Zeichnungen nicht aus. Verstohlen übergab er ihr schamhaft den zusammengeknüllten Zettel und wartete gespannt auf eine Reaktion seiner Angebeteten, doch die blieb aus.
Alles war plötzlich anders. An den folgenden Tagen sah er sie nicht mehr. Seine Gedanken kreisten immerzu um Monika. Der Unterricht in der Dorfschule war für ihn unwichtig geworden.
So geschah eines Morgens etwas Merkwürdiges. Monika war zwar immer noch nicht zu sehen, dafür aber eine Schar hektischer Nonnen. Markus war verwundert, dass er nicht wie die andern Schulgänger aufstehen und zur Schule gehen brauchte. Die andern sassen schon längst im Frühstücksraum. Irgend etwas stimmte hier nicht, dachte er. Markus suchte vergeblich nach seiner Kleidung. Er sprang aus seinem Bett und rannte aus dem Zimmer den Gang entlang. Vor dem Kapelleneingang wurde er von einer kräftigen Nonne abgefangen und wieder ins Bett zurückgebracht. Damit er nicht wieder auf seltsame Ideen kam, nahm die Schwester neben seinem Bett Platz und las laut und deutlich für ihn unverständliches aus ihrem Gebetbuch vor. Aufkommende Angst liess sein Herz so stark pochen, dass es an der Schläfe sichtbar wurde. Die ganze Situation erinnerte an die BarackenAnna. Schutzsuchend verkroch sich Markus unter der Bettdecke. Kurz darauf kam Schwester Magdalena und brachte ihm das Frühstück ans Bett. Vorsichtig und freundlich eröffnete sie ihm das Geheimnis, dass er anschliessend eine weite Reise antreten werde. Für das Kinderheim sei er schlichtweg schon zu alt. Ungläubig hörte er zu und wagte nicht zu widersprechen. Die Schwester erklärte ihm, dass der nette Herr vom Jugendamt extra seinetwegen käme um ihn abzuholen und ihn in ein anderes Heim bringen würde. Schüchtern fragte er die Schwester ob er für immer fort sollte. Während sie ihm die Kleidung für seine Reise hinlegte, erwähnte sie unbestimmt: „Irgendwann sehen sich alle wieder" und tat, als bemerke sie nicht was sich da in Markus abspielte.
Danach herrschte absolute Stille. Eine Ruhe die für Markus unerträglich wurde. Etwas unausgesprochenes lag im Raum, was hätte geklärt werden müssen, denn Markus war sich keiner Schuld bewusst. Somit bestätigte sich für ihn, dass die Nonnen nicht ehrlich waren.
Schweren Herzens ging Markus mit den beiden Herren vom Jugendamt zu dem Auto der Stadtverwaltung Dachau, das direkt vor dem Eingang des Kinderheims geparkt war. Es gab keine freundliche Geste und nicht einmal ein Winken zum Abschied. Wortlos verschwand die Nonne wieder in die Geborgenheit des Heimes. Markus fühlte gähnende Leere als sie abfuhren. Niemand sprach im Auto mit ihm. Die einzige Unterhaltung fand er in sich selbst, indem er bemerkte, wenn das von innen blau gemusterte Automobil links in die Kurve fuhr, er nach rechts fiel und wenn es rechts einbog wiederholte sich das Spiel anders herum und liess ihn zur linken Seite kippen.
Irgendwann war Markus eingeschlafen. Mehrere Stunden waren vergangen. Der Beifahrer weckte Markus auf dem Rücksitz und bot ihm Tee und belegte Brote mit der Bemerkung während der Fahrt nicht zu kotzen an. Der offensichtlich, übermüdete Fahrer hielt sich am Lenkrad fest. Mit der Beschreibung von Markus neuer Heimstätte hielt er sich wach und erzählte ihm, dass zwischen Nürnberg und Ansbach ein kleines friedliches Dorf liege dessen Sehenswürdigkeit eine Burg sei. Hinter dicken grauen verwitterten Gemäuer befand sich das Heim indem viele Jungens ein neues Zuhause fanden. Es würde Markus bestimmt gefallen meinte der Fahrer.
Am Ziel angekommen zeigte er Markus, dass die alte Burg von einem Wassergraben umgeben war der jetzt ausgetrocknet und nun als Garten genutzt wurde. Viel Unkraut und unzählige wild gewachsene Rosen wucherten dort. Ein grosser Teil des Grabens wurde für den Gemüseanbau genutzt. Aus dem Burghof führte ein Kopfsteinpflasterweg der schon von den Römern aus alten Zeiten in das Dorf angelegt wurde.
Heim bleibt Heim, dachte Markus. Sehr schnell lebte er sich in sein neues Zuhause ein.
Die Zeit verging und er bemerkte nicht wirklich wie die Jahre an ihm vorüberzogen. Er lebte in einer Schülergruppe die aus einer strengen Erzieherin und achtzehn Jungen im Alter von 7 bis 15 Jahren bestand. Zusammengewürfelt aus allen Schichten, arbeitender und arbeitsloser Familien. Es war ein wilder Haufen ungebändigter pubertierender Zöglinge, hässliche und Gutaussehende, gepflegte und ungepflegte. Einfach eine lebhafte Herde von Begabten und unbegabten Kindern deren Ziel es war anders zu werden als ihre Eltern. Von Brahms, Mozart, Tschaikowski, Bach oder Beethoven wussten die Jungs nichts. Unterhaltung gegenwartsnaher Art war ihr Leben. Unbekanntes wie Klassik interessierte sie kaum um so mehr das eigene Ich.
Jeden Morgen standen sie im Waschraum und wischten den Wasserdampf von den Spiegeln in der Hoffnung bei ausgiebiger Begutachtung einen Bartwuchs zu entdecken. Manche hatten Sorge ihr spärlicher Haarwuchs um Lippen, Wangen und Kinn würde nie Farbe annehmen.
In jedem „chaotischen" Haufen war immer einer dabei, der sich nicht frei von Zwängen entwickelte und ungezwungen den Hartgesottenen spielen konnte.
Markus entwickelte sich in den Jahren zum Träumer und zu einem zarten, vorsichtigen und verschwiegenen Teenager. Mit zunehmender Reife empfand er das Heim, dass ja sein zu Hause war, immer mehr wie ein Gefängnis. Dadurch fühlte er sich für etwas bestraft, was er nicht verstand. So träumte auch Markus davon, wie die anderen von dem Tag, an dem die Entlassung aus der Erziehungsanstalt kommen würde.
Bei jeder Gelegenheit suchte er die selbe Stelle der Burg auf. Eine Mansarde von der er auf das Dorf blicken konnte. Dieses Mansardengemäuer bot ihm Schutz und Geborgenheit wenn er sich verlassen vorkam. Dabei betastete er den Sandstein, der sich kühl und feucht anfühlte und ihn daran erinnerte, dass er ein Gefangener war. Wenn der Wind ihn zart einhüllte, über sein kurz geschorenes Haar strich, vergass er all seinen Kummer. Trotz der immer öfter aufkommenden Selbstzweifel schien ihm das Leben doch lebenswert. Der Herbst mit seinen vielen Abschiedsfarben verhalf seiner Seele das Leben bunt auszumalen. Die Mansarde vermochte es, dass Seele und Verstand sich annäherten und sich im Gleichklang wiederfanden.
Im Turm der Dorfkirche läuteten die Glocken, nach seinem Empfinden, manchmal in unterschiedlicher Lautstärke. Bestimmt begann dort eine Messe. Der Klang der Glocken hallte durch das ganze Tal. Für Markus ein Klang von Freiheit und Stärke. Der Glockenklang wurde immer leiser und liess Markus spüren, dass alles einmal sein Ende hat.
Die Herbstzeit ist ein wechselhaftes Spiel der Natur. Der Wind wurde heftiger und Laubblätter tanzten verspielt umher. Wie ein aufkommender Sturm pfiff der Wind durch die Balken der Mansarde, als singe er das traurige Lied leidgeprüfter Kinder. Das Knarren in den Fugen hörte sich bedrohlich warnend an. Vom Burghof war das Geräusch herabfallender Schieferplatten von den Türmen zu hören. Dieses sehr alte Gemäuer begann zu leben. Seine Gedanken darüber verkürzten ihm die Zeit.
Um die Erzieherin nicht schon wieder zu verärgern ging er in die Räume der Gruppe zurück. Es liess sich nicht verheimlichen, dass die Gemeinschaft zerstritten und in zwei Lager sich bekriegten und gespalten war.
In Anwesenheit der Aufsicht verlief der Tag relativ normal, doch jeder der Anführer der verfeindeten Lager schmiedete heimlich Pläne um den eigenen Chef als Gruppenstärksten vorzeigen zu können. Markus war auf keiner der beiden Seiten ein willkommener Mitstreiter. Seine Interessen verlagerten sich zum eigenen Erstaunen in eine andere Richtung. Sein Geheimnis war die Sehnsucht nach ernsthafter Liebe. Keiner durfte es wissen, es war verboten. Markus war verliebt. Deshalb zeigte er bei Unstimmigkeiten in der Gruppe seine Gleichgültigkeit. Mit der Zeit brachte es ihm die Feindschaft der Ganganführer. Hinterhältige Intrigen und Machenschaften unter pubertierenden Halbstarken mobilisierten die Stimmung in der Gruppe gegen Markus. Er wurde von den Schulkameraden des Verrats beschuldigt, was ein selbsternanntes Strafgericht zur Folge hatte. Nachts wurde er mit Schlägen gewaltsam aus dem Bett gezerrt und dem Boden entlang in den Waschraum gezogen. Die Anführer der Gemeinschaft gingen mit solchen Feinden nicht gerade sanft um. Trotz verzweifelter Gegenwehr entkleideten sie Markus, drückten seinen Kopf ins Waschbecken und liessen abwechselnd kaltes und heisses Wasser über ihn laufen. Der kleine Waschraum war klitschnass und Spiegelglatt geworden. Als Markus sich vom Waschbecken befreien konnte, rutschte er aus und fiel zu Boden. Wer in dieser Nacht bei Kräften war, durfte seine Stärke an Markus demonstrieren. Im Handgemenge färbte sich das Wasser unter seinem Körper rot. Er konnte die Temperatur des über ihn gegossenen Wassers nicht mehr unterscheiden. Sein Nasenbluten nahm kein Ende. Auf Befehl und Androhung von Schlägen, säuberte sich Markus so gut wie es in der Eile ging und wischte unter Schmerzen, nackt den Boden auf. Erst danach hatten sie etwas erbarmen mit ihm.
Einer der Bande warf ihn seinen gestreiften Schlafanzug, den man auch Sträflingssack nannte durch die Tür, um sich anzukleiden.
Schlüsselgeräusche des Nachtwächters vertrieb endlich seine Peiniger. Als der Nachtwächter Markus mit verquollenen Gesicht stehen sah, gab er dem Jungen nur den Rat nicht Hand an sich selbst anzulegen. Das wäre eine Todsünde! Lebensmüde kämen ins Irrenhaus.
Am Morgen darauf meldete Markus diesen Vorgang der Erzieherin. Sie empfahl ihm nur, sich zu wehren. Beim Frühstück in Anwesenheit aller brachte sie den Vorfall zur Sprache. Wie sich herausstellte hätte sie das nicht tun sollen, denn von nun an war Markus ein Petzer und im ganzen Heim den Spott ausgesetzt. Egal ob in der Heimschule, in der Turnhalle des Burghofes, selbst auf dem Fussballplatz aber vor allem im Speiseraum in dem einige Schülergruppen anwesend waren. Immer mehr zog Markus sich in seine kleine Welt zurück. Gelegenheiten ihm aufzulauern, gab es in der grossflächigen Burganlage des Heims zur genüge, um ihn einige Fausthiebe zu verabreichen. Seine schulischen Leistungen und sein Wohlbefinden erreichte nun einen Tiefpunkt, so dass er an Flucht dachte.
Für Markus wurde der Heimaufenthalt zum Spiessrutenlauf. Nichts mehr war in Ordnung. Unsterblich hatte er sich in einen Lehrling verliebt. Es blieb vorerst noch sein Geheimnis. So lange ihm noch nicht klar war, wohin er flüchten könnte tröstete er sich mit dem Gedanken, dass er nur noch einige Wochen in der Schülergruppe verbringen müsse, da bald seine eigene Lehrzeit anfing.
Sein pubertäres Schwärmen für einen Lehrling liess ihn so einiges, was er bis dahin erfahren musste ertragen.
Trotz seiner unauffälligen Erscheinung liess er zunehmend erkennen, dass er anders war. Normal anders! Sein Freund aus der Lehrlingsgruppe begann bereits vor einem Jahr mit einer neuen Lehre um bis zur Volljährigkeit seinen Abschluss in der Tasche zu haben.
Der Angehimmelte war ein paar Jahre älter und etwas erwachsener.
Das freundschaftliche Treueverhältnis zueinander gab beiden Kraft. Das Wissen, bald in die Lehrlingsgruppe wechseln zu dürfen, stärkte Markus. Seine erste grosse Liebe machte ihn stark genug um in der Meute von fast zweihundert Jungen seinen „Mann“ stehen zu können. Die Nähe zu seinem Freund, der körperliche Kontakt und die empfundene Zusammengehörigkeit half ihn in dieser Zeit der Verfehlung, seinem Leben einen Sinn zu geben. Schon in kurzer Zeit war Markus wie verwandelt, als hätte sich der Alltag neu erfunden. Obwohl es als Laster angesehen wurde, gab die Beziehung den beiden Jungen eine angstfreie Zeit. Heimlich trafen sie sich im Kohlenlager oder im Heizungskeller der heimeigenen Plastikfabrik, oder im Schuppen der Schreinerei und Malerwerkstatt. Ihre Liebe zueinander verzichtete auf Bequemlichkeiten. Das Zusammensein in Zuneigung und die gegenseitige Offenheit war etwas Wunderbares. Keiner brauchte dem andern etwas vormachen. Ein Streben nach materiellen Werten gab es nicht in dieser innigen Gefühlswelt. Von dem Freund erfuhr er, dass das was sie taten strafbar und verboten war. Homosexualität war den Jugendlichen in der Erziehungsanstalt nur unter Begriffe Warmer, Schwuler, Tunte und Puppe den Insassen bestens geläufig. Doch beide waren sich darüber einig, dass es sie nicht betraf.
Stundenlang lag Markus Nachts wach und beschäftigte sich in seiner Fantasie mit diesbezüglichen Verboten. Die Schülergruppe müsste er noch hinter sich bringen, dann wäre für ihn erst mal das Schlimmste überstanden, dachte er. Die Verschwörung der Schüler aus seiner Gruppe gegen ihn war nach wie vor in vollem Gange.
Die Anführer der zerstrittenen Schülergruppe nutzten das nächtliche Wochenende für selbst ausgeheckte Rachepläne. Als die Nachtwache wie immer um die selbe Zeit, im Hause die Runde drehte und wieder verschwand, schlich der Gruppenboss leisen Schrittes durch die dunklen Schlafräume um seine Leute wachzurütteln. „Gericht halten", war diesmal das Schlagwort. Im Vorraum der Toiletten traf sich der Anführer und seine Anhänger. Dann konnte das Spiel der Gruppengesetze beginnen. Mit einer angespannten Steinschleuder stürmten allesamt das Bett von Markus. Voller Schreck sass er aufrecht im Bett und bemerkte in dem Lichtkegel der Nacht, dass der Stein in der selbstgebastelten gespannten Wurfschleuder auf seinen Schädel zielte. Der Kräftigste befahl ihm aufzustehen, verhaftete ihn und führte dann den Gefangenen in die Dunkelkammer nach oben in das Versteck das Kisten und Flaschen beherbergte. Ein Komplize fand auf dem Weg zum Dachstuhl eine Kerze, drückte sie in den Flaschenhals und zündete die Kerze an. Während das Licht dahin flackerte, wurde Markus von den Mitstreitern entkleidet. Es genügte ein Griff um ihm das Nachthemd vom Leibe zu reissen. Eilig banden sie ihn mit einem Springseil an einen Balken. Beim Vorlesen des Beschlusses sah Markus die Gesichter der Peiniger an und begriff den Ernst der Lage. Seinen letzten Wunsch konnte er aus drei vorgegebenen Punkten wählen. Tod durch Ersticken, Tod durch einen Schlag mit einem Ziegelstein auf dem Kopf, Tod durch Schnitte an Pulsader oder Halsschlagader. Ausbluten, Verbluten bis zum Eintritt des Ablebens. Nach den irrsinnigen Vortrag, rissen sie Fetzen aus dem am Boden liegenden Nachthemd und verbanden damit Markus Augen. Das verteilen von Fausthieben im Magenbereich liess Markus das Atmen schwer werden. Zeitweilig rang er nach Luft. Hätte man ihn nicht angebunden, hätte sich sein Körper vor Schmerzen gekrümmt und er wäre wie ein nasser Sack zu Boden gefallen. Nach einem Tritt in die Hoden wurde der Schmerz so unerträglich, dass er zu schreien begann und um Hilfe bat. Es fand sich sofort jemand der ihm den Mund zuhielt. Die Folterer begannen miteinander zu flüstern. Für Markus verstrich in diesem Augenblick eine Zeit beängstigender Ungewissheit, in der er innerlich mit dem Leben abgeschlossen hatte. Kurz darauf liess der Anführer die Kerze auspusten und befahl seinen Komplizen in ihre Betten zu verschwinden und zu schweigen. Angebunden blieb Markus im Dunkel auf dem Dachboden zurück Vergeblich hoffte er auf das Erscheinen der Nachtwache. Die Zeit in der er gefesselt war kam ihm endlos vor. Irgendwann wurde er losgebunden. Vermutlich entsandte der Rädelsführer seinen Stellvertreter um den Bestraften zu befreien. Markus konnte mit verbunden Augen nichts erkennen. Es wurde nicht gesprochen und alles spielte sich in Windeseile ab. So schnell sein Befreier auftauchte so schnell war er auch wieder verschwunden. Markus traute sich keinen Schritt gehen, verkroch sich auf dem Dachboden und wartete auf den hellen Morgen.
An diesen Tag trat die Erzieherin früher ihren Dienst an als üblich. Als sie die Schlafräume aufsuchte bemerkte sie Markus leeres Bett. Auf dem Dachboden vernahm Markus ihr bekanntes Geschrei, erhob sich, griff den zerrissenen Ärmel, bedeckte seine Männlichkeit , zog das zerfetzte Nachthemd hinter sich her und ging die Holzstiegen nach unten. Als sie Markus die Treppen runter kommen sah, rastete sie vor Wut total aus. Er hatte keine Chance zu Wort zu kommen. Sie brüllte ihn so laut an, dass er immer wieder zusammenzuckte. Sauereien, Schweinekram und Todsünden warf sie Markus vor. Stumm und geknickt, vernahm er ihre Beschuldigungen und schämte sich vor den anderen. Die Meute hatte in Reih und Glied Aufstellung bezogen und durfte mit ansehen, wie sie ihn fertig machte. Bückend griff sie nach ihrem Hausschuh, schimpfte schreiend mit putenroten Gesicht und schlug mit dem Pantoffel heftig auf Markus ein. Dieses „Dreckstück", rief sie immer wieder und sah die anderen dabei streng an. Mehrmals sagte sie: „Wenn einer mit dem Pimmel des anderen spielt kommt er ins Gefängnis“. Markus durfte sich ankleiden und zum Rapport antreten. Da standen nun die Knirpse, als könnten sie kein Wässerchen trüben und warteten auf ein Zeichen der Erzieherin gehen zu dürfen. Hintereinander fast im Gleichschritt marschierten sie in den Speiseraum ausserhalb des Gruppengebäudes. Da Markus der Letzte des Marschzuges war, bemerkten die Aufseher sein Verschwinden erst beim Morgengebet. Er nutzte die Unachtsamkeit seiner Erzieherin zur Flucht aus dem Erziehungsheim. Im Speiseraum fand um diese Zeit der allmorgendliche Gedankenaustausch unter den unzufriedenen Heiminsassen statt, also Klatsch und Tratsch. Die Neuigkeit, dass Markus von der sonst so netten Erzieherin Prügel bezog, weil er mit einem aus der Gruppe geschwult hatte und andere auf dem Dachboden ebenso verführte, verbreitete sich wie ein Lauffeuer im Heim herum. Jede an den Haaren herbeigezogene Mitteilung liess allen erst so richtig bewusst werden, wie gefährlich ein Schwuler einem werden kann. Die meisten erfuhren damit, wie sie sich täuschen liessen und bisher nichts von Markus krimineller Energie bemerkten. Einige hörten plötzlich von Geschichten die erzählt wurden, waren aber Gott sei Dank selbst nicht betroffen. Der Einzige der über Markus verschwinden traurig schien, war der Malerlehrling, Markus erste grosse Liebe. Er, der Lehrling konnte sich aus dem was er hörte, keinen Reim machen. Alle erzählten irgend etwas, aber keiner aus der Schülergruppe erbrachte den Beweis.
Markus hatte längst die riesigen, wuchtigen Gittertore der Burg hinter sich gelassen und lief wie ein von Feinden verfolgter durch das Dorf Lichtenau, hinauf zur Ziegelei in Richtung der Landstraße von der ein Seitenweg ins Waldinnere führte. Als Versteck bot sich ihm eine grosse ausgehöhlte Eiche in die er sich verkroch. Durch einen kleinen Riss im inneren des Stammes beobachtete er die Umgebung. Markus war in Gedanken versunken, grübelte über das Leben nach und versuchte sich vorzustellen wie es wäre, wenn er das Alter hätte und sterben müsste. Zwei kurze dünne Beinchen, abgemagerter Rumpf, riesengrosse Hände an zu langen dünnen Armen, einen kahlen Kopf mir runzeliger Haut und tiefe verfault riechende Pickelwunden. Bei seiner Überlegung knirschte Markus mit den Zähnen, denn sein Pickelgesicht war für ihn zu einem grossen, wenn nicht gar zum grössten Problem geworden, für dass er ständig Erklärungen suchte. Seine Gesichtsakne war ein Leiden für das er sich zusätzlich schämte. Er empfand sein Leben nur mit Problemen behaftet. Einige Stunden waren inzwischen vergangen und er wusste kaum noch warum er fortgelaufen war. Ein Hungergefühl meldete sich an und dieses war stärker als alle Fluchtgedanken, Ängste und Zweifel. Demzufolge stand er zwei Stunden später an der Einfahrt zum Heimeingang, der an das Verwaltungsgebäude grenzte. Vorsichtig schlich er sich am Haus der Heimleitung vorbei und eilte den Weg durch die Unterführung des Mansardenvorbaus in dem der Schullehrer seine Wohnung hatte entlang.
Bevor er die nächste Bogenunterführung ansteuerte, blieb er an den verschlossenen Burgtor zum Innenhof stehen. Mit den Händen hielt er sich an den Eisenstangen fest, sah nichts weiter als den grauen Schatten des Sandsteingewölbes.
Der Blick durch das Gitter wurde von dem mächtigen Hauptschiff der Burg versperrt. Entschlossen drehte Markus sich um und machte sich auf den Weg in seine Gruppe zur Rückmeldung bei seiner Erzieherin. Seine Schritte wurden eiliger als gelte es jemanden eine erfreuliche Nachricht zu überbringen. Er jagte durch den hell bemalten und zum Teil gekachelten Flur den langen Treppenaufgang hinauf. Der Stellvertreter der krank gewordenen Erzieherin pfiff ihn in die Schreibkammer, verschloss die Tür und erwartete eine Erklärung. Markus entschuldigte sich in aller Form, ging danach in den Waschraum um sich frisch zu machen. Im Umkleideraum unterhielten sich Zöglinge im Flüsterton, Spötteleien unterblieben dieses Mal ausnahmsweise. Max der Stotterer gesellte sich dazu, fand den „Ausbruch" stark. Das Abhauen wurde als eine grossartige Angelegenheit unter den Jungs angesehen. Das hob seinen derzeitigen Gruppenstand mächtig. Er hoffte, dass die übertriebene Anteilnahme bald ihr Ende fand. Es dauerte eine Ewigkeit bis der Stotterer die Sätze seiner Begeisterung für ihn zu Ende brachte. Befreundet waren er und Markus nicht gerade, dazu waren beide zu verschieden. Max war von robuster Natur, ein kräftiger Bursche. Gegen ihn war Markus klein, zierlich aber ein Dickkopf und Einzelgänger. Er hatte die Gabe sich von allem auszuschliessen, abzuriegeln und dennoch ist er meist als Verursacher von Vorkommnissen beschuldigt worden. Seine Eigenart, stets den Weg des geringsten Widerstands zu gehen half nicht immer.
Schon bald stellte sich eine neue Barrikade vor ihm auf, die zu stürmen unmöglich schien. Nach und nach erfuhr er von all den Schauergeschichten, die über ihn verbreitet wurden. Unglaubliche Stories über sein Schwulsein, wenn auch unbewiesen, machten die Runde. Sein neuer Kosename "Süsser", war für ihn wie ein Schlag ins Gesicht. Er wunderte sich, dass einige aus seiner Gruppe plötzlich Interesse für ihn zeigten und um seine Gunst warben. Markus sah sich zunehmend in eine andere Rolle gedrängt, in die des Andersseins.
Auch die Vorgesetzten, sogar seine Erzieherin verhielten sich anders als früher. Eine Art besonderer Aufmerksamkeit wurde ihm zuteil. Eigentlich verstand er das nicht und wurde den Verdacht nicht los von der Belegschaft der Erzieher als Kranker angesehen zu werden. Markus grübelte fortan was er gemacht haben könnte. Die Überlegungen gingen soweit, dass er sich im Spiegel als einen Jungen sah, den man ansieht wie krank er ist. Um die Krankheit zu vertuschen pflegte er sich immer mehr. Wenn seine Pickel ihn mal nicht belasteten und abgeheilt waren, erkannte er selbst am Spiegelbild, dass er nicht unbedingt wie ein Junge aussah. Während er sich betrachtete dachte er an „seine Liebe“ dem Lehrling. Verunsichert flüsterte er in den Spiegel: „Ich bin wirklich so".
So trug er diese Ansicht in sich und musste versuchen mit dieser „schrecklichen Krankheit“ klarzukommen. Sie tut nicht weh doch anscheinend zeichnet sie einen Menschen so, dass jeder sie erkennen kann. Sobald er das Wort "schwul oder Schwuler" hörte wusste er, dass er damit gemeint war.
Spontan veranlasste die so liebe Erzieherin die Umlegung in das Zweibettzimmer für schwierige Fälle. Denn es sei unverantwortlich Markus mit acht Knaben in einen Raum unterzubringen. Die Labilität anderer Zöglinge könnten von ihm ausgenutzt werden und zu sexuellen Handlungen führen. Markus freute die Entscheidung der Verlegung. Wenig begeistert war er von dem Versuch ihn zu kriminalisieren. Was auch immer ihn belastete mit dem Herzen war er unentwegt bei seiner grossen Liebe, dem Lehrling.
Sein neuer Zimmergenosse war Michael der Null Bock auf’s Lernen hatte und seine Eltern des öfteren in Schwierigkeiten bei den Behörden brachte. Michael war so alt wie Markus hatte aber schon eine kleine Karriere durch Einbrüche und Straßenraub hinter sich. Wie er erzählte besorgte er sich an den Wochenenden mit einigen Kumpeln, die er seine Freunde nannte auf den Bahnhöfen das nötige Taschengeld. Zuhause wurden sie ziemlich kurz gehalten. Markus und Michael unterhielten sich ganz offen miteinander, als wären sie lang vertraute Freunde. Stunden später rief die Erzieherin Michael zu sich, um ihn vorsichtshalber darüber aufzuklären. Kurz und bündig teilte sie ihm mit, dass sein Zimmerkollege Markus schwul sei.
Stocksauer kam er ins Zimmer zurück und keifte Markus an: „Du bist ja ein Schwuler". Eine ungewollt bedrückende Stimmung die in Schweigsamkeit verharrte erfasste den Raum. Tagelang sprachen sie kein Wort miteinander, sahen sich nur im vorbeigehen oder zur Morgentoilette flüchtig an. Misstrauisch kontrollierten sie Fächer, Schränke und Wandregale ob nicht der eine dem anderen etwas entwendet hatte. Michael besann sich seiner Bekanntschaften auf Bahnhöfen und öffentlichen Toiletten und schwieg plötzlich dazu. Toleranz war nicht seine Stärke, dafür aber Gleichgültigkeit.
Am Abend traf Markus ihn schon auf dem Bett liegend an, obgleich sie am Wochenende länger wach bleiben durften, weil ja schulfrei war. Schnell leerte Markus seine Hosenbeutel, kramte in den Schubfächern und klopfte mit wiederholenden Handbewegungen die Krümel vom Bettlaken. Michael sah mehrmals zu ihm, tat allerdings so, als wäre er in sein Schulbuch vertieft. Beim verlassen des Zimmers drehte sich Markus noch mal um, sah in den Spiegel in den er nur auf Zehenspitzen stehend schauen konnte. Sein Spiegelbild gefiel ihm. Er war stets gut frisiert soweit es der Kahlschnitt des Hauseigenen Friseur zuliess. Die Heimjugend hatte ihre Vorbilder aus der Jugendzeitschrift „Bravo", die ihren Weg aus den Lehrlingsgruppen über die Schulbank in die Schülergruppen fand. Anders war in der Schülergruppe an diese Lektüre nicht ranzukommen. Daraus entnahmen sie die Trends ihrer Idole.
Damit die Modefrisur auch im Heim nachvollzogen werden konnte, kämmten die Jungs bei ihren monatlichen Gang zum Heimfriseur ihr Haar nass nach hinten, dadurch wurde vom Friseur nicht zu viel abgeschnitten. Kaum war der Friseur gegangen, standen die meisten im Waschraum, trockneten ihr Haar und kämmten ihre kurze Mähne nach vorne in die Stirn eben, so wie es in der Bravo zu sehen war. Und was da in der Bravo stand, war für sie richtig und die Aufklärung von Doktor Sommer für das weitere Leben von Bedeutung.
Die Tür zum Waschraum wurde einen Spalt aufgerissen. Die Erzieherin kündigte das Abschalten der Beleuchtung an. Sie rief den Nachzügler Markus in den Schlafraum zurück und wünschte eine gute Nacht. In der Gruppe kehrte Ruhe ein. Obwohl sein Zimmergenosse weiterhin stumm blieb verging die Zeit schnell. Das Schweigen des Anderen machte Markus nervös aber auch nachdenklich und neugierig. Träume und Wünsche wiegten ihn in den Schlaf. Schweissgebadet erwachte Markus in dieser Nacht. Ausser sich vor Angst suchte er instinktiv nach einem Halt. Es vergingen nur wenige Minuten, dann holte ihn der Schlaf wieder sanft ein. Bald begann er wieder in der Geborgenheit des Bettes zu träumen, wirres Zeug aus Fantasie und Erlebtem gemischt. Gesichter wandten sich dem Lagerfeuer zu. Die zweite Sonne war zuerst untergegangen. Als die weniger scheinende Sonne am Horizont versank erwachte in den bewegungslosen Gestalten das Leben.
Das Abendrot verzauberte die umliegende Landschaft der Burg. Markus empfand tiefe Zufriedenheit und Glück. Ein goldblondes Mädchen mit Engelsflügeln sang und spielte Gitarre. Die Stimme hatte er selbst im Traum noch nie gehört. Dann tranken alle ohne jemanden zu sehen Alkoholisches aus Früchten, rauchten Zigaretten und schienen unbeschwert. Ein zartes Erklingen von Musik verhallte in der Ferne. Sekunden später erbebte die Erde. Im Traum sah Markus erfreut zu, wie alle um ihr Leben rannten. Felsen, Gebäude alles fiel zusammen. Lava donnerte mit Getöse herunter und ging in Meeresrauschen über. Als die flüssige Glut ihn erreichte, der Qualm ihn fast erstickte, fand er plötzlich unter dem Türpfeiler der Friedhofskapelle festen Halt. Für einen Augenblick wurde Markus wach, sah durch die halb verschlossenen Augen auf ein schneeweisses Laken, das Ohr gegen die Matratze gepresst und hörte sein Herz. Das Herz schien zu stolpern, lauter und lauter zu schlagen. Doch er schlief in seinen Träumen wieder ein, träumte weiter. Wieder die wunderschöne Frauenstimme die verhallte. Es folgte tiefe Stille. Schwerfällig drehte sich Markus zur Wand hin. Tiefschlafend sah er, wie das stämmige Mauerwerk um ihn zu glühen begann. In Zeitlupentempo fiel alles ineinander. Er wollte seine Kameraden darauf aufmerksam machen, bekam aber keinen Laut heraus. Immer wieder versuchte er in Panik zu schreien. Angstvolle Versuche zu fliehen scheiterten an der Unbeweglichkeit. Unzählige glitzernde Glassplitter trafen ihn. Fallend rutschte er in die eigene Blutlache bis funkelnde Scherben ihn zu erdrücken drohten. Angstschweiss sammelte sich auf seiner Stirn, Brustkorb und Rücken. Die Zimmerdecke wurde brüchig. Ein Kristallfelsen schien in rasender Geschwindigkeit auf ihn niederzufallen. Er schrie wie ein Wahnsinniger kurz auf. Sein heiss gewordener Atem glich einem Pumpwerk, der Pulsschlag einem verstummten Schlagbohrer. Das Blut schoss durch die Adern und liess den Körper vor Aufregung zittern. Er war wach, hellwach. Michael sass auf seiner Bettkante und hielt Markus Hand, wischte ihm mit einem alten Hemd den Schweiss von der Stirn und strich ihm dabei übers Haar. Markus empfand diese Berührung als angenehm. In der Dunkelheit berührten sie sich versehentlich öfter und erzählten sich gegenseitig fast ihr ganzes Leben, voll Zweifel und Ängsten, Fantasie und Wirklichkeit, Ohnmacht und Unterdrückung, Gefühlen und Sehnsucht. Es war Geborgenheit was beide suchten, sich jedoch dafür schämten.
Markus war sehr früh munter und hatte ein ungutes Gefühl vor Michaels Erwachen. Er verkroch sich unter der Zudecke und wartete seine Reaktion ab. Unter der Bettdecke lurte er vorsichtig hervor um festzustellen ob er Freund oder Feind war. Michael jedoch verhielt sich ebenso um gegebenenfalls bei Unannehmlichkeiten unterzutauchen. Als ihre Blicke sich trafen gestand Michael was ihm wichtig erschien. Ich bin normal!
„Aber das macht doch nichts", flüsterte Markus. „Dafür kann man(n) doch nichts".
Das spontane Gelächter vertrieb die Scham und Bedenken über das nächtliche Geschehen.
Der Sonnabend war für die Jungen ein grässlicher Tagesablauf. An diesen Tag stand das Baden und der wöchentliche Wäschewechsel auf dem Programm. Auf dem Stundenplan stand das Reinigen der Zimmer und wer von der Meute zum Hof kehren eingeteilt war. Jeder Zögling bekam vor dem Gang zum Frühstück seine Aufgabe zu geteilt. In den Räumlichkeiten der Gruppe hiess das die kleinste Ecke zu säubern, denn die Erzieherin war darin sehr genau. Nach Verteilung der Aufgabeneinteilung, durften alle auf ihre Zimmer gehen und dort den Ruf ihrer Trillerpfeife „das Kommando zum Frühstück“ abwarten. Auf ihren kurzen Pfeifton hin bezogen alle Aufstellung. Markus und einige anderen Buben wurde mitgeteilt, dass sie in die Lehrlingsgruppen wechseln.
Längst hatten die Erzieher nach Einschätzung der Interessen ihrer Zöglinge, für jeden die passende Lehrstelle ausgesucht. Für Markus käme nur die Schneiderei in Betracht, schliesslich sei das eine idiotensichere Ausbildung, die würde auch er schaffen. Ohne Widerrede stimmte Markus ein wenig kopfnickend zu, zumal er keine andere Ambition hatte und nicht länger als notwendig im Landesjugendhof Lichtenau bleiben wollte. Damals waren Heranwachsende mit 21 erst volljährig, doch wenn er es schaffte die dreijährige Lehrzeit zu absolvieren, würde er mit 18 Jahren aus dem Heim entlassen. Wer sich weigerte musste bis zur Vollendung des 21. Lebensjahr in der Burg ausharren. Dennoch fühlte Markus sich nicht ganz wohl. Sein Zimmerkollege Michael begann ebenfalls eine Lehre, wurde aber einer anderen Lehrlingsgruppe zugeteilt. Markus war ein ein wenig traurig darüber.
Seine Schwärmerei für Michael brachte Markus in eine Zwickmühle. Er musste sich zwischen ihn und seinen schon länger bestehenden Verhältnis aus der Lehrlingsgruppe der Älteren entscheiden, denn keiner wusste vom anderen.
Beide motivierten ihn zu schulischen Höchstleistungen, auch beim Sport, was früher kaum vorstellbar schien, gab Markus sich Mühe und beteiligte sich an Wettkämpfen. Er liess nichts unversucht um zu den Gewinnern zu gehören.
Vor allem aber wollte er nicht länger als Aussenseiter abgestempelt werden.
Der Gedanke doch einer zu sein, sass wie eine Klette krankhaft in ihm. Immer wieder grübelte er um Klarheit über sich zu bekommen.
Niedergeschlagen spazierte er um den Burgring, näherte sich der Mansarde, ging hinein um nachzudenken, um zu träumen. Nun hatten andere Ängste ihn im Griff. Er war doch unsterblich verliebt, doch die Ungewissheit ob er homosexuell veranlagt war oder nicht empfand er wesentlich schlimmer als den ersten Liebeskummer. Von seinen Vorgesetzten hatte er erfahren, dass diese Krankheit, wenn sie einen erwischte unheilbar sei. „Wie viel leichter war es da für jene, die nicht krank waren, es aber dennoch taten“. Sein Herz und seine Seele drängten nach einer Entscheidung.
Der Schulabschluss fiel zu seiner Zufriedenheit aus. Hätte zwar besser sein können, aber Na ja, winkte er gedanklich ab.
Der Umzug in seine neue Gruppe, die Lehrlingsgruppe stand nun an. Schade eigentlich dachte er, dass seine Liebe sich schon im dritten Lehrjahr befand und in einer anderen Gruppe zu Hause war. Dennoch war der Umzug ein wichtiges Ereignis für ihn. Das Vorstellungsgespräch bei dem Werkstattmeister der Schneiderei, hatte er längst hinter sich gebracht.
Die freundliche Aufnahme in der Lehrlingswerkstatt half Markus aber nicht über seine Erkenntnis hinweg, dass er andere Wünsche, kreatives Denken und künstlerische Neigungen in sich erkannt hatte. Künstlerische Neigungen bei einem Mann undenkbar. Ein Mann hatte seinen Mann zu stehen! Schon bald zeigte sich, dass die Lehrzeit nicht die erhoffte Förderung seiner Interessen brachte. In der Heim- und Hausschneiderei, an die eine Ausbildungsstätte der Weberei angeschlossen war, lernten insgesamt sieben Lehrlinge ihr Handwerk.
Markus fiel es schwer, sich den anderen anzupassen. Erst die Schule, die er nicht besonders mochte, dann eine Lehre die nicht er sondern der Erzieher für ihn ausgesucht hatte. Auch das Klima in der Lehrlingsgruppe entsprach nicht seinen Vorstellungen. Hier herrschte ein anderer Ton unter Jugendlichen. Ihm schien es einem Sträflingsabteil zu gleichen, mit Ausgang bei guter Führung. Seine vorsichtig vorgetragenen Bedenken bei der Heimleitung brachten ihm nur Ärger. Gelangweilt hörte sich der Direktor des Hauses sein Anliegen an. Er befürwortete nichts, was irgendwie danach aussah, als wolle jemand aus der Reihe tanzen. Des Direktors Redeschwall stutzte Markus auf das richtige Mass zurück.
So einfach war das. Als Markus das Büro verliess, war er nicht schlauer wie vorher. Er hatte Rat gesucht und keinen erhalten. Ohnmächtig musste er diese Abfuhr hinnehmen.
Es war die Entmündigung in einer für ihn lebenswichtigen Frage und konnte gegen die Arroganz des Direktors nichts tun. Es war, als habe man einen jungen „Adler" bei Flugversuchen die Schwingen gekürzt und ihn dadurch flugunfähig gemacht“. Diese Demütigung brachte den Funken des Zorns zum entflammen. Doch blieb der Zorn bei ihm so wie vieles andere verborgen.
Glücklicherweise gab es auch unterhaltsame Momente. Als sein lieb gewonnener Bettnachbar sich eines Morgens zum ersten Mal rasierte und im Waschraum lautstark seine Entdeckung von unzähligen neuen Haarstoppeln verkündete, staunten die um ihn versammelten Mitbewohner aus der Schülergruppe. So mancher berührte sein Kinn, um dieses Kratzgefühl von Stoppeln ausfindig zu machen. Michael war felsenfest davon überzeugt, dass sein spärlicher Bartwuchs inzwischen regelrecht wuchern würde.
In den Nachmittagsstunden nahm Markus an den Spielen anderer Jungs teil. Im Nebenraum sassen wissbegierige auf dem Fussboden und hörten der Erzieherin, die Geschichten vorlas aufmerksam zu. Nur noch wenige Tage dachte Markus, dann sei der Spuk lächerlicher Gemeinschaftsspiele vorüber. Er ging in sein Zimmer zurück und setzte sich auf sein Bett. Darauf lagen weisse Papierblätter verstreut mit Zeichnungen aus seiner Hand. Es gab nur ein Motiv. „Hände“ immer waren es Hände. Der Drang Hände zu malen, verfolgte ihn zuweilen. Stolz zeigte er seine Werke der Aufseherin. Sie jedoch fand die Hände sehr merkwürdig. „Dass sind doch keine Hände sondern Pranken eines Schwerarbeiters!“ war ihr Kommentar.
Aber ihm fiel wirklich nichts anderes ein, sobald er einen Bleistift zwischen die Finger bekam malte er Hände. Beim malen dachte er immer an die Hände des Stotterers der faul und bequem herum sass, doch seine grossen markanten Hände faszinierten Markus. Begeistern konnte sich Markus trotzdem nicht für ihn, aber das beruhte wohl auf Gegenseitigkeit. Ein wenig Neid spielte bei Markus auch eine Rolle, da der Stotterer der einzige aus der Gruppengemeinschaft war der am Wochenende die Mutter der Erzieherin besuchen durfte.
An einem Sonntag, der Stotterer hatte die Ausgangszeit längst überschritten, kamen der Erzieherin Zweifel an seiner Zuverlässigkeit. Abgehetzt und nervös platzte kurze Zeit darauf einer ihrer Stellvertreter zur Tür herein. Im Vorraum teilte er der Erzieherin vermutlich etwas schreckliches mit, denn sie weinte bitterlich, als sie wieder in die Gruppe zurück kam. Ihr Gesicht war vor Schmerz verzerrt. Alle anwesenden Heimkinder rätselten herum, was da passiert sein könnte. Ein Erzieher aus der geschlossenen Abteilung kam herbeigeeilt und löste die unter Schock stehende Erzieherin ab. Die Jungs gingen zum Alltag über und widmeten ihre Interessen den üblichen Spielen.
Michael traf Markus in seinem Zimmer. Sprachlos standen sie sich gegenüber. Michael griff nach den kalten Händen seines Auserwählten, war traurig und glücklich zugleich. Michael sagte leise, „ich halte das nicht aus“. Markus schlug ihn vor, gemeinsam die unbebaute Mansarde aufzusuchen. Beide schlichen am Aufseher vorbei, die Treppen hinunter, entlang der ausgebauten Kemenate die die Gruppenräume, das Waschhaus und die Küche des Heimes beherbergte. Der Küchenduft durchzog die warme abgestandene Luft im Treppenaufgang. Schweigend liefen sie um den Burgring an der ausgebauten Mansarde des Lehrers vorbei. Kaum vorstellbar, dass früher die offenen Mansarden bei Wind und Sturm als Aussichtsplattform der Burgwache diente und jetzt zu Wohnzwecken ausgebaut waren. Der einstige Wehrgang rund um das Burginnere diente als Unterkunft aller sesshaft gewordenen Zöglinge.
In diesem Mauerturm, dessen Balken ein sehr gutes Versteck bot, suchten sie sich eine windstille Ecke in dem Gemäuer. Michael sportlich wie er nun einmal war machte einen Satz und sass auf der kühlen Sandbank der oben etwas abgerundeten Mauer. Markus stand zwischen den Beinen seines Freundes. Michael drückte ihn zärtlich an sich. Wie Verliebte, die nie mehr auseinander gehen wollten streichelten sie sich schweigend. Langsam machten sie sich auf und kehrten in die Gruppe zurück. Angekommen und schon erfuhren sie, was die anderen inzwischen schon wussten. Der Stotterer hatte das entgegengebrachte Vertrauen der Erzieherin missbraucht. Er hatte sich auf dem Volksfest, der Kirmes des Nachbardorfes herumgetrieben. Als er kein Geld mehr hatte, wagte er die Frau Mutter der Erzieherin zu besuchen, stand jedoch vor verschlossener Tür. Da fasste er den Entschluss über den Balkon zu steigen und in die Wohnung einzubrechen um Geld zu suchen. Der Stotterer fand nichts. Er durchsuchte Körbe, Schränke und Schubläden und wurde dabei von der alten Dame überrascht. Wie ein wildes Tier, wie ein Geisteskranker fiel er über sie her. Die für die Heimjungens spannende Geschichte unterbrach ein Aufseher und gab eine kurze Erklärung ab. Der Stotterer hatte bereits am frühen Nachmittag die Mutter der Erzieherin mit mehreren Messerstiche ermordet. Dannach verbrachte er seine Zeit bis zur Festnahme auf der Kirmes, wo er das gestohlene Geld verprasste.
Markus Gedanken wanderten zu anderen Dingen. Es war ihm, als sei durch Knopfdruck eine Änderung des Programms herbeigeführt worden. Die Heimkinder erzählten und tratschten weiter und das Tagelang.
Die Beerdigung der alten Dame fand auf dem kleinen Friedhof in Lichtenau statt. Im Gegensatz zu den anderen Tagen zeigten sich die Herren zumindest bei der Beerdigung mal neu eingekleidet. Sie trugen dunkel, nicht nur der Trauer wegen, es wirkte eleganter, aber vor allem wichtig. Ausser der trauernden Tochter waren ausschliesslich Herren zugegen. Die Beerdigung schien reine Männersache zu sein. Zumindest hatte Markus, der aus Neugierde ins Dorf lief und einen Blick über die Friedhofsmauer riskierte, niemanden weiter wahrgenommen. Nicht einmal eine umherstreunende Katze! Das sonnige Wetter liess den traurigen Anlass vergessen.
Schon sehr bald kehrte der Alltag zurück. Die Heiminsassen suchten wie immer nach Anerkennung, Verständnis und Aufrichtigkeit. Da spielte Liebe und Zärtlichkeit keine untergeordnete Rolle auch wenn die Heimleitung es nicht duldete. Für einige Buben waren die Verbotenen gleichgeschlechtlichen Kontakte, das einzig ehrliche was vom Herzen kam. Die Verteufelung solcher Beziehungen festigte geradezu die Heimlichkeiten. Kinder waren sie nun schon längst nicht mehr. Sie befanden sich auf dem Wege erwachsen zu werden. Das scheinbar persönliche Glück im Wechselspiel des Herzens war nie etwas sicheres, dazu war das Schuldgefühl zu stark.
Michael brauchte mehr als Zärtlichkeiten. Darüber versuchte er sich mit Markus auszutauschen. Die kleine Lampe über dem Bett, an der mit einigen Zeitungsbildern von Stars geschmückten Wand leuchtete schwach. Michael legte seinen Arm behutsam um die Schultern seines Freundes, um die Nähe des anderen zu spüren, ihm einfach nahe zu sein. Er gab sich nun äusserste Mühe, diese anhimmelnden Augen, die förmlich an seinen Lippen hingen zu übersehen und begann ohne Umschweife seine intimsten Wünsche zu offenbaren. Küssen, gegenseitiges Onanieren genügte nun nicht mehr und war dem Wunsch nach körperlicher Vereinigung gewichen. In diesen Sekunden seiner Worte kämpfte Markus innerlich den schwersten Kampf seines Lebens. Denn er hatte Michael auch lieb. Aber die Erinnerung an vergangene Tage seiner Kindheit wogen schwerer. Schmerz, Erniedrigung war der Inbegriff von allem was mit körperlicher Vereinigung und dessen Schweinereien zusammenhing. Gleichgeschlechtliche Liebe als geistig sinnliche Einheit war wohl kein Fundament für Pläne einer gemeinsamen Zukunft. Für solche Überlegungen war er nicht zu jung, dazu hatte er zu lausige Erfahrungen hinter sich.
Der Abschied aus der Schülergruppe vollzog sich still und leise. Innerhalb weniger Minuten war der Umzug abgeschlossen. Der Wechsel, der für ihn ein neuer Anfang war, erleichterte Markus die Entscheidung nicht darauf einzugehen. Die Begeisterung für Michael war somit vorbei.
In der Lehrlingsgruppe waren Menschen von anderer Mentalität. Hier waren Zöglinge im Alter von fünfzehn bis einundzwanzig Jahren untergebracht. Da lebten sie dicht nebeneinander und Einige kannten sich nicht einmal. Markus fühlte sich völlig fehl am Platz. Am ersten Tag wusste keiner der neu in die Gruppe hinzugekommen war, etwas mit sich anzufangen. Markus dachte an seinen ersten Freund in der Gruppe2 nebenan, aber ausgerechnet er wurde in der Gruppe3 einquartiert.
Markus eilte hinaus. Michael war ja nur seine zweite Liebe, halt ein Zimmerkollege aus der Schülergruppe und suchte die Gruppe2 nebenan auf, um den anderen Lehrling seiner Träume zu überraschen. Dort erfuhr er, dass seine erste grosse Liebe, die Axel hieß in den Bau der geschlossenen Abteilung abgeschoben wurde. Angeblich hatte er andere Lehrlinge bestohlen. „Quatsch", Axel doch nicht, versicherte Markus selbstsicher, verlies die Gruppe und erkundigte sich bei einem Heimkollegen von Axels Lehrlingsgruppe nach der Arrestzelle. Dabei erfuhr er, dass der Bunker, die Gefängniszelle zum Burgring ein kleines Fenster hätte, in dem er einsehen könnte. Nur erwischen lassen dürfte er sich nicht. Dann gäbe es Ausgangssperre. Markus sass enttäuscht rum und grübelte wieder, als hätte er selber irgendwas angestellt.
Gegen Abend hielt Markus sich im Aufenthaltsraum auf, bemerkte die fade erdrückende Stimmung der Alteingesessenen. Einige liefen im Schlafanzug herum. Sie sprachen kaum miteinander. Ein unbeschreibliches Unbehagen spiegelte sich in den aggressiven Augen der Jungen wieder. Ihre Blicke, die Art der Bewegungen zeugten davon, dass nichts, aber auch gar nichts in ihrem Leben in Ordnung war. Aus einem der anderen Räume, neben der Bürokammer des Erziehers wurden Anordnungen gebrüllt. In den Vorgesetzten sahen die Zöglinge nur noch Wärter, die die Aufgabe hatten alle ruhig zu halten. Kam dennoch etwas vor, entging dem Aufseher nichts. Mit einem Schlagstock in der Hand kam er herbei geeilt und oftmals erledigten sich dann spontan die Probleme unter den Streithähnen von selbst. Kam er dennoch zum Einsatz, folgte dem Schmerz wundersame Stille. Nach einer Weile begann das Gejammer. Geplatzte Augenbrauen, aufgerissene Ohrläppchen und Beulen waren zu sehen. Raufereien unter den Jungs endete für den Erzieher damit, einige Heftpflaster zu verteilen und damit war auch Schluss.
Von dem in der Gruppe herrschenden Ton eingeschüchtert, kehrte Markus in die Ostseite der Gruppenräumlichkeiten zurück. In den Tagesräumen war die Stimmung nicht viel besser. Einige sassen sich stumm gegenüber. Markus beobachtete sie aufmerksam, wenn auch aus anderen Motiven. Er sah schöne Augen und finstere Blicke. Makellose nackte Oberkörper brüsteten sich vor Kraft. Fast unbekümmertes Suchen unter einigen Jugendlichen, dass Vergleichen der Muskulatur mit dem Gegenüber. Sich begutachten, fremde Augen beobachten um vielleicht später Willige zu prüfen. Jeder wusste in der Lehrlingsgruppe davon, dass die Gruppenstärksten Schwächere als Sklaven ihrer sexuellen Wünsche hatten. Nur, es sprach keiner darüber. Wenn Interesse für irgend einen Jüngling bestand, trieb man diesen in die Enge, liess ihn ab und zu bei andern Zöglingen auflaufen bis er von selbst kam, sich anbot um Schutz zu erhalten. Und so fanden wohl Gruppenbosse Ansehen und Bestätigung ihrer Männlichkeit.
Schlüsselgeräusche näherten sich, der Aufseher war in Anmarsch. Mühsam erhoben die Herren der Schöpfung ihre erotischen noch unverdorbenen Körper und begaben sich in ihre Betten. Markus war in einem Fünfbettenzimmer untergebracht. Die Zimmerkollegen brachten ihm wenig Begeisterung entgegen. Zumal sie gehört hatten, dass es mit einem Warmen spät in der Nacht Probleme gäbe. Sie warteten abwechselnd „Nacht für Nacht“ unzählige Minuten oder Stunden mit der Absicht "die Sau muss mal auf frischer Tat ertappt werden". Markus bekam dieses Geflüster meist mit, als er dieses zweideutige Gequatsche nicht mehr hinnehmen wollte. Als er das Gekicher und Getuschel nicht mehr aushielt, stand er auf und ging mit seiner Zudecke und Kopfkissen in den Vorraum auf die unter dem kleinen Fenster stehende Eckbank. Dort ließ er sich nieder. Einschlafen konnte er nicht, denn er spielte wieder mit dem Gedanken bei nächster Gelegenheit zu fliehen. Er glaubte kaum noch daran, dass er sich mit seinen Kollegen anfreunden könnte. Diesen Typen war er nicht gewachsen. So weit es ihm möglich war, distanzierte er sich von den anderen und zog sich immer mehr in sich zurück. In den darauf folgenden Tagen wurde Markus von dem Vorgesetzten, seinem Lehrherrn zu einem klärenden Gespräch beordert.
Der erzürnte Werksmeister brüllte gleich los: „Gibt es nach dem verheerenden Vaterlandskrieg nur noch verhätschelte Memmen“! Fast dreissig Jahre nach dem Krieg fielen ihm immer noch solche Vergleiche ein. Dabei hörte es sich an, als hätte er den 2.Weltkrieg allein doch noch gewonnen. Markus hatte in seinen Kindertagen von diesem Krieg gehört, vieles jedoch davon vergessen. Denn der Krieg hatte ihn nie wirklich interessiert. Die Lehrer sprachen ja auch nicht darüber. Vielleicht hatte es gar keinen Krieg gegeben, dachte er manchmal. Auch hatte er überhaupt keine Vorstellung von der Kriegszeit.
Die Sprunghaftigkeit der Gedankengänge des Werkstattmeisters, erschwerte es Markus oft, ihn richtig zu verstehen. Durch das Bürofenster konnte der Meister den Arbeitsraum überblicken. Es bot dem Lehrmeister die Möglichkeit absoluter Kontrolle. Der Chef machte jedem seiner Lehrlinge mit seinen genauen Beobachtungen vertraut. Man könnte ihn nie die Unwahrheit erzählen, weil er stets alles sehen könnte, betonte er ausdrücklich. Markus, sagte er leise: "Vor diesem Jungen“, dabei zeigte er mit ausgestreckten Zeigefinger ins Leere, sollte sich jeder in Acht nehmen. „Der dort ist nicht ganz Astrein“. Unbefangen fragte Markus nach dem Grund dieser Warnung. Der Meister bezog seinen Unmut darüber, auf mehrere seiner Lehrlinge und antwortete: Die versuchen aus meiner Werkstatt einen parfümierten Schwuchtelsalon zu machen. Dem Chef stand die Wut darüber im Gesicht geschrieben und er äusserte sich dementsprechend: „die bringen mich zum kotzen“. Zu meiner Zeit gab es so was nicht! Leider hat sich vieles geändert. Die hätte man damals vergessen zu verheizen. Markus nahm das Gerede nicht weiter ernst und kapierte eh nicht was er damit meinte. Ansonsten fand Markus die Aufnahme in der Schneiderwerkstatt freundlich. Drei Jahre, kriegt man auch noch rum, dachte er.
In den ersten Tagen lernte er die anderen Lehrlinge, die aus verschiedenen Heimgruppen kamen kennen. Das Säubern der Werkstatt war ihr erster Auftrag den sie erfüllen mussten. Markus dachte „Putzte wollte er eigentlich nicht werden“. Lernen beinhaltete in der Lehrzeit, neben der Berufschule, ständiges Wiederholen einer Tätigkeit.
Da gab es einen Typ in der Werkstatt, Werner, der in seinem Wesen genauso wie Markus war. Teilnahmslos verrichtete er die ihm aufgetragenen Arbeiten. Ihn interessierte nur das Datum seiner Entlassung. Trotz des Altersunterschiedes von 6 Jahren spürten Markus und Werner sich auf gleicher Wellenlänge. Gegenseitiges Schwärmen blieb nicht aus.
Mit der Zeit fand Markus gefallen an seiner Arbeit. Durch Leistung wollte er auf sich aufmerksam machen. Selbst das Schnittezeichnen von Hosen, Sakkos, Jacken und Mäntel fiel ihm nicht schwer. Wenn andere Fussball spielten oder im Fernseh- und Aufenthaltsraum ihre Abwechslung fanden, nutzte er die Zeit zum lernen.
Im Handwerksbuch erfuhr er über Materialeigenschaften, die allgemein üblichen Handelsbezeichnungen der Webarten.
Er sammelte mit Leidenschaft Pflanzenfasern von der Rohbaumwolle, Hechel, Wergflachs bis hin zum rohen Langhanfgarn. Die Unterstützung seines Lehrmeisters, war ihn damit sicher. Seine Lehrmappen füllten sich gezielt und systematisch geordnet mit Tierfasern der Deutschen Schweißwolle, Mongolischer Weisswolle, schwarz-braune Island- und Heidschnuckenwolle. Sämtliche Tierhaare die in Textilien ihre Verwendung fanden sammelte und ordnete er. Schweif-, Mähnenrosshaare und sonstige Haargarne sowie Rohseiden, Mineralfasern und Glaswolle. Bald gab es nichts, was er nicht kannte. Mit seinem Interesse für das Handwerk schwanden die letzten Kontakte zur Gruppe, die ihn nur noch als Streber hänselten. Seine Kollegen in der Gruppe wurden ihm daher immer fremder. Wieder suchte er den Vorgesetzten auf. Nach diesem Gespräch war er sicher, aus diesem Fünfbettzimmer in ein kleineres verlegt zu werden. Er kam einfach mit ihnen nicht klar und sie ödeten ihn an.
Zu später Stunde gab es nur ein Thema. Blasen, Ficken und Wichsen bis der Schwanz glühte und die Eier davon dick wurden. Sie geilten sich gegenseitig auf, suchten dann ein Opfer das Entspannung brachte. War erst einmal eine männliche Stute gefunden, gab es ein paar zärtliche Worte, ein wenig lautes Gestöhne und das Spiel war vorbei. Von anhaltender Dauer war dieses Spiel der Halbstarken nur im Reden. Sie alle waren nicht schwul sondern suchten nur ihre Befriedigung. Daher mieden sie den Kontakt zu Markus, da der für sie besonders bei Tageslicht eines dieser schwulen Schweine war. Gesehen hatte ihn zwar keiner beim rumschwulen, doch die Vermutung reichte. Einzelgänger wurden grundsätzlich als Schwule verdächtigt. Schwul sein bedeutete für sie nicht richtig zu ticken.
Morgens nach dem Aufstehen versuchte Markus stets der erste oder letzte im Waschraum zu sein. Damit wollte er vermeiden sich vor den anderen zu entkleiden. Denn inzwischen glaubte er, dass bei ihm irgend etwas nicht stimmte. Von einigen wurde er mit Hohn und Spott begleitet.
Allmorgendlich herrschte unter den Jungen eine ungezwungene Atmosphäre. Soweit der Raum und die Duschkabinen es zuliessen, sprangen einige nackt umher, beobachteten, begutachteten, warben und berührten auf spielerische Weise den Körper des anderen. Während die einen um einen Blick in den grossen Spiegel balgten regten sich andere darüber auf, dass die Duscherei den Raum in eine Sauna verwandele, andere wiederum stritten sich um einen freien Wasserhahn. Ab und zu kam es vor, dass jemand in seinem Reinigungsfimmel die Augen schloss und vor sich hinträumte. Der wurde dann unter die kalte Brause gezerrt und dabei amüsierten sich die anderen über sein Unbehagen.
Selbst in der geschlossenen Heimanstalt gab es dem Gerede nach heimliche Trinker. Doch wen wunderte das? Ihr sehnlichster Wunsch bestand darin, lieber im Bier zu ersaufen anstatt sich mit dem Wasser oder dem Hauskaffee anzufreunden. Den Neuankömmlingen nach gab es einen viel schlimmeren Feind, nämlich das Frühstück und der bittere Heimkaffee. „Eine richtige Plage dieses Zeug runterzuwürgen und den Kaffee zu schlucken“ meinten sie.
Markus der nur diesen Kaffee kannte, soweit er sich erinnerte, gab es im Kinderheim bei den Nonnen den selbigen. Ein echter richtiger Bohnenkaffee duftet ganz irre und schmeckt hervorragend, schwärmten sie den ahnungslosen Heimbewohner vor. Darunter befanden sich Jugendliche, die seit ihrer Kindergartenzeit hier zu Hause waren. Wenn diese fragten, wonach der tolle Kaffe denn riechen würde. Doch, wonach wusste keiner so genau zu erklären, eben anders. Markus gab sich mit dem Muckefuck zufrieden, so war die geläufige Bezeichnung dieses Getränks. Er fand, dass der Kaffee mit etwas Zucker und viel Milch als Mix sehr gut schmeckte. Ihn störte nicht einmal das allmorgendliche Tischgebet des Erziehers. Gewisse Dinge überhörte man einfach, weil sie sich eh täglich wiederholten. Nach dem Frühstück kehrten sie geschlossen in Reih und Glied in ihre Räumlichkeiten zurück. Mancher war am Morgen schon müde und andere sassen und standen herum und warteten auf den Pfiff des Erziehers. Dann machte sich jeder auf den Weg in seine Lehrwerkstätte.
In der morgendlichen Frische warteten die angehenden Schneider auf ihren launischen Meister und hofften, dass der Arbeitstag ausfallen möge. Es war schon öfter an Wochenenden vorgekommen, dass ihm seine Frau fortgelaufen war oder er verschlafen hatte weil er besoffen war. Vom weitem hörten sie den aufheulenden Motor seines Käfers im Burgring. Meist konnten sie an seiner Fahrweise beurteilen, ob es ein guter oder schlechter Tag für sie werden würde. Begrüsste er seine Lehrlinge beim verlassen seines Wagens nicht, war es ein schlechtes Omen. Predigte er doch unentwegt seinen Lehrlingen, dass Anstand notwendig sei und Anstand sei auch Glücksache und mancher hätte eben kein Glück. An seine Rechthaberei hatte sich inzwischen jeder gewöhnt. Alle kuschten vor ihn und trauten sich deswegen nicht in seiner Anwesenheit einen selbständigen Gedanken zu fassen. Sie alle waren darauf gedrillt, nur das zu tun und auszuführen was ihnen aufgetragen wurde. Sich zusammenreissen und bis zur nächsten Anweisung ihr verdammtes Maul zu halten. Es waren ja nicht alle Vorgesetzten so autoritär drauf. Gelangweilt säuberte jeder der Auszubildenden seine Arbeitsplatte und die ihm zugeteilte Nähmaschine. Markus wusch nach Abschluss seiner Putztätigkeit seine Hände. An Markus Nähmaschine ölte der Meister noch einmal nach, denn auf keinen könnte er sich schliesslich verlassen. Der Meister begann seine private weisse Tennishose selbst weiter zu nähen. Brüllend sprang er auf, sein Tennishöschen war mit Öl beschmiert. Das Brüllen des Meisters schreckte Markus so sehr, dass er ein Glas Wasser auf den elektrischen Bügeltisch umkippte, der des Meisters ganzer Stolz war. Aufgeregt griff Markus nach einem Tuch um die Wasserperlen hinunter zu klopfen. Wütend sah der Meister ihn an. Ausser sich vor Wut hatte er sich nicht mehr unter Kontrolle. Tobend beschimpfte er den Lehrbub mit demütigenden Vorwürfen über seine zerrütteten Verhältnisse seiner asozialen Familie. Es sei ja auch kein Wunder bei der Mutter, einer Säuferin und abgetakelte Schlampe, eine Hure schrie er unbeherrscht. Kein Zögling rührte sich vom Fleck. Diesem Pack etwas beizubringen lohnte sich nicht. Irgendwann würden sie doch nur im Knast landen.
Für Markus brach eine Welt zusammen. Ihn wurde wieder bewusst, dass sein Meister damit nicht ganz unrecht hatte, aber die Anna hatte er längst vergessen und es gab auch nie einen Grund für ihn einen Gedanken an sie zu verschwenden. Wäre er durch den Wutausbruch des Meisters nicht wie gelähmt gewesen hätte er bestimmt nach einem herumliegenden Gegenstand gegriffen mit dem er den Meister ins Jenseits befördern konnte. Markus musterte den rot angelaufenen Schreihals und begann plötzlich zu grinsen.
Er verfolgte nur ein Ziel seine Lehrzeit und Gesellenprüfung erfolgreich hinter sich zu bringen.
Dann wäre er endlich frei.
Sein unverschämtes Grinsen empfand der Werkstattmeister besonders schwerwiegend und sah sich genötigt ihm vor versammelter Mannschaft eine Ohrfeige zu verpassen. „Leck mich doch am Arsch", sagte Markus, verschwand Seelenruhig auf die Toilette und verriegelte die Tür von innen. Der Meister warf ihm noch einige Gegenstände hinterher doch beruhigte sich bald darauf wieder. Markus blieb eine Weile in der Toilette, öffnete das kleine Fenster und blickte auf den Burghof. Eine andere Gruppe nutze gerade den Sportplatz des Hofes. Gedanklich versunken fand er diese Burg schön und sehr gross in der Anlage. Es dauerte auch nicht lange und der Schneidermeister rief, wie immer neckisch singend, zur Pause. Herr Fulz oder Herr Krahe, so ähnlich hiess der Meister war ein leidenschaftlicher Skatspieler. Ihm fehlte der dritte Mann und er rief: „Markuslein, komm wir machen ein Spielerchen“!
Was ist denn in den gefahren, dachte Markus. Des lieben Friedens Willen folgte er seinen Ruf. Im Laufe der Kartenspiele erfährt Markus mal Lob für Lob. Doch er traute den Worten des Meisters schon lange nicht mehr. Vom Berufschullehrer, so der Meister, habe er erfahren, dass Markus der beste Fachzeichner der Schneiderei sei. Er verstehe sein Lehrhandwerk und bei entsprechender Förderung könnte aus ihm noch was werden. Nehmt Euch mal ein Beispiel sprach er zu den anderen Lehrlingen, die nur naserümpfend alles zur Kenntnis nahmen. In seinem Kartenspiel blühte der Chef geradezu auf und freute sich wie ein verspielter kleiner Junge des Lebens. Aber der Mitspieler Markus war wenig bei der Sache, so dass es ein miserables Spiel wurde und versaute die gute Laune des Meisters die ihn zur Weissglut brachte. Kurz darauf folgte eine Ohrfeige. Da rastete Markus vor Zorn aus und warf alles um, was zum Umwerfen greifbar war. Nachdem alle über Markus hergefallen waren trat endgültige Ruhe ein und jeder der Lehrlinge verrichtete seine ihm aufgetragene Tätigkeit.
Plötzlich kam Qualm aus der Weberei nebenan, die durch eine immer offen stehenden Verbindungstür im Vorgang von der Schneiderwerkstatt getrennt war. Das Schneidergespann war nun Stunden ohne Aufsicht, weil der Meister sich den Webern widmen musste.
In sich gekehrt stand Markus im hinteren Teil des Raumes und schaute durch das Lukenfenster in den Burghof auf dem einige Jugendliche aus der Plastikfabrik des Hauses Fussball spielten. Sein Blick wanderte über die vielen kleinen Fenster, die sich von der Kemenate bis zum Burghof aneinander reihten.
Unauffällig näherte sich Werner, legte behutsam seine Hände auf Markus Schultern und fragte, ist wieder alles in Ordnung? Markus wandte sich zu ihm und spürte ein Gefühl, als sähe er ihn zum ersten Mal. Alles war anders als sonst. Er konnte seinen Blick nicht von ihm lassen. Seine gepflegte Art und der blau tätowierte Schönheitspunkt auf der linken Wange beeindruckten ihn. Werner der lässig in seinem weissen T-Shirt da stand und erzählte, hatte den Ansatz eines kleinen Bauches.
Sein Gürtel war etwas zu eng geschnallt, daher drückte es ihm seinen kleinen Speckring über den Hosenbund. Markus konnte sehen, dass einige Haare seinen Nabel zierten. Werner zündete sich eine Zigarette an und pustete ihm den Rauch ins Gesicht mit der Absicht, dass Markus wieder zu sich finden würde. Aber Markus sah nur Werner. Er hoffte auf einen Menschen, der ihn vor dem Ungewissen bewahren konnte. Total abwesend, vergass er alles was um ihn herum geschah.
Besorgt erkundigte sich Werner was denn mit ihm los wäre. Es hatte nichts zu bedeuten sagte Markus nervös als Entschuldigung. Es war ihm peinlich sich immer häufiger dabei zu ertappen, dass die Sehnsucht zu lieben und geliebt zu werden unerträglich grösser wurde.
Er bekam schon ein schlechtes Gewissen, wenn er einmal herzhaft freundlich auf andere Menschen reagierte. Ständig tobte das wachende Gewissen in ihm, anders geraten zu sein. Manchmal würde er sich am liebsten verkriechen. In der Gruppe suchte er in solchen Momenten stets den Nebenraum auf, in dem abschliessbare Metallschränke zur Aufbewahrung persönlicher Gegenstände standen, die ihm den Anschein von Schutz boten. Dieses Verstecken diente nicht nur ihm heimlich zur Einnahme von Aufputschmitteln. Das Wundermittel unter Heiminsassen, dass einem die Ängste nahm und in gute Laune versetzte war ein Antidepressiva. Dieses Medikament war in den Lehrlingsgruppen ziemlich verbreitet. Wer vor seinen Heimkollegen etwas darstellen wollte und konnte, pflegte dementsprechenden Kontakte ausserhalb der Burg, um bei Bedarf die Pillen besorgen zu können.
Hier im Spindraum versuchte so mancher seine Sorgen zu vergessen oder mal das Schnüffeln mit Lösungsmittel aus der Schreinerei auszuprobieren. In manchen Nächten wurde dieses Zeug so lange eingeatmet bis die Sinne benebelt waren. Markus Pupillen weiteten sich und seine Augen wurden glasig. Er selbst sah alles wahrgenommene verschwommen. In dieser Vernebelung schien die Welt für ihn wieder in Ordnung zu sein. Bald darauf begann Markus die Lösungsmittel zu sortieren, die er aus der Schreinerei und Schneiderei mitnahm sie zu mischen, um die wirkungsvollste Dosis für sich herauszufinden. Er verstand es stets, nicht unnötig aufzufallen in diesem gleich bleibenden Tagesrhythmus, der abgesehen von den Wochenenden Jahr um Jahr sich nicht änderte. In dieser erzwungenen Anpassung erlebte er die ewige Wiederholung wie in einem Gefangenentrakt. Die Zeit blieb stehen. Sie war erfüllt von dem klemmenden Gefühl von der Zukunft bedroht zu werden. Es war die Nacht, die den Zöglingen eine Art Freiheit bot. Es galt lediglich die Nachtwache abzuwarten. Dann begann das Spiel und die erdrückende bittere Anonymität einer sich vorgemachten Freiheit. Wortlos begegneten sich in den finsteren Gängen einige Nachtschwärmer. Oftmals Berührungen des anderen und berühren lassen, ohne sich wirklich ansehen zu müssen. Dafür trafen sie sich in den dunkelsten Stellen der Gänge. Markus der sonst eher schüchtern und verklemmt schien, suchte in der Dunkelheit das Glücksgefühl zu erleben, jedoch vergeblich. Frustration und Unzufriedenheit trieben ihn immer öfter zum schnüffeln. In den Nächten tat er es heimlich unter der Bettdecke, um sich schneller in den Schlaf zu wiegen. Das Zeug hatte es in sich. Morgens beim Aufstehen ging einfach alles leichter von der Hand. Er fing an getrocknete Klebstoffklumpen wie einen Kaugummi zu kauen, um auf diese Weise Stundenlang den Geschmack zu geniessen. Jedoch in den Nächten wurden die Abstände zum Schnüffeln immer kürzer und waren mit einer enormen inneren Unruhe verbunden.
Eines Nachts ertappte er sich, dass das Einschlafen nur mit dem Wippen der Beine möglich wurde, was den ganzen Körper in zitternde Bewegungen brachte. Die Konzentration darauf schaukelte ihn in den Schlaf. Es kam der Abend, an dem er nur noch dann etwas Schlaf fand, wenn er seinen Kopf auf der harten Matratze hin und her, von rechts nach links, von links nach rechts drehte, wobei dieses Wälzen immer schneller wurde. Oft fand er kein Ende, bis ihm davon schwindelig geworden war. Wenn der Schädel wieder seine Ruhe fand, verspürte er starke Übelkeit sobald er die Augen schloss.
Lag er Nachts wach, kamen die Tagträume zurück. Er malte sich aus wie es mit Werner weiter gehen könnte. Markus war davon überzeugt, dass irgend etwas geschehen würde, nur was erahnte er nicht. Im Zwiespalt der Gefühle kämpfte er vergeblich gegen sich selbst. Nur die Gefühle waren stärker als der Verstand. Immer wieder redete er sich ein, wenn er erst einmal frei sein würde, wird alles anders sein. Er brachte es einfach nicht fertig sich einen der Erzieher anzuvertrauen. Selbst sein Gruppenerzieher war für ihn ein Fremder geblieben. Das Gespräch wäre ihm so wichtig, doch er fühlte sich mit seinem Problemen allein gelassen, zumal die Thematik seines Anliegens nicht das eines Normalen entsprach und doch verboten war.
Endlich hatte er seinen ersten Sonntagnachmittag in Freiheit. Die Freude, die er dabei empfand war so gross, dass sie sich nicht in Worte fassen liess, denn Werner nahm ihn mit in die Stadt. In der Woche hatte Markus eine Mark und sechzig Pfennig als Taschengeld zur Verfügung. Davon kaufte er sich Rauchwaren oder sparte eisern bis er eine kleine Schallplatte seiner Lieblingssängerin über den Erzieher erwerben konnte. „Frag den Abendwind" für ihn das erste Lied der Francoise Hardy. Die Melodie und ihre Stimme liebte er über alles.
Sein Taschengeld musste Markus gut einteilen. Für die Fahrt mit dem Schienenbus von der Ortschaft Sachsen nach Ansbach und zurück, langte es meistens. Reichte es ihm mal nicht, lieh er es sich bei seinen „Freunden“ mit dem Versprechen doppelte Vergütung zu zahlen.
Um nach Sachsen zu gelangen, marschierte er mit den anderen Ausgängern an Bauernhöfen, Wiesen, Feldern und Weihern vorbei die Strasse den Berg hinauf zum Bahnhof. Sachsen erstreckte sich vom Tal alter Bauten bis auf dem Hügel in ein modernes Dorf. Nur der Bahnhof und das gegenüberliegende Gebäude glichen den Bauwerken am Fuße des Berges. Unten im Dorf stand eine alte Kirche mit einen Zwiebelturm. Gegenüber dem eingleisigen Bahnhof eine ganz moderne Betonkirche ohne Fenster mit einem recht seltsamen Glockenturm.
Fast eine Stunde war vergangen bis der Stadtzug eintraf. Den ersten Zug um die Mittagszeit hatten sie knapp verpasst. Markus, der sich auf Ansbach freute bemerkte nicht, dass Werner ihn beobachtete.
In Ansbach angekommen, wich seine Begeisterung über seinen ersten freien Ausgangstag grosser Enttäuschung. In diesem Städtchen gab es nur graue Straßen und nur gähnende Leere. Da ist ja auf dem Dorf wo ich herkomme mehr los, dachte Markus. Dieser Bahnhofsbezirk hatte jungen Menschen nichts, aber auch gar nichts zu bieten. Geschäfte waren mit Brettern vernagelt, als wollten sie sich vor Einbrechern schützen. In das kleine Kino nebenan konnten sie auch nicht gehen, da ihr Taschengeld dafür nicht ausreichte.
Werner nahm Markus zur Seite und sagte zu den Anderen, „hier trennen wir uns jetzt“.
Beide gingen zum Bahnhof zurück. Werner bat ihm zu warten, da er einen der herumstehenden Schwulen anmachen wollte, um ein paar Mark zu verdienen. Markus beobachtete in der Vorhalle, dass mehrere Herren vor den Toiletten herumlungerten und Werner verschwand für eine Weile von der Bildfläche mit einem Fremden. Es dauerte und dauerte bis Werner aus den Toiletten zurück kam. Freudestrahlend mit zwanzig Mark in der Hand schlenderte er auf Markus zu. Vergnügt verliessen sie den Bahnhofsausgang und qualmten genussvoll Filterzigaretten, da sie im Heim mit selbstgedrehten Zigaretten vorlieb nehmen mussten. Beim plaudern vor dem Eingangstor auf dem Vorplatzrasen sahen sie eine kleine Mauer auf der "Berlin" stand.
Keiner von beiden wusste so recht was das bedeutete, denn in der Anstaltsschule hatten sie nie etwas von einer geteilten Stadt gehört. In der Volksschule wurde zwar Heimatkunde unterrichtet, der bezog sich jedoch nur auf die Orte der näheren Umgebung in denen sie lebten. Der Unterricht in der Berufsschule war ausschliesslich auf das Ausbildungsziel des Schneiders, Webers und Schusterhandwerks spezifisch ausgerichtet. Er beinhaltete Fachzeichnen, Mathematik, Deutsch sowie Materialkunde. Religion war im Landesjugendhof eine freiwillige Angelegenheit und liess den Schülern selbst entscheiden welches Fach sie dafür nahmen.
Markus ging ausnahmsweise gerne in den Religionsunterricht, da der Heimpfarrer ein richtiger Kumpel war. Langeweile kam bei dem Pfarrer selten auf. Bei ihm durften sie offen über Probleme sprechen. Hauptthema waren Sexualität unter Jugendliche und die Aufklärung darüber, wie schädlich gleichgeschlechtliche Kontakte sich auf das spätere Leben auswirken könnten.
Verständlich machte der Pfarrer klar wie gross diese Sünde sei. Damit das auch keiner vergass lernten sie den vom Pfarrer mitgebrachten Text über den §175 aus dem bürgerlichen Gesetzbuch. Verbote interessierten niemanden. Wozu sollte er sich das merken, wenn es sowieso verboten war.
Aus seiner geistigen Abwesenheit am Bahnhof erwacht, belehrte ihn Werner darüber, wie Freier am besten ausgenommen werden. Während des Ausfluges in Ansbach bekam Markus genug Ratschläge und Tipps. Schliesslich war Werner um einiges älter und gab seine Erfahrungen gerne weiter. Zur Abwechslung erzählte der Ältere ein paar Witze und entlockte dem Jüngeren ein herzhaftes Lachen. Inzwischen waren sie in der Glockengasse angekommen. Eine schmale kurze Straße auf der Frauen vor den Kneipeneingängen standen um Männer anzumachen. Zielstrebig ging Werner mit ihm in eine Bar in der ein Herr auf die Heimjungs wartete. Beide durften sich auf Kosten des Hauses ein Getränk bestellen. Heimkinder lockten in diesem schwulen Lokal die Kundschaft an. Markus sass schweigsam auf der Bank in einer Fensternische und nippte an seiner Cola. Ein Herr unterhielt sich angeregt mit Werner. Nach geraumer Zeit flüsterte Werner Markus zu, dass er warten sollte weil er Geld verdienen müsse. Er ahnte, dass Werner sich an Männer verkaufte. "Sei kein Spielverderber" bat Werner, man kann sich sein Leben nicht aussuchen. „Geld stinkt nicht“. Ich bin gleich wieder zurück!
Markus war nicht nur enttäuscht, er fühlte sich im Herzen verletzt, denn seine psychische Begierde, die quälende Spannung, das Verlangen nach Zärtlichkeit und sein bedingungsloses Vertrauen zu Werner war Augenblicklich gestört. Markus grübelte vor sich hin ohne die vielen Menschen im Lokal wahrzunehmen die ihn sicher auf andere Gedanken gebracht hätten. Das Heimthema schien für die zahlende Kundschaft interessant und unterhaltsam zu sein. Andere Gespräche fanden sich selten. Brav wartete er auf Werner und klammerte sich in Gedanken an das Heim.
An die Zeit bei Anna seiner Mutter, konnte und wollte er nicht erinnert werden. Mit dieser Zeit hatte er abgeschlossen. Nun stand er unter dem Zwang sich an einer festen Bezugsperson zu klammern. Er verstand es nicht seine Hemmschwelle zu überwinden, um an einer fröhlichen Runde teilzunehmen.
Wieder einmal zweifelte er an sich.
Von Tag zu Tag erkannte er immer mehr, dass er mit dieser Thematik „Anders“ zu sein grosse Probleme hatte. Er überlegte, wie wohl all die anderen aus dem Heim auf die Dauer mit ihrem Leben zurecht kommen würden.
Während er nach seinem Tabakbeutel griff, die Zigarettenblättchen zwischen seinen Fingern rollte grinste er in Gedanken über seinen Heimkollegen „Kreuzspinni" den sie in der Lehrlingsgruppe auch oft Glasdoofi nannten. Er hiess eigentlich Dieter und durch seine Brille mit den extrem starken Gläsern sah er nicht gerade vorteilhaft aus. Daher war er zur Zeit, bis ein anderer an der Reihe war, das Ziel von Spott und dummen Sprüchen. Er benahm sich mutig im Verzehr von lebenden Getier. Für eine Schachtel Zigaretten hatte er kürzlich im Keller der Burgwerkstatt grosse langbeinige Spinnen gefressen. Markus empfand es ekelig, als die zappelnden Spinnenbeinchen aus seinem Mund hingen. Drei Spinnen auf einmal kaute er zur Unterhaltung der anderen genussvoll zu Brei und ohne zu Würgen schluckte er sie hinunter, wie ein Stückchen Schokolade.
Ungeduldig warf er einen Blick auf die Uhr, die leuchtend über dem Lokalausgang hing. Seine Ausgangszeit näherte sich dem Ende. Eilig, fluchtartig verliess er die Bar in der Sorge den Rückweg zum Bahnhof nicht zu finden. Er orientierte sich an Gebäude die er sich gemerkt hatte und traf bald auf die anderen Heimlehrlinge. In der Bahnhofshalle erwartete Werner ihn in voller Sorge. Längst war der Zug eingefahren. Die alte Dampflok vernebelte etwas die Sicht auf dem Bahnsteig. Das bot ihnen zufällig die Gelegenheit, sich beim einsteigen in den Zug zu berühren. Weshalb sie sich an diesem Nachmittag getrennt hatten, war für Markus schon wieder vergessen. Albern rannten sie von Abteil zu Abteil wie verspielte Kinder und liessen sich auf den nächst besten Sitz nieder. Durch die verschmutzte Fensterscheibe, die grau glänzte, sahen sie gemeinsam in den immer dunkel werdenden Tag. Werner warf Markus einen kurzen Blick zu und drehte sich zum Fenster. Nachdenklich nuschelte er, indem er ihn durch das spiegelnde Glas ansah, es käme ihn so vor, als wäre er die Strecke schon hundertmal gefahren und jedes Mal glaubte er etwas Neues, Fremdes zu erblicken. Markus fantasierte in sich hinein, ob der Zug sich auch verfahren könnte.
Werner lehnte sich nah an Markus und fragte ihn leise: „Hast Du auch oftmals Angst vor dem Leben"?
"Ja", antwortete Markus aufrichtig. Er hätte sich Werner zu gerne zum Bruder gewünscht. Markus verehrte ihn und allein seine Nähe machte ihn innerlich sehr stark.
Auf dem Wege in die Burg kuschelten sie sich aneinander, denn gegen Abend war es kühl geworden. Das sich gegenseitige Aufwärmen tat ihnen gut. Werner flehte ihn an Nachts in den Vorraum der Kleiderkammer zukommen und dort auf ihn zu warten.
Als beide in ihrer vertrauten Umgebung angekommen waren, empfing sie Nüchternheit und menschliche Kälte, als sei es eine Schande mal nett zueinander zu sein. Der Erzieher tobte wütend durch die Räume. Irgendein Banause hatte flüssiges Bohnerwachs aus seinem Arbeitszimmer entwendet und in das vor wenigen Tagen neu angeschaffte Aquarium gegossen. Die Goldfische lebten nicht mehr. Er verdächtigte alle und einige bezogen sinnlose Strafen, wie Zimmer putzen und Betten auf den Millimeter genau korrekt zu machen. Für Stunden herrschte eine Art militärischer Drill am Abend. Doch das ging vorbei, dachte Markus und lebte Tag täglich den gleichen Trott. Vieles seiner Heimkollegen hatte er sich angeeignet, um in der Meute nicht ganz unterzugehen. Sich und den anderen wollte er beweisen, dass er sich zu behaupten wusste. Den Halt und die Kraft dafür fand er in seiner Zuneigung zu Werner. Dabei kam ihm seine erste grosse Liebe „Axel“ in den Sinn und deshalb fand er es seltsam, dass ihm dennoch immer wieder andere Jungs im Kopf rumschwirrten.
Inzwischen war die Zeit, viel Zeit vergangen. Markus bereitete sich bei Zeiten schon auf seine Gesellenprüfung vor. Wenn er hin und wieder an die dreijährige Lehrzeit zurückdachte, hatte er oftmals Ausgangssperre, weil er in der Glockengasse anfing sein schwul sein offen zu leben, und meist dabei erwischt wurde. Gegen Geld kleine Gefälligkeiten zu erweisen, wurde zum Bestandteil seiner Wochenenden. Negerkontakte zu pflegen war stets als Klatsch, um ihn madig zu machen bestens geeignet. Sonst gab es eigentlich nur Banalitäten unter den Lehrlingen zu erzählen. In Wirklichkeit war es für ihn eine Zeit der Sprachlosigkeit und der seelischen Einsamkeit. Mit niemanden kam er zurecht und füllte die Tage mit Lernen aus, bis ihn fast der Schädel platzte. Nur die Schulbücher halfen ihm, über die innere Leere hinweg. Selbstmitleid jedoch kannte er nicht. Dazu hatte er in seinem noch jungen Leben zu viele negative Erkenntnisse erlangt. In unschönen Erinnerungen wurde er mit Problemen anderer Menschen konfrontiert, denen es letztendlich so wie ihm erging. Markus aber war auch klar, dass es nicht gut sei sich nur von Gefühlen leiten zu lassen. Er wusste den Unterschied von Gefühlen und Realität gut zu unterscheiden.
Da er nun einmal so leben musste, versuchte er das Beste daraus zu machen. Es blieb jedoch sein Verlangen und die Sehnsucht nach einem Menschen, den man vielleicht sogar liebt, von dem man gebraucht wird und der auf einen zählt. Aus dem Religionsunterricht wusste er, dass Gott für jeden Menschen einen Zweiten geschaffen hatte, um nicht alleine durchs Leben gehen zu müssen. Ob das auch für ihn Gütigkeit hatte, wusste er nicht. Die Ungewissheit erschwerte es umso mehr, da die Religion sein Anderssein nicht duldete.
In der verschleierten Dunkelheit seiner Gedankenwelt kam manchmal die Realität abhanden. Nachts flüchtete er in seiner Fantasie in die Arme Werners. Sobald der Morgen anbrach, in die Anonymität des Vergessens. Mehr und mehr erkannte Markus, dass er offenbar vieles falsch gemacht hatte, doch diese Erkenntnis nutzte ihm jetzt auch nichts mehr. Da halfen keine guten Vorsätze, kein Drehen und Wenden. Es schien als wäre ein Schicksal fürs Leben vorgegeben, dem er sich fügen müsste.
Wieder einmal war sein Gemütszustand auf dem Tiefpunkt angelangt. Er wechselte kaum ein Wort mit anderen und wenn, dann antwortete er mit „Ja" oder „Nein"! Er wünschte sich nur ein einziges Mal dem Erzieher erzählen zu dürfen, wie er sich in all den Jahren des eingesperrt seins fühlte. Über die Sorgen und Ängste eines Heranwachsenden zu sprechen, der nie eine familiäre Beziehungen erleben durfte. Familiäre Bindung war ihm fremd und eigentlich unverständlich, obgleich er sich im Unterbewusstsein vergeblich danach sehnte. Manchmal glaubte er dieses Zugehörigkeitsgefühl bei seinem Freund gefunden zu haben. In diesem Haus fühlte er sich lebendig begraben.
Sein Gehör war auf Schlüsselgeräusche, Türschlagen und die schweren Schritte des Erziehers fixiert. Viele der Heimbewohner konnten das Aufsichtspersonal an dem Rhythmus ihrer Schritte erkennen. Die Prügelstrafe war im Heim nicht gang und gebe, sorgte jedoch dafür sich ohne Widerstand zu fügen oder unterzuordnen. Selbständiges Handeln war unmöglich. Die psychische Hörigkeit prägte Markus Lebensweg. Er stand unter dem Zwang nur das auszuführen, was angeordnet wurde. Wie einige andere zerbrach Markus nach und nach fast an den autoritären Erziehungsmethoden. Sein Verlangen nach Zärtlichkeiten wurde zur Sucht nach gleichgeschlechtlichen Kontakten. Bei Begegnungen stand er dem Geliebten oder Liebhaber oft hilflos gegenüber und wartete auf deren Anweisung und Berührung.
Wie an jedem Abend stand er in der kleinen unausgebauten Mansarde und sah in der Abenddämmerung über die Dächer des Dorfes und grübelte nach dem Sinn des Lebens.
In dieser Stille und Finsternis die ihn umgab, fürchtete er sich allerdings vor der Wahrheit. Markus wurde es etwas unheimlich. Er hatte das Gefühl, als wollte die Finsternis ihn mit sanfter List in das geheimnisvolle Nichts auflösen.
Erneut erfüllte ihn die immer wiederkehrende Sehnsucht, die Nähe des Freundes seine Körperwärme zu spüren.
Auf dem Weg in die Gruppenräume, dachte er nur über eines nach. Da die theoretische und praktische Prüfungswoche näher rückte wünschte er sich, seinen Gesellenabschluss mit einigermassen guten Noten zu absolvieren. Dann könnte er endlich von seiner Vergangenheit Abschied nehmen und niemals im Leben würde ihm ein Mensch etwas anhaben können. Schon jetzt stellte er Überlegungen an, wie er seinen Heimaufenthalt verheimlichen konnte. Niemand sollte jemals davon erfahren. Von Anderen hatte er Informationen erhalten, gegen welche Vorurteile er draussen zu kämpfen hätte, wenn er darüber nicht schweigen würde. Heimkinder so erzählte man ihm, waren für die Gesellschaft draussen, der letzte Dreck. Kleine Gauner und Ganoven, künftige Verbrecher eben.
Er rannte die Treppe hinunter, eilte in den Schlafraum und zog sich um. Der Erzieher war bereits auf dem Weg seinen Kindern in jedem Schlafraum eine gute Nacht zu wünschen. Die dumpfen Schritte des Erziehers verhallten auf dem Weg durch den langen Korridor. Als das Hauptlicht abgeschaltet war, dauerte es nur wenige Minuten bis der Erzieher gegangen war. Am Drehgeräusch des Schlüssels erkannten die Lehrlinge ob die Gruppenetage wirklich abgeschlossen wurde oder nur zum Schein. Auf dieses Schliessgeräusch achteten sie sehr genau, um nicht beim Rauchen erwischt zu werden. Unbeobachtet zu sein war für sie das Schönste.
Markus konnte einfach nicht einschlafen. Unruhig wälzte er sich hin und her. Seine Augen gewöhnten sich schnell an die Dunkelheit und so blickte er mehrmals zur Tür, die einen Spalt angelehnt war. In der nächtlichen Ruhe vernahm er Geräusche aus den Nebenräumen und brauchte nicht lange zu raten was sich draussen in den finsteren Gängen abspielte. Das erregte ihn. Es kam ihm in den Sinn, dass Werner im Vorraum der Kleiderkammer auf ihn warten könnte. Trotz des schlechten Gewissens eine Sünde zu begehen, war seine Sehnsucht nach Werner stärker und er stand auf. Überaus vorsichtig schlich er aus dem Schlafraum, vorbei an anderen Paaren die vielleicht zu einem persönlichen Gespräch unter vier Augen zusammentrafen. Ungeduldig tastete er sich durch die Dunkelheit zwischen den eiskalten Metallschränken entlang. Vergeblich, sein Partnerwunsch. Werner war nicht da. Dabei war er sich so sicher, dass Werner hier auf ihn warten würde. Das lange warten und hoffen auf den Geliebten, erregte Markus Fantasie und liess sein Puls schneller pochen. Die sündigen Gedanken wurden süsse Wachträume. Der innere Druck, dass etwas zu geschehen habe verführte ihn und liess ihn den erregten Körper mit den Händen erforschen. Scheu und vorsichtig wie er war, bedurfte es in der Stille des Raumes viel Kraft die Sehnsucht nach Liebe zu stillen. Schliesslich glaubte er, je mehr er an sich rumspielte seinem Freund ganz nahe zu sein. Der Traum war kaum zu Ende geträumt als die Tür ruckartig aufgerissen wurde. Im selben Augenblick erfasste ihn der grelle Lichtstrahl einer Taschenlampe. Es kam ihm vor, als hatte der fast die Grösse eines Suchscheinwerfers. Die Helligkeit des Lichtes blendete ihn und er wurde vor Schreck kreidebleich. Vor Scham eine Sünde begangen zu haben, lief ihm die Röte ins Gesicht. Markus vernahm die strenge Stimme des Nachtwächters und bekam gleichzeitig im Dunkel des Raumes kräftige Peitschenhiebe zu spüren. Der Aufseher hielt ihn die Taschenlampe ins Gesicht und blendete direkt in seine Augen. Markus schmerzte der grelle Lichtstrahl. Gedemütigt nahm er die an den Haaren herbeigezogenen Vorwürfe soeben eine Todsünde begangen zu haben wortlos hin. Schutzsuchend kroch er auf dem Boden um den Peitschenschlägen auszuweichen. Nach mehreren Hieben sank die Schmerzempfindlichkeit und Markus überlegte welche Peitsche der Nachtwächter benutzte, die mit dem geflochtenen, fettigen Lederzopfschnüren oder die Glatte. Auf seine kunstvolle Selbstanfertigung der geflochtenen Lederpeitsche war der nächtliche Spürhund besonders stolz.
In einer Bastelstunde hatte er mal erklärt, dass nicht nur das Flechten der Zöpfe Geschick erforderte sondern auch etwas Fantasie. Zopf um Zopf waren sorgfältig an den geschnitzten Holzgriff einer Kohlenschaufel genagelt. Der obere Teil des Stiels diente als Griff an dem von zarter Hand verschiedene Motive eingraviert wurden. Über den unteren Teil vollzog sich eine künstlerisch gestaltete Verzierung.
Seiner Ansicht nach wird durch die Art der kleinen Ornamente, die Schönheit seines Kunststückes noch hervorgehoben. Diese spezielle Peitsche fürchteten die Schwererziehbaren, weil sie spürbare langanhaltende Striemen auf der Haut hinterliess. Als der Nachtwächter innerlich seine Befriedigung fand, liess er von dem Jungen ab und Markus lag in der Ecke, während der Nachtwächter sich aus dem Staub machte. Markus versuchte aufzustehen. Alles tat ihm weh und seine Beine und sein Rücken brannten.
Entsetzt rannte Markus in sein Zimmer und versuchte auf der Seite liegend einzuschlafen. So mancher seiner Heimkameraden hatten das Auspeitschen schon über sich ergehen lassen müssen. Trotz dem stand die schadenfrohe Meute bald an seinem Bett und bedauerten ihn scheinbar mitfühlend. Wie kann man nur so dämlich sein, sich beim wichsen erwischen zu lassen. Diese abschätzige Bemerkung aus dem Munde eines Freundes tötete Leidenschaft und Zuneigung. Die vertraute Stimme traf ihn wie ein Stich ins Herz. Der Abend war kurz und bitter für Markus. Er fasste einen schwerwiegenden Entschluss. Doch fiel es ihm in keiner Weise leicht künftig den Versuchungen seiner Begierde nach Liebe zu widerstehen und die Neugierde zu unterdrücken. Fast hilflos zuckte er mit den Schultern, drehte sich auf die schmerzfreie Körperseite um einzuschlafen.
Der Wille war stark aber das Fleisch schwach. Bald fantasierte er sich weit fort, dass er annahm von der Wärme eines eng an ihn gepressten Körpers eingehüllt zu werden. Nasse Lippen strichen über seinen Nacken und kräftige Arme umschlangen ihn und die starken Hände liessen ihn nicht mehr los. Markus konnte dem Eroberungs- und Beschützergehabe dieses Suchenden nach Liebe nicht entfliehen. Je heissblütiger der Werber war, desto leidenschaftlicher war Markus innere Hingabe. In diesem Traum sehnte er sich danach, nur einmal ein einziges Mal eine Frau zu sein. Wie ein Schock folgte das Erwachen. Neben ihm lag ein Kumpel von Werner. Der Kumpel hatte sich anscheinend bei Werner die Erlaubnis eingeholt mit Markus zu Fummeln. Markus schluckte den Zorn hinunter und unterhielt sich spielerisch, für alle hörbar mit dem Kumpel von Werner. Markus dachte nur noch: Werner sollte vor Wut platzen. Wenig später kam Werner, forderte seinen Kumpel auf zu gehen und nahm seinen Platz ein. Markus empfand plötzlich nichts mehr für Werner, fast so als hätte es nie etwas gemeinschaftliches zwischen ihnen gegeben und blockte fortan all seine Mühe an Beteuerungen. Von da an trennten sich die Wege. Markus war beinahe froh über diese bittere Erfahrung. Vernarrt zu sein, bedeutete auch Leiden für ihn.
Nach diesen Vorfällen veränderte Markus sich. Ein inneres Abwehrverhalten gegen alles was mit Gefühlen zu tun hatte vollzog sich in ihm. In all den Zweifeln von denen Markus jetzt geplagt wurde, lag die grosse Chance und die Hoffnung wieder normal zu werden. Vielleicht bin ich ja nicht an „Schwulität" erkrankt, und bilde mir alles nur ein überlegte er nüchtern.
Nichts empfand er so bedrückend wie sein zweifeln an sich, mit der Ungewissheit einzuschlafen, um am frühen Morgen mit den gleichen Ängsten zu erwachen. Grübelnd versuchte er sich mit den Widersprüchlichkeiten der schwierigen Thematik seiner Verwirrtheit selbst auseinander zu setzen. Um sich abzulenken dachte er an seinen letzten Prüfungstag und fand endlich wippend seinen Schlaf. Die letzten Tage verliefen unruhig, denn bald wird sich sein ganzes Leben verändern, dass bereitete ihn doch einige Sorgen. Die guten Vorsätze fanden sich überwiegend in seinen Gedanken. Seine Pläne dazu existierten Nachts, doch am Tage waren sie verschollen. Spätestens am nächsten Nachmittag zur Teezeit, sollte er die Prüfungsergebnisse seiner abgeschlossenen Schneiderlehre erfahren.
Als er morgens aufwachte erinnerte nichts an einen schlechten Traum. Gähnend schüttelte er alles von sich ab und suchte voller Energie nach einen neuen Anfang. Erleichtert sprang er aus dem Bett. Der begonnene Tag war einer der lang herbeigesehnten letzten Tage im Heim. Geradezu übermütig und fröhlich gestimmt gesellte er sich zu den anderen in den Baderaum. Allgemein herrschte unter den heranwachsenden Männern ein erträgliches Klima. Der Erzieher verstand es sehr gut, sich den gegebenen Situationen anzupassen. Dennoch war die Lage stets mit Vorsicht zu geniessen. Sekundenschnell konnte sich dieses Stimmungshoch um hundertneunzig Grad wenden, dann allerdings zeigte der Erzieher wer der Herr im Hause ist. Einige der Lehrlinge fieberten ihrer Entlassung aus dem Heim entgegen. Nur wenige freuten sich über das Ende der Heimzeit, denn sie wussten nicht wirklich wohin ihre Lebensreise führen würde. Ohne grosses Aufsehen wurden auf der Abschlussfeier die Zeugnisse und Gesellenbriefe zügig verteilt. Markus hatte den Eindruck, als würde sich das ganze Heimpersonal feiern.
An jenem Morgen des letzten Tages im Landesjugendhof in Lichtenau, war das Stimmungsbarometer bestens. Zum letzten Mal trafen sich alle beim morgendlichen Frühstück. An diesem Tag schmeckte ihnen das Heimessen so gut wie noch nie. Auch der übliche Klatsch und Tratsch von Boshaftigkeiten blieb aus. Für jene, die das letzte Frühstück als Abschiedsessen verstanden, sah der hell getünchte Speiseraum gar nicht mehr so kahl aus. Manch einer fand plötzlich die innere Ruhe dem Gebet des Erziehers aufmerksam zuzuhören. Markus hatte es viele Jahre gehört und konnte es immer noch nicht auswendig aufsagen. Dem Gebet Satz für Satz zu folgen, bereitete ihm keine Probleme. Während die anderen an den Tischen scherzten und rum alberten, kehrte Markus bedächtig in sich. Er bemühte sich jahrelang das Wechselspiel seiner Gefühle zu ertragen und in den Griff zu bekommen. Er schwankte zwischen Höhen und Tiefen. Vorgestern hatte er noch geplant sich in der verschmutzten Pegnitz zu ertränken um sein Schattendasein zu beenden.
„Ein Mann, ein Wort", oder so ähnlich. Das war die plumpe Philosophie der Heimgauner, aber dann kam das Hoch und Markus entschied sich weiter zu leben.
In der nächsten Stunde begannen die entlassenen Zöglinge ihre Habseligkeiten einzupacken. Jeden auch noch so belanglosen Kram würden sie mitnehmen. Überflüssige Dinge verteilten sie an die Heimjungs die noch im Heim verbleiben mussten. Das Wenige, dass sie zum einpacken hatten war nicht einmal ihr Eigentum. Was dem Einzelnen wirklich gehörte, entschied im Vorfeld der Abreise die Heimleitung bzw. die Erzieher führten die Anweisungen ihres Direktors aus. Markus beobachte den Erzieher, als er sein kurz geschorenen Kopf mit dem faltigen Gesicht nach unten beugte, um wieder einige Sachen aus Markus Reisekarton zu entfernen und dabei schwer nach Luft rang. Beim Ausatmen entwich ihm ein leicht pfeifender Ton durch die Nase. Wenn er schlucken musste, verschwand jedes mal sein grosser Kehlkopf. Keiner wusste ob er überhaupt ein ausgebildeter Erzieher war. Seine Jugendgruppe hatte lediglich gehört, dass er es während des Krieges um sein Vaterland zum Offiziersanwärter gebracht hatte. Das einzige was an diesen Rang erinnerte, war sein kommandierendes Gehabe und ein paar nicht glaubwürdige Heldentaten aus seinem Krieg. Der Erzieher beschwor ständig die Werte der Vergangenheit als Lebensregel. Zu seiner Zeit waren Jungen in diesem Alter richtige gestandene Mannsbilder, standen an der Front und nutzten dem deutschen Volke. Diesen Spruch gebrauchte er als Abschluss dieses Themas immer wieder, sobald er sich in seinen Gedanken verzettelte. Aber er war stolz über all die deutschen Werte.
Nachdem alles geklärt schien, durften die Gesellen ihr Hab und Gut, Tüten und Koffer zum Fahrzeug bringen. Mit dem Zuschlagen der Kofferraumtür war das letzte Gepäcksstück verstaut. Erst nach Aufruf der Namen, die der Fahrbegleiter von einem Zettel ablas, durften alle nach und nach in den kleinen Bus steigen. Ausnahmsweise gab es dieses Mal keine Sitzordnung. Strahlend nahmen sie Platz und warteten ungeduldig auf die Abfahrt. Einigen war es eher mulmig zu Mute, andere wiederum schwiegen. Einige Handwerksgesellen redeten aus Freude vollkommen durcheinander. Markus war deutlich geworden, dass er von nun an niemanden mehr hatte, und auf sich alleine gestellt ist. Einer der Entlassenen fürchtete den Anschluss von Ansbach nach Mannheim zu verpassen. Der Nächste schimpfte wie ein Rohrspatz über das Heim und seinem Lehrmeister, der ihm sein Gesellenstück nicht aushändigen wollte und wenn, dann nur gegen Bezahlung.
Das Herziehen über das Heimpersonal nahm ein Ende, als der Busfahrer mit einem Aufseher und Begleiter zustieg. Das Verteilen von Unterlagen begann, und bis auf Markus, erhielt jeder der Entlassenen Gesellen einen Personalausweis sowie ein Entlassungsschreiben der Jugendanstalt für Schwererziehbare überreicht. Besorgt fragte Markus nach, doch er wurde sofort unterbrochen. Alle Businsassen erfuhren, dass Markus unter einem falschen Namen registriert gelebt hatte. Erst vor wenigen Tagen sei das Heim davon in Kenntnis gesetzt worden. Eiliges Nachfragen der Heimleitung bei den Behörden ergab, so die Äusserungen des Sprechers, dass er ein in München geborener Grieche ohne Staatsangehörigkeit wäre. Der Busfahrer ergänzte den Vortrag in dem er ihn als einen Staatenlosen bezeichnete und ausführlich erklärte, dass Markus nach dem deutschen Gesetz ein Ausländer sei. Markus begriff von alledem wenig glaubte aber, dass sich alles um einen Irrtum handle und sich alles regeln würde. Der Busfahrer erklärte der Begleitung, dass der Junge sich nur an das Landratsamt Dachau zu wenden bräuchte, um mehr zu erfahren.
Desinteressiert winkte der Aufseher ab und gab Markus einen beschriebenen Zettel mit der Anschrift des Männerjugendwohnheimes in München-Pasing, in dem er sich zu melden hatte. Darunter stand kaum leserlich, wie ausradiert die Adresse von Anna, seiner Mutter. Ein wenig Freude erfüllte Markus, denn nun hatte er die Gewissheit nicht ganz allein auf der Welt zu sein. Seine Mutter Anna hatte er fast vergessen. Er wusste nicht einmal mehr, wie sie aussah und hatte auch sonst kein Verlangen nach ihr. Je länger er darüber nachdachte kam er zu dem Entschluss, für ihn gab es keinen Grund auch nur einen Gedanken an sie zu verschwenden. Die anfängliche Freude, doch jemanden zu haben, wich einem unbändigen Zorn.
„Sie war an allem schuld“!
Als der Omnibus los fuhr, wurden die anderen Knaben immer übermütiger. Sie hatten allen Grund sich auf ihr neues Leben zu freuen. Markus dagegen schwieg. Je weiter sich der Wagen von der Burg entfernte, desto ruhiger wurde es wieder im Auto.
Markus drehte sich noch einmal um und sah durch das Rückfenster, wie seine einstige Heimat sich langsam entfernte. Er dachte an die ihm vertrauten Kumpels die zurück blieben.
Der Abschied tat ihm weh und nichts mochte seine Gefühlsaufwallung zügeln. Sein Herz pochte, das stürmische Auf und Ab seiner Seele drängte ihn gerade dazu, noch einmal einen Blick zurück in die vertraute Umgebung des Dorfes zu werfen. Die wenigen Häuser des Dorfes schoben sich vor die riesige Burg, Wiesen und Felder zogen an den Fenstern vorbei. Die Burg versank hinter den Dächern von Lichtenau. Die Anwesenheit des Erziehers beruhigte Markus etwas, so dass er glaubte die Fürsorge würde ihm künftig bestimmt fehlen.
Am Bahnhof im Dorf Sachsen angekommen, stimmte einer aus Jux ein Lied an. Gemeinsam sangen die ehemaligen Heimkinder „Nehmt Abschied Brüder". Der zu Herzen gehende Abschied bedrückte alle, aber jeder versuchte auf seine Weise mit den Gefühlen fertig zu werden. Markus wühlte aus Verlegenheit in seinem Tabakbeutel um Zigaretten zu drehen.
Vom ständigen drehen riss das Papierblättchen mehrmals. Tränen standen ihm in den Augen, wobei er seine Gesichtsmimik nicht veränderte.
Die Umgebung nahm er nur verschwommen wahr. Am Bahnhof fand der Fahrer sofort einen Parkplatz. Einer nach dem anderen sprang aus dem Bus. Unter den so unruhigen Geister legte sich eine bedenkliche Stille während sie ihre Koffer, Tüten und Schachteln entgegennahmen. Den letzten Pappkarton überreichte der Begleiter dem „Ausländer Markus" und wünschte ihm alles erdenklich Gute für sein weiteres Leben. Dem Hartgesottenen Erzieher war nicht wohl dabei, denn viele der Jungen hatte er vor über ein Jahrzehnt als Kinder kommen sehen und jetzt gingen sie als fast Erwachsene fort.
Er hoffte, dass sie alle ihren Weg finden würden. Jedoch wusste er, dass nur wenige der jungen Burschen ein festes Ziel vor Augen hatte. Der Erzieher war sich so gut wie sicher, dass die meisten der Abgänger es nicht schaffen würden ihr Leben in den Griff zu bekommen und schon in absehbarer Zeit vor die Hunde gehen. Von nun an waren sie auf sich alleine gestellt und mussten lernen mit ihrer Situation fertig zu werden. Der Meinung des Erziehers nach, waren sie von ihrer Geburt an Gestrandete. Ohne den Entlassenen noch eines Blickes zu würdigen, liessen sie sich in ihr vertrautes Dorf Lichtenau zurückfahren.
Zum ersten Mal waren die entlassenen Halbstarken unter sich. Sie alle fühlten sich wie jahrelange Strafgefangene ohne jedoch straffällig geworden zu sein. Nun brauchten sie keinem ihrer Sklaventreiber mehr Rechenschaft ablegen. Dennoch standen sie ratlos beisammen.
Markus grosse Hoffnung blieb nun doch die Mutter. Sonst gab es ja niemanden an den er sich hätte wenden können.
Der Ulkvogel Arthur übernahm kurzerhand das Kommando in dem entlassenen Rudel. Instinktiv, in der Hoffnung und dem Vorsatz nichts falsch zu machen folgten sie ihm.
Letztendlich war Arthur in seiner tuntigen Art das Leittier der Gruppe. Um die Unsicherheit aller zu überspielen, tippelte er den Gänsemarsch voran und stimmte damit alle heiter.
Das Pfeifsignal des einfahrenden Zuges war zu hören. Aufgeregt lief der Bahnsteigwärter hin und her. Denn er, so der Eindruck, nur er musste das Einfahren der alten Lokomotive mit zwei Wagons überwachen. Für den Bahnwärter schien dieser Vorgang ein besonderes Ereignis zu sein. Mit einem kleinen Megaphon forderte er die wenigen Passanten auf von dem Bahnsteig zurückzutreten und kurz darauf zum einsteigen. Dabei richtete er seine Krawatte, als würde an diesem Tag noch ein Zug eintreffen. Obwohl doch jeder wusste, dass an diesem Bahnhof nicht mehr als zwei Züge pro Tag fahren. Den Fahrgästen aus dem Landesjugendhof pressierte es besonders in den Zug zu gelangen, denn jeder wollte einen Sitzplatz am Fenster ergattern. Ruckartig und laut schnaufend setzte sich die alte Dampflok langsam in Bewegung. Bis Ansbach unterhielten sich die entlassenen Burschen angeregt über ihre nahe Zukunft, was der Einzelne wird oder noch werden könnte. Markus schwieg zu all dem und bemerkte, dass sie plötzlich Fremde waren. Auf dem Umsteigebahnhof in Richtung Süden hiess es erneut Abschied zu nehmen. So verschwanden einige Jungen in einem Tunnel zu den Gleisen auf der anderen Seite des Bahnsteiges. Ein Schnellzug raste ohne anzuhalten durch den Bahnhof und versperrte die Sicht auf das gegenüberliegende Gleis und somit verloren sich die Jungs für immer aus den Augen.
Markus starrte wie hypnotisiert auf ein vom Rost zerfressenes Gitter, um nicht nachdenken zu müssen. Eine dröhnende Frauenstimme aus dem Lautsprecher kündigte einfahrende Züge an und kurz darauf auch die Elektrolok nach München. Als er die Ansage hörte, fühlte er sich wie ein junger Mensch ohne Hoffnung und ohne Ziel in der nun gewonnenen Freiheit. Gezielt hielt er in dem Menschengewirr Ausschau nach seinem fröhlichen Kumpel Arthur, der immer einen Witz parat hatte und sich um Probleme nichts scherte. Markus fand ihn und war heilfroh die lange Strecke nicht alleine fahren zu müssen. Arthur's Ziel war das Städtchen Rosenheim, wo seine Oma und sein Opa mit Hund und Katze am Rande der Stadt in einem Einfamilienhaus mit Garten lebten.
Auf dem Gehsteig wurden sie von einem Mütterchen freundlich angesprochen. Sie bat darum, ihr doch zu erklären, was denn 20.00 Uhr bedeutete? Ahnungslos starrten sie die Frau an, schnappten aus Verlegenheit Koffer und Karton und rannten nach vorne zur Lok um sie zu bestaunen. Die Frage nach „20 Uhr" beschäftigte sie immer noch. Im Zug suchten sie nach einem leeren Abteil in dem noch zwei Fensterplätze frei waren. Markus überlegte weiterhin, was für einen Sinn zwanzig Uhr haben könnte und sagte zu Arthur: Die Uhr hat doch nur 12 Zahlen! Arthur stimmte dem zu und versicherte, dass auf seiner Armbanduhr 20 Zahlen keinen Platz hätten. Beide waren sich spontan einig, dass die Alte spinnt.
Hunderte von Metern, nach dem sich der Zug in Bewegung setzte, schien die Fahrt auch schon wieder beendet. Neugierig schauten sie aus dem Fenster. Zehn Minuten später nahm der Zug wieder die Fahrt auf. Doch nun schob die Lok die Wagons, anstatt sie zu ziehen. Beide hatten jetzt dein Eindruck, der Zug würde Rückwärts nach München fahren. „Verdammt, wenn das mal gut geht", gab Markus lautstark von sich. Sein felsenfestes Vertrauen in die Technik nahm rapide ab. Verstimmt griff er sein Päckchen Tabak, begann unaufhörlich Zigaretten zu drehen und stellte Überlegungen an, warum die Lokomotive jetzt hinten am anderen Ende der Wagons war. Mit der Himmelsrichtung kam er ohnehin nicht zurecht. Für ihn konnte Süden auch Norden sein. Wer weiss das schon so genau! Arthur fand es recht belustigend, denn ihm war es scheissegal in welche Richtung er sass, doch Platz tauschen kam für ihn nicht in Frage. Gelangweilt kramte er in seiner Plastiktüte, nahm eines der belegten Brote und kaute jeden Bissen wie ein Kaugummi. Markus kuschelte sich hinter dem flatternden graufarbigen Vorhang in die Fensterecke. Die Vorüberziehende weite Landschaft, das monotone Rattern der Räder im Gleichtakt war ermüdend und so verschliefen sie den längsten Teil der Strecke. Als er aufwachte schweiften seine Gedanken nach Dachau wo seine Mutter ihr Zuhause hatte und das zur Stunde sein Ziel war. Nach längerem Nachdenken wurde ihm klar, dass sein Besuch bei Anna das Jugendamt verstimmen könnte. Er war zwar 18 Jahre alt, aber nicht volljährig. Nach dem Gesetz konnten Jugendliche in Heimen bis zur Volljährigkeit festgehalten werden. Das hiesse für ihn, bei unangenehmen Auffälligkeiten eventuell weitere drei Jahre in einem Heim verbringen zu müssen. Dieser drohenden Gefahr wollte er sich nicht aussetzen. Deshalb nahm er die Anweisung sich im Männerwohnheim Pasing zu melden sehr genau. Er wagte lediglich einen Blick durch das Fenster in Richtung des Dachauer Bahnhofs. Die plötzlich aufkommenden Erinnerungen aus den Tagen einer erbärmlichen Mutter-Kind-Beziehung machten es ihm leicht an Dachau vorbeizufahren. Für ihn war es besser nach München in seine Geburtsstadt zu reisen. Bayerns Landeshauptstadt war ihm genauso fremd, wie Anna seine Mutter ihn in all den Jahren geworden ist. Eigentlich kannte er die Frauentürme nur von Postkarten. Das Oktoberfest war ihm allerdings noch besonders in Erinnerung. Denn den Soldaten Glenn, der ihn als kleinen Jungen auf die Wies'n mitnahm und mit ihm Liebe machte, konnte er nie mehr vergessen. Wenn er sich einsam fühlte, dachte er oft an ihn. Dabei besann er sich jener Zeit, bevor Glenn ihn im Wahn ertränken wollte. In Erinnerung blieben Markus vor allem die schönen Stunden mit Glenn im bunten Lichtermeer mit Musik auf dem Oktoberfest. Die negativen Erlebnisse mit Glenn, hatten für ihn kaum noch Bedeutung. Markus wurde aus seinen Träumereien gerissen.
Wie ein Wilder zog Arthur das Fenster runter und gröhlte: „Wir sind in München! Jetzt muss ich nur noch umsteigen, dann geht’s ab nach Rosenheim“. Beide waren etwas aufgedreht. Während sie ihre Sachen zusammenpackten blickten sie hin und wieder durchs Fenster auf die vielen Gleise und Zugmaschinen. Bald näherte sich mächtig die gläserne Überdachung des Bahnhofs. Markus war so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass er das Fortgehen von Arthur nicht bemerkte. Jeder Versuch Arthur unter den unzähligen aussteigenden und umherirrenden Menschen zu entdecken, war sinnlos.
Überwältigt vom Hauptbahnhof, mischte Markus sich mit seinem Pappkarton staunend unter die zweibeinige Herde. Bahnte sich seinen Weg durch das hektische Treiben in die Vorhalle, dabei vergass er nicht, wo er sich zu melden hatte. Inzwischen zog ihn die verführerische Reklamewelt in seinen Bann. Beleuchtete Werbeflächen, Plakate, Kioske, Kinos, Informationsstände und Gaststätten winkten wie ein Willkommensgruss der Heimat.
An dem erstbesten Reisebüro blieb er stehen, um sich vor den getönten Spiegelglas des Schaufensters zu frisieren.
Durch die Scheibe entdeckte er Reiseprospekte über Griechenland. Aufmerksam überflog er sie. Markus erinnerte sich an die Worte des Erziehers, als ihm seine Entlassungspapiere übergeben wurden.
Er sei Staatenlos und habe einen griechischen Namen. Er kam zu dem Entschluss, wenn er ein Grieche sei, dann wäre ja nicht Bayern seine Heimat sondern Griechenland.
Seine Neugier richtete sich ausschliesslich auf eine Broschüre von Parnassos. Parnassos dieser Name zog ihn magisch an. Parnassos wirkte geheimnisvoll und schien voller Rätsel, so dass Markus nun doch den Mut fasste, hineinging und sich über Parnassos erkundigte. Parnassos sei das Reich der Dichtkunst und war nach dem Gebirge in Mittelgriechenland benannt das in der Antike dem Apollo und seinen Musen heilig geweiht war, informierte ihn die Kundenbetreuerin. Aha, lautet seine wissbegierige Reaktion. Er wusste kaum mit diesen Informationen etwas anzufangen, nahm aber freudestrahlend eine Broschüre entgegen. Hin und wieder sah er sich darin die Bilder an und beobachtete nebenher sein unmittelbares Umfeld. Je länger er das Treiben am Bahnhof mitbekam, desto mehr festigte sich seine Ansicht, dass das Leben so wie es Reklamewände präsentierten nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen konnte. Vergammelte Vermoutbrüder belagerten das Stufengeländer. Mannweiber lungerten in den Gängen vor den Toiletten rum und pöbelten einige vorbeieilende Passanten an.
Ein feminin aussehender Mann mit Schlafzimmerblick verwirrte Markus. Dieses ständige Anstarren des Mannes weckte in ihn regelrecht ein schlechtes Gewissen. Er fühlte sich dabei ertappt „Anders zu sein“ und wünschte sich eines Tages davon abkommen zu können. Als er den Ausgang erspähte, spürte er Erleichterung. Am Hauptausgang sassen Penner, ein verstümmelter Bettler ohne Beine und einige Hausfrauen standen herum, die ihr Taschengeld wohl mit Freiern aufbesserten. Samt seinem unhandlichen Karton, der ihm allmählich lästig wurde suchte er eine Telefonzelle auf. Entgegenkommende Jugendliche musterten ihn spöttisch, wodurch Markus etwas nervös wurde. Vor einem Schaufenster blieb er stehen, um sich mit den Gleichaltrigen zu vergleichen. Er bildete sich ein, jeder sähe ihm an, dass er ein entlassener Heimzögling sei. Vor allem an seinem Haarschnitt würde man das erkennen glaubte er. Der Heimfriseur hätte ihm genauso gut einen Topf aufsetzen können und den Rest seines Schädels kahl scheren.
Eilig hastete er in eine Telefonzelle. Für ihn galt es nun ein Rätsel zu lösen, denn er hatte keinen blassen Schimmer wie der Apparat funktionierte. Er warf seine zwei Münzen ein und nahm den Hörer ab, doch während er die Nummer wählte passierte nichts. Das Geld fiel unentwegt durch. Markus rüttelte und schüttelte, klopfte dagegen aber nichts funktionierte. Ein Herr vor der Telefonzelle guckte ungeduldig auf seine goldene Armbanduhr und tobte: „Ob er in der Rührschüssel nur Grütze hätte", riss die Telefonzelle auf und drückte mit seinem wuchtigen Körperbau den offensichtlich unsicheren schwachsinnigen Anrufer hinaus. Beschämt richtete Markus seinen Blick zu Boden und wartete geduldig die nächste Gelegenheit ab.
Vergeblich versuchte er erneut mit dem Apparat zurecht zu kommen. Bis sich der nächste Passant einfand vergingen einige Minuten, die Markus wie eine Ewigkeit vorkamen. Überfreundlich zeigte der nächste Herr den Bedienungsvorgang und wechselte ihn die Groschen aus. Stotternd bedankte Markus sich mehrmals. Er schämte sich, dass das Danken auf den anderen komisch wirkte und der abfällig „Kanake" in seinem Bart murmelte.
Total verunsichert wagte Markus jetzt zu telefonieren und war überrascht, dass er das Männerwohnheim an der Strippe hatte. Er wusste nicht so genau was er sagen sollte, stammelte wirres Zeug ins Telefon und brachte alles durcheinander. Nach dem schwierigen Anlauf verstand sein Gesprächspartner dann aber doch den Grund des Anrufes. Über Markus Ankunft war anscheinend niemand informiert. Für einen Moment war es still in der Leitung. Sein Gesprächspartner aus dem Wohnheim bat ihn einen Augenblick zu warten und den Hörer nicht einzuhängen. Kurz darauf nahm der Heimleiter persönlich das Telefonat entgegen. Er war offenbar auch nicht über Markus Entlassung informiert worden. Weil er noch so jung sei, zeigte sich der Heimleiter, der Herr Direktor des Hauses gnädig und gestattete ihm in das Büro zu kommen. Bei seiner Entlassung hatte man ihm gesagt, dass er sich bei der Ankunft in München keine Sorgen zu machen bräuchte, da er vom Fahrdienst des Wohnheims abgeholt werden würde. Telefonisch wurde ihm der Weg zu dem Pasinger Männerwohnheim geschildert. Er nannte ihn den Straßennamen, die Straßenkreuzungen und mit welcher Trambahn er fahren musste. Ein Verfehlen des Wohnheims schien daher unwahrscheinlich. Zwar kannte er keine dieser Straßen, Kreuzungen oder Straßenbahnlinien aber wenn es ihm doch gesagt wurde, wird es schon stimmen und machte sich auf den Weg.
Ein Wohlstandswunder voller goldener Verheissungen tat sich für ihn auf, als er durch die Strassen schlenderte. Auto an Auto und ein Geschäft neben dem anderen. Dazwischen Bars und Restaurants, Glückspielhallen und Biergärten in Hinterhöfen. Markus war von allem so beeindruckt und kam aus dem Staunen nicht raus. Dabei bemerkte er nicht wie ihm die Zeit davon lief. Aus der gänzlichen Vergessenheit der Realität erwachte er, als das Blaulichtflackern einiger Polizeiauto in der Dämmerung sich in den Schaufenstern der Geschäfte widerspiegelten. Markus hatte keine Ahnung wo er sich befand. Weder eine Bushaltestelle noch eine Anhalteinsel der Trambahn war in Sicht. Darum versuchte er per Anhalter das Wohnheim zu erreichen. Nach längerem Warten nahm ihn ein Autofahrer mit. Der Chauffeur erkundigte sich genau bei seinem Trampergast nach dessen Ziel. Während Markus auf dem Rücksitz Platz nahm hantierte der Fahrer unter dem Armaturenbrett herum und meinte nebenbei, dass er eigentlich Feierabend hätte. Er schaltete sein Radio ein, in voller Lautstärke ertönte die Musik aus den Lautsprechern. Auf dem Rücksitz konnte Markus sich kaum noch gerade halten wenn der Fahrer das Tempo drosselte und dann wieder kräftig Gas gab. Das Ziel ist erreicht schrie der Fahrer. Schaltete das Radio aus, ein Gerät das einer Uhr ähnelte ab und bat um Markus zehn Mark. Markus fand das sehr merkwürdig.
Der Fahrer war von kräftiger Statur und Markus Nervenkostüm reichlich strapaziert. Um keinen Ärger zu bekommen, bezahlte er mit dem einzigen Schein den er besass und freute sich, dass er trotzdem noch ein paar Mark zurück bekam. Der Fahrer nannte es Wechselgeld. Markus stieg aus und wusste nun was ein Taxi ist. Stand ja auch „urplötzlich" unübersehbar auf dem Dach des Autos. Mit seiner Tüte und Karton stand er nun vor dem Männerwohnheim. Durch ein beschädigtes Gartentor ging er die Stiegen zum beleuchteten Treppenaufgang auf der Rückseite des Hauses hinauf. Am Eingang der Pforte meldete er sich mit seinem für ihn noch ungewohnten neuen griechischen Namen. Der teilnahmslose, ungepflegte bärtige Mann, der mit dem Lesen einer Zeitung beschäftigt war, verwies ihn gähnend in den finsteren Vorgang an die erste Tür rechts. Als er vor der Tür stand vernahm er ein energisches Wortgefecht. Neugierig was da drin vor sich ging, lauschte er. Nach längerem Hin und Her hörte er wie sie sagten „Die Polizei geht von einem Selbstmord aus, schliessen aber einen Unglücksfall nicht aus“.
Erschrocken über all das Gehörte kam Markus ins Grübeln. Er begann sich Gedanken darüber zu machen, als würde ihn nun ein Urteil über sein Schicksal, Glück und Leid erwarten.
Während er die Kritzeleien an den Wänden mit besonderem Interesse begutachtete, musterte er die vorbeigehenden Typen, in der Hoffnung einen passenden Freund kennen zu lernen. Ungeduldig verweilte er im Gang und wartete auf das öffnen der Tür. Aus Langeweile knickte er in den Töpfen auf dem Fensterbrett die Blumen um. Endlich riss einer der Herren die Tür zum Büro auf. Eine sanfte Stimme bat Markus einzutreten. Vor Angst etwas falsch zu machen zitterten ihm die Knie. Nach einem kurzen Gespräch hatte er die Gewissheit in dem Wohnheim bleiben zu dürfen. Mit der Aufnahme im Wohnheim, empfand Markus das Gefühl gerettet zu sein.
In geradezu väterlicher Herzlichkeit führte der Heimleiter den Neuen in ein Fünfbettzimmer, dass Markus mit drei anderen Mitbewohnern teilen sollte. Zwei der Betten waren zusammengeschoben und von mehreren Schränken umstellt, so dass dadurch ein separater Eckraum in den nicht sehr geräumigen Zimmer entstand. Markus Schlafnische lag abgegrenzt von den anderen, direkt am Fenster.
Durch die verstellten und umgestellten Kleiderschränke entstand ein abgeriegeltes Reich der anderen und es gab nahezu keine Kontaktmöglichkeiten.
Spät in der Nacht lernte er seine Zimmergenossen kennen. Sie waren neugierig auf den fremden Eindringling aber auch verärgert darüber, dass sie gestört würden. Rocker und Joe, so nannten sie sich, gaben ihrem Unmut deutlich Ausdruck. Beide bemühten sich Markus ihre eigene Hausordnung klarzumachen. Anpassung war hier gefordert. Gegen zehn Märker in der Woche, geniesse er dann ihren ganz persönlichen Schutz. Eingeschüchtert von dem drohenden Gehabe der Halbstarken gab er sein Einverständnis und wurde somit ein geduldeter Mitbewohner am Rande ihres Reiches.
Joe war sehr gastfreundlich, bot Markus ein Getränk an und bezog ihn in die seltsam anmutenden Gespräche ein. Bei gedämpftem Licht und leiser Musik sassen sie beisammen. Vertrauensselig prahlten sie vor Markus mit ihren Schandtaten. Stolz erzählten sie von lebensgefährlichen Unternehmungen. Joe und Rocker erwähnten das demolieren von Telefonzellen, das Zündeln in Bars und das Aufbrechen von Autos. Ihren eisernen Mut bewiesen sie angeblich bei Raubüberfällen in Parkanlagen auf alte Frauen, Touristen, Camper, Nutten, Penner und Schwule. Grosskotzig erzählten sie vom Nachtwächter der, als sie ihn fertig machen wollten um sein beschissenes Leben flehte. Wie sie einer warmen gepuderten Trine ihrer Kleidung und Geld entledigten und sie dann splitternackt in der Nacht durch die Straßen von Schwabing jagten. Für diese zwei schien das eine ganz normale Unterhaltung zu sein. Ihnen war es scheissegal, was sie damit anrichteten. Hauptsache sie hatten ihren Spass. War dabei noch Geld herauszuschlagen um so besser, prahlten sie lachend. Markus brachte vor Entsetzen kein Wort über die Lippen denn er sah sich selbst in der Falle. Die Narben und Tätowierungen an den Händen seiner Zimmerkollegen sprachen Bände. Begeistert zeigten sie auf Arm- und Schulternarben, Bisse eines Mädchens das versuchte, sich gegen eine Vergewaltigung zu wehren. Eine kleine Unebenheit an Joes Nacken entstand versehentlich, als er versuchte einer „Ausländersau" das Messer in den Bauch zu stossen. Die Nazis hätten früher einfach zu wenig Gasöfen für dieses Pack aufgestellt meinte Joe vergnügt und erzählte einen Witz. Ein deutscher Autofahrer sieht eine Ratte und einen Ausländer die Straße überqueren. Bei der Ratte gab es eine Bremsspur. Beide ballten die Fäuste, berührten sich bestätigend und einer von ihnen gab zum Besten, dass es eine deutsche Eiche doch nicht erschüttere, wenn eine verdreckte Wildsau sich an ihr rieb. Nach all dem ernannten sie Markus zu ihren Kumpel und erliessen ihm die Schuld an Schutzgeld unter der Bedingung seiner Verschwiegenheit. Dadurch gehörte er jetzt dazu, war jedoch noch kein Vollmitglied dieses Rocker- und Joeclans. Unruhig begab Markus sich in die Ecke seines Bettes und lag viele Stunden wach, malte sich aus was wohl in den kommenden Tagen geschehen würde.
Eines Morgens informierte Markus seine Zimmerkollegen, dass er in die Stadt gehen wolle.
In Wahrheit wollte er nur zu einem kleinen Krämerladen ganz in der Nähe des Wohnheims. Nirgend wo anders traf er so freundliche Menschen wie hier. Da es weit und breit der einzige Laden in der Gegend war, florierte dieser entsprechend gut. Der Inhaber hatte keine Probleme damit, die Bewohner des Wohnheims auch mal anschreiben zu lassen. Gaben doch einige der jungen Männer eine Menge Kröten für Bier, Weinbrand, Liköre, Tabakwaren und Lebensmittel aus. Der Besitzer brauchte nicht zu befürchten, dass gemachte Schulden nicht beglichen werden würden. Die Rückzahlung von Schulden war für kleine Gauner eben Ehrensache. An diesem Krämerladen konnte man an Werktagen nach Feierabend, an Sonn- und Feiertagen und sogar zur Nacht, um welche Zeit auch immer anklopfen. Niemals hörte man ein Murren oder böses Wort von der Familie. Sie waren einfach nur da! Bei so viel Freundlichkeit, war es eine besondere Ehre für diese Geschäftsfamilie arbeiten zu dürfen. Bei der Auswahl ihrer Hilfen aber war die Krämerfamilie wählerisch. Den stellenlosen Markus, der immer gepflegt erschien aber noch sehr naiv war, erfüllte es mit Stolz seine Arbeitskraft für einen Lohn von Naturalien zu tauschen. Die Tochter des Hauses verstand es ihn zu beturteln und Markus fühlte sich geschmeichelt. Deswegen bot Markus unzählige Male seine Hilfe zum auszeichnen der Ware an. So klein der Laden auch war, gab es dennoch enorm viel zu tun. Das schüchterne Fräulein des Hauses lehnte sein Angebot stets mit einem deutlichen Nein ab. Dabei fiel es ihr nicht leicht ihren Blick von ihm zu lassen. Jutta, so war ihr Name, war nicht dick, nur etwas pummelig. Ausserdem trug sie eine dicke dunkle Brille und hatte viel zu kurze kräftige Beine. Markus empfand es nicht weiter störend, dass sie ihn um wenige Millimeter überragte. Wenn seine für ihn zur Pflicht gewordene Anwesenheit nicht notwendig schien, versuchte er dennoch unersetzbar zu sein. All das tat er, um in ihrer Nähe zu sein. Allerdings war er sich nicht sicher, ob es sein Gefühl für Jutta war, das ihm so zu schaffen machte und nicht mehr zur Ruhe kommen liess oder sein Wunsch auch eine Freundin zu haben.
Er und ein Mädchen! Für ihn unvorstellbar. Vielleicht wollte ihm das Leben einen neuen Weg weisen. „Er und ein Mädchen", überlegte er hin und her. Als er Jutta das erste Mal einen Kuss auf die Wange geben durfte, genoss er diesen Spass. Der Sanftmut des Mädchens, stärkte sein Selbstbewusstsein, dass sein Leben wieder in Ordnung geraten könnte. Was ihre Figur betraf war aus der Sicht des Schneiders nur eine Frage der vorteilhaften Bekleidung. Mit naiver Aufrichtigkeit warb er um die platonische Zuneigung der rothaarigen blassen Jutta. Bald hielten selbst die Kumpels im Wohnheim die Dicke und Ihn für unzertrennlich. Dagegen schienen die Eltern von Jutta nicht begeistert, weil er weder ein regelmässiges Einkommen noch einen festen Arbeitsplatz geschweige eine eigene Wohnung hatte. Daher blieb es für Markus nur beim Wunschdenken.
Eines Abends unterhielt er sich mit seinen Zimmerkollegen über finanzielle Probleme. Ohne Geld gab es kein zufriedenes Leben, sagten die Kumpels und die wussten über das Leben bestens Bescheid. Besonders der Joe, hatte für alles eine passende Erklärung parat. Aufmerksam hörte Markus zu, kam aus dem Staunen nicht heraus welch eine Lebenserfahrung sie alle gewonnen hatten. Während sie von ihren Geldsorgen sprachen, keiner hatte einen richtigen Job, sagte Joe und glaubte einen Weg um an Geld zu kommen gefunden zu haben. Spontan fiel Gustav seinem Kumpel ins Wort. Joe verbot sich das lautstark. Alle sahen sich schweigend an. Als Neuling in der Runde verstand und begriff Markus nichts. Er sprach zwar die selbe Sprache der anderen, aber verstehen konnte er vieles nicht. Später erst kamen sie von einem Detail ins andere, so dass die gaunerhaften Gespräche zur wirren Unterhaltung wurden.
Aus Langeweile beschlossen sie gemeinsam eine Discothek in der City aufzusuchen. Auf dem Weg zur Trambahn begleiteten Albernheiten den Fussmarsch. An der Warteinsel angekommen stiegen sie der Tram zu und liessen sich flegelhaft auf den Sitzen zwischen den anderen Fahrgästen nieder. In sich gekehrt, horchte Markus auf die gleichbleibenden Geräusche. Sobald der Waggonführer eine erhöhte Geschwindigkeit erreichte, begann der Waggon zu schaukeln. Finstere Gedanken kamen in ihn auf, dass die Trambahn entgleisen könnte. Vom Hauptbahnhof aus gingen die halbstarken Jungs zielbewusst in die Nähe des Gärtnerplatzes. Auf Schritt und Tritt latschte Markus hinterher.
Selbst würde er sich nicht getrauen, etwas in der Stadt zu unternehmen.
An irgend einer orangefarben gepinselten Hausfront hielten sie, läuteten an dem Eingang eines nach aussen nicht erkennbar gekennzeichneten Insider-Clublokals. Eine gepflegte männliche Erscheinung mit der Duftnote einer Parfumerie, weichen Gesichtszügen, pechschwarz getuschten Wimpern öffnete die Tür. Vorsichtig öffnete der Türsteher, damit seine langen rot lackierten Fingernägel nicht unnötig in Mitleidenschaft gezogen werden. In überschwänglicher Freundlichkeit bat er die Jungen herein und führte sie durch den duster beleuchteten mit grossen Spiegeln ausgestatteten schmalen langen Korridor, vorbei an der Garderobe in den Barraum. Perfekter Sound berieselte sie angenehm und wuchs zu ohrenbetäubendem Lärm. Die sehr lockere Art seiner Kumpels im Umgang mit dem Personal machte Eindruck auf ihn. Für Markus gab es keinen Zweifel. Rocker und Joe waren mit diesem Milieu bestens vertraut. Markus befand sich nun in einer Nachtbar, die anscheinend ausschliesslich von homosexuellem Publikum besucht wurde. Etwas eingeschüchtert sass er in der aufpolierten Spiegelnische, ohne auch nur ein Wort von sich zu geben. Er starrte etwas bedrückt in den Raum, sah einigen beim Tanzen und ungehemmten Austausch von Zärtlichkeiten zu und beschloss, dass er sich nicht damit abfinden könnte und niemals Teil dieses Aussenseitertums werden wollte. Im Stillen dachte er für sich: „In der Jugendanstalt war er doch nur Heimschwul", was anderes war das doch nicht! Während andere sich amüsierten, konnte Markus sich aus seinen Ängsten nicht befreien. Die für ihn unbekannte Atmosphäre, tat ihm anderseits auch wieder gut. Mühelos flüchteten seine Gedanken in seine Scheinwelt. Obwohl das Lokal sich füllte und die anwesenden Gäste sich so drängten, dass zum Umfallen kein Platz war, verharrte Markus in seiner eigenen kleinen Welt. Vielleicht begleitete er Jutta aus dem Krämerladen auf irgend eine einsame Insel. Aber noch einsamer unter vielen Menschen zu sein, schaffte wohl nur ein Melancholiker. Joe stützte den Arm auf Markus Schulter und versuchte mit ihm ins Gespräch zu kommen. Sein Versuch sich mit ihm zu unterhalten war vergebliche Mühe, da er sich ständig in geistiger Abwesenheit befand.
Befremdet nahm Markus den immer locker werdenden Umgang unter den Männern mit ein wenig Neugierde zur Kenntnis. Zur schrillen Begrüssung wurde Bekannten an die Wäsche gegangen. Küsse und Berührungen ausgetauscht und klamaukhafte Worte gewechselt. Einige schwiegen sich in dem Lärm an, oder standen hochmütig herum.
Arrogantes Gehabe war überwiegend ein Markenzeichen der Schwulen, wie Markus feststellte. Er bemerkte nicht einmal den neuen Gast, der sich an den Tisch gesellte.
Vorgesehen war dieser Ecktisch für einige Stammgäste, aber inzwischen war er mehr zum Stehtisch und Abstellplatz von leeren Gläsern und Getränken anwesender Besucher geworden. Gelegentlich stellte sich der neue Gast am Tisch, um endlich von den anderen wahrgenommen zu werden, mehrmals vor.
Sprachbarrieren im Treibhaus der schnellen Begegnungen erschwerte zwar eine Verständigung, aber Blicke verrieten, dass es nur um das Eine geht. Die Körpersprache und die teilweise doch recht enge Tuchfühlung der Tanzpartner erleichterten vieles.
Wobei Markus auffiel, dass Tanzwütige junge Leute im nächtlichen Disco-Tempel das Zepter ungern aus der Hand gaben. Die auf jung getrimmte suchende Klientel, die für rauschende Feste ansprechbar war, schien schnell bereit, für etwas Spass und Zweisamkeit zu bezahlen. Das Zusammensein auf Zeit, barg etwas Unerträgliches in sich. Nur die Jugend nahm sich das Recht raus Zärtlichkeiten in Anspruch zu nehmen.
Den Wert eines Menschen bestimmte in der Szene allein die Fassade und die erotische Ausstrahlung einer Person. Wenn das Erscheinungsbild des begutachteten Objekts die Phantasie des Älteren anregte, die magische Anziehung eines jungen Körpers entsprach, stieg der Wert der Person.
Markus verstand nicht, warum ältere Szenenschwule gleichgesinnte Senioren so widerwärtig niedermachten. Für ihn hatte es mit der Würde des anderen, nichts mehr zu tun. So wie sie ihresgleichen für wertlose Scheintote vor neugierigen Zuschauer unterhaltsam brüskierten, so sägten betuchte Gruftis der so intelligenten Elite an dem eigenen Ast, auf dem sie sassen. Der Jugendwahn war ihnen heilig, koste es was es wolle. Knackiges Fleisch für Stunden sein Eigen zu nennen beflügelte die Wahnvorstellung mit jedem Orgasmus, könnte die Zeit zurück geschraubt werden, um sich sein angeblich jüngeres Aussehen zu bewahren.
Junge Leute blieben allerdings gerne unter sich und lebten oft abseits der Szene ein stink normales Leben, denn auffallen konnte sich kaum einer erlauben.
Geheime Fantasien ohne Worte auszuleben wurde in jedem Schwulenlokal reale Wirklichkeit.
Blicke trafen sich und gaben dem ausgewählten Zielobjekt zu verstehen, dass sie sich in bedingungsloser Vertrautheit erleben könnten. Nach diesem Sodom und Gomorra in dunklen Räumen wusste jedoch keiner, wer was mit wem getrieben hatte. Diese Erlebnisse wurden oft von Tripper und Herpes gekrönt. In der Phase der Besinnung wurde Markus so richtig bewusst, wie frustriert und leer die Zeit danach war. Markus zog sich selbst einige Male irgend eine Geschlechtskrankheit zu, deshalb mied er stets diese Dunkelräume.
Auf dem Heimweg nach Pasing, entdeckte er am Rande der Straße ein Toilettenhäuschen vor einer Parkanlage in der Männer umher spazierten. Für ihn war klar, hier trafen sich Schwule.
Er liess es sich nicht nehmen und stellte sich lässig an eine beleuchtete Laterne. Unter dem Lichteinfall konnte er sich sicher sein, dass ausschliesslich Gleichaltrige sich im Lichte zeigen. Wohl war ihm dabei nicht.
Sein Blick verfolgte einen dunkelhaarigen Typ, der mehrmals zu ihm rüber sah und sich in seiner Nähe an einem Baum lehnte. Von Anfang an beschlich Markus das Gefühl, von diesem Kerl ebenso interessiert beobachtet zu werden. Von Minute zu Minute näherte sich der Unbekannte. Nervösität plagte Markus, denn von seinen moralischen Vorsätzen schien nicht mehr viel übrig geblieben zu sein. Je näher der Fremde kam, desto mehr verspürte er gedankliche Zuneigung im erotischen Sinne. Zuerst aus Angst und dann aus Sympathie. Es dauerte nur wenige Sekunden und sie standen sich von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Stumm berührten sich beide, nahmen sich an die Hand und wortlos verschwanden sie im Gebüsch. Keiner kannte den Namen des anderen und doch waren sie sich so vertraut und liessen ihre Fantasien walten und schalten.
Immer noch bedurfte es keine Worte und sie befummelten zärtlich ihre Körper.
Trotz der Verschwiegenheit fühlten sie für einander Zuneigung und erwarteten mehr vom Leben. Zumindest in ihren Gedanken schlummerte der Vorsatz künftig füreinander da zu sein.
Im Wesen waren sie sich irgendwie ähnlich. Beide waren noch jung, doch innerlich vereinsamt, verlassen und jeder auf seine Weise immer wieder, sprachlos auf der Suche nach Geborgenheit.
Ihr Wesensunterschied lag in der Mentalität.
Die Mentalität des Einen war das Erobern und das Eroberte zu beschützen, der Wille und der Drang die Leidenschaft bedingungslos auszuleben.
Die des anderen war Hörigkeit, die masochistische Neigungen in der verschwiegenen Vertraulichkeit mitspielen liess. Zusammen flüchteten sie in die Dunkelheit der Nacht, die sie in einer billigen Absteige-Pension verbrachten. Erst bei der Anmeldung ergab es sich immerhin, dass einer vom anderen den Namen erfuhr. Das Zusammensein war am frühen Morgen von niedlichen Wortspielen bestimmt worden. Beide wussten in diesem Moment, dass sie sich öfter treffen werden.
Ismet galt in seinen Kreisen und Umfeld als Sonderling. Seiner Kultur, aus der er stammte wusste er kaum etwas abzugewinnen und hatte keine Kontakte zu seinen Landsleuten. Allerdings war er von deren extrem strengen Bräuche begeistert. Verschlossenheit zeichnete den unauffälligen, natürlichen sportlichen Männertyp aus, der die andere Seite des Lebens auskostete. Der in Murkus Augen wunderschöne Mann betonte immer wieder, dass er nicht schwul wäre, sondern rein zufällig im Park war und nur aus Sympathie sich seiner annahm. Markus jedoch bemerkte sehr schnell, dass der selbstbewusste schöne Mann es liebte, wenn ein Jüngling sich in ihn verliebte.
Bald stellte sich heraus, dass Ismet brutal war und über eine Portion krimineller Energie verfügte und die Gabe im richtigen Moment, nach selbst vorgegebenen Richtlinien wie ein Kämpfer, den man zu fürchten hatte zuschlug. Trotz des weichen Kerns ihn ihm, genoss er es wenn andere vor ihn Respekt hatten.
Die Schwulen aus Parks und öffentlichen Toiletten kannten ihn vom sehen, als unberechenbaren oder seltsamen Einzelkämpfer. Was er lieb gewonnen hatte wurde verschont. Für den streng gläubigen Moslem war die sexistische Subkultur der Schwulen stets ein Dorn im Auge.
Hierzulande waren für ihn die meisten Menschen, mit wenigen Ausnahmen schlecht. Die Freiheit, ein Geschenk des Allmächtigen wurde so missachtet und entwertet. Überall lauerte die vernichtende Sünde, war seine Überzeugung.
Seiner Meinung nach, waren es die Frauen, die stets den Verstand der Männer manipulierten, negativ beeinflussten und damit soviel Unheil anrichteten. Diese politische religiöse Weltanschauung musste Ismet mit sich selbst austragen. Mit der Zeit wusste Markus der ohnehin an nichts mehr glauben konnte, und für politische Themen keinerlei Interesse zeigte, dass auch Ismet ein Gestrandeter ohne festen Platz im Leben war.
Markus glaubte von sich selbst, im Leben auch nur versagt zu haben.
Die Verbundenheit ihrer Zuneigung hielt sie zusammen. Dem unterschwelligen Spott den sie Zeitweise in ihrem Umfeld als Schwule ausgesetzt waren, konnte ihnen nichts anhaben sondern festigte ihre Bande füreinander.
Die Aufruhr ihrer Herzen machte sie oft blind ihr Glück zu leben. Die Körpernähe und das zärtliche Beisammensein verstrickte Markus immer mehr in die Abhängigkeit seiner Zuneigung zu Ismet. Markus haderte mit der Zwiespältigkeit seines Ichs und mit der Liebe. Warum ausgerechnet er so viele Probleme damit hatte, schien für ihn ein Geheimnis zu bleiben. Ismets Gedanken, den Geliebten bis zur absoluten Unterwerfung zu treiben, erfüllte ihn.
Die Lust der Liebe rechtfertigte jedes Verlangen abseits der Normalität. Auf diese Art sicherte sich Ismet Markus ergebene Treue, fern von schmutzigen Gedanken. Denn der Verstand der unverdorbenen Seele sollte von Neugierde auf anderer Sexualpartner verschont bleiben.
Für Ismet wäre ein Seitensprung undenkbar und das Fremdgehen seines Partners eine massive Verletzung seiner Ehre. Markus erlebte diese Zeit mit einem bitteren Beigeschmack in einer untergeordneten Liebelei.
In unerträglich stillen Stunden, dachte er an seine platonische Liebesbegegnung mit Jutta aus dem Krämerladen. Dass es mit ihr keine gemeinsame Zukunft geben konnte, hatte er gewusst. Vor Wochen hatten die besorgten Eltern von Jutta diese anbahnende Beziehung im Keim erstickt und zum Wohle ihrer Tochter den Umgang mit dem Heimbewohner strikt verboten. Sie setzten alles daran künftige Begegnungen der Beiden zu vermeiden.
Wenn Markus darüber nachdachte, stimmte es ihm traurig. Widersprüche im Leben kamen ihm vor, als habe das Eine mit dem Anderen nichts zu tun.
Im Augenblick war ihm sein Freund wichtiger und er hoffte, dass er im Wohnheim eine Unterkunft bekommen würde.
Doch vorerst blieb es beim täglichen Besuch. Die anbahnende Kumpelschaft zwischen Markus und den Mitbewohnern Joe, Rocker und Gustav wurde durch die ständige Anwesenheit Ismets gestört. Ohnehin reagierte der Ausländer mit Geringschätzung auf die Zimmergenossen seines Partners. Egal was für Probleme es gab, Ismet bereinigte alles mit noch grösseren Drohungen und emotionalen Aggressionen. So verging kein Tag wie der vorherige.
Markus wunderte sich, wie Ismet es schaffen konnte in der kurzen Zeit, offiziell Mieter des Wohnheims zu werden. Um sein Zweibettzimmer, dass er allein bewohnen durfte, wurde er von fast allen beneidet. Jetzt gehörte Ismet zum übrigen Gespann der Mitbewohner.
Beide schienen ihr heimliches Glück nun endlich ausleben zu können.
Zur Feier des Tages war es verständlich, dass sie einen Streifzug durch die Bars am Gärtnerplatz entgegen fieberten, in denen sie ihre überdrehte Stimmung ausleben konnten.
Erstmals genoss Markus, wie alle anderen in dieser Schwulenbar die Freiheit sich nicht verstecken zu müssen. In der damaligen Zeit war homophiles Verhalten in der Öffentlichkeit kaum möglich. Markus war überglücklich über diesen romantischen Abend mit Ismet und freute sich darüber von ihm trotz all seinen Schwächen angenommen zu werden.
Als sie gegen drei Uhr morgens in die Nähe des Männerwohnheims kamen, sahen sie schon vom weiten Blaulichter von Polizeiautos.
Markus empfand eine angespannte Unruhe, als er die Treppe hinauf in den Gang seiner Etage eilte. Sein Zimmer war nicht zugänglich, da die Herren der Spurensicherung ihre Arbeit ausübten. Aus dem Tratsch herumstehender Mitbewohner erfuhr er, dass es zu später Stunde eine kleine Schiesserei unter seinen Zimmerkollegen gegeben hatte. Auf Grund dessen beschlossen sie eine Etage höher in Ismets Zimmer zu gehen.
Auf dem Weg dorthin, alberten sie ausgelassen herum.
Sie hüpften einige Stiegen dem Treppenaufgang hinauf, wobei sich einer an den anderen klammerte. Um niemanden unnötig zu wecken mussten sie den langen Korridor vorbei an den Waschräumen entlang schleichen.
Ismets Zimmer sah auch nicht viel anders wie eine Pensionsabsteige aus. Die Schränke standen offen, die Wäschefächer waren leer und sein Koffer noch nicht ausgepackt.
Sie blickten sich an und waren sich sicher, dass ihren Verlangen nichts mehr im Wege steht.
Durch die Verliebtheit zu Ismet, verrannte sich Markus in eine Welt der Liebessucht.
Es kam jedoch bald alles anders für ihn. Die gelebte Romantik, kippte von einem Augenblick zum andern. Ermüdet bat Ismet Markus schon mal ins Bett zu gehen. Er verschloss die Zimmertür, das Kofferradio spielte leise Musik und er schaltete die Beleuchtung aus. In der Stille nahmen sie gegenseitig ihren Atem wahr. Ismets Prinzip war es das Feuer zu schüren solange es glühte. Die entfachte Leidenschaft liess nur Flüstern zu. Jede noch so unscheinbare Versuchung von Berührungen steigerte die Zuneigung für einander. Ihr hungriges Verlangen liess sie trotz Abkühlung der Gefühle von Ismet dennoch wieder ganz nah zusammenfinden. Die Sucht nach Liebe, machte sie übermütig. Ihre Fantasien steigerte die Begierde nach dem Auserwählten und lebten das „Mann" sein bis zum letzten aus. In der Sexualität hatten beide noch nie etwas annähernd ähnliches in ihrem jungen Leben erfahren. Alle Liebesspiele, die sie schon einmal in Pornofilmen gesehen hatten wurden ausprobiert.
Für Markus wurde es die Nacht unsagbarer Schmerzen. Kein anderer hätte die soeben gemachten Erfahrungen jemals wiederholt. In jener Nacht nahmen sie alles in Kauf und Ismet beschloss Markus als Sexualpartner niemals zu verlieren. Die Geschmacklosigkeiten der Lust hielt sie fest zusammen. Tage folgten an denen ihr Zusammengehörigkeitsgefühl alles erdenkliche überbot. Während für Ismet nur noch die Sexualität im Vordergrund stand hegte Markus immer noch Gefühle für ihn. Keiner wollte dem anderen mehr aus dem Sinn gehen, der eine aus sexuellen - der andere aus emotionalen Gründen. Im Laufe der Zeit stellte sich heraus, dass Worte und Taten nicht stimmig waren. Diese Verbundenheit begann wegen unnötigen Streitereien schon kurz darauf zu bröckeln. Verloren sie sich durch die Arbeit oder durch andere Freizeitinteressen aus den Augen, waltete die Eifersucht. Immer häufiger bezichtigte einer den anderen der Untreue. Ismet erwartete genaueste Berichterstattung von Markus. Zwischen ihnen entwickelte sich eine Hölle des Misstrauens.
In den wenigen Wochen des Zusammenseins steigerte sich Ismet in die Wahnvorstellung, Markus gehöre nur ihn.
Kleine Geringfügigkeiten reichten schon aus, um heftige Streitereien heraufzubeschwören. Provokativ fand er Markus enge Bekleidung, die bei dem „Gesindel“ tierische Instinkte wecken würde, mutmasste Ismet. Ertappte er Markus mit hautenger Garderobe, bestrafte er die bedingungslose Treue des Freundes mit Verboten und Anweisungen.
Verliess Ismet das Wohnheim, stellte er Markus mit Beruhigungsmittel still, damit er sein Bett während Ismets Abwesenheit nicht verlassen konnte.
Um sich zu entlasten, erklärte er anderen gegenüber, dass Markus bettlägerig sei und er ihn fürsorglich pflegen würde.
Dem Reinigunspersonal verklickerte er, dass der Kranke in den nächsten Tagen absolute Ruhe bräuchte und daher das Zimmer ein paar Tage nicht gewischt werden müsste. Sein Zimmer sei daher für die Putzkolonne tabu.
Für die Fürsorge, die Ismet ihn während seines Unwohlseins entgegenbrachte, war der kränkelnde dankbar. Markus liebte seine tiefe Stimme, seine Worte, denn seine türkische Muttersprache klang für ihn poetisch. Arbeit schien für Ismet ein Fremdwort zu sein. Um die Langeweile zu überbrücken, wollte er seinen kranken Freund die türkische Sprache, die für ihn die selbstverständlichste Sache der Welt war beibringen. Jeder Satz aus dem Mund seines Angebeteten klang wie orientalisches Jammern.
Verglich er Markus, mit einem kleinen schnurrenden Kätzchen, mit glänzenden weichen duftenden Haar und fröhlichen dunklen mandelförmigen Augen schmolz der Geliebte dahin und all sein Misstrauen schien einen Augenblick vergessen zu sein.
Der dunkelhaarige, schon in jungen Jahren an den Schläfen etwas ergraute Ismet, kannte die Gewalt und Brutalität des Lebens und trank dessen Wasser. Erzählte er darüber, nahm seine Mimik einen finsteren Ausdruck an und liess sein Wesen härter wirken.
Dabei musterte er sich oft im Spiegel und warf sich in verschieden Posen, wobei er seine maskuline Körperhaltung unterstrich.
Seine zweite Haut war eine schwarze Lederjacke mit Nietenbesatz, die er gerne vor dem Spiegel anzog. Dieses Lederbekleidungsstück verlieh ihm ein interessantes Aussehen. Aber Markus war das egal, denn er war vor Liebe so vernebelt und fand selbst einen Pickel an ihm noch erotisch. Ismet wusste von seiner Wirkung auf andere und mehr noch auf sich.
Von seinem Spiegelbild war er immer wieder aufs neue angetan. Zwischendurch schweiften seine Blicke auf die mit Fotoplakaten von Sportlern mit athletischen Körper in knappen Shorts, gezierten Wand. Er wollte ja kein Liebhaber von Sportlern sein sondern ihnen im Körperbau lediglich ähneln. Er liebte es seiner körperlichen Schönheit wegen, bewundert zu werden und der Freund ihm ohne Widerrede zu Füssen lag.
Dem Schlaf- und Aufenthaltsraum fehlte eine gemütliche Atmosphäre. Markus hielt sich öfter im Zimmer des Freundes auf, als in seiner eigenen Unterkunft.
Ismet war meist anwesend. An diesem regnerischen Vormittag strahlten seine Augen unberechenbare Kälte aus. So begann manchmal das Spiel des emotionalen Liebesentzug. Markus versuchte ihn dennoch zu berühren.
Seine Reaktion darauf, war ein eitles Lächeln des in verschiedenen Rollen schlüpfenden halbstarken Draufgängers. Ein Charakter der sich hin und wieder das Recht anmasste, sich in den Gedanken befähigt zu glauben über Tod und Leben zu entscheiden.
Er sass auf Markus Bettkante, nahm ein Kissen, legte es sich auf den Schoss, griff nach Markus Hand, presste dessen blassen schmalen Arm darauf und klopfte mit ausgestrecktem Zeige- und Mittelfinger seine kaum sichtbaren Venen ab. Mit einem in Alkohol getauchten Wattestückchen sterilisierte er die Hautpartie, dosierte eine Einwegspritze mit Beruhigungsmittel und nahm die Injektion vor.
Davon wurde Markus zunehmend geschwächt und verfiel eine Zeit lang in Dämmerschlaf. Ismet streichelte ihn mit der selben Hand, die den Vorgang ausführte, behutsam über den Kopf. Als vertreibe er seine innere Leere und empfundenen Einsamkeit und die Unordnung der bedrohlichen Langeweile des Lebens.
Während das Gefühl der Überlegenheit schwand, brach in Ismet zunehmend Unruhe aus.
Zögernd schob er einen Hocker an Markus Bett, liess sich darauf nieder und begann aus Sorge ihn zu schütteln und zu rütteln. Doch der Körper seines Geliebten schien leblos. Er zog ihm die weisse Bettdecke über das Gesicht, wie man es bei Leichen tat.
Wie in einem plötzlichen Wutanfall zog er den Hocker unter sich weg, warf ihn auf das unbezogene Bett daneben, um den Weg zum Kleiderschrank frei zu haben. Er riss die Schranktür auf, die nur noch an einem Scharnier hing und beim Öffnen äusserst merkwürdige Töne von sich gab. Die Innenseite der Schranktür war ausser mit einem Spiegel mit diversen Fotos und zweifelhaften Sprüchen beklebt.
Hastig wühlte er darin, schob die Garderobe nach rechts, nach links, als würde er was bestimmtes suchen.
Die verchromten Kleiderbügel quietschten durchdringend auf der verrosteten Metallkleiderstange.
Als er seine Kleiderwahl getroffen hatte, begann er sich seinem Typ entsprechend umzuziehen. Anstatt eines Sakkos, zog er die schwarze Lederjacke über.
Ledergeruch empfand er als angenehm, denn es vermochte seine Psyche zu stärken.
Oft diente diese Lederjacke ihn als Kopfkissen, war oft Auslöser erotischer Fantasien und war immer und überall zugegen.
Strenger Ledergeruch entstand bei schlechter Witterung, besonders dann regte es sein sadistisches Empfinden sexueller Lustbedürfnisse an.
Ein Zurechtrücken der umgebundenen Lederkrawatte, ein kurzer Blick in den Spiegel, dann in die Brieftasche die er in der Innenseitentasche der Lederjacke griffbereit trug. Die Hausschlüssel entnahm er seiner auf den Boden liegenden blauen Jeans, die er gegen einer eng ansitzenden gewaschenen Jeans austauschte. Er sperrte das Zimmer hinter sich ab, eilte durch den langen Gang, blieb spontan stehen und kehrte hastig in sein Zimmer zurück. Er ging in die Ecke seines abgestellten braunen Koffers, öffnete ihn und packte alles was ihm gehörte eilig ein.
Es dauerte nur wenige Minuten.
Anschliessend verliess er den Raum ohne sich weiter um Markus zu kümmern.
Er floh geradezu aus dem Wohnheim und steuerte mit schnellen Schritten eine Telefonzelle an. Dabei übte er für sich einige Sätze in strengem aber nicht unfreundlichen Ton. Während des Selbstgesprächs erreichte er sein Ziel. Fasziniert von sich selbst, betrachtete er in dem spiegelnden Glas der Telefonzelle sein Äusseres. Ohne Zweifel war er ein gut aussehender, kräftiger junger Typ mit allen erdenklichen Attributen eines erotisch anziehenden Machos, der sich seines athletischen Körpers bewusst war.
Aber jetzt war für Ismet etwas anderes wichtiger, als Liebe.
Geld! Seiner Meinung nach waren andere für geregelte Arbeit besser geeignet als er. Die Zeit mit Markus hinderte ihn daran, seine Tätigkeit als Gelegenheitsdealer wahrzunehmen. Sein Geld war knapp geworden. Sich auf den Zufall eines Geldregens zu verlassen, entsprach nicht seiner Art, deswegen musste er handeln.
Er stieg mit seinem verkratzten mattbraunen Koffer in ein von ihm herbei gerufenes Taxi. Noch einmal wanderte er gedanklich zu Markus, fuhr wahllos durch die Stadt in die herannahende Citynacht, um eine Unterkunft zu organisieren.
In Ismets Zimmer, in dem Markus gekrümmt auf dem Bett lag, herrschte bei Tagesanbruch Totenstille. Die einzige in Frage kommende Person, die täglich ausser der Heimleitung zu den Räumlichkeiten Zutritt fand, war die schwerhörige Putzfrau.
Sie hatte viele Jahrzehnte Arbeit hinter sich. Mit Müllsack, Besen, Schrubber, Eimer, Wisch- und Staubtuch betrat sie das Zimmer von Ismet, in dem die Vorhänge zugezogen waren. Wenn Männer in einem Raum schlafen „stinkt es zum Himmel" murmelte sie vor sich hin.
Beim Laufen hielt sie hin und wieder ihre Hand an ihr schmerzendes linkes Hüftgelenk und drehte dabei den Kopf zur Seite. Sie warf beim aufziehen der Vorhänge einen Blick auf den Schlafenden und putzte sich zur muffligen Ecke hin.
Als sie in Markus dünnes blasses Gesicht mit den dunklen Augenrändern und den rissigen spröden Lippen blickte, erschrak sie.
Humpelnd und Hilfe rufend, eilte sie in den Gang raus. Aufgescheucht durch ihren Schrei versammelten sich arbeitslose Mitbewohner auf der Etage ratlos um sie. Schliesslich kam doch einer auf die Idee einen Krankenwagen zu bestellen.
Hauskumpels tratschten und wussten zu berichten, dass es sich bei Markus doch nur um einen Stricher und Rauschgiftsüchtigen handeln würde.
Genaueres wusste keiner so recht. Er war halt ein komischer Sonderling meinte einer. Ein anderer rief spöttisch dazwischen, der ist'n Warmer. Klatsch ist nicht nur eine Sache von Frauen, die Männer standen ihnen da in nichts nach.
Der Erkrankte wurde mit einer Transportliege von den Sanitätern abgeholt und in die Intensivstation einer Klinik verlegt, untersucht und ärztlich versorgt. Am nächsten Tag ging es ihm schon viel besser, so dass ein Gespräch mit dem Klinikpsychologen möglich war. Nach dem er sich von seinem Patient alles anhörte, riet er Markus nicht wieder in das Wohnheim zu gehen. Vielmehr legte er ihm nahe, zu seiner Mutter zurückzukehren. Es kann doch nur gut gehen, und nicht schlechter werden war der ärztliche Rat. Stirnrunzelnd grübelte Markus darüber nach. Trotz seiner pessimistischen Haltung kam er dieser Empfehlung, zu seiner Mutter zu fahren nach. Wenn er Anna auch nicht ausstehen konnte und sie ihm völlig fremd geworden war, so war es ihm zumindest in seinen Gedanken ein Versuch wert.
Vorbeischauen könnte er ja mal, zumal ihr Wohnort nicht weit entfernt war. So führte ihn der Nachhauseweg aus der Klink direkt zum Hauptbahnhof. Er löste am Schalter eine Fahrkarte, begab sich irgendwo auf dem Bahnsteig, nahm auf einer Bank platz, träumte sich in seine eigene kleine Welt und verkürzte sich somit die Wartezeit auf den Zug.
Von Kilometer zu Kilometer wuchs sein Unbehagen als er im Zug nach Dachau sass. Erschöpft starrte er durch das Fenster auf die Nebengleise.
Was wäre schon dabei, wenn der Zug entgleisen würde, dachte er wieder einmal. Er würde abspringen. Zeitig abspringen! Wenn der Zug in der Kurve nur umkippen sollte, weil er so schräg in den Gleisen liegt, dann würde er raus klettern. Einfach rausklettern. Ihm war so, als liesse sich der Zeitpunkt eines Unglücks erahnen. Der Dachauer Bahnhof kam immer näher und näher. Als Markus den Bahnsteig erblickte, konnte er kaum abwarten bis der Zug anhielt. Die Tür öffnen und abspringen, hätte er seiner Meinung nach in Sekunden geschafft, aber er wartete den Stillstand des Zuges ab. Dann rannte Markus durch den Bahnhofswarteraum zum Vorplatz der Straße, bestieg einen Bus von dem er nicht genau wusste, wohin er fuhr. Er fasste sich Mut und fragte den Omnibusfahrer. Der riet ihm, da es die gesuchte Straße doppelt gab, ein Taxi zu nehmen. Ein Taxi war schnell gefunden. Der Taxifahrer, ein kräftiger älterer Herr hörte sich sein Anliegen genau an. Da sich in der kleinen Stadt jeder kannte, wusste er auch gleich Bescheid. Er fragte nach den Namen der gesuchten Person und wusste sofort wer die „Anna“ war. Vom Taxifahrer erfuhr Markus, dass Anna im Asozialenviertel wohnen würde. Dieser Begriff war ihm geläufig. Doch der Fahrer sprach noch von einer Ranch, worüber sich Markus wunderte. „Auf einer richtigen Ranch?, fragte er nach“. Der Taxifahrer schwieg ein wenig, hielt am gewünschten Ziel und schaltete die Uhr ab. Er kassierte und deutete mit einer Handbewegung auf die davor stehende Holzumzäunung hinter dem anliegenden Wohnhaus. Markus stieg aus und ging ein Stück des Weges um das Wohnhaus. Nun bot sich ihm die freie Sicht auf die „Ranch“ drei kleine Holzbaracken. Die an der Einfahrt auf die Ranch stehenden Baracken hatten grün gehaltene Zimmerfenster und Verschläge. Auf dem kleinen Platz befand sich eine quer stehende Steinbaracke die ein Waschhaus für alle Ranchbewohner beherbergte. Die Barackenranch lag nahe den stillgelegten Gleisen neben dem militärischen Camp der Amerikaner.
Widerwillen verspürte er, als er vor Annas Haustür stand. Er holte tief Luft um das Gefühl des Unbehagens loszuwerden. Freude und zugleich Hass, gegen jene Frau die er in seiner Fantasie erstmals „Mutti“ nannte, stieg in ihn auf. Er klopfte an der ersten Tür des Eingangs. Einmal, zweimal.
Auf jedes Klopfzeichen kreischte eine tiefe Frauenstimme: „Raus, du Penner“!
Er wiederholte sein Klopfen und meldete sich laut und deutlich als Markus an. „Hau ab, verschwinde", wetterte die Stimme.
Langsam öffnete eine hässliche alte weisshaarige Frau, mit vielen tiefen Falten auf der Stirn und um die Augen, die Tür. Eine dicke Warze über der linken Augenbraue war nicht zu übersehen. Wenn das bis auf die Haut abgemagerte Muttchen zu sprechen versuchtem lief ihr triefend der Speichel über das spitze vorstehende Kinn. Beim Bewegen der Lippen um den Speichel zurückzuhalten blieb jedes Mal die Unterlippe an dem einzigen Zahn den sie noch hatte, hängen. Ihre Aussprache zu verstehen, war schwierig. Markus fragte nervös nach seiner Mutter.
Wütend spuckte die weisshaarige Frau an die Tür daneben und deutete mit gichtiger Hand in die Richtung von Annas Wohnung. Kreischend lief sie gegen die Zimmertür, in der sich Markus Mutter aufhielt und schlug mit dem noch gesunden Fuss dagegen. Der andere war bereits mit einigen bunten Kopftüchern verbunden.
Immer wieder brüllte sie stotternd an die Tür: „Hure, Hure"!
Hinter dieser Tür schien es am Tage hoch herzugehen. Markus vernahm aus dem Zimmer eine andere alte Frauenstimme, sowie verschiedene Männerstimmen, und es wurde gelacht, Gläser an die Wand geworfen und auch das Husten eines Rauchers war trotz der Lautstärke der Musik zu hören.
Etwas verwirrt wiederholte er sich vor der alten Frau, wen er eigentlich sprechen wollte. Einen Augenblick war die alte Frau still geworden. Plötzlich fiel er wieder ein, dass Annas Sohn zu Besuch war. Während sie jämmerlich versuchte Anna zum öffnen ihrer Türe zu bewegen, putzte sie sich mit dem Wollärmel ihrer Strickjacke ihre laufende Nase. Ihre von Arbeit gezeichneten Hände waren genauso dreckig, wie ihr Gesicht. Als sie mit ihren unförmigen Händen die fettigen herabhängenden Haarsträhnen aus der Stirn zur Seite schob, sah sie durch winzige Augenschlitze, genau so besorgt aus, wie beim öffnen ihrer Wohnungstür.
Die alte Frau bot ihrem Besucher als Sitz einen Metallkübel, auf dem ein kleines Brett mit eingeschlagenen rostigen Nägeln lag, an.
Nicht weit entfernt stand ein riechender Eimer, der ihr Nachts als Toilette diente.
Sobald im Nebenraum etwas zu laut gelacht oder gegrölt wurde, begann sie stotternd alle zu beschimpfen. „Versoffene Pottsau" wetterte sie ständig.
Sie erwähnte den alten Hurenbock vom Landratsamt, der seine genügsamen Ranchweibern mit dem Versprechen lockte, sie aus dem Loch rauszuholen, in den er ihnen eine neue und schönere Wohnung versprach.
Auf diese Weise hatte er jedes Wochenende sein Vergnügen, abwechselnd die Barackenschlampen der Ranch umsonst zu bumsen. Stotternd meinte sie noch, dass er auch vor den Kindern nicht halt machen würde.
Wütend und aufgeregt bat sie Markus um eine Zigarette. Er reichte ihr seine Packung Filterzigaretten. Sie nahm dankend an und zog aus dem fleckigen grauen Büstenhalter Papiere, Streichhölzer und Münzgeld heraus, um Platz für die Zigarettenschachtel zu machen.
Lallend erzählte sie traurig von ihrer Tochter, ihre einzige Tochter, von der sie schon eine Ewigkeit nichts mehr gehört hatte. Nicht einmal Erinnerungsbilder sind ihr geblieben. Alles habe sie verloren.
Endlich kam der Augenblick, wo Markus noch einmal erwähnen konnte, dass er der Annas Sohn sei. Sie blickte ihn stumm an. In ihrem verschmutzten Gesicht lag der Ausdruck von Mitleid, als sie das hörte. Entschlossen ging sie erneut an Annas Tür und rief Anni Anni dein Sohn, dein Markus ist hier. Plötzlich wurde es in Annas Wohnung mäuschenstill.
Eine kleine mollige Frau, deren Gesicht durch ein ausschweifendes Leben vorzeitig gealtert und verbraucht aussah, betrat das Zimmer der alten Frau. Beide standen sich nun schweigend gegenüber.
Markus hätte die ungepflegte Frau gerne umarmt, doch für ihn etwas unerklärliches hinderte ihn daran. Er fühlte nicht die geringste Spur einer Zusammengehörigkeit.
Sekundenschnell schlug die Hoffnung der Wiedersehensfreude in Ablehnung um. Vor ihm stand die Frau, die seinen Lebensweg so negativ bestimmt hatte. Jeder Versuch diesen Hass gegen sie zu lindern scheiterte von Anfang an, weil er wohl noch zu jung war und es ihm an Erfahrung fehlte. Da Markus nicht mehr ins Wohnheim zurück wollte, musste er versuchen das Beste aus dieser gegebenen Situation zu machen. Anna war für ihn eine Fremde geblieben und zu Fremden war er halt nur freundlich. Mit der selben Geste, mit der sie vor über einem Jahrzehnt die unzähligen angetrunkenen Männer empfangen hatte, bat sie Markus hereinzukommen. Sie betraten das Zimmer in dem Herrenbesuche sich amüsierten und wie Anna bereits angetrunken waren. In ihrer Art Männer anzumachen, war sie sehr direkt und vulgär. Auch in Anwesenheit ihres Sohnes versuchte sie zart spielerisch, zierlich und weiblich auf die Männer zu wirken. Dabei schlängelte sie sich um den niedrigen Tisch, an den Knien der Anwesenden vorbei, als bestände die Notwendigkeit, sich abstützen zu müssen und berührte einen nach dem anderen. In jugendlicher Unbefangenheit setzte sich Markus zu den anderen.
Schweigend sass er in der Männerrunde.
Die Situation war ihm peinlich, denn es gab nichts worüber Mutter und Sohn hätten sprechen können. Die Besucher umwarben das Weib, als sei zur Herbstzeit der Frühling ausgebrochen.
In angetrunkenem Zustand übten sich die alkoholisierten Geschöpfe im Sprüche klopfen, um ihre grossartige Potenz zu signalisieren.
Einer der beleibten Herren, war nicht davon abzubringen es mit offener Hose deutlich zu machen. Die Zahnlose Anna lachte über alles, dabei lief ihr der Speichel aus dem Mund.
Sobald ihre Lippen sich spannten, war ihr blanker Oberkiefer zu sehen. Dabei bedurfte es nur eine Drehung um an den Zahnersatz zu gelangen. Das gelbe Gebiss lag griffbereit hinter ihrem Rücken in einem verzierten Zigarrenkästchen zwischen Nähgarn, Stecknadeln und rostigen Nägeln.
Markus konnte nicht begreifen, warum diese relativ noch jungen Typen im Suff eine so unattraktive Frau als Abenteuergefährtin umwarben.
Angeekelt sah er sich im Raum um. Erinnerungen an frühere Zeiten wurden in ihn wach. An den Wänden krabbelten hin und wieder längliche Käfer. Einige davon klebten zerdrückt an der Wand, andere krochen flink hinauf oder hinunter.
Diese Kakerlaken nannte Anna wie früher „dreckige Juden" und in der Dunkelheit erschienen die Kakerlaken zu Hunderten. Markus gedachte jener Tage seiner Kindheit, als Anna ihn öfter einen dreckigen Juden nannte.
Nichts hatte sich an ihrem Wesen zu ihrem Vorteil verändert, stellte Markus fest, sie war lediglich äusserlich gealtert. Die Sprache war dieselbe geblieben. Lachend erzählte sie wiederholend, dass sie eine Fliegenklatsche vom Sozialamt für ihre dreckigen Biester erhalten hätte. Daher die „unzähligen" mit Blut verschmierten Fleckkleckse an der einst hell gestrichenen Papp Verkleidung der vier Wände. Tausende habe sie schon erschlagen oder mit dem Finger zerdrückt. Es wurden dennoch immer mehr. Damit erheiterte sie die Runde ihrer Jungs. Sicherlich trieben die Kakerlaken es zu toll antwortete einer der Anwesenden lässig und griff Anna unter dem Rock. Markus erkannte ihr hysterisches Gestöhne wieder, dass wie damals die Männer auch noch besonders amüsant fanden. Sein Besuch war längst in Vergessenheit geraten. Niemals könnte er bei Anna bleiben, dass war ihm klar. Er folgte dem spontanen Entschluss in das Wohnheim zurückzukehren. Ohne sie direkt anzureden, fragte Markus nach den Namen seines Vaters. Als Anna sich erhob, trat Markus sofort einen Schritt zurück, damit sie ihn nicht berühren konnte. So sehr ekelte er sich vor ihr. Es war nicht nur Verachtung, sondern längst blinder Hass, den er ihr entgegenbrachte und in ihm still dahin rumorte. Alle Frauen waren seiner Meinung nach vom gleichen Kaliber, anders konnte es nicht sein. Die Türklinke schon in der Hand, sagte er mit fragenden Unterton: mein Vater war wohl nach deinen Geschichten zu urteilen ein Jude. Verlegen mit stechendem Blick sah sie ihren Sohn an und schrie plötzlich: Verschwinde! Hau ab! Sofort folgte er dieser Aufforderung und glaubte die Verlogenheit die in ihr steckte zu erkennen. Allein schon die vielen Krankheiten, die sie ihm in seiner Kindheit angedichtet hatte. In all den jungen Jahren war er dadurch geprägt, nicht nur heimliche Krankheiten in sich zu tragen, sondern anders wie andere zu sein. Markus wusste nun, dass Anna weder seinen Vater kannte noch wusste sie, ob er ein Jude war. Sein Gemüt war von tiefer Traurigkeit belastet. Er hatte eine Hure als Mutter, der es offensichtlich egal schien, wer der Erzeuger ihres Kindes war. Bis ins hohe Alter war Annas Lebensinhalt die pure „Lust“.
Begangene Fehler interessierten sie nicht.
Markus schämte sich nachträglich dafür, dass er auf die üblichen Fragen von Ärzten und Behörden unwissend falsche Informationen, die seine Kindheit und angebliche Krankheiten betrafen, weiter gegeben hatte.
Auf dem Weg ins Wohnheim, überlegte er sich fieberhaft, wie er sich eine akzeptable Identität zulegen könnte, um sich aus seiner Vergangenheit der Verlogenheit zu befreien.
Es gab für ihn nichts schlimmeres, als nichts über sich selbst zu wissen.
Doch das Leben im Heim, hatte ihm die Weisheit vermittelt, dass es immer weiter ginge. Egal wie! Deshalb bestand für ihn kein Grund zur Sorge.
Um schwierigen Situationen aus dem Weg zu gehen, verdrängte er fast schon mechanisch zu seinem eigenen Schutz alles, als würde es ihn nichts angehen. Der Tanz auf dem Seil, das ziemlich dünn war, gelang ihm mit dieser Einstellung immer wieder aufs Neue.
Ohne diese Einstellung, hätte seine Seele schon längst über Licht und Dunkelheit, Leben oder sterben entschieden. Er flüchtete in seine Welt des Wohnheims und versuchte die Begegnung mit Anna auszublenden. Ernsthaft besann er sich, sein Leben neu zu ordnen und zu leben. Zögernd betrat er sein altes Zimmer und traf seinen Zimmerkollegen Joe an.
Markus gesellte sich zu ihm und beide hörten im Radio die Schlagerparade, in der gerade Markus Lieblingsinterpretin angekündigt wurde.
Joe zeigte für diese Musik kein Interesse und quatschte immer dazwischen. Markus dagegen empfand die zarte Frauenstimme belebend und aufbauend und fühlte sich von ihren Texten in den Bann gezogen. Diese beruhigende Stimme schien für Markus immer zugegen und entpuppte sich im Laufe der Zeit in seinem Leben zum Tröster seiner Seele.
Diese Sängerin aus Frankreich, war fortan das Idol seiner Gedankenwelt.
Er benahm sich nicht wie ein normaler Fan, sondern ihm genügte es, diese Stimme zu hören, von der seine Seele zehren konnte.
Vergnügt an die Wand gelehnt, auf seinem Bett sitzend, trank Joe einen Zahnbecher Wein in einem Schluck leer und gab nachdem er rülpste, erfundene Reisegeschichten zum Besten.
Atmosphäre im Raum nahm Joe äusserst wichtig und zündete eine Kerze an. Durch das Kerzenlicht erstrahlte die Zimmerdecke in einen besonders angenehmen Farbton.
Nebenbei erwähnte Joe, dass in dem Kurhaus in dem er längere Zeit gewohnt hatte, ausbruchsichere Fenster waren. Bei Föhn konnte man die Berge ganz nahe sehen und überhaupt zeigte sich dort die Natur meist von ihrer schönsten Seite. „Muss die Zelle aber schön gewesen sein", spöttelte Markus belustigend. „Leider hatte es am Zaster gefehlt, um länger in den Alpen zu verweilen", entgegnete Joe grinsend. Markus wusste aus Erfahrung, je schlechter man sich fühlte, desto schönere Geschichten malte man sich aus. Vier Tage Bunker bekam er damals aufgebrummt. Seltsam an seinen Erzählungen war, dass ausgerechnet er ständig das Opfer war. Mit der Zeitangabe nahmen sie es nicht so genau. Aus einem einzigen Tag, wurde schon mal eine Woche.
Mit Einbrüchen hatte Joe nichts im Sinn. Zu anstrengend! Sein Tätigkeitsfeld erstreckte sich auf Raub. Leise murmelte er: „Mit Beischlaf versteht sich". Neben des Beutezugs wollte er auch ein bisschen Spass haben. Was sollte er denn anderes machen, wenn er die Arbeit nicht erfunden hatte und die Kiste völlig verfahren war.
Keiner sagte etwas. Markus ging zu seinem Wäschefach und kramte seinen kostbarsten Besitz, eine runde schwarze Plastikscheibe, deren Rillen er sorgsam von allem Staub der Welt freihielt, aus seinen Klamotten hervor. Er machte das Auflegen dieser Schallplatte zu einer zeremoniellen Angelegenheit. „La nuit est sur la ville", dröhnte es aus dem Lautsprecher der Zehnwattbox. Joe gestattete Markus, die Platte auf seiner Musikanlage die Konzertqualität aufwies abzuspielen. Selbstvergessen folgten seine Augen der Saphirnadel den Rillen entlang.
Seit Monaten begleitete ihm die sanfte weiche Stimme, die sich für ihn immer wieder wunderschön anhörte. Von der französischen Sprache war er begeistert. Zwar verstand er kein einziges Wort, doch es klang so schön schnulzig in seinen Ohren.
Manchmal allerdings vermisste er den bayerischen Akzent in der französischen Sprache.
Bei dieser Lautstärke traute er sich mit seinem nerventötenden hohen Stimmchen zu singen, die jede Operndiva vor Wut, dass es so etwas unmusikalisches gab, aufgebracht hätte.
Einige Minuten lautstarkes Gegröle reichten und Markus fand sich wieder ein.
Joe suchte die Nähe seines Kumpels.
Markus tat es gut und soviel wusste er vom Leben, dass Nähe ein Mittel gegen die Einsamkeit, Verlassenheit und empfundene Leere zwischenmenschlicher Begegnungen war. Ein Weg, von dem sie nicht wussten, wohin er führte.
Verborgene Wunschvorstellungen begleiteten die Realität des Alltags.
Ihre gegenseitige Offenheit hielt sich in Massen und hatte keine verhängnisvollen Folgen, keine Verletzung des Stolzes, oder gar gegenseitige Auslieferung durch Leichtsinn.
Menschlichkeit, Zärtlichkeit und Freundschaft war für den einen wie für den anderen, der letzte Strohhalm an dem sie Halt fanden. In dieser Gemeinschaft der inneren Verbundenheit, existierte der Begriff schwul nicht. Ihre gemeinsamen Anliegen bestand im Austausch von Geheimnissen.
Vielleicht waren es Momente, die sie Glück fühlen liessen. Dieser so seltene Zustand der Gefühle, machte daher keinen Unterschied zwischen normaler und unnatürlicher Verhaltensweise. Dieses Gefühl verlieh Kraft und bewahrte viele vor dem totalen Zusammenbruch. Markus erkannte, dass seine Erkenntnisse keine Entschuldigung für die eigene Misere darstellte.
Sein schwules Verhalten, liess sich nicht mehr als jugendlicher Fehltritt abtun.
Damit zurechtzukommen fiel ihm schwer. Homosexualität galt allgemein als unheilbar. Der Wille, der heimliche Wunsch sich davon zu befreien, war vergebliche Mühe. In Wirklichkeit allerdings, hatte er sich mit seinem „Anderssein“ längst arrangiert.
Dennoch wuchsen seine Minderwertigkeitskomplexe ständig, krankhafte Angstzustände begleiteten ihn Tag und Nacht und Depressionen blieben nicht aus.
Unter dem psychischen Druck, den er sich aussetzte, festigte sich der Gedanke, ein kranker Verbrecher zu sein.
Jede Art von Not machte ihn erfinderisch. Schnell lernte er in andere Rollen zu schlüpfen.
Was lag da näher, als die Wesensart einer Frau recht und schlecht zu imitieren.
Innerlich bereitete er sich auf sein neues Spiel vor. Markus hatte ein perfektes Vorbild von Weiblichkeit, nämlich seine Lieblingssängerin, deren Stimme er sich ohnehin nicht mehr entziehen konnte.
Die Chansonette wurde zum Inbegriff der Vollkommenheit, zum Ideal und zum Schönheitsbegriff, deren Art er nach und nach versuchte, sich immer mehr anzueignen. Ausserhalb seiner vertrauten Umgebung begegnete man ihm mit Ablehnung. Markus bemerkte dabei nicht, dass er sich durch sein Verhalten und sein Auftreten selbst ins Abseits manövrierte.
Vielleicht war es für ihn zu diesem Zeitpunkt richtig, finanziell nicht in der Lage gewesen zu sein, sich als Transvestit zu verwirklichen.
Was auch immer er begann, alles war mit Überwindung und Zwang verbunden. Markus war eher introvertiert und kam selten mit anderen klar. Ihm fehlte jemand, den er sich anvertrauen konnte und der ihm andere Wege aufzeigte.
Doch er hatte niemanden, weder vom Hetero- noch vom Homolager.
Wenn er sich jemanden anvertraute, bedauerte man ihn, bis hin zur Gleichgültigkeit.
Negative Erfahrungen daraus festigten sich in seinen Gedanken. Markus versuchte daher persönliche Kontakte zu anderen Menschen zu meiden. In dieser frustrierenden Zeit begann er zu trinken.
Übermässiger Genuss von alkoholischen Getränken trieb Markus in Stricherkneipen, in die Arme mittelloser Freier, die statt bares oftmals ein Bratkartoffelverhältnis mit Übernachtung anboten.
Markus plante im Suff ein neues, sein zweites Leben zu finanzieren, um äusserlich wirklich einer Frau zu ähneln. Darin sah er die Chance seine schmutzige Vergangenheit hinter sich zu lassen. Durch seine Naivität und sein knabenhaftes Aussehen, fand sich immer wieder ein Interessent ermutigt, ihn für den Schwulenstrich salonfähig zu machen.
Dennoch kam Markus glimpflich davon, was wohl an seiner monogamen Lebenseinstellung lag. Sein Glück war es an Freier zu geraten, die kurzfristige Beziehungen mit Unterkunft und Verpflegung anboten.
Den unschuldigen Eindruck den er machte, war ihm als Stricher manchmal hilfreich.
Markus wollte überall mitreden, aber er verstand es nicht sich einzubringen. Unsicherheit und Unfähigkeit prägte sein Leben und zeigten ihm die erbärmliche Alltagsshow eines Strichers.
Gewisse Praktiken kamen für ihn einfach nicht in Frage. Daher kam es mit Freiern selten zu einer zweiten Begegnung. Wer war schon bereit, für das vorgetäuschte Nichts zu bezahlen?
Seine Beziehungen zu den hilfreichen „Freiern“ endeten allgemein schon nach kurzer Zeit in Streitigkeiten, Aggressivität und Handgreiflichkeiten.
Als Gegenleistung erwarteten alle angeblich helfenden Hände, den geilen Strichjungen ohne Tabus.
Wann immer Markus der Boden unter den Füssen abhanden kam, weil seine Kontakte in die Brüche gingen, blieb ihm zur Not das Wohnheim. In der Hoffnung Ismet dort anzutreffen, zog es ihn immer wieder dort hin.
Nach den bisher gemachten Erfahrungen, entpuppte sich eine egoistische Art in ihm, lieb und nett zu sein, solange es seinen eigenen Interessen entsprach.
Zeitweise empfand er vor sich Ekel, weil er glaubte, seiner von ihm gehassten Mutter immer ähnlicher zu werden.
Aus diesem Grund wollte er das nötige Geld für kosmetische Operationen sparen, um zu verhindern, Anna ähnlich zu sehen.
Auch bildete er sich ein, mit einer Operation die Vergangenheit, seine Vergangenheit auslöschen zu können. Mutter und Geschwister existierten in seinem Leben zu diesem Zeitpunkt kaum. Die Tatsache, sich selbst nicht im Griff zu haben, war der Ausgangspunkt fur eine neue Identität, die er je nach Lust und Laune beliebig wechselte.
Für den Plan seines neuen Vorhabens benutzte er regelrecht seine Mitmenschen.
An einem wunderschönen sonnigen Nachmittag kam Markus auf die Idee, sich als Frau zu verkleiden und suchte erstmals in Begleitung von Joe ein Café in Pasing auf.
Alleine hätte er sich in dieser Maskerade nicht auf die Straße getraut.
Joe bestätigte ihn in seinem Rollentausch, in dem er ihn mit Pia ansprach und keiner bemerkte es, glaubte „Pia“ zumindest.
Pia vermied es andere anzusehen und direkt angesehen zu werden. Bald glaubte er von sich, wo sonst könnte ein Mann sich frei entfalten, wenn nicht hier in einem völlig normalen Café, in dem nur ältere Herrschaften verkehrten. In diesem Café hatte er nichts zu befürchten und fühlte sich pudelwohl. Im Fummel war das Leben für ihn angenehmer geworden. Allerdings waren dafür Kompromisse bis zur Unerträglichkeit nötig. Seine Füsse zwängte er in zu enge Schuhe mit Pfennigabsätzen. Das Laufen in zu engen Röcken hatte er geübt und tänzelte in kleinen Schritten voran.
Seine Schminktipps entnahm er aus Kosmetikzeitschriften. Sein eigenes Haar versteckte er vor fremden Blicke unter einer Perücke. Bei schlechten Wetter erwies sich dieses Ding sogar als Schutz vor Erkältungen. Unter strahlender Sonne hatte er das Gefühl, seinen Kopf in die Sauna gesteckt zu haben. Das Kunsthaar brauchte nach dem Waschen nur ausgeschüttelt werden und die Frisur sass wieder, deshalb war ein Figaro überflüssig.
Statt arbeiten zu gehen, beschäftigte er sich Tagsüber mit dem Schminken und übte bis zum Umfallen das Verkleiden.
Mit der Zeit wurde das Make-Up kräftiger aufgetragen, die Warenhauswimpern dichter und die Billigwässerchen preiswerter und intensiver im Geruch. Weil er sich seine Wässerchen nach eigener Idee zusammen mischte, war es für ihn preislich erschwinglicher.
Er schlenderte durch die Straße vor dem Bahnhof zum Treffpunkt der Verlassenen, die ihr Leben auf Umwegen lebten. Zwar lebte Markus nicht mehr unter den Obdachlosen, aber sein Weg führte immer wieder dort hin um sich selbst zu bestätigen, dass er für sich den richtigen Weg gewählt hatte. Ab jetzt wollte sich „Pia“ der übrigen Welt nicht mehr verschliessen.
Nicht Markus sondern „Pia“ hatte zunehmend Wahnvorstellungen, dass alle, aber auch alle, etwas von ihr wollten.
„Pia“ schreckte nicht davon ab, in Begleitung ihres Geliebten sich am hellichsten Tag auf dem Straßenstrich zu stellen. Die Maskerade einer verkleideten Schwuchtel auf dem Weiberstrich, hatte hin und wieder Unterhaltungswert. Sobald sich ein eventueller Kunde einfand und mit ihr sein Vorhaben aushandelte, gab es schon bei den ersten Verständigungen Schwierigkeiten. Pia lehnte dieses und jenes ab, und Freier bemerkten sehr schnell, dass sie es mit einem Mann zu tun hatten. Die Blutergüsse rings um ihre überschminkten Augenpartien zeigten, dass die Männerwelt dem Fortschritt noch gewaltig nachhinkte. Sein Geliebter, Joe aus dem Wohnheim der den Zuhälter spielte, war dieser Rolle nicht gewachsen. Ihm fehlte einfach die Übung. Denn, wenn Markus Probleme bekam, war Joe irgendwo hinter einem Gebüsch und beobachtete die Lage, wie sein haariges, kreischendes Mädel sich zur Wehr setzte. Markus kochte vor Wut. Nicht wegen der bezogenen Prügel von wütenden Typen, sondern über Joes Feigheit. Die Weiber des Straßenstrichs erlaubten den Transvestiten eh, nur am Ende des Weges in Richtung des Müllplatzes anzuschaffen. Achtsam beobachteten die Zuhälter der Nutten auf dem Wanderboulevard den Kumpel Joe und rieten ihm spöttisch, hässliche Töpfe auf dem Trödel zu verscherbeln.
Wieder bestiegen sie nach einem weiteren Misserfolg ein Taxi und verfielen ins Schweigen. Sie liessen sich über den Karlsplatz in Richtung Englischer Garten kutschieren. Dort spazierten sie durch die Grünanlagen in den Biergarten, wo junge Leute Zirkus-Kunststücke vorführten. Ein Clown zog die Aufmerksamkeit spielender Kinder auf sich.
Das Personal in Dirndeln und Trachtenanzügen unterstrichen das bayerische Flair in dem Biergarten. Die Gäste stemmten Bierkrüge, verwöhnten ihre Gaumen mit Weisswürsten, süssem Senf, Radis, Brezeln und gegrillten Schweinshaxen.
Markus fühlte sich wohl und vergass seine Verkleidung. Joe erwähnte leicht gereizt, dass er diese anscheinend so heile Familienwelt nicht traue. Markus liess ihn reden, er war längst in seiner eigenen Welt. Beiläufig antwortete er darauf: Nur untätige Hände waren des Teufels Machwerk, dass hatte er irgendwo gelesen. Über ihre Vorstellungen der gesellschaftlichen Werte waren sich beide uneinig. Der eine bevorzugte Neonlichtmentalität und kühle Nüchternheit, der andere emotionale Vertrautheit. In der Ansicht über diese Gesellschaft waren sie sich einig. Dieser Staat ist ein Selbstbedienungsladen des Abschaums, wofür sich niemand schämte. Der Egoismus kannte keine Grenzen. Das Spiessbürgertum verfügte nach Markus Ansicht, über eine verfeinerte Kriminalität, die nicht so wahr genommen wurde und keine Probleme mit sich brachte. In Wahrheit wäre er gerne ein Teil dieser Gemeinschaft gewesen. Kamen sie doch alle recht gut damit zurecht, und nur Verlierer philosophieren eben nun mal gerne über den Sinn des Lebens. Der Preis in einer nur auf den Vorteil bedachten Gesellschaft, lässt freien Raum für Randgruppen, ermuntert das Aussenseitertum und begünstigt Brutstätten der Kriminalität. Jedes noch so daneben geratene Individuum weiss, nur vor dem Tod müsste man Achtung haben. Markus fühlte im Inneren seiner Seele stets rege Hassgefühle. Der Groll gegen das eigene, so oft zu hart empfundene Schicksal, förderte Aggressionen und den neurotischen Selbstbestätigungsdrang immer jemanden an seiner Seite haben zu müssen. Solange er sich der Zuneigung eines Freundes sicher war, empfand Markus aussergewöhnliche Willensstärke. Die gegenseitige Zuneigung gab ihnen Halt und hinderte sie daran, völlig auf die schiefe Bahn zu geraten. Beide sassen sich im Biergarten gegenüber, tranken aus ihren Gläsern und beobachteten schweigend die Menschenmenge. Die qualmenden Zigaretten vermischten ihren Rauch in der schwül stehenden Luft. Auf geheimnisvolle Weise traf das Spiel ihrer Blicke aufeinander. Der Glanz in ihren Augen entlockte beiden ein zärtliches Lächeln. Unstimmigkeiten vergangener Tage waren vergessen. Markus empfand Joes Blicke liebevoller als sonst. Wundervoller Zauber schenkte jenes Lächeln, dass in jedem Frauenherz für gewisse Verwirrung gesorgt hätte. Für Markus war dies hier, unter all den fremden Menschen, ein ungewöhnlicher Augenblick, und vielleicht eines neuen Anfangs.
Bisher musste er noch nie um die Gunst eines Mannes werben. Er wusste, würde er im Leben einem Menschen begegnen, der ihm das Blut in Wallung brächte, wäre er für fast alle Schanddaten bereit. Markus wusste inzwischen aus Erfahrung, dass Liebeleien unter Männern nicht von Dauer waren. Deswegen wehrte er sich in lockeren Beziehungen dieser Art vor völliger Aufopferung. Joe beugte sich zu ihm, um ihn was zu flüstern gerade so weit, dass der vertraute Geruch des Freundes seine Sinne beflügelte und zärtliche Bedürfnisse des Zusammenseins heraufbeschwor. Joe spürte das Aufflackern von Schwermut in Markus, und es war für ihn wie ein Stich ins Herz. Denn gerade in dieser Verfassung liess Markus das lieb gewonnene und Vertraute oft im Stich, floh aus Verbindlichkeiten und jeder Verantwortung.
Für Joe war dieser Freizeittransvestit mehr als nur ein Freund geworden.
Es war nicht der Zeitpunkt, sich nur für ihn zu entscheiden. Markus fehlte die Reife. Keiner kannte des anderen wahres Gesicht, weil sie zu keiner Entscheidung fähig waren und jeder auf den anderen hoffte. Markus Mangel an klarer Erkenntnis, liess ihm nicht bewusst werden, wie sehr er die Menschen, die ihm wohlgesonnen waren benutzte und verletzte. Sein Charakter war vielfältig und verworren. Was ihn antrieb, war sein intensives Streben einen geraden Weg für sich zu finden und nicht zu wanken. Seelische Qualen wechselten sich mit Phasen der Trägheit ab. Markus kannte die Unzulänglichkeiten des Lebens, die nähere Kontakte zu seinen Mitmenschen fast unmöglich werden liessen. Sein Zustand glich oft einer x-fachen Steigerung seiner Übertreibungen von persönlicher Unzufriedenheit. Daher befand sich seine Seele stets auf der Flucht vor sich selbst und belastete andere mit seiner Ungeduld.
So wurde Joe ein Opfer seiner Launen. Beim gemeinsamen Verlassen des Biergartens im Englischen Garten, führte ihr Weg in die Wirklichkeit des Alltags zurück, in das Wohnheim.
Einige der Bewohner schwärmten in der Nacht aus, um jeder für sich auf seine Weise Geld anzuschaffen. Neuerdings zog es Markus öfters zu einer netten Dame, die er aus einer Schwulenbar kannte. Sie liebte es von schrillen Tunten „Kessi" genannt zu werden. Diese Höflichkeit Frauen gegenüber und Gentlemen Getue von Tunten, stärkte so richtig ihr Selbstbewusstsein. Die nicht mehr ganz junge Kessi versuchte verzweifelt einen Wiedereinstieg unter den Konkurrentinnen ihres bisherigen Clubs oder auf der Straße des horizontalen Gewerbes. Für sie gab es kaum etwas, was sie nicht schon kannte. Kessi war ein unbekümmertes Wesen und ihr langes Haar verlieh ihr ein nettes Aussehen.
Ihr Lachen klang meist sorglos und ansteckend lustig.
Die etwas mollige Kessi liebte einen jungen Kerl, der sich von ihr aushalten liess. Kessi hatte damit keine Probleme. Sie hatte sich den grössten Wunsch vieler Frauen erfüllt und ihrem Liebsten vor einigen Wochen einen gesunden, strammen Jungen geboren.
Wenn es zwischen Ihnen zu Streitereien kam, dann zweifelte er an seiner Vaterschaft. Von Beruf nannte Kessis Freund sich „Manager“ und plante für seine nicht angetraute Frau, eine baldige Rückkehr ins Bordell. Deswegen stellten sie die arbeitslose Freizeittunte Markus als Babysitter ihres Kindes ein.
Markus Job begann spät am Abend, wenn andere schon ans zu Bett gehen dachten. Kessi bewohnte ein bescheidenes Apartment in einer lebhaften Strasse von Schwabing, mit Ausblick auf das Siegestor.
Durch das vermieten seiner Wohnungen an die Couleur der Nacht, verdiente sich der Eigentümer eine goldene Nase.
Der noch relativ junge Besitzer mehrerer Apartments, war jedoch mit allen Wassern des Rotlichtmilieus einer Großstadt gewaschen. Wo auch immer er sich engagierte, brachte es ihm Geld ein.
In einem bekannten Schwabinger Friseursalon, den er sein Eigen nannte, wurden die schönen der Nacht bedient und gestylt. Seine Kundinnen nannte er liebevoll seine „Engel der Nacht“.
Hinter seinen Rücken tuschelte voller Neid so mancher Mitarbeiter der Belegschaft, über den strengen Chef der sich Lola nannte. Dieser Kosename war Zeichen und Inbegriff von Brutalität. An den Wochenenden lebte der Gigolo sein zweites Ich aus. Er gehörte zum harten Kern der Szene, der den Ton schwuler Geschäftsleute angab.
Dabei beschränkte er sich nicht nur auf die Kontrolle von Nutten, sondern auch auf einige ihrer „Beschützer“. Ein Schlägertrupp von modisch ausstaffierten jungen Typen standen ihm bedingungslos zur Seite. Etliche Zuhälter, die finanzielle Schwierigkeiten hatten, wurden in die Abhängigkeit des Geldgebers Lola getrieben. Damit festigte er seine Position, die seinem miserablen Ruf keinem Abbruch tat. Jeder der in seiner Schuld stand, war zugleich Mieter eines seiner Apartments.
Zu den ehrlichen Schuldnern gehörte James, der Geliebte von Kessi. Eine gutmütige Seele von Mensch.
Tausende von Mark lieh James sich des öfteren von Lola und verwirtschaftete es grosszügig, zahlte es aber meist sofort zurück. Oberstes Gebot war, Schulden an Freunde pünktlich zu begleichen. Manchmal konnte er seine Versprechen nicht einhalten, weil noch andere Gläubiger auf der Matte standen und Schulden forderten, die noch dringender getilgt werden mussten. Die Angst, die mitspielte, motivierte ihn immer wieder, an neue Geldquellen zu gelangen um Lola und seine Schläger zufrieden zu stellen.
In seiner persönlichen Unzufriedenheit reagierte James sich in seinem Hobby ab. Dem Zeichnen! Er entpuppte sich beim Zeichnen von einer anderen Seite und fühlte sich als ein verkanntes Genie der Aktmalerei.
Kessi stand für ihn oft stundenlang ausdauernd, niedergeschlagen und frierend am offenen Balkonfenster vor der wackeligen Staffelei. Stets begann das gleiche Ritual seines Rollenspiels mit dem Herunterreissen der Bekleidung.
Ihr winselndes Bitten um ein paar Schläge auf dem Po, beflügelte James Fantasie.
Er zeichnete sie mit Gänsehaut, verheilten Striemen, die ihre Blässe unterstrich. Das mächtige Fensterkreuz im Hintergrund diente als Kulisse und der Wind streifte durch Kessis hellblond gefärbtes Haar. Die nackte Schönheit wusste von den Eigenarten ihres Geliebten. In ihr sah er die Vollkommenheit und Inspiration seines künstlerischen Schaffens. Insekten zogen James magisch an. Seine Spezialität waren dicke Fliegen. Immer liess er in seinen Zeichnungen Frauen von diesem Viehzeug zerfleischen. Sah er seine Liebste vor der Staffelei stehen, zögerte er keinen Moment und zeichnete dicke fette Schmalzfliegen auf ihren Körper. Schmeissfliegen, die sich in der Küche über die Fressnäpfe beider Mischlingshunde hermachten, dienten ihm als Vorbild. Sobald ihm der Glanz der fetten Fliegen gelungen war, lehnte er sich in einem Sessel zurück und begann unaufhörlich die Frau, die er zu lieben vorgab, auf übelste Weise mit groben Worten zu beschimpfen.
An lustvollen Tagen, meist zur Nacht hin wenn James zum Spielen zu Mute war, durfte Markus der Babysitter das winzige Apartment aufräumen. Er musste den Säugling in die Toilette sperren und sich unter Androhung von Schlägen entkleiden und mit ansehen, was Kessi dem schlanken „Grossmeister“ für Gefälligkeiten erweisen durfte. Da James immer noch der Ansicht war, dass Markus sich das Schwul sein nur einrede, versuchte er Markus durch Anschauungsunterricht zu einer normalen Sexualität zu bewegen. Markus empfand Kessis schreiendes Gestöhne eher abstossend. Es war ihm einfach nicht möglich, Interesse daran zu finden. Rollenspiele die mit Gewalt zu tun hatten, kamen für ihn ohnehin nicht in Frage. Je unglücklicher sich Kessi fühlte, desto mehr stärkte sich James primitiver Kampfgeist, sie zu erniedrigen. Während eines solchen Schauspiels, dass Bühnenreif war, wunderte der Babysitter sich über die Dummheit hormongesteuerter Geister.
Sah Markus den Abschluss dieses Geschehens kommen, holte er den Säugling aus dem Duschraum und legte das Baby in Kessis Arme. Am Ende dieses Dramas folgten von James persönlich bemerkenswerte Ratschläge für den künftigen Lebensweg. Um ein richtiger knallharter Kerl werden zu können, müsste man sich seiner Meinung nach, die Weiber gefügig machen. Dreck müsse wie Dreck behandelt werden, schien seine Lebensparole zu sein.
Die Weiber stehen auf keine Weicheier! Erst dann ist ein Mann ein richtiger Mann und keine Memme.
Das war also das glückliche Zusammenspiel zweier Normaler, dachte Markus, der sich für die Enthaltsamkeit entschieden hatte. Ihm fiel die Entsagung nicht schwer. Daher bedurfte es kaum einer unsinnig, komplizierten Kraftaufwendung oder Anstrengung, die an Hochleistungssport erinnerte. Ausserdem wurde die Sexualität überbewertet und zu viel des Guten darüber gesprochen. Sex, das gähnende Proletenpflichtfach des Alltags.
Frauen akzeptierte er, doch mehr auch nicht. Er fand sie ausgesprochen langweilig und hatte bei all seinen Beobachtungen den Eindruck, dass sie sich niemals veränderten. Eine Frau bleibt immer nur Frau, zumindest in dem Milieu in dem er sich bewegte.
Allerdings hatte er Spass daran sie zu parodieren. Für ihn war es eine Möglichkeit sich nach all dem Schmutz vorzustellen, wie Frauen in seiner Normvorstellung in der Gesellschaft sein könnten. Markus vermisste die kräftigen Hände, zärtliche Worte und Geborgenheit, die er bei einem Freund fand. Würde er das Geld nicht so dringend gebrauchen, gäbe es nicht den geringsten Grund, auch nur eine Minute länger bei Kessi zu verbringen. Eigentlich widerte es ihn an, Nacht für Nacht wenn das Baby schlief, mit James auf der Straße zu stehen und im Hintergrund abzuwarten, bis sich für Kessi ein Freier einfand. Mit dem sie in die Büsche verschwand, oder zu einem Freier ins Auto stieg. Jede Fahrt hätte wahrlich ihre letzte sein können. Unter vierzig Mark, durfte sie in kein Auto einsteigen. Für James rechnete es sich sonst nicht, daher ein Festpreis. Farbige waren von dem hitzigen Vergnügen im Schnellverfahren ausgeschlossen. Er duldete für seine geliebte Kessi nur weisse Männer. Markus war angehalten, über die Anzahl der Kunden detaillierte Angaben für Kessis Überwachung zu machen. Ihr galt all seine Sorge, betonte James. Jüngere Kundschaft sah der Eifersüchtige bei seiner Kessi ungern. Da Markus Buchführung auch Angaben seiner Beobachtungen und Einschätzung über Freier beinhalten musste, hatte Markus auf dem Kontrollzettel auch junge Freier nur noch als ältere Kundschaft eingetragen, um zwischen Kessi und James unsinnige Auseinandersetzungen zu vermeiden.
James zeigte schon bald besonderes Interesse, Markus „Pia“ auf den Transvestitenboulevard zum Anschaffen zu schicken.
Dieser Boulevard fand an einer Ecke des Straßenstrichs statt, und bestand aus ca. drei Transen. James kündigte liebevoll an, ihn dafür noch zuzureiten. Um seine Pläne zu durchkreuzen, schmiedete Markus hinterhältige heimtückische Pläne gegen den Zuhälter James. Inzwischen hatte Markus einige Konkurrenten von James kennen gelernt und diese Kontakte besonders gepflegt. Jedoch der wichtigste Mensch in diesem Spiel, war für ihn Lola geworden, der für alle Bosheiten die seinen Geschäften schaden könnten zugänglich war. Für Markus hatte er stets ein offenes Ohr. Es blieb nicht bei einem Besuch, denn wo sonst käme Lola so schnell an Informationen. James war Lola längst ein Dorn im Auge geworden. Damit der aufsässige James keine Gefahr wurde, hagelte es Verwarnungen von Lola.
Markus lieferte weiterhin Informationen und waren die auch noch so unwichtig für ihn. Aus Furcht und Angst von James und seinen Kumpels wie eine Matratze zugeritten zu werden, beabsichtigte Markus, dass sein Verrat den Zuhälter James, das Rückgrat brechen sollte.
Eines Abends beobachtete Lola und sein Begleitschutz vor einem Spiellokal in der Bayerstraße merkwürdiges Verhalten zweier Herren, die unruhig hin und her gingen. jedes Mal, wenn sie einander trafen, wechselten sie einige Worte.
Aus dem Auto beobachtete Lola, wie eine Person durch eine andere getauscht wurde und Lola
konnte sich darauf keinen Reim machen. Die Infos von Markus über dieses Treffen entsprach offensichtlich nicht ganz der Wahrheit. James erschien nicht zu diesem Treffen. Lola wartete und wartete. Zehn Minuten später jedoch, erschien ein Mann, den Lola vorerst nur von hinten wahrnehmen konnte. In Lolas Wagen kam Unruhe auf. Nervös und coole begannen Lolas Schläger sich Zigaretten anzünden. Feuerzeuge klickten immer wieder, bis der Innenraum des Straßenkreuzers vernebelt war. Sie sahen sich an und waren sich einig. Gegen diesen Mann, der von der Statur her einem aus der Stadt gejagten Todfeind ähnelte, musste sofort gehandelt werden. Lola betrachtete sich wohlgefällig in der Spiegelung des Fensterglases, kontrollierte im Innenspiegel fletschend die Vorderzähne, prüfte die nach gezogenen Linien am Mundwinkel, presste die Lippen zusammen und streifte das Haar zurück.
Seine gepflegten, langen farblos lackierten Fingernägel fielen sofort auf. Seine kostbaren schweren Armreifen klickten bei jeder Handbewegung. Lola befahl: „Bringt ihn her".
Die vier Typen, deren Hände tätowiert waren, gehorchten ohne Widerrede.
Fast schon synchron in ihren Bewegungen stiegen sie eilig aus dem Auto. Gleichen Schrittes gingen sie auf den Mann zu, griffen ihn unter dem Arm und zerrten ihn an den anhaltenden Wagen Lolas. Sie öffneten die hintere Tür, drückten ihn auf den Rücksitz des Innenraums und stiegen hinzu. Mit quietschenden Reifen rasten sie davon. Einer von Lolas Schläger hielt dem unfreiwilligen Fahrgast eine Pistole an die Rippen und betonte mehrmals, dass die Waffe geladen sei. Als der unbekannte Fremde versuchte sich zu erklären, dass er die falsche Person sei, bekam er einen Faustschlag ins Gesicht. Der gekidnappte kam sich vor, wie in einem schlechten Krimi. Lolas gewünschtes Ziel war Kessis Appartement. Vor dem Appartement hupte er, bis Markus neugierig an das Fenster kam. Winkte ihn zur Strasse und fragte ihn nach neuen Informationen.
Verwundert sah Lola Markus an. Lola hatte den Verdacht, dass sich der Junge und sein Gefangener sich kannten. Doch zu seiner eigenen Verwunderung gab Markus den Herrn nicht preis. Spontan winkte Lola ab und fuhr wie ein Irrer davon. Markus wusste eigentlich nur, dass er den Gefangenen von irgendwo her kannte. Seine empfundene Gefahrensituation brachte ihn dazu, diesen Mann, Lola nicht auszuliefern. Auch wenn er im Moment nicht so recht wusste, was ihn dazu veranlasste. Stunden später fiel ihm ein, es gab etwas, was längst vergessen schien. Dieser Mann war in einer öffentlichen Bedürfnisanstalt einem Überfall ausgesetzt gewesen. Durch die Aufmerksamkeit und Hilfe des schmächtigen Träumers Markus, wurde vor länger zurückliegender Zeit, die Verhaftung des Täters möglich. Beamte konnten im Hörsaal der Universität diesen Freizeitkriminellen, der immer in finanziellen Schwierigkeiten steckte, und bei Geldknappheit jagt auf Schwule machte, festnehmen.
Der Geschädigte, ein ehemaliger Geschäftsführer befand sich einst zur Winterzeit, etwas spät am Nachmittag auf dem Wege zur Bank, um die Geschäftseinnahmen verbuchen zu lassen. In einer Toilette, von der bekannt war, dass Schwule und Stricher wie auch Ganoven sich die Türklinke in die Hand gaben, wurden ihm die Tageseinnahmen seines Ladens gestohlen. Markus hatte die Gabe, sich noch nach Jahren an Gesichter erinnern zu können. Seine Eigenart war, nach verstrichener Zeit alles zu übertreiben. Aus einer Mücke wurde versehentlich schnell mal ein Elefant.
Die Karriere des damaligen Opfers verlief einst selbst, in dem kriminellen Milieu der Prostituierten und deren Umfeld.
Lola hatte inzwischen am Rande der Stadt die Kiesgrube erreicht. Das Schweigen während der Fahrt, war für Lola mit Begleitung und für den Feind beendet. Sie forderten den lästig gewordenen Zuhälter auf, auszupacken. "Wenn ihm sein Leben lieb wäre, hätte er die Chance es zu verlängern, denn Schweigen war nicht immer Gold". In der Kiesgrube hielten sie an und zerrten den Mann aus dem Wagen. Mit Gewalt versuchten sie ihn zum Reden zu bringen.. Blutend lag der Mann, gekrümmt vor Schmerzen auf dem Schotterboden und flehte um Gnade, aber es half nichts.
Als sich der Lauf einer Pistole auf seinen Kopf richtete, verstummte er in seiner Blutlache.
Welch ein entsetzliches Gefühl, so bedroht zu sein! Bisher gehörte er zu jenen, die nur austeilten. Jetzt quälte ihn die wachsende Todesangst, erschossen zu werden.
Lola ging auf den Wehrlosen zu, da bat er noch einmal um sein Leben, versprach alles was er wisse, zu erzählen. Darauf verfrachteten sie ihn ins Auto und fuhren in Lolas Friseursalon. Dort wurde er auf einen Stuhl angebunden. Lola staunte nicht schlecht, was ihm zu Ohren kam. Angeblich war James auf dem besten Wege, der Anführer des Münchner Rauschgifthandels zu werden. Nach stundenlangen Verhör, quartierte Lola ihn in einer Pension auf der Leopoldstraße ein und wollte am Tag darauf mit ihm noch einmal alles besprechen. In der gleichen Nacht bearbeiteten Lola und seine Garde bereits James in Kessis Apartment, der wie ein Vögelchen sang. Während des Verhörs wurde Kessi mit ihrem Baby im Bad eingesperrt. Für Lola stand fest, dass James als führender Kopf nicht akzeptabel war. Er war doch nur ein Handlanger unter vielen kleinen.
Damit alles wieder seine Ordnung habe, wies Lola ihn in seine Schranken und setzte ihm Gebote und Verbote, woran er sich zu halten habe. Der Zugang im Bereich des Strassenstrichs, Landsberger-, Schiller-, Heidestraße und Hauptbahnhof, wurde James auf Lebenszeit untersagt. Sollte er sich wider Erwarten nicht daran halten, bekäme er totales Stadtverbot. Das hiesse, er müsste München verlassen. James mühte sich vergeblich, einen Kompromiss über die Kontaktperson Markus herbeizuführen. Kessi stand Markus nun feindlich gegenüber und war für den sofortigen Rausschmiss des Babysitters. Markus fühlte sich in seiner Intrigantenrolle nicht mehr wohl. James beschwichtigte Kessi, da er glaubte, so lange Markus anwesend sei, würde ihm nichts geschehen.
Lola zeigte persönliches Interesse an den Jungen. Als Markus das hörte, wurde ihm mulmig zu Mute und beschloss für sich, so schnell wie möglich eine andere Bleibe zu suchen.
Markus erinnerte sich seines letzten Freundes, dem er irgendwo, irgendwann einmal feierlich ewige Treue geschworen hatte.
Doch er schämte sich dafür ein wenig, mit der Hoffnung des anderen zu spielen. Eine sexuelle Beziehung hatte ihren besonderen Preis. Manchmal fühlte er sich dabei, als würde er sich und sein Leben, wie auf einem Viehmarkt anpreisen. Markus bescheidener Wunsch war es eigentlich nur, Arbeit und Unterkunft zu finden. Er redete sich ein, ja glaubte daran, dass James dem er so übel mitspielte, neuerdings die Fähigkeit besässe, sich in ihm hineinzuversetzen und ihm zu helfen. Schliesslich witterte Markus aus dieser anrüchigen Verbindung eine Chance für sich, heil aus allem herauszukommen. Als Markus alles bis ins kleinste Detail durchdacht hatte, gab es nichts Eiligeres, als es Lola mitzuteilen. Schriftlich selbstverständlich! Was auch immer Markus in Bruchstücken mitbekam, nahm er für bare Münze und reimte sich seine Geschichten zusammen. Nach zwei Tagen kam der Brief ungeöffnet mit dem Vermerk „unbekannt Verzogen" zurück. Der Zuhälterkrieg hatte unvorstellbare Formen angenommen. Markus glaubte, dass Lola sich vermutlich seit Tagen verleugnen liess.
Aus dem Blätterwald der Tagespresse erfuhr er, dass der Friseur Lola mit einem seiner hörig gewordenen Freunde, einen Zuhälter in die Müllkippen ausserhalb der Stadt lockte. Unter dem Vorwand, eine anschaffende Mieze für ihn besorgt zu haben, liess er ihn zusammenschlagen, mit Benzin übergiessen und den noch Lebenden anzünden. Mord! Damit war der Traum, von einem neuen Anfang für Markus ausgeträumt. Keiner der Milieu Bekanntschaften, die er einst mit Informationen versorgte, waren weiterhin an ihm interessiert. Überall abgewiesen zu werden, liess seine Fassade bröckeln.
Der nun wieder mittellose Markus, begann in Nachtspelunken als Transvestit aufzutreten. Zu seiner Tätigkeit gehörte neben dem Tanzen, die Gäste für gewisse Spiele zu animieren. „Herrendamen“ des Hauses waren darauf spezialisiert, einige ihrer Lokalgäste im Hinterzimmer zum diversen „Glück" zu verhelfen.
Der in die Jahre gekommene Haustransvestit „Ella“ unterrichtete zwischen Geröll auf dem Dachboden eines vom Abriss bedrohten Hinterhauses, in der Gegend Berg am Laim, angehende Travestiekünstler und studierte mit Markus Stundenlang eine Entkleidungs- Stripnummer ein.
Hier in diesem abgewohnten Gebäude wohnte Ella mit anderen Mietern.
In der Gaststätte selbst konnten sie nicht üben, da es sich um eine Tages- und Nachtbar handelte. Glitzergarderobe besorgte die „Mutter" des Etablissements, der Wirt. Mit Koffeinhaltigen Präparaten rückte Markus als „Gigi“ am Abend seines ersten Auftritts dem Lampenfieber zu Leibe. Die Angst vor anderen Menschen wurde er auch an den nachfolgenden Veranstaltungen nicht los.
Nachdem der gewünschte Erfolg ausblieb und „Gigi" die absolute Perfektion im Striptease nicht erreichte, kam es immer häufiger zu Streitigkeiten mit dem Inhaber der Bar.
Da er aber von irgend etwas leben musste, suchte er in seiner verzweifelten Situation wieder Bekanntschaften zu verschiedenen Herren.
Seine Tage in dem Etablissement waren gezählt.
Er lernte Stefan, einen Angestellten einer Musik-Showagentur in einem Theatercafé kennen. Träumereien liessen Markus in eine rosige Zukunft blicken, daher zögerte er nicht, sich mit ihm anzufreunden. Markus erfuhr internes über Stefans Job. Er sollte einen neu entdeckten Nachwuchssänger betreuen, dem die Gunst des Agenturbetreibers sicher war. Stefan hatte so seine Bedenken und wehrte sich dagegen. Er war davon überzeugt, dass es sich bei diesem bevorzugten Jüngling um einen waschechten Flop handeln würde. Markus hörte ihm zu, als hätte er keine anderen Sorgen. Stefan erzürnte es, daran zu denken, diesen strähnigen blonden Puppenjungen, dessen Sprachschatz aus penetranten Sprüchen bestand, rhetorisch zu unterrichten. Als angehender Gesangsstar, sollte Erich für die Begegnung mit der High Society selbstbewusst und siegessicher vorbereitet werden. Markus kam bei Stefans Erzählungen aus dem Staunen nicht heraus. Es schien einfach zu sein aus jemanden etwas zu machen. Wie er reden konnte und immer die richtigen Worte fand. Stefan verschwieg seinen Unmut nicht darüber, dass jede Sekunde, die er für Erich opfere, pure Verschwendung war.
Nach mehreren Treffen zog Markus eines Tages in die Wohnung von Stefan, der sich mehr Leben in seinen vier Wänden wünschte. Da er für ein Haustier keine Zeit hatte, nahm er Markus auf, der wenigstens noch seinen Haushalt in Schuss hielt.
Nebenher arbeitete Markus stundenweise bei dem Gesangskünstler Erich als Reinigungskraft. Erich erhielt einen Künstlername und wurde von Stefan rund um die Uhr auf Anordnung des Produzenten betreut. Zwei Haushalte arteten oft in Arbeit aus, denn Stefan hatte die Ordnung in seiner Wohnung nicht erfunden. So schien es auch in seiner persönlichen Lebensweise nicht immer mit rechten Dingen zu zugehen. Bei ihm entschied eher die Launenhaftigkeit über Glück und Leid. Zu einer Freundschaft für längere Zeit mit Markus reichte es nicht, weil Stefan die Abwechslung liebte und einen ausgeprägten Sinn für andere Männer zeigte. Auf die Dauer passte Markus, der sich nur auf eine Person als Freund fixierte und klammerte, nicht ins Bild.
Ihre Wege trennten sich ohne Streit. Sein Hab und Gut liess sich in zwei Einkaufstüten verstauen, da Stefan ihn alle geschenkten Sachen wieder abnahm. Markus blieb weiterhin mit Stefan in Kontakt, obwohl der inzwischen der feste Partner des erfolgreichen Sängers wurde. In Notsituationen durfte er Stefan telefonisch um Rat bitten. Da Stefan ihn finanziell hin und wieder was zukommen liess, traf es Markus nicht so hart.
Private Begegnungen gab es selten. Wenn, dann nur auf „Geschlossenen Gesellschaften", oder auf irgendwelchen lockeren Schwulenfeten. Markus empfand die Atmosphäre solcher Partys als frustrierend. Dennoch zog er oft von Bar zu Bar. In der Szene herrschte die Auffassung, dass Toleranz von Aussenstehenden und Unbeteiligten eingefordert und erwartet werden konnte. Innerhalb der Subkultur hatte das jedoch keine Gültigkeit. Auf Treffpunkten welcher Art auch immer, fanden sich die gleichen Gruppierungen von Charakteren zusammen. Stets wurde jemand gefunden, den man verunsichern und mit spöttischem Getue niedermachen konnte. Auf der Suche nach dem schnellen Kick, war aus Konkurrenzneid in der Nacht, jeder dem anderen Feind. Oft reichte es aus, ein Aussehen zu beanstanden und die Hässlichkeit des anderen zu betonen. Unsichere Kandidaten waren ein gefundenes Fressen. Betroffene erfuhren diese empfundene Schmach deshalb so schlimm, weil die Blossstellungen nicht nur gezielt von einer Person kamen, sondern meist aus Cliquen. Die Krawalltunten waren Happy, wenn sie wieder mal jemanden tief verletzt hatten, und der dann kleinlaut das Weite suchte.
Markus erneute Wohnungslosigkeit veranlasste ihn, sich auf dem Bahnhof herumzutreiben. Freundschaften fand er keine. Da folgte ein Bratkartoffelverhältnis dem anderen. Seine Gefühlswelt war für diese Zeit auf Eis gelegt. Bei schlechten Wetter suchte er Lokalitäten der Stricher auf. Innerlich kam er mit sich und seinem Umfeld nur noch mühsam zurecht.
Von seiner Erscheinung her, gehörte er nicht zu jenen Modetypen aus Discos, um die sich schwule Freier bemühten.
Selbst unter Aussenseitern war er ein Aussenseiter geworden. Je größer seine Zweifel wurden, desto mehr Erkenntnisse glaubte er seinen Beobachtungen zu entnehmen. Unter den Szeneschwulen gab es eine Menge fauler Eier, die darauf spezialisiert waren, die seelische Not anderer Menschen schamlos auszunutzen.
In den unsagbar langen Nächten, suchten wohnungslose Jugendliche nach einer Unterkunft.
Nicht der Hunger allein, vielmehr das empfundene Verlassensein und die Hoffnung auf Hilfe, die der Staat ihnen verweigerte, trieb sie in das „Ghetto" der Schwulen.
Emotionale Bedürfnisse anderer fanden selten Gehör, da die meisten Szenegänger damit nicht umzugehen wussten. Seltsam daran war jedoch, dass viele den selben Traum nach Liebe, Geborgenheit und etwas Verbindlichkeit träumten. Dennoch fand beständige Menschlichkeit in der Szene nur wenig Platz. Junge unerfahrene Unbekümmertheit, war von jeher das Zielobjekt der abgeklärten hormongesteuerten Szenefreaks.
In einem Herrenlokal lernte Markus einen Hobbyfotographen kennen. Redlich bemüht versuchte er, Markus für Aktaufnahmen zu gewinnen. Diese Chance packte Markus beim Schopf. Er war hungrig und liess sich erst einmal ausführen und zum Essen einladen. Ausgerechnet an einen Freitag den 13. dachte er. Markus war von den schätzungsweise zwanzig Jahre älteren Herrn begeistert.
Charly, so hiess er, entpuppte sich nicht als Hosenschlitzträger, sondern zeigte reges Interesse für die verfahrene Situation seines jungen Begleiters. Dennoch schlich sich bei Markus gewisse Skepsis ein. Da der Knabenliebhaber mit seinen langen Haaren, dem ungepflegten Bart und seiner vergammelten Lederkleidung nicht gerade einladend aussah. Doch der flippige Charly verstand sehr gut mit Markus umzugehen und all seine Bedenken und Zweifel auszuräumen.
Markus Gedanken kreisten nur darum, endlich wieder eine Bleibe zu finden. Zwar überlegte er manchmal in das Wohnheim zurückzugehen, aber seine Mietrückstände waren für ihn unbezahlbar. Er besass kein Geld und keine Arbeit. Doch berufstätig zu sein, war die Voraussetzung dort überhaupt wohnen zu dürfen.
Während eines Drinks erzählte Charly von sich. Er hätte ein Haus, drei Autos und käme alle Jubeljahre in eines dieser geschmacklosen Szenekneipen.
Charly, der Elektroniker erfuhr von seinem unsicheren Gegenüber, dass er von Beruf Schneider sei aber noch keinen Job gefunden hätte. Seine Entlassung aus der Jugendanstalt vollzog sich erst vor einigen Monaten oder länger und er bekäme es nicht auf die Reihe, wieder in geordneten Bahnen zu gelangen.
Eine Tätigkeit in seinem erlernten Handwerk könnte er Markus verschaffen. Nun zögerte Markus keine Sekunde mehr, bot sich zur Mitfahrt an. Stolz führte Charly unter den Blicken anderer seine Eroberung aus der Bar, um das Gebäude auf den Parkplatz. Markus glaubte, ihn laust ein Affe. Dieses klapprige Ding sollte ein Auto sein. Aber gewiss, meinte Charly. Zur Not habe er ja jemanden dabei, der ihn schiebt, und er liesse sich gerne schieben. Das mache Spass!
Der naturverbundene Photograph schwärmte während der Fahrt von seinem Paradies, in dem er lebte. Da gäbe es viele wilde Katzen und in der himmlischen Ruhe das Gezwitscher der Vögel. Eine kleine Teichanlage beherbergte Frösche und Kröten. Markus war sich sicher, wer so in die Natur vernarrt, kann keine linke Bazille sein. Nach den unbeleuchteten Strassen erreichten sie am Rande der Stadt ein idyllisches Gässchen, bogen dort in einen holprigen Sandweg ein, vorbei an einem Wohnhaus. Alles war so, wie er es geschildert hatte, das Häuschen, der Park, die vielen Bäume und Sträucher. Vergnügt stiegen beide aus, sahen sich auf dem Platz ein wenig um und gingen zu den anderen Autos von Charly. Markus bekam bei dem ersten Anblick einen Lachanfall und fand sich nicht mehr ein. Bei dem ersten Auto fehlten die Räder. Sie müssten irgendwann noch besorgt werden, gab Charly zu verstehen. Zwei Wagen auf einmal, könne er ohnehin nicht fahren. Bei der dritten Karre blieb ihm die Spucke im Halse stecken. Das Ding hat ja keine Türen, sagte Markus. Es sei weiter nicht tragisch, antwortete Charly. Was sollte er mit Türen, wenn dieser PKW ohne Motor sowieso nicht fahren konnte. Lass uns ins Haus gehen, forderte er Markus mit einem verschmitzten Lächeln auf und flüsterte: „aber es stimmt doch, ich habe drei Autos“. Markus ging auf das grosse Gebäude zu und wurde gleich zurückgepfiffen. Das dahinter liegende Häuschen sei seine Burg. Das gibt es doch nicht, dachte Markus. Ein Holzbau, der einem abrissreifen Schuppen ähnelte. Um überhaupt in den Wohnbereich zu gelangen, musste Charly nach seiner kleinen Taschenlampe und einer Leiter greifen, denn die unteren Bretterstiegen zur Wohnung fehlten. Beim hinaufklettern quietschte und knarrte es. Mit dem anschalten der Beleuchtung auf dem Potest flatterte alles mögliche Getier im Licht aufgeschreckt, aus dem beschädigten Rundfenster des Dachstuhls. Es roch aus den daneben stehenden Mülltonnen, als hätte eine Fleischerei vergessen die Kühlanlagen anzustellen. Der Lichtstrahl der Stabtaschenlampe, liess im sanften Winde die kunstvollen Spinnennetze glitzernd schaukeln. Als das grelle Licht ausgeschaltet war, standen sie auf der beschädigten, zu einem Teil bodenlosen Balkonbrüstung. Markus wurde kreidebleich vor Schreck. Als die Augen sich an das Mondlicht gewöhnt hatten, sah er eine hängende menschliche Gestalt an einem Seil. Mit entsetzlicher Sorge hielt er sich an Charlys Lederjacke fest und zeigte mit einer Hand in die Richtung des Erhängten.
Daraufhin gab der stolze Hüttenbesitzer den Ton eines heulenden Wolfs von sich und betätigte einen mit Ölfarbe beschmierten Türschalter. Die Rückseite seiner Hütte auf dem Hinterhof war jetzt grell beflutet. Der verschleierte Selbstmörder sollte ein wenig baumeln, bis er stinkt, denn er sei an seinem Tod selbst schuld, meinte Charly. Ergriff eine Eisenstange, stach und schlug auf dem Leichnam ein. Nach mehreren Schlägen rutschte dem Selbstmörder das Tuch vom Kopf. „Ist die Frau denn tot"?, stotterte Markus hintereinander die gleiche Frage an Charly. Dann drehte sich die langhaarige Frau, deren Gesicht durch weitere Schläge des schnaufenden Charly, dunkle Flecken aufwies. Markus wagte nicht mehr hinzusehen. Er glaubte in seiner regen Fantasie, nein, er war sicher, an einen noch unentdeckten Frauenmörder geraten zu sein. Fassungslos stand er da und überlegte, ob er fortlaufen oder bei eventueller Gefahr selbst zum Mörder werden sollte. Charly beugte sich seitlich zur Lampe, deren grelles Licht ihm einen seltsamen Gesichtsausdruck verlieh. Für den in Schreck versetzten Markus gab es keine Zweifel mehr. Als Charly den Ernst der Lage bei Markus erkannte, gab er belustigend von sich: Am Unterschied des Klanges hört man doch, was das sei. Wie kann ein Mensch so doof sein, ist doch nur eine Schaufensterpuppe, beruhigte Charly seinen naiven Begleiter und trat den Beweis an. „Mach das nie wieder", forderte Markus in ernstem Ton.
Dann begaben sie sich in die Räumlichkeiten. Der Korridor glich einer Abstell- und Kleiderkammer.
Es herrschte fürchterliche Unordnung. Alles war voll Gerümpel.
Anscheinend kam Charly in seinem Chaos gut zurecht. Selbst das Abflussrohr des Waschbeckens aus dem Toilettenraum, war kunstvoll durch die Garage hinaus auf die Wiese verlegt. Allerdings wurde die Müllhalde dadurch auch nicht ansehnlicher. Das Prachtstück in der Wohnung, war die Küche mit Teppichauslegeware und Dusche, Chemielabor und Ersatzteillager für Schrauben, Werkzeuge und Autoteile. Ein Blick durch das Fenster war unmöglich, denn bis zur Decke war Heizmaterial gestapelt, Holz und Kohlen für den Küchenofen. Damit liess sich im Winter seine „Burg" beheizen, falls er kein Geld hatte um Heizöl zu kaufen. Gleich neben der selbstgebauten Zwischenwand lag ein Berg von gesammelten Plastiktüten mit unterschiedlichen bunten Werbemotiven. An der Seite des Eingangs stand Kanister an Kanister Heizöl für das Wohnzimmer. Darüber war ein Brett gelegt, auf dem ein Telefon und eine Schreibmaschine standen, viele Notizzettel und Bücher lagen umher. Schliesslich war Charly selbständig, Gewerbetreibender Reperaturspezialist für elektronische Orgeln. Diese Berufsbezeichnung sei schon ein Kürzel, fügte er scherzhaft hinzu. Charlys Leidenschaft galt der Tüfteleiarbeit an Elektrogeräten und sein Interesse an elektronischen Neuheiten war enorm. Orgeln liebte er über alles und konnte darauf so gar recht gut spielen. Er arbeitete, da es noch keine Konkurrenz gab, als einziger für Kirchen und Firmen in Bayern. Die Auftraggeber riefen ihn an, egal von welchen Ort und zu welcher Uhrzeit. Wann immer er gerufen wurde, stand er pünktlich je nach Fahrtdauer auf der Matte.
Die schönsten Ministranten gab es seiner Meinung nach in Erding, und die geilsten Priester in Ingolstadt. Charly behauptete in einer Sakristei einer Dorfkapelle in der fränkischen Schweiz entjungfert worden zu sein. Danach litt er sehr lange unter einer Scheinschwangerschaft. Es wisse doch keiner, ob nicht gerade er vom Schicksal auserwählt ist, als erster Mann der Menschheit ein Kind zu gebären. Daher schlug er Markus vor, solange zu üben bis sein Traum Wirklichkeit werden würde. Jede seiner kleinen Anekdoten endeten immer mit sexuellen Anspielungen und Wünschen. Von Versündigung könne keine Rede sein, denn er praktiziere lediglich, dass er seinen Nächsten liebe, wie sich selbst. In seinem chaotischen Allround-Wohnschlafzimmer, dass in all dem Chaos einer Lasterhöhle ähnelte. Die Wände waren mit roten Samt verkleidet, Spiegel, Gipsfiguren, verzierte Kerzenständer, leise Musik, gedämpftes Licht und ein grosses französisches Bett trugen zu dieser Puffatmosphäre bei.
In diesem schwulen Kabuff fielen ihm sämtliche Abenteuer ein, die er nächtlich auf seiner alten Liegewiese erlebte. Unter seiner Spielwiese zog er ein geheimnisvolles in Leder gebundenes Kalender-Büchlein hervor. So nett und belesen er war, notierte er darin das wichtigste seiner intimen Interessen. Das genaue Buchführen mit Daten, wann, wo und wie er einen Orgasmus erreicht hatte und welche Hilfsmittel eine Rolle dabei spielten. Markus wunderte sich über die herumstehenden abgebundenen Tüten, und über eine offene Tüte mit gebrauchten Papiertaschentücher, direkt neben dem Bett. Sorgsam achtete Charly darauf, dass niemand seiner Besucher etwas anderes hineinwarf. Darin lag die enorme Leistung einer ganzen Woche. Soviel Orgasmen hatte er noch nie geschafft, verkündete er ernsthaft. Es war ihm wohl wichtig, gleich in der ersten Nacht alles von sich zum Besten zu geben.
Trotz all der Geschmacklosigkeiten freundeten sie sich an, denn Markus war froh darüber, jemanden anzutreffen, um eine Unterkunft zu haben. Zwar konnten sie nur selten miteinander etwas anfangen und unternehmen, weil sie zu verschieden waren. Charly war im Gegensatz zu Markus ein belesener Wissender, der ewig studierte, perfekt hochdeutsch sprach und ein ausgesprochen erfahrener Lebenskünstler. Daher war diese Zeit mit Charly für Markus sehr lehrreich. Neben technischen Kenntnissen lernte er zum ersten Mal das Land kennen in dem er lebte. Deutschland war für Charly ein Reiseparadies. Beide waren einen Sommer lang unterwegs. Charly, der leidenschaftlich gerne englisch sprach, zwang ihn dadurch, die Sprache halbwegs richtig zu sprechen. Auf der ganzen Tour bemühten sie sich englisch zu sprechen. Vorkenntnisse des Hinterhofenglisch hatte Markus ja bereits. Bei allen Spass den sie im Laufe der Zeit hatten, verliebte sich Charly in seinen Schützling Markus. Charly wollte der Einsamkeit entfliehen, sich nicht unbedingt verlieben. Markus nutzte diesen Vorteil für sich. Da er nur bayerischen Dialekt sprach, erinnerte er Charly an seinem einstigen Vorschlag, den Wunsch Sprechunterricht in Hochdeutsch zu nehmen. Die Rolle des Lehrers und des unfolgsamen Schülers passte genau in Charlys Fantasie.
Er besorgte für Markus zusätzlich eine ihm schon bekannte Lehrerin für den Nachhilfeunterricht. Charly freute sich über Markus Fortschritte.
Die Lehrerin und Charly kannten sich wohl recht gut, denn nach Absprache beider, waren sie zu dem Ergebnis gelangt, seinen neuen Freund zur Dressmanschulung zu schicken. Damit er sich elegant zu bewegen lernte. „Beschlossen war beschlossen", und Markus fügte sich dem Plan von Charly, denn mehr wie schief gehen konnte es für ihn ja nicht.
Nebst den Fächern: Vorführtechnik, Laufsteg, Verkaufsraum Teamarbeit mit Mannequins, Rhythmische Gymnastik, Bewegungslehre, Anleitung zur Arbeit vor der Kamera sowie Körperpflege, Kosmetik und spezielle Schminktechniken für Foto und Fernsehen, sollte später Show-Tanzunterricht hinzukommen, die Markus jedoch kräftemässig nicht durchhielt.
In diesem Zeitraum magerte Markus bis auf 49 kg ab.
Die Tanzschule wurde abgebrochen. Für ihn stand ohnehin fest, dass er mit einer Grösse zu klein war, um es professionell auszubauen. Für Markus hatte es sich dennoch gelohnt. Er sprach einigermassen Hochdeutsch und wusste sich vorteilhaft zu bewegen. Als er sich bald darauf erholte und seine eigenen Fähigkeiten erkannte, von seinem Personenwert überzeugt schien, wurde er ein leidenschaftlicher liebenswerter Lügner. Charly beflügelte ihn darin. Seine Mutter verleugnete er nicht mehr, denn sie stammte nun nicht mehr aus irgend einem Barackenlager sondern selbstverständlich aus griechischem Adelsgeschlecht. Der Vater war für ihn keineswegs unbekannt, sondern ein deutscher Baron. Das alles übte er mit Charly so oft, dass er selbst daran glaubte. Diese neue Identität wurde ständig von Charly verändert. Und zuletzt kam die alte Dame, die er liebevoll „Ma" zu nennen hatte, aus Südafrika, und der Vater war ein amerikanischer Offizier. All diese Geschichten wurden auf der Tour durch Deutschland, in Gaststätten und Pensionen von Charly und Markus zum Besten gegeben. In München wieder angekommen, wurde den vielen Lügen ein Ende bereitet. Markus liess seine Familie kurzerhand samt einer Luxusjacht im Ozean unauffindbar untergehen.
Nach der schönen Reise durch das Land, überraschte Charly zu Hause, die plötzliche Kündigung seines kleinen paradiesischen Häuschen. Zur Zeit sahen sie sich kaum. Markus lungerte in Bars und hatte noch keine Arbeit aufgenommen. Charly versuchte allein alles erdenkliche zu bewerkstelligen, damit die Wohnmöglichkeit erhalten blieb, und äusserte seine Enttäuschung über seinen Mitbewohner. Seit dem er Nachts in den verruchten Dreckskneipen rumlungert, sei der schwule Tatch an ihm stärker ausgeprägt als je zuvor. Markus sah ein, dass sein Verhalten, nur in der Nacht zum schlafen zu erscheinen nicht korrekt war. Vorwürfe über Vorwürfe brasselten auf Markus ein. Er versicherte Charly, dass es keinerlei Beziehungen bzw. intime Kontakte zu anderen gegeben hatte. Die kommenden Tage waren von Streitigkeiten belastet.
Der übermüdete Charly setzte sich eines Tages in den massigen antiken Sessel, den er von seinem verstorbenen Vater geerbt hatte und begann bitterlich zu weinen. Schluchzend las er ein mehrere Seiten langes Schreiben der Münchner Stadtverwaltung vor. Das gesamte Grundstück war Eigentum der Stadt und musste bis zu einem bestimmten Tag geräumt sein. Dafür erhielt Charly verschiedene Wohnungsangebote.
Zwei Jahrzehnte lebte er in dieser Naturoase, abgeschirmt von Straßenlärm und hektischem Treiben der Städter. Charly war fassungslos darüber, dass die Städteplaner am Rande der Stadt einen Betonparkplatz, für die in fünf Jahren später geplante Bebauung, ein Naturgebiet dem Erdboden gleich machen wollten. Er strebte einen Prozess nach dem anderen an, bis er pleite war und verlor alle Gerichtsverfahren gegen die Stadt München. Ein Gerichtstermin stand noch aus. Die inzwischen bezogene Wohnung auf dem Paulaner Platz, sollte nur eine vorübergehende Notlösung sein. Er glaubte, wieder zurück zu können, da es sich um eine ländliche Gegend handelte. Deshalb stapelte sich in der Stadtwohnung alles Gerümpel was er je gesammelt hatte. Ginge es nach ihm, hätten sich auch noch Platz für seine Autoersatzteile gefunden. Markus hatte auf dem Boden eine Matratze zum schlafen und Charly verbrachte die meiste Zeit in seinem Auto. Nur um sich zu waschen und Markus zu wecken kam er in die Wohnung.
In seiner letzten Gerichtsverhandlung wurde ihm klar gemacht, dass er durchaus in der Stadt wohnen kann, zumal er selbst bewies, dass er es könnte. Seit einem Jahr wohnte er bereits in der unbeliebten Gegend, fuhr aber immer wieder hinaus auf das ehemalige Grundstück und blieb oft mehrere Tage hintereinander fort.
Eines Morgens erschien aufgeregt Charlys Mutter, die einen Zweitschlüssel hatte in der Stadtwohnung. Unangemeldet betrat sie leise die Wohnung, schrie Markus der noch im Bett lag wütend an, dass er sich zu wenig um ihren Sohn kümmere. Sie bemängelte vor allem den schlechten Einfluss den er ausübte und bat in einem Atemzug, ihn gemeinsam zu suchen.
Das geräumte Anwesen, Charlys ehemaliges Paradies war ein Trümmerhaufen. Irgendwann hatten Jugendliche oder Mitarbeiter der Abrissfirma das massive Steinhaus und das dahinter stehende Häuschen eingerissen. Charlys Ansammlung von Musikinstrumente, Orgeln und Autoersatzteile für die er kein Lager fand, waren gestohlen oder zerstört. Zwischen dem Geröll lag blutüberströmt, leblos, Charly.
Während die achtzigjährige Mutter gefasst die Dinge in die Hand nahm, stand Markus keiner Bewegung fähig, mit Schuldgefühlen vor dem gekrümmten Körper, dessen Herz noch schlug. Markus bemerkte nicht einmal, dass die alte Frau bereits die Feuerwehr in der Nachbarschaft alarmiert hatte. Als sie zurück war, forderte sie ihn mit autoritärer Strenge im Ton zum Verlassen der Münchner Wohnung auf.
Den Schlüsselbund könne er nach Auszug im Briefkasten hinterlassen.
Charly lag längst in einem Krankenhaus und Markus zog am Tage und am Abend durch die Schwulenlokale in der Hoffnung, jemanden zu finden, wo er künftig wohnen könnte. Dabei dachte er an Kontaktanzeigen, aber zögerte noch ein wenig. Da die Zeit drängte, sah er sich veranlasst, als Hilferuf ein Inserat aufzugeben. „Ich habe Probleme. Wer hilft mir"?, lautete etwa der Text. Markus fasste den Entschluss, neu anzufangen und sah die Chance darin, in eine andere Stadt zu ziehen. Als hätte das Erlebte einen Sinneswandel herbeigeführt. Was ihn nun gedanklich leitete war, aus diesem Milieu herauszukommen. Er wusste, dass er in einem Sumpf lebte, hart an der Kriminalität in dem er nur flüchtige sexuelle Begegnungen fand aber keinen Menschen mit dem er in Freundschaft verbunden wäre. Deshalb veranlassten ihn eigentlich zwei Dinge in einer Hannoveranischen Homosexuellen-Zeitschrift seine Annonce aufzugeben. Der Selbstmordversuch von Charly gab ihm den Rest. Hinzu gesellte sich die panische Furcht vor dem Wehrdienst, der immer näher rückte.
Jedes mal, wenn er in Charlys Briefkasten seine Post abholte, fieberte er ungeduldig auf Antworten seiner Kontaktanzeige entgegen. Hoffentlich hatte sich wer gemeldet. Da Markus die Schlüssel noch nicht zurück gegeben hatte, nutzte er die sturmfreie Bude. Dieses Mal konnte Charly keine Ratschläge geben, da er noch im Krankenhaus lag. Ein Zitat von Charly lautete: „In dieser Szene ist Jugend das Licht und lockt alles, was noch kriechen kann aus der Dunkelheit hervor". Diese Weisheit blieb Markus unvergessen und prüfte all sein Tun mit überlegter Vorsicht.
Der Professor einer Hochschule aus Berlin meldete sich gerade rechtzeitig auf die Anzeige, ein offenbar fein gebildeter Herr Ludwig. Dessen Briefe liessen erkennen, dass auch Ludwig, trotz des beruflichen Erfolgs, Liebe und Zuneigung vermisste. Was seine Frau nicht mehr bereit war ihm zu geben, suchte der 63jährige bei 10 bis 20jährigen. Denn Ältere waren seiner Erfahrung nach nicht mehr anpassungsfähig. Vom Erscheinungsbild her war Markus kindlich, naiv, verträumt und glaubte Felsenfest an die grosse, ewige Liebe. Manchmal bediente er sich der poetischen Wortwahl um etwas auszusagen. In Markus sah Ludwig seine Träume von der Knabenliebe verwirklicht. Der Junge hoffte, durch sein Wohlwollen entsprechende Hilfe zu erhalten und gefördert zu werden, damit auch er im Leben eine Chance hätte und nicht in der Gosse landete. Der Briefaustausch folgte in immer kürzeren Abständen. Briefe von einem Jungen ohne Bildung konnte es wohl kaum sein, die Ludwig beeindruckten. Aber als Markus einige Fotos von sich nach Berlin schickte, stand es für Ludwig fest, den Kleinen sofort nach Berlin zu holen.
Ludwig lebte mit seiner Frau schon seit vielen Jahren freundschaftlich nebeneinander. Sie war die erste Frau und einzige Frau in Ludwigs Leben. Besonders stolz waren sie auf ihre beiden erwachsenen Kinder, die beruflich sehr erfolgreich waren und selbst schon eigene Kinder hatten. Die Dame des Hauses arbeitete als Beraterin im Dienste der Kirche und tat es mit Freude. Der Herr aus Berlin war ein fleissiger Schreiber und der Briefwechsel nahm in der kurzen Zeit immer mehr an Umfang zu. Markus der nach der Entlassung Charlys aus dem Krankenhaus, wieder bei ihm lebte, offenbarte dem Berliner ohne Beschönigung seine auswegslose Situation. Äusserte den Wunsch, München zu verlassen, weil er dort keine Zukunft für sich sah. So spielte er fest mit dem Gedanken, die nächste Chance die sich bietet zu nutzen und von München fortzuziehen. Charly wurde erst von seinem Vorhaben unterrichtet, als es für Markus spruchreif war.
Der Besuch aus Berlin hatte sich für die nächsten Tage angemeldet. Markus wusste genau, was eines Tages auf ihn zukommen würde, wenn er den Absprung jetzt nicht schaffte.
In all den Briefen, die er gefühlvoll beantwortete, hoffte er immer mehr, endlich die Chance für einen neuen Anfang zu bekommen.
Durch einen prüfenden Blick in den Spiegel festigte sich sein Entschluss. Er sah übermüdet und gestresst aus, zwar jung, doch von seiner Anziehungskraft war er nicht mehr überzeugt. Trotz seines ersehnten Wunsches, nach einer länger andauernden Beziehung wusste Marcus, dass er dazu nicht fähig war. Vieles hatte er bereits erlebt. Seine Enttäuschungen und emotionalen Bedürfnisse hatte er mit der Zeit verdrängt. Auf Menschen, die ihn kennenlernten wirkte er kalt und unberechenbar, deshalb war er für andere uninteressant.
Sein eiserner Wille nach einem anderen besseren Leben und die Hoffnung, Ludwig würde ihn aus dem Sumpf ziehen, gab ihn ein wenig Zuversicht.
Nachdem der Musterungsbescheid bei Anna vorlag, war ein Umzug nach Berlin für Markus von grösster Dringlichkeit, denn zum Bund wollte er auf keinen Fall.
Nach Annas Anruf fuhren Charly und er nach Dachau, um mit ihr alle Einzelheiten zu besprechen.
Zum Schluss eskalierte das Gespräch. Markus sagte ihr deutlich, dass er sie wie die Pest hasse. Sie habe ihn nur Unglück gebracht! Sie sei noch ein Stück dreckiger als er!
Die Folge aus der Zeit, in der er bei Anna lebte war, dass er sich des Schwulseins beschuldigte.
Letzteres teilte Markus auch dem Wehrersatzamt prompt mit. Anna wusste darauf nichts anderes zuerwidern als, dass es ihr sehr leid täte und empfahl ihren Sohn zu einem Arzt zu gehen.
Rasend vor Wut nannte er Anna, seine „Mutter" ein dreckiges Stück Scheisse, so wie sie ihn als Kind betitelte und sagte ihr, dass er sich von klein auf von ihr geekelt habe und sie an seinem verpfuschten Leben schuld sei.
Charly lauschte erschrocken diesen Streit, hörte Markus sagen, dass er einen bestialischen Hass auf Frauen habe. „Nun reicht`s aber!", rief Charly und forderte Markus auf sofort mitzukommen.
Auf der Rückfahrt fragte Charly ihn, ob sein proletenhaftes Benehmen denn nötig war. Daraufhin gerieten auch sie in Streit.
Sein Freund wies ihn in aller Ruhe darauf hin, dass er sein Schwulsein doch trotz des gesellschaftlichen Spiessrutenlaufs voll auskosten würde und deshalb sein Unbehagen nicht anderen anlasten könne, schon gar nicht seiner Mutter.
Was um alles in der Welt sollte das Theater?, fragte er Markus und versuchte ihm klarzumachen, dass er für sein Leben allein verantwortlich sei.
Charly bat ihn, ihrer Freundschaft wegen nicht nach Berlin umzusiedeln. Er hätte doch schliesslich zwei Berufe erlernt und die Türen ständen ihn nach seiner Bundeswehrzeit offen. Er bat ihn, seine Chancen in München wahrzunehmen. Mit seinem Vormund darüber zu sprechen und seinen früheren Traum, auf eine Textilfachschule zugehen neu in Angriff zunehmen.
Einige Tage später war es soweit. Markus, der an unsagbarer Behördenangst litt überwand seinen inneren Schweinehund, fuhr in aller Früh nach Dachau und begab sich ohne Anmeldung aufs Jugendamt. Das warten auf dem Amt kam ihn wie eine Ewigkeit vor. Währenddessen legte er sich seinen Text zurecht. Er starrte auf die kahlen hohen Wände des Amtsganges und war im Begriff wieder das Weite zu suchen. Da öffnete sich eine Tür. Ein gepflegter, Dickbäuchiger grauhaariger Herr kam aus dem Zimmer und winkte ihn zu sich ins Büro.
Aufgeregt trug er seine Wünsche und Zukunftspläne vor. Der Vormund entledigte sich schnell dem Bündel Elend, indem er ihm riet, einfach bis zu seinem 21. Lebensjahr zu warten, dann könne er Schulen besuchen so viel er wolle. Nach wenigen Sätzen verabschiedete er den Jungen, indem er zum Telefonhörer griff.
Deprimiert verliess Markus den Raum und suchte noch einmal Anna auf, um sie nach seinen Vater zu fragen.
Inzwischen wohnte sie nicht mehr in dem heruntergekommenen Zimmer der Barackenranch, sondern in einem kleinen Zweifamilienhause am Fusse des Stadtkrankenhauses.
Anna schien etwas verändert. Sie freute sich über seinen Besuch und es fielen keine bösen Worte zwischen ihnen. Wieder fragte Markus sie nach seinen Vater, aber sie konnte ihm nicht antworten, da sie es wahrscheinlich selbst nicht genau wusste. Sie versuchte ihm Mut zu machen, indem sie Markus vorschlug, es einfach noch einmal beim Vormund zu versuchen. Damit er nicht wieder zurück nach München fahren müsse, bot sie ihn an bei ihr zu übernachten.
Mit beklemmendem Gefühl sass Markus ihr am Mittagstisch gegenüber. Zum ersten Mal hörte er von ihr, dass er noch einen 10 Jahre älteren Bruder und zwei jüngere Schwestern habe. Ihr älterer Sohn Johannes wurde von ihren Eltern aufgezogen, die beiden Mädchen wären mit ihm vor 15 Jahren in ein Kinderheim gekommen. Markus wusste von den beiden Mädchen, zeigte aber kein Interesse an ihnen.
Anna glaubte, weil sie im Leben keine keine Chance bekam, konnte sie sich nicht richtig um ihre Kinder kümmern. Auch meinte sie: Da sie weder Geld noch Arbeit hatte, wäre sie nicht in der Lage gewesen ihre Kinder zu ernähren.
Jedesmal wenn sie schwanger wurde, hätten sich die Väter aus dem Staub gemacht. Die Zeuger ihrer Kinder hätte sie alle geliebt und deswegen auf Ansprüche verzichtet.
Johannes Vater besass ein Hotel in Vilshofen, indem sie als Zimmermädchen arbeitete.
Die zwei Mädchen hatten den selben Erzeuger. „Nein doch", berichtigte sie sich. Der eine war Hans und der andere der Paul ein Dachauer Bauunternehmer. Er sei der einzige gewesen, der ihr hin und wieder etwas Geld zusteckte.
Nun rückte sie auch mit der Wahrheit über Markus Vater raus. Sie erzählte ihm, dass sie 1950 für einige Monate als Putzfrau in einer Rechtsanwaltskanzlei gearbeitet habe und sich in ihren Chef verliebte. Ihretwegen machte er täglich Überstunden. Als sie ihm erklärte, dass sie von ihm ein Kind erwarte kam der Rauswurf. Markus Zeuger traf sie daraufhin nur noch zwei mal. Danach verloren sie sich aus den Augen.
Alle Väter ihrer Kinder waren verheiratet und hatten ausserdem eigene Kinder. In jungen Jahren, sei sie zu stolz gewesen Forderungen an die Männer zu stellen. Sie wollte und glaubte es alleine zu schaffen. Beiläufig behauptete sie, sehr wohl zu wissen, was sie ihren Kindern damit angetan habe.
Markus fiel ihr ins Wort und bezüchtigte sie der Lüge. Vieles aus seiner Kindheit bei ihr hatte er anders in Erinnerung. Aus den Gerichtsakten ging hervor, dass die Kinder nicht nur verwahrlost sondern auch unterernährt waren, und ihre immer wechselnden Liebschaften mit weissen und farbigen Männern zur Heimunterbringung der Kinder geführt hatte. Er konnte sich daran noch sehr gut erinnern.
Anna sah das ganz anders. Aus ihrer Sicht hatten Intrigen der Lagerbewohner ihr Leben zerstört. Vor Schmerz darüber sei sie dem Alkohol verfallen. Erst jetzt im Alter habe sie etwas Glück gefunden. Am Abend sollte Markus ihren Lebensgefährten kennenlernen. Markus war neugierig auf den Typen. Er erzählte ihr von den wenig schönen Begebenheiten aus seinem Leben in den Heimen. Dieses Kapitel hatte sich schnell erledigt, denn viel gab es nicht zu berichten. Ein bestimmtes Thema aus seinen Kindertagen, dass ihn nicht mehr los liess und wie er vermutete, homosexuelle Neigungen in ihn wach gerufen hatte, erwähnte er allerdings noch. Markus sprach Anna auf Glenn an. Sie erinnerte sich nur daran, dass es einen Soldaten gab, der sich um ihn kümmerte, auch der Name Glenn sagte ihr angeblich nichts. Erneut bezichtigte Markus sie eine Lügnerin zu sein. Sie habe doch damals sogar dafür gesorgt, dass es bis zu Glenns Selbstmord eine homosexuelle Beziehung zwischen ihm und einen Erwachsenen bleiben konnte. Er war doch auch noch ein Kind, meinte Anna in ihrer naiven Ernsthaftigkeit. Gleichzeitig warf sie ihren Sohn ein Mitverschulden vor. Er habe ihn doch bei jeder Gelegenheit nachgestellt. Sie glaubte, sich daran zu erinnern, dass es eine krankhafte Liebe zwischen den beiden gewesen wäre. Wieder fiel Markus ihr ins Wort und forderte Anna auf, endlich zu begreifen, dass die seelische Not in der er sich damals befand dazu führte.
Markus kam mit der Erkenntniss nicht klar, doch ein Homosexueller zu sein. Er konnte und wollte es nicht akzeptieren weil es ihm kein Glück brachte. Markus war unglücklich darüber, anders wie alle anderen zu sein.
Das Homosexualität verboten war wusste er inzwischen, obwohl er sich nicht als ein Krimineller sah, hatte er immer ein schlechtes Gewissen. Strafe, Gefängnis, der Paragraph 175 des Strafgesetzbuches setzte sich wie eine Krake in seinem Kopf fest. Er war gezwungen ein Doppelspiel im Leben zu spielen, dass er aus Überzeugung so nicht wollte. Deshalb geschah alles im Verborgenen. Wobei er sich unter Seinesgleichen auch nicht zurecht fand.
Sein Verlangen nach dem Körperkontakt zum Manne war eine belastende, ungezähmte Sucht. Gewöhnlich bestritt er, dass er sich dabei krank fühlte, während andere das Liebe nannten. Nicht einmal der Anna, seiner Mutter konnte er sich darüber anvertrauen. Markus sollte auf keinen Fall ihrem Freund etwas davon erzählen, bat Anna mit mütterlichem Getue. Welch einen Eindruck würde es denn machen, keinen normalen Sohn zu haben.
Am Abend erschien ihr Lebensgefährte, und jeder hätte sehen können wie sehr die beiden sich verstanden. Er flüsterte sehr vertraulich, den Mund nahe an ihrem Ohrläppchen und fasste ihre Brüste dabei an.
Seine Mutter empfand er nicht mehr als so schlecht, wie er es bisher annahm.
Das kleine Wörtchen „Mutter" brachte er aber einfach nicht über die Lippen. Zu tief war der Graben, zu hoch die innere Mauer, die sie voneinander trennten. Der grauhaarige Herr sagte, dass Anna eine grossartige Frau wäre. Was ihn amüsierte war, sie konnte von Herzen über alle komischen Dinge lachen, besonders über Schwule. Markus fühlte sich verletzt, stand auf und verliess ohne Worte die Wohnung. Keiner hielt ihn auch nur einen Augenblick zurück.
Er kam als ein Fremder und ging wieder als Fremder. Stundenlang streifte er ziellos durch die Stadt. Gegenüber der Papierfabrik entdeckte er eine von Männern überfüllte Kneipe. Mutig wagte er sich hinein und tänzelte durch die Spelunke. Als er an einem Tisch Platz nahm, ein Mixgetränk bestellte und einige Typen provozierend anstarrte, verwechselte er wohl Fantasie und Wirklichkeit. Mehrmals begann Markus die Toilettenanlage aufzusuchen, in der Hoffnung, einer würde ihm unauffällig folgen, da er eine Bleibe für die Nacht benötigte. Als er kurz darauf wieder tänzelnden Schrittes aus der Toilette kam, versammelten sich mehrere Gäste um seinen Sitzplatz, schubsten und stiessen ihn hin und her. Ständig wiederholten sie ihre Sprüche, damit es auch jeder hören konnte: „Schaut her, ein Warmer". Dann plärrte ein anderer Stammgast: „Gell. Eine schwule Tunte". Im bayrischen Dialekt klang das besonders sympathisch. Soviel Angst hatte er schon lange nicht mehr.
Die Wahl seiner Kneipe erwies sich als ein Fehlgriff. Er war in eine Arbeiterkneipe neben der Fabrik geraten. Ohne sein Getränk bezahlen zu müssen, zerrten sie ihn auf den Hof und verjagten ihn tretend und beschimpfend wie einen Köder vom Acker.
Dennoch war Markus erleichtert, dass er glimpflich davon kam. Er lief bis zur Hauptstraße und trampte nach München zum Hauptbahnhof. Auch da stand er wie ein begossener Pudel, wie bestellt und nicht abgeholt vergeblich rum. Selbst die bekannten Gesichter aus der Stricherszene am Bahnhof waren wie vom Erdboden verschwunden. Es fand sich niemand, der ein Bett auf Zeit anbot.
Nachdem er sich entschlossen hatte, Charlys Schönheitsschlaf zu unterbrechen und ihn aus dem Bett zu schmeissen, lief er vom Stachus über das Gelände des Deutschen Museums in Richtung Paulaner Platz, vorbei an Telefonzellen und Parkplätzen, hinüber zur Häuserzeile in der Charly wohnte. Spät in der Nacht stand er vor dem Hauseingang. Nach kurzem Antippen des Klingelknopfes öffnete Charly so schnell, als hätte er an der Wohnungstür sein Bett aufgestellt. Markus eilte die Treppen hinauf. Charly, so schien es, kam ebenso erst vor einigen Minuten zu Hause an. Er war gerade dabei sich zu waschen und auszuziehen. Bisher hatte Markus sich immer diesen Anblick entziehen können. Aber dieses Mal gab es keine Möglichkeit den Fluchtweg anzutreten. Wenn Charly ihn berührte bekam Markus Gänsehaut, denn Charlys Körper war nur noch ein Horrorskelett mit tiefen Narben. Er litt unter Schlankheitswahn. Jedes Gramm zuviel auf der Wage und es folgte ein Abspecktag. Trotz einstiger Vereinbarung blieb es nicht aus, dass sie sich berührten. Es kostete Markus ein wenig Überwindung, denn Charly litt an einer Hautrötung sowie Schuppenflechte und seine bizarren Wünsche waren eher abstossend als anregend. Es wäre Markus egal gewesen zu sehen, wenn einer onanierte, seinen eigenen Samenerguss von den Händen ableckte.
Um einen Mega-Orgasmus zu erreichen hatte Markus auf seinen Wunsch Anfangs seinen Brustkorb mit einer fettigen Spezialcreme vorbehandelt, um eine glühende Kippe darauf auszudrücken. Damit war es noch lange nicht getan.
Durch die Brustwarzen und den Penis wurden durch vorgestochene Löcher, Ringe gezogen und mit einer schweren Kette miteinander verbunden. Seinen Lustgewinn erlebte Charly nicht nur im Erdulden lustvoller Schmerzen, sondern in der Vorstellung, dass der Partner der ihn misshandelt, ebenso bis aufs Blut erregt wäre. In der Demütigung, Beschimpfung und unter den Schlägen mit einer Lederrute lag die Erfüllung, das Glücksgefühl für ihn. Auf dem Boden kroch er winselnd, immer artig zu sein, stöhnend in das Badezimmer auf die Toilette, um von seinen eigenen Ausscheidungen beschmutzt zu werden. Markus dagegen fühlte sich entsetzlich elend, aber er brauchte wieder eine Unterkunft. Aus Erfahrung wusste Markus, zumal diese Prozedur eigentlich nur wenige Stunden dauerte und lediglich einmal im Monat stattfand, dass in solchen Augenblicken nicht darüber nachgedacht werden durfte, was er da mit machte.
Markus unsagbare Wut über das Leben veranlasste ihn, all die Erniedrigungen des Alltagswahnsinn ohne Widerstand zu dulden. Nachts lag er grübelnd in seinem Bett und konnte selbst nicht verstehen, dass er einer Bleibe wegen seinen Prinzipien untreu wurde.
Charlys bizarre Bedürfnisse fand Markus extrem krass. Anderseits wusste er, dass Charly nicht zu den Typen gehörte, die ihre Sexpartner wie gebrauchte Taschentücher in die man einmal rotzte, um sie dann in den Rinnstein wirft. Charly verstrickte sich immer mehr in seine Triebverirrungen.
Mittlerweile besass er eine Menge Hilfsmittel, um einen noch erlebnisreicheren Orgasmus zu erlangen. Es fand kein Gespräch mehr statt, dass nicht von sexuellen Andeutungen untermalen war.
Nebenher bastelte er an einer automatischen Beglückungsmaschine, vor die er sich nur bücken musste. Mit der Anmeldung zum Patent wollte er zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Sein persönliches Vergnügen und als Erfinder in die Geschichte eingehen.
Seinen Neigungen zum Masochismus und Fetischismus gesellte sich noch das Verlangen nach Gerüchen hinzu. Er genoss den Gestank von Körperausscheidungen über alles. Deshalb sperrte er hin und wieder die Wasserspülung seiner Toilette mit der Begründung, seine Spülung sei undicht.
So viel Zeit musste vergehen, bis er den Mut fasste sich Markus zu offenbaren. Charly fühlte sich erleichtert und glaubte, da Markus nun sein bestgehütetes Geheimnis kannte, von ihm endlich als Lebenspartner und Geliebter angenommen zu werden. Markus jedoch dachte an nichts anderes als, wie er am schnellsten von hier wegkommen könnte. Sein Ziel war Ludwig in Berlin, deshalb hielt er sämtliche Behördengänge ein.
Für ihn stand fest, dass er alles versuchen musste um von der Musterungsstelle in Fürstenfeldbruck abgelehnt zu werden. Dafür nahm er jeden Spott in Kauf. Er lackierte sich die Fuss und Fingernägel, toupierte sich das Haar und borgte sich von einem Transvestiten Damenunterwäsche und flippige hautenge Teenagerklamotten, wie es sich für eine abgetakelte Fregatte gehörte.
Das Benehmen einer Tunte war ihm ohnehin bestens vertraut. Stunden später sass er bereits im Wartezimmer des Kasernenarztes. Geladen waren noch weitere sieben Personen. Darunter entdeckte er drei ehemalige Mitschüler aus der Barackenschule aus Dachau, die ihn jedoch nicht erkannten. Aber er hatte genug damit zu tun, das Gelächter und die Tuschelei zu ertragen. Zitternd folgte er dem Aufruf des Arztes, der leicht schmunzelnd fragte, ob er sich darüber im klaren sei, dass es sich bei dieser Institution um keinen Treffpunkt für Karnevalisten handle. Als er Markus freundlich bat, seine Papiere auszuhändigen und sich zu entkleiden, stotterte er leise die Auskunft von Anna, dass er staatenlos sei. Daher verfüge er über keinerlei Papiere, ausser diesem Entlassungsschreiben aus dem Heim, die eine Art Identidätsbescheinigung war, mit der er sich ausweisen konnte.
Damit war die leidige Angelegenheit aber noch nicht überstanden. Nach der Aufnahme seiner Personalien folgte die Tauglichkeitsuntersuchung und im Anschluss ein kurzes Gespräch über seine angebliche Homosexualität, wie der Kasernenarzt sich ausdrückte. Markus schwitzte schon und sah sich alsbald in einer Gefängniszelle sitzen. Die Zahl 175 sass ihm im Nacken. Zwar wusste er nicht was alles in diesem Paragraph stand, aber er wusste, dass es verboten war anders zu sein. Dann durfte er sich wieder anziehen. Er sorgte sich, vielleicht gleich von der Polizei abgeholt zu werden.
Schliesslich telefonierte der Bundeswehrdoktor mit jemanden, während er sich eilig anzog. Dann stand er regungslos da und wartete auf irgend jemanden der durch die Tür tritt und falschen Alarm verkünden würde. Der Arzt beruhigte Markus, dass er mit Bestimmtheit niemals für schwerwiegende Aufgaben einsetzbar sei und er die Registrierung für den baldigen Erhalt von Ausweispapieren weiterleiten würde. Markus erhielt Unterlagen darüber, dass er lebt und bräuchte dann lediglich geeignete Passfotos, aber keine Karnevalsbilder an das Meldeamt senden oder vorbeibringen. Erleichtert verliess Markus, wie eine eingeschüchterte nicht bis drei zählende Tunte der Clownerie die Musterungsstelle Fürstenfeldbruck, als wäre er neu geboren.
Ein wenig hing er seinen Gedanken nach und kam zur Ansicht, dass es wirklich nichts gab, was zu verteidigen wert wäre. Er hatte nichts, war nichts und würde nach seiner Selbsteinschätzung vermutlich nie etwas werden, dachte er bedrückt. Der Weg führte wieder zu Charly zurück. Da gab es viel zu erzählen. Markus redete sich grossartig und tat das mit viel Phantasie. Lügen machte direkt wieder Spass, weil Charly die Aufsässigkeit gegen den Behördenapparat besonders liebte.
Charly erledigte mit Markus die Fotosendung an das Einwohnermeldeamt in Dachau. Bevor er nach Berlin auswanderte, fuhr Charly mit ihm noch aufs Land und besuchte Bauernhöfe die er kannte. In den Stunden des Beisammenseins griff Charly einen Fotoapparat aus seinen Umhängestoffbeutel um Erinnerungsbilder für sein Album zu machen. Es blieb nicht nur bei Portraits, nein, auf besonderen Wunsch von Charly entledigte Markus sich nach und nach seiner Kleidung. Der Stall auf dem Hof kam ihm wie gerufen. Der Fotograf liebte das Natürliche. Zwischen Heuhaufen und Gerümpel rekelte er sich in Posen um zu gefallen. Das die Bilder nur für Charlys Augen bestimmt waren, glaubte er ohnehin nicht. Was soll's, alles geht einmal zu Ende, dachte sich Markus und legte seinen Fotostrip hin.
Schon einige Tage darauf erhielt er die Benachrichtigung vom Landratsamt Dachau, in den nächsten Tagen zu erscheinen zwecks Aushändigung von Dokumenten.
Inzwischen war Ludwig aus Berlin-West in München eingetroffen und reservierte für zwei Tage ein Zimmer in einer Pension. Am Wochenende, zur Mittagszeit wollte er Markus besuchen. Den Sonnabend nutzte er um sich die Sehenswürdigkeiten Münchens anzusehen. Sonntag Vormittag machte er sich bei Zeiten auf dem Weg zu Markus. Am Paulaner Platz fand er nach kurzen Suchen endlich das Wohngebäude, der Hauseingang war sperrangelweit offen. Ludwig läutete in der ersten Etage an der Wohnungstür. Charly, nur mit einem Slip bekleidet, öffnete die Tür und bat Ludwig höflich in das chaotische Frischfleischparadies. Charly fand sich für sein Alter sehr ästhetisch und jugendlich. Er war erst sechsundvierzig und es wurde ihm langsam peinlich, von allen so viel jünger gehalten zu werden, sagte er. Deshalb konnte Charly sich mit älteren Herren nicht anfreunden. Der Besucher liess sich auf Gespräche des geistigen Elends nicht ein. Ludwig war von der Unordnung in der Wohnung nicht erbaut und als er Markus erwachen sah, empfand er Mitleid und sein Interesse wuchs, denn er hielt es für seine Aufgabe ohne Eigennutz jungen Menschen zu helfen. Natürlich mussten die Knaben seinem Geschmack entsprechen. Denn er hatte Freude an schönen unbehaarten Knabenkörper, würde jedoch niemals die Not zum eigenen Vergnügen ausnützen. Dieses konnte Ludwig nicht oft genug wiederholen. Ludwig beobachtete Markus beim Aufstehen und fotografierte ihn, der unausgeschlafen, wie nach einer durchzechten Party, mit seinen geschwollenen Augenlidern einem Asiate ähnelte. Was er an Knaben besonders liebte, war die Unbefangenheit und Lässigkeit der Bewegungen. Ohne Charly gingen sie ins Hotel um zu frühstücken. Anschliessend zeigte Markus ihm das Schwulenviertel, dem er zu entfliehen versuchte. Während des Stadtbummels versprach Ludwig in Gesprächen, ihn bei einem Neuanfang in Berlin zu unterstützen. Markus versprach Ludwig das Blaue vom Himmel. Er verstand es Ludwigs entgegengebrachtes Vertrauen zu festigen. Markus Verhalten schwankte zwischen burschikosen und femininen Auftreten mit einigen Widersprüchen. Als Ludwig hörte, dass er sich durch Prostitution über Wasser hielt, war es für ihn selbstverständlich Markus da herauszuholen, bevor er abstürzte.
Denn in diesem Milieu versiegen mit dem Älterwerden die Geldquellen. Der unaufhaltsame Weg in die menschliche Katastrophe wäre damit geebnet.
Markus würde dann wohl zu den Schwachen gehören, der auf Grund seiner Sensibilität dem Stärkeren hörig wäre. Ludwig erkannte die Probleme des Jungen sehr schnell und nannte sie ohne Umschweife beim Namen. Damit wollte er Markus davon abbringen nicht alles hinzunehmen, sondern sich zu wehren.
Markus tat es gut, einmal über seine Sorgen und Probleme offen sprechen zu können. Lange hatten sie sich unterhalten.
Kurze Zeit später erklärte Ludwig, dass er nun langsam von seinem Bündel Abschied nehmen müsse. Markus wurde unsicher. Hiess das nun „Ja oder Nein." Als Ludwig versprach ihm zu helfen, fiel Markus ein Stein vom Herzen.
Auf dem Weg zum Bahnhof kritisierte Ludwig die Sitten und Bräuche der Homoszene.
Markus musste sich bis zur Übersiedlung nach Berlin noch einige Zeit gedulden, da Ludwig noch Vorbereitungen zu treffen hatte.
Für Markus war nun die Stunde gekommen, über sein verkapptes Leben nachzudenken und mit seiner Vergangenheit abzuschliessen.
Nachdem Ludwig längst im Nachtzug nach Berlin sass, unternahm Markus einen ausgedehnten Spaziergang. Bei Charly zuhause angekommen, teilte er sich ihn vertrauensvoll an. Auch er zeigte nun Verständnis und sah ein, dass nur Ludwig Markus in geordnete Bahnen leiten könnte.
Plötzlich, aus heiterem Himmel besann Markus sich auf eine länger zurückliegende kurze Beziehung aus dem Pasinger Wohnheim, einem Stricherkollegen der damals seine freie Zeit mit Markus verbrachte.
Geistesabwesend griff er nach seiner stricherhaften „Berufskleidung", zog sich eilig um und verliess wie vom Blitz getroffen die Wohnung. Rannte voller Ungeduld zur nächsten Trambahnhaltestelle auf der Rosenheimerstraße. In der Straßenbahn überkam ihn das Gefühl innerlicher Leere, von der er sich immer mehr fürchtete. Da war er wieder, dieser melancholische Augenblick des Schwermuts, das Gefühl des Verlassenseins und die Angst von den Menschen, die ihn einmal was bedeuteten, nicht gemocht zu werden und die eine plötzliche Sehnsucht nach einem Wochenendfreund in ihn auslösste.
Markus hatte panische Sorge, dass sein Freund von ihm vielleicht nichts mehr wissen wollte. Gerade jetzt sehnte er sich nach Cocos Ruhe und Gelassenheit. Seine Nähe würde ihn jetzt gut tun.
Endlich hatte er Pasing erreicht. Der Weg vom Pasinger Marienplatz zum Wohnheim kam ihn länger als sonst vor. Seine Nervosität artete fast in Stress aus. Einmal wollte er Coco noch sehen und sprechen, bevor er in München seine Zelte für immer abbrach. Je näher er dem Wohnheim kam, desto schneller schlug sein Puls vor Aufregung. Bald darauf stand Markus verschwitzt vor seiner Zimmertür und klopfte mehrmals an. Er hoffte so sehr, die Stimme seinens Ex-Freundes noch einmal zu hören, konnte sich allerdings nicht erklären, warum das so wichtig für ihn war. Coco öffnete die Tür und stützte die Arme gegen den Türrahmen. Sprach kein Wort, sondern sah den abgehetzten Pickeljungen fragend an. Markus war bewusst, dass er Coco damals, als er einfach so „mir nichts, dir nichts“ verschwand, sehr weh getan hatte.
Markus näherte sich ihm zärtlich und umarmte ihn. Innerlich hoffte er, nicht abgelehnt zu werden. Coco lies ihn gewähren, zog ihn in sein Zimmer indem er zur Zeit alleine hauste und forderte Markus auf sich auszuziehen. Für Markus selbst überraschend, überkam ihn das Gefühl, dass sein eigener Körper, seine Nacktheit plötzlich etwas war, wofür er sich schämen müsse. Verlegen , mit zitternden Händen tastete Markus Cocos muskulöse Oberarme ab, dabei spürte er seine Körperwärme. Markus bemerkte, wie Coco die Zähne zusammenbiss und seine Wangenmuskel spielten, als ginge er gleich zum Angriff über. Er ballte die Faust und tat so, als würde er zum Tiefschlag ausholen. Einen Augenblick dachte Markus schon seine letzte Stunde hätte geschlagen. Den Magenschwinger hätte er bestimmt nicht so schnell weggesteckt, schoss es Markus durch den Kopf, der Spass und Ernst der Lage kaum zu unterscheiden vermochte.
Coco schubste ihn aufs Bett und stellte sich breitbeinig, in Boxershorts, wie ein bulliger Riese vor ihn und reizte Markus, indem er seine Muskeln spielen lies. Mit strahlenden Augen bewunderte Markus den nackten Körper Cocos, während er sich zögernd, fast schamhaft seiner Kleidung entledigte. Er bat, ihm keine Schmerzen zuzufügen und das Licht auszumachen. Cocos Gesichtsausdruck verriet nicht was er vorhatte. Coco hatte ein Geheimnis, dass er nicht preisgeben wollte. Seit kurzem war er mit einem Mädchen liiert, das er liebte.
Im Zwiespalt seiner Gefühle tauchten Gedanken der Lust auf. Mit einem schwulen Jungen, der nicht nur bereit war zu geben, liess sich seine Lust in vollen Zügen geniessen. Coco beugte sich langsam über Markus und legte sich neben ihn. Markus kuschelte sich eng an ihn, flüsterte ihm zu, dass das heute ihr letztes Mal sei und berührte dabei Cocos Brustwarzen mit der Zungenspitze.
Die Abschiedsstimmung stimmte beide traurig. Cocos Hände wanderten zärtlich über Markus Bein und Hüfte. Seine Lippen liebkosten zärtlich Markus Körper. Als sich ihre Hände berührten, begannen die Finger miteinander zu spielen, bis sich ihre feuchten Lippen in zarter Harmonie fanden und die Zungen sich dem Schlangenspiel widmeten. Sobald ihre Körper sich eng umschlangen erzeugten sie in der Hitze des Gefechtes dumpfe Geräusche. Das zarte Vorspiel glich einer traumhaften Sinfonie. In ihrer Vertrautheit lebten sie ihre Lust bis zur totalen Erschöpfung aus. Das Bett wurde zum Paradies auf Erden. Für einen Augenblick gehörte einer dem anderen ohne viel Worte.
Zur Gemeinsamkeit nach dem Liebesspiel gehörte die berühmte Zigarette danach. Dem einen bewog der Abschiedsschmerz, dem Anderen die Besinnung in Zukunft sein Leben mit einer Frau zu teilen.
Über sein widersprüchliches Verhalten dachte Markus nicht weiter nach.
Er strebte eine Veränderung ernsthaft an, denn er wünschte sich so sehr geregelte Verhältnisse, musste sich aber an diesen Gedanken erst langsam gewöhnen. Nichts schien im Leben so einfach, wie unterzugehen.
Markus schlüpfte in seine Kleidung und wagte es nicht Coco anzusehen. Deprimiert verliess er den Raum, rannte durch die Gänge die Treppen hinunter. In sich gekehrt überdachte Markus sein bisheriges Leben. Eigentlich gab es nichts woran er lange Zeit ein wenig Freude empfand. Für ihn spielte sich alles in kurzen Augenblicken ab. Nichts liess sich festhalten. Seine Sehnsucht nach einen Menschen, den er liebte um selbst geliebt zu werden, überwog alles, schien für ihn unerreichbar. Markus blieb ein Gefangener seiner Wünsche und Träume.
Er nutzte alle Gelegenheiten, die sich boten, um im geheimnisumwitterten Garten der Liebe seine Sucht auszuleben. In der Anonymität der Nacht gab es keine Scham zwischen Sträuchern und Büschen. Für Gefühle und Romantik war beim Streifzug durch Parks kein Platz. Es ging nur um eine einzige Sache: Körper zu benützen und benützt zu werden, ohne Verpflichtung. Mehr wie Müllschlucker waren sie allesamt nicht. Egal wie abartig sich einer darstellte, desto eher konnte er Punkten. Gesittete Personen entsprachen nicht dem Trend, so wie sie kamen, durften sie alleine wieder in ihre vereinsamte Welt zurück kehren. Fühlte sich Markus dabei unbehaglich, flüchtete er in den Alkohol. Mehrere Flaschen Bier genügten eine Erklärung für alles zu finden, oder sich die Welt schön zu saufen. Immer waren doch die anderen schuld! Am Morgen nach dem nächtlichen Streifzug durch die Parks wollte Charly mit ihm frühstücken. Der Tisch war liebevoll gedeckt, mit einem Strauss Blumen geschmückt, das Zimmer sogar aufgeräumt. Markus schwieg wie immer, ausserdem war er in seinen Gedanken längst in Berlin und Charly fing an den Tag zu verplanen. Erst wollte er mit ihm einige Geschäfte aufsuchen, denn seine Mutter hatte Geburtstag. Einer alten Frau etwas zu schenken war ja nicht so einfach. Charlys Mutter hatte mit ihrem Sohn eines gemeinsam: Sie nörgelten unentwegt an allem herum. Es gab nichts, was den Beiden recht gemacht werden konnte. Für die Mutter von Charly existierte Markus als Gast schon lange nicht mehr. Sie war in dem Glauben, dass er die Wohnung längst verlassen hatte. Daher sträubte sich Markus ihr noch einmal zu begegnen.
Am Morgen läutete das Telefon, dass gerade seit einer Woche wieder angeschlossen war. Ein Verflossener meldete sich. Markus erkannte den Anrufer und legte wieder auf.
Zehn Minuten später ärgerte er sich darüber, vielleicht wäre das ja der Richtige fürs Leben gewesen.
Das Leben schien alles andere als ein berauschender Fackeltanz zu sein.
Der Zigarettenrauch im Zimmer wurde immer stickiger, die Stimmung drückender und Charly ungeduldiger.
Man könne nicht jeden Tag das gleiche Spiel spielen ohne verrückt zu werden, entgegnete Charly.
Im Treppenhaus erwähnte er, dass er in seiner Kindheit, seine Freizeit meist mit Musizieren verbracht hatte. Er selber war damals leidenschaftlicher Akkordeonspieler, aber er war wohl nicht gut genug. Um seine Orgeln in Bayern in Schuss zu halten reichte es aus.
In der augenblicklich guten Laune kam Charly auf Markus Pläne zu sprechen und äusserte die Befürchtung, dass er alles zu überstürzt handhabe. Doch Markus Entschluss stand fest. Berlin war das Ziel und Ludwig diente als sein Sprungbrett in ein neues Leben. Er liess sich davon nicht abbringen. Markus hatte sich lange genug gedanklich darauf vorbereitet und war felsenfest entschlossen, einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen, glaubte daran das Schicksal bezwingen zu können. Er wollte nicht so erbärmlich enden wie einige seiner flüchtigen Bekanntschaften. Charly erinnerte ihn an seine noblen Freunde, die es gut mit ihm meinten und klagte vorwurfsvoll, dass er es doch sei, dem die Fähigkeit fehlte darauf anzuspringen. Nein, schrie Markus aufbrausend. Von diesem Mist wollte er nie wieder etwas hören und wirkliche Freunde hatte er nie gehabt. Wenn er das schon hörte: „Den Freunden wären auch die Hände gebunden", konnte Markus keinen guten Gedanken mehr an sie verschwenden.
Doch da war der verdammte innere Stolz, der die Realität verdrängen half. Vielleicht hätte er sich im Leben nicht so gedemütigt gefühlt, wenn ihm die eigene Mutter nicht so krass die Tiefen des Seins vorgelebt, und die Heimerziehung sich mehr um die Gesundung und das Wohlergehen seiner Seele gekümmert hätte. Wen auch immer die Schuld an seinem Unheil traf, er hatte sich nichts vorzuwerfen. Sein Alter gab ihm das Recht, es so zu sehen.
Charly schüttelte den Kopf und nannte ihn einen Unverbesserlichen. Erst da überreichte er ihm im Auto als Abschiedsgeschenk, extra von einem Astrologen für sein Sternzeichen angefertigt, ein Horoskop mit Rhythmogramm. Was auch immer es sein mochte. Markus hörte zum ersten Mal, dass sein Leben vorausgesagt werden konnte. Darin standen Eigenschaften über ihn, die ihm völlig neu waren. Da war sogar von Arbeitsamkeit, Disziplin, Strebsamkeit, Zielbewusst, Zähigkeit, übertriebene Sparsamkeit und Organisationstalent die Rede. Wenn dem doch so wäre, dachte Markus erstaunt und verwundert. Wie wenig man sich doch kannte! Markus redete unentwegt auf der Fahrt nach Hause. Charly hörte ihm gar nicht zu, denn er hielt Ausschau. Dabei wanderten seine Blicke auf die vielen jungen Männer auf dem Bürgersteig. Zum Zeitung lesen benötigte er stets eine Brille, aber was Jungs betraf hatte er die Sichtgenauigkeit eines Adlers. Seine Augen blieben an einem bestimmten Typ in enger Jeans hängen, dessen dicker Schwanz sich deutlich unter dem Tuch abzeichnete. Er achtete bei dem Schneckentempo des Verkehrs mehr auf diesen Typ, als auf den Autoverkehr. Dann knallte es auch schon. An der Ampel, die auf rot geschaltet war fuhr er auf ein PKW. Charly verlor total die Fassung, schien einem Herzinfarkt nahe. Sein Glück war es, dass der Geschädigte mehr um Charlys Zustand besorgt war, als um die verbeulte Stossstange seines eigenen PKWs. Das noch glimpflich abgelaufene Drama endete zur Zufriedenheit aller, denn es hätte weitaus schlimmer kommen können. Der nett aussehende ältere Fahrer des beschädigten Autos verzichtete auf Ansprüche, weil er in Eile war und trat die Weiterfahrt an. Doch Charly war über seine fahrbare Rostlaube todunglücklich. Trotz guten Zuredens und den unglaublichen Fachkenntnissen Charlys, gab der Schrotthaufen, dessen Mercedesstern auf der Motorhaube ziemlich merkwürdig aussah, keinen Muckser mehr von sich. Während er den Stern des Wagens nachpolierte war der von ihm vermutete Totalschaden ausgeschlossen. Es tropfte hinten, leckte vorn, dass der Wagen ein wenig kürzer aussah, war bei diesem Zusammenprall normal und die zerknautschten Teile liessen sich schliesslich irgendwann austauschen. Markus fand es erstaunlich, dass dem anderen PKW ausser einer schiefen Stossstange kein weiterer Schaden entstanden war. Charlys Auto hatte sich vorne regelrecht zusammengeschoben. Charly versuchte den Abschleppdienst anzurufen und meinte nebenbei: Aber der geile Typ am Straßenrand von vorhin war doch toll oder? Es gab kaum jemanden auf diesem Planeten, der über soviel Humor verfügte, egal in welch bedrückender Situation er sich befand.
Zu Hause angekommen, steckte ein dicker Brief aus Berlin im Briefkasten.
Kurze Zeit später sassen beide betrübt in Charlys Wohnung. Markus öffnete den Brief aus Berlin und las einige Zeilen daraus vor und betonte: „Morgen gehts los"!
Am nächsten Abend sass Markus bereits im Nachtzug nach Berlin. Während er die Grenzstation des eisernen Vorhangs erreichte, wurde Charly in München erst klar, in welch einer bedrückenden Situation er sich plötzlich befand.
Um ihn war es beängstigend still geworden.
Die Räume wirkten leblos und leer.
Das lange Spiel einer einseitigen Beziehung war nun zu Ende. Diese Unruhe der Gefühle quälten und liessen ihn nicht einschlafen. Auch der Berlin-Reisende sass hellwach in seinem Abteil in der Ecke, die als Schlafnische diente. Aufgeschreckt von der westdeutschen Grenzpolizei, überreichte er mit zitternder Hand seine Ausweisbescheinigung. Bei der Anzahl von Fragen wusste er manchmal nicht, ob er mit "ja oder nein" antworten sollte. Also zog er es vor zu schweigen. Dabei versuchte der Grenzer ihm nur zu erklären, dass er sich schleunigst um eine Aufenthaltsgenehmigung bemühen müsste und wünschte eine gute Weiterfahrt. Doch schon Minuten später stiegen die Grenzsoldaten der Deutschen Demokratischen Republik zu. Ängstlich folgte Markus der Aufforderung, aus dem Abteil herauszutreten. Ihm wurde eine Identitätsbescheinigung ausgestellt, die er mit seinen letzten zehn Mark zu begleichen hatte. Als dieses Unbehagen vorüber war, fand er Uniformierte doch ganz nett, auch wenn dominante Kerle nicht so seinem Geschmack entsprachen. Wäre mal was anderes, dachte er mit schmutzigen Hintergedanken. Aber die Zeit sollte nun endgültig vergessen sein. Markus Ziel war es, ein neues Leben zu beginnen. So blieb noch ein Stunde für Zukunftspläne. An jenem Morgen im Zug, war es ihm nicht klar, wie er sich Ludwig gegenüber verhalten sollte. Der hatte sich bereit erklärt Markus aus der schwierigen Lage herauszuhelfen. Viele geschriebene Briefe hatten ein starkes Vertrauensverhältnis zwischen ihnen aufgebaut. Aber einige Briefe an Ludwig waren geflunkert, denn Markus hatte nur einen Wunsch, dass ihm ein neuer Anfang ermöglicht wird. Kleine Lügereien wollte er durch Fairness ihm gegenüber Wett machen. Denn wahr ist, dass wusste Markus, ohne Ludwig wären seine Chancen sehr gering und er würde in der Münchner Schwulenszene versacken und untergehen. Markus war von Ludwigs Plänen ohnehin überzeugt und beschloss, wenn er in Berlin lebte seinen Anweisungen zu folgen.
Im Bahnhof Zoo, witterte Ludwig grosse Gefahr für Markus, deshalb war ihm diese Stätte ein Dorn im Auge. In dem verwahrlosten Treffpunkt der Stricher und Drogensüchtigen sah Ludwig eine drohende Realität für Markus. Er stand am Bahngleis und wartete auf die Ankunft des Zuges. Ludwig liess sich die aufrichtigen Gedanken, seine Bekenntnisse und Vorsätze, die Markus ihn in Briefen mitgeteilt hatte noch einmal durch den Kopf gehen. Ein erschütterndes Bild bot sich ihm dar, da er wusste, wie unglücklich Markus über seine homophile Veranlagung war. Markus panische Angst vor Spott und Unterdrückung hinderte ihn daran, sich der Allgemeinheit anzupassen. Letzteres war für Ludwig die Ursache des ganzen Übels.
Der Zug fuhr in den Bahnhof ein. Markus wartete bis der letzte Fahrgast ausgestiegen war. Erst dann verliess er langsam den Zug. Mit einer Sporttasche und einem kleinen Täschchen in der Hand kam Markus Ludwig entgegen. Keiner wusste so recht, was er sagen sollte. Markus wirkte auf Ludwig herausgeputzt und feminin. Seine Kleidung sass hauteng und betonte seine Figur auf provozierende Art und Weise. Gemeinsam fuhren sie in die Wohnung, die Ludwig für ihn gemietet hatte. Er führte Markus durch die Räume und suchte seine Körpernähe.
Als Dank dafür zeigte Markus ihm die kalte Schulter. Er hatte das Bedürfnis alleine zu sein und bat Ludwig zu gehen. Markus meinte, er hätte während der Fahrt kein Auge zugemacht und sei jetzt hundemüde. Ludwig liess ihn in Ruhe, schloss die Tür und begab sich in den Vorraum. Die Wohnung befand sich noch im Renovierungszustand, so machte sich Ludwig an die Arbeit. Er strich Zierleisten, schloss den Herd an und reinigte den Küchenboden.
Markus schlief währenddessen tief und fest. Ludwig blieb also genügend Zeit, seinen Entschluss noch einmal gründlich zu überdenken. In erster Linie ging es ihn darum, so schnell wie möglich eine Arbeitsstelle für Markus zu finden.
Er ging ins Zimmer um nach Markus zu sehen. Ludwig betrachtete ihn und liess sich inspirieren, dieses schlafende Bündel zu fotografieren. Es war eine seiner Leidenschaften junge Männer abzulichten.
Spät in der Nacht entwickelte Ludwig den Film in seinem Fotolabor. Er wollte Markus mit den Bildern überraschen.
Am Morgen, nachdem er einen starken Kaffe getrunken hatte, beschloss er, Markus seiner Frau vorzustellen. Markus jedoch versuchte den Besuch bei Ludwigs Frau hinauszuschieben. Er war mehr daran interessiert, noch einmal den Namen der Strasse zu erfahren in der er jetzt wohnte, denn er hatte sie vergessen.
Wie sich herausstellte, wohnte er jetzt in der Pankstraße. Der Berliner Bezirk Wedding war nicht gerade der Boulevard der Grossstadt, aber hier liess es sich zwischen den Altbauten, einem Gesundheitsbad und einem Bodybuilding Studio bestimmt gut leben.
Markus erfuhr von Ludwig, dass die Inhaberin des Gesundheitsbades die Vermieterin seiner jetzigen Bleibe sei. Sie war eine attraktive rothaarige Masseuse, deren Hände den Patienten durch klopfen und kneten zur Lockerung verspannter Muskeln verhalfen. Das Walken, Reiben und Streichen sollte die Durchblutung verbessern.
Auf Rezept wurden gesundheitlich wohltuende Wasser-Vibrationsmassagen durchgeführt.
Nach kurzer Zeit, lernte Markus die Dame persönlich kennen.
Ihr Aussehen verriet, dass sie in jungen Jahren eine bildhübsche Frau gewesen sein musste. Er war der Meinung, dass nur schöne Menschen diese freundliche Ausstrahlung hätten. Jedes Wort das sie sagte, vermittelte Markus eine gewisse Zufriedenheit und ihr lächeln wirkte niemals müde.
Er jedoch hatte in eine so überschwängliche Freundlichkeit kein Vertrauen, schon gar nicht zu einer Frau. Anscheinend kam es ihm nie in den Sinn, dass seine Lieblingssängerin, die er so sehr verehrte auch eine Frau war, aber darüber dachte er eigentlich nicht nach. Offensichtlich war Mademoiselle Franciose Hardy für ihn ein geschlechtsloses Wesen, dass seine Anbetung verdiente. Diese Frau bedeutete Markus mehr als er selbst ahnte. Ihre Stimme wurde zum Halt seines Lebens, an die er sich in dunklen Stunden klammerte. Er brauchte keine französischen Texte zu verstehen. Die Melodien und ihre Stimme allein, erleichterten oft seine verwirrte Seele.
Ihre zart rauchige Stimme beherrschte sein Herz und seine Gedankenwelt. In seiner kleinen Reisetasche befanden sich Unmengen von Zeitungsausschnitten, die nur darauf warteten, an die Wand geklebt zu werden.
Sein neues Zuhause gefiel ihm gut und die freien Wandflächen eigneten sich ideal für sein Vorhaben. Für die bescheidene Einrichtung fiel der Wohnraum gross aus. Im Wohnzimmer stand an der linken Seite des Eingangs eine Schlafliege, davor diente eine Musiktruhe mit Schiebetüren aus den Anfängen der sechziger Jahre als Ablage. Etwa ein Meter davon entfernt ein wackeliger Tisch und zwei dazu passende Stühle aus den fünfziger Jahren, die wohl ebenfalls aus einer Gebraucht-Möbelhandlung stammten. Bis zur angrenzenden Fensterfront zur Straßenseite hin, war viel freier Platz. Zwei sehr kleine Fenster spendeten Tageslicht für die Zimmerpflanzen und genug Helligkeit für den Raum. Gegenüber stand ein Schränkchen mit kleinen Wäschefächern an der riesig kahl wirkenden Wand. Ludwig meinte: Nur wahre Zufriedenheit fände sich in der Einfachheit. Markus entdeckte im Musikkasten einen Plattenspieler. Sofort holte er seine Schallplatte aus seinem Gepäck. Bevor er mit Ludwig nach Siemensstadt zu seiner Frau fuhr, dröhnte unentwegt; „La nuit est sur la ville" aus dem 20 Watt Lautsprecher und führte zu der ersten Auseinandersetzung. Ludwigs Ohren hatten für dieses „Gejaule" kein Verständnis. Er liebte klassische Musik und kündigte an, ihm demnächst Klassik mitzubringen. Markus widersprach nicht, fand Ludwig einfach nur doof und trottete hinter ihm her zum Auto. Auf der Fahrt nach Siemensstadt, dem Bezirk in dem Ludwig mit seiner Frau wohnte, gab es einige Anweisungen, wie Markus sich dort zu benehmen hätte. Diesbezügliche Anordnungen nahmen kein Ende. Markus dachte in diesem Augenblick an ihm sei alles falsch. Die Kritik an seiner äusseren Erscheinung traf den Nerv des Jungen. Keine Menschenseele wusste darüber so genau Bescheid wie er selbst. Der ewige Vorwurf, alles zu tun um wie ein Mädchen auszusehen, kränkte ihn, denn genau das wollte Markus eigentlich nicht.
Markus hatte sich fest vorgenommen sein Erscheinungsbild zu ändern, wusste aber noch nicht wie.
Körperhaare durfte er keine haben, auf glatte gepflegte Haut sollte er achten, eine gepflegte deutsche Aussprache wurde erwartet, ein liebes und anschmiegsames Verhalten war angeraten. Fühlte Markus sich unbeobachtet, benahm er sich völlig normal wie jeder andere junge Mann seines Alters ohne feminines Getue. Letzteres monierte Ludwig aufs schärfste, wollte er doch einen zarten Knaben, der seinen Vorstellungen entsprach und seine Interessen teilte. Die ganze Aussprache hatte Markus sehr deprimiert. Das Vertrauen zu Ludwig schien angekratzt und der Vergangenheit anzugehören. Schon nach wenigen Tagen in Berlin soll's das gewesen sein. Aus Enttäuschung spielte er mit dem Gedanke der Trennung. Ludwigs Vortrag interessierte ihn kaum noch. Die Sehnsucht in seinem Tief nach einer echten Freundschaft führten dazu, dass er wieder einmal Liebe mit Triebhaftigkeit verwechselte.
Schon bald begab er sich auf die Suche nach neuen Bekanntschaften. Das half sich den Vorwürfen und den Druck Ludwigs der auf ihn lastete zu entziehen, und sich aus der demütigenden Realität zu stehlen.
Die Dame des Hauses liess mehrere Stunden auf sich warten. Diese Zeit nutzte Ludwig, Markus die Wohnung, von der Küche bis zum Wohnzimmer zu zeigen. Im Hobbyraum kam der Hinweis auf die getrennten Schlafzimmer. Dann führte er Markus in eine kleine Fotokammer, in der eine Regalwand vom Boden bis zur Decke mit diversen Büchern ausgefüllt war. Auf die Anfrage, was er denn lese, antwortete Markus spontan, ausser seine Schulbücher keine anderen Bücher gelesen zu haben. Ludwig versuchte ihn daraufhin ein neues Hobby nahe zu bringen. Doch Homoerotische Literatur interessierten Markus überhaupt nicht. An seiner Fotosammlung jedoch zeigte er reges Interesse.
Begeisternd darüber führte er Markus all seine Geräte und Apparaturen vor. Kroch in dem engen Raum umher, reichte ihm Album um Alben zum ansehen. Jedes Bild eines blutjungen Knaben wurde von Ludwig freudig kommentiert.
Mit seiner Fotoausrüstung die er immer bei sich trug lockte er neugierige Jungen am Teufelsee an. Zeigte er an einem Knaben Interesse, holte er die Erlaubnis bei dessen Eltern ein, den Knaben bei sich zu Hause fotografieren zu dürfen.
Die Teenys fanden enormen Spass daran einen Freund zu haben, der auf sie einging und den sie ihn in seiner Wohnung besuchen durften.
Für das Fotografieren gab Ludwig ihnen ein kleines Taschengeld und schenkte den Eltern neutrale Aufnahmen. Damit legalisierte Ludwig seine Bedürfnisse nach dem Anblick nackter Knabenkörper.
Markus sah seinen Neuanfang in Berlin gefährdet, denn ohne Arbeit würde sich an seiner Situation nichts ändern. Bisher hatte er angenommen, er sei der einzige Spielgefährte für Ludwig. Dennoch glaubte er, wie ehrbare Homosexuelle die" Knabenliebhaber" ablehnten, dass Ludwig niemals die Hilflosigkeit eines Jungendlichen ausnützen würde.
Es stellte sich allerdings für Markus bald raus, dass Ludwig nur wenige der Jungs mit seiner Betreuung auf den richtigen Weg gebracht hatte. Die meisten seiner Schützlinge stammten aus zerrütteten Ehen oder aus verkrachten Existenzen. An einen arbeitslosen Vater eines Knaben zahlte Ludwig regelmässig, freiwillig 250,- DM Schweigegeld. Eine Anzeige hätte seinen beruflichen Ruin zur Folge, zudem er erst vor kurzen öffentlich, von politischer Prominenz für sein Lebenswerk an einer Hochschule ausgezeichnet wurde und den Professorentitel verliehen bekam.
Markus zog aus dem ihm entgegengebrachten Vertrauen die Folge, dass auch Ludwig ein vereinsamter Mensch sei und einen Freund bitter nötig hatte.
Deswegen beschloss er aufrichtig, es wenigstens miteinander zu versuchen. Seiner Verschwiegenheit konnte Ludwig sicher sein.
Die Begegnung mit seiner Frau verlief in freundlicher Distanz. In ihrem Gesichtsausdruck lag ein wenig Enttäuschung. Markus glaubte den Grund zu kennen.
Wie musste einer Frau von über 60 Jahren zu Mute sein, die nur dunkel ahnte, welch ein schmutziges Spiel sich hinter ihrem Rücken abspielte und allmählich erkannte, dass ihr ein männlicher Rivale gegenübersass.
35 Jahre Ehe, ihre Kinder und die plötzlich verlorenen Gemeinsamkeiten zogen durch ihre Gedanken, Höhen und Tiefen, Entbehrungen und Schmerz, Glück und ein gemeinsam erarbeiteter Wohlstand war ihr Leben, bis ins hohe Alter.
Ihre Zuneigung für ihren Mann hatte in all den Jahren nicht nachgelassen. Ludwig war und blieb ihr Lebensinhalt. So duldete sie seine Liebe zu Knaben und hoffte, dass er mit Gottes Hilfe den Weg zu ihr zurückfinden würde. Beide waren sehr Gläubige Menschen.
Markus verabschiedete sich dankend und dachte, dass sie bestimmt Freunde werden würden. Er hatte nicht die Absicht dieser Frau weh zu tun.
Mit gemischten Gefühlen stieg er zögernd und nachdenklich in Ludwigs Auto und liess sich nach Hause fahren.
Auf dem Nachhauseweg fand zwischen Ludwig und Markus kein klärendes Gespräch statt. Der väterliche Freund, als den er sich gerne gesehen hätte, plante Markus Lebensweg. Der aber wollte den Absprung wagen, sobald er einen Arbeitsplatz finden würde. Es gab keinerlei Anzeichen einer echten Freundschaft. Ludwig sah sich als Weltverbesserer und Diener Gottes. Seine Anweisungen was Markus zu tun und zu lassen habe, erstickte Zuneigung und Dankbarkeit im Keim. Ludwig behandelte Markus mit zunehmender Strenge. Das und die ständige Beaufsichtigung hatte zur Folge, dass es Markus jede Nacht in die Parkanlagen der Stadt trieb, in der Hoffnung jemanden kennenzulernen.
Oft streunte er stundenlang in der beängstigenden Dunkelheit kreuz und quer zwischen dichten Sträucher vorbei an herumtreibenden Abenteurern. Ab und zu nahm er aus dem Dickicht Gestöhne schwuler Liebespärchen wahr.
Markus fand am Alleinsein immer mehr Gefallen, weil ihn die ewige Sucherei, verletzt und ständig abgelehnt zu werden abschreckte. Immer öfter verfiel er in eine Art Melancholie und Traurigkeit.
Tagsüber lebte er wie ein von der Aussenwelt isolierter, ohne die Möglichkeit zu haben, zu anderen Kontakte aufnehmen zu können. Bemerkte Ludwig die kleinste Veränderung diesbezüglich, sorgte er dafür, dass er für zeitaufwendige Tätigkeiten eingesetzt wurde. Gartenarbeit, Garagenputz, das reinigen des Bootes oder des Autos musste dann nacheinander erledigt werden. Auch durch die verletzenden Worten Ludwigs fühlte Markus, vielleicht doch nicht normal zu sein.
Sein Retter in der Not versicherte, mit seiner Erziehung nur das Beste für ihn zu wollen. Täglich ermahnte er Markus, nicht auf die Strasse zu gehen, da ihn jeder ansehen würde, dass er schwul sei.
Selbst im Beisein Ludwigs wurde er in primitiven Berliner Jargon von Typen einer Baustelle angepöbelt. An die Worte, schwule Sau, Schwanzlutscher oder Arschficker hatte er sich längst gewöhnt. Markus tat so, als überhörte er es einfach.
Heimatliche Klänge nannte er diese demütigenden Ausdrücke deutschen Wortschatzes schnuckeliger Typen.
Seine Augen fanden trotz dem noch etwas Gutes an dem Geschehen, woran er sich erfreuen konnte.
Ein weiteres Zeichen seiner Abnormität, denn er fand an diesen miesen Typen auch noch Gefallen.
Für ihn waren es „geil aussehende Männer" von denen er träumte.
Ludwig führte wissenschaftliche Tagebücher für die Nachwelt, in denen er immer nur über einen seiner aktuellen Fälle berichtete.
In seinen Notizen bemängelte er, dass er Markus nie nackt antraf, wenn er zum täglichen Wecken erschien. Für Ludwig ein sicheres Zeichen, dass er sich nicht wäscht. Weshalb schminkt und parfümiert sich ein Mann? Selbstverständlich weil er sich nicht wäscht! Weiter beklagte er in seinem Tagebuch die Vermutung, dass Markus „dem liebenden" Freund seinen schönen Körper, so wie Gott ihn schuf, vorenthielt.
Wie gross das alltäglich Geschrei auch war, Markus liess sich von ihm nicht anfassen.
Das Auftragen von kosmetischen Abdeckcremen und Make-up war für Markus Psyche „lebenswichtig“, denn anders konnte er seine schlimmen Aknepickel nicht verstecken. Das Tuschen der Wimpern, gab Markus das gewisse Etwas. Markus fand sich sehr hässlich und Ludwig bestätigte ihn darin auch noch durch seine Äusserungen. Von dieser angeblich femininen Ausstrahlung konnte er sich nicht befreien. Je häufiger man ihn sein Aussehen zum Vorwurf machte, desto mehr glaubte er im falschen Körper zu leben. Deshalb versuchte er sich damit zu arrangieren, um seinen Frieden zu finden.
Auf Teufel komm raus bestellte er über Versandhäuser Damenklamotten. Das begleichen der Rechnungen hatte ja Zeit. So schlüpfte er in Frauenkleider um nicht unangenehm aufzufallen. Markus stylte sich wie eine Frau. Änderte seine Frisur, da er eh lange Haare hatte, gelang ihm das sehr gut. Zog einen ausgestopften BH an, einen Nickipullover und einen Minirock, eine Nylonstrumpfhose und Stöckelschuhe. Tagelang übte er das Laufen und die grazilen Bewegungen einer Frau. Markus hatte die feste Absicht so zu leben. Sollte es schiefgehen, dann würde er sich aufhängen, dachte er für sich als letzten Ausweg.
In eleganten Schwarz mischte er sich ohne Scheu unter die Menschenmenge der U-Bahn. Als Freizeittransvestit, erlebte er für Augenblicke persönliche Befreiung. Markus wusste nicht mehr so recht, welche Rolle ihm eigentlich im Leben zugedacht war.
Er wollte doch nur ein Mann sein, als solcher wahrgenommnen werden und einen Freund als Lebenspartner haben.
Trotz seiner Sorgen schlenderte er an den Schaufenstern der Geschäfte vorbei. Unanständige Angebote von angetrunkenen Passanten, die in ihm eine Frau sahen, bestärkten seine Sehnsucht nach einer festen Partnerschaft. Fast hatte er sein Vorhaben, sein Leben neu zu organisieren, vergessen. Als Frau verkleidet wagte Markus es Diskotheken aufzusuchen, tanzte mit gleichaltrigen Jungs, liess sich anmachen und fieberte im Gedränge nach körperlicher Nähe und Wärme. Inmitten der Männerwelt tänzelte er umher, seine dunkel geschminkten Augen wanderten von Gesicht zu Gesicht als wollte er sagen, „Du bist es den ich brauche"! Reagierte auf das Freizeitmädel ein ausgemachtes Opfer, dann konnte es nur ein Held mit breiten Schultern, ein liebenswerter Schwindler der den Reiz der Unsicherheit auskostete, oder ein Abenteurer der zielbewusst die innere Flamme, die Lust am anrüchigem Unbekannten auslebte sein.
Fragte einer nett „Gehn wir zu dir oder zu mir"?, sah Markus sich zwar im Fummel bestätigt, hatte jedoch Angst, weil er nicht wusste, als „Mann oder Frau". Markus glaubte in diesem Moment selbst nicht genau zu wissen, was von beiden er denn ist und war sichtlich erleichtert, als der Werbende das Spiel durchblickte, sich sehr schnell als Bi-Sexueller outete. Sie liessen den ausklingenden Abend zum Höhepunkt seiner kaputten Seele werden. Die Sehnsucht, der aufrichtige Schrei der Einsamkeit, hatte sie zusammengeführt. Die Begegnung mit Olaf wurde zu einer Nacht im Dschungel der Triebe. Hingabe, Leidenschaft von Stunden. Nein, doch nur Minuten des Gefühls von Zärtlichkeit, Verbundenheit im Anschein der ewigen Zuneigung und Treue.
Wieder in der Realität angekommen, begriff Markus, dass eigentlich nichts erwähnenswertes geschehen war. Nach der trügerischen Gefangennahme der Nacht schöner Illusionen folgte ein Morgen gähnender Leere.
Nach dem bisschen Sex war wieder alles vorbei und sie trennten sich Wortlos. Das war wohl das erdrückende Los der Veranlagung, anders zu sein.
Sein Verstand kam damit einfach nicht zurecht, wie nach einem zärtlichen Zusammensein der Umgang miteinander in einer kalten fremden Atmosphäre ausklang.
Das Fragen nach dem Sinn im Anderssein war für Markus schlimm genug. Das Zusammentreffen mit Menschen fern dieser verruchten Szene brachten ihn immer wieder in Verlegenheit.
In seinem Unbehagen gab er sich an allem selbst die Schuld. Das Gefühl der Ohnmacht, sich ein Leben lang in etwas Aussichtsloses, Unangenehmes verstrickt zu haben, quälte ihn. Die immer wiederkehrende Frustration führte in den Alltag des sinnlosen Lebens zurück.
Ludwig war verärgert über Markus und das nicht ohne Grund. In seiner Wohnung herrschte totale Unordnung. Gebrauchtes Geschirr stand seit Tagen in der Spüle. Seine Behördengänge hatte er nicht erledigt und eine vom Arbeitsamt zugeteilte Stelle wurde von ihm nicht aufgesucht.
Es war vereinbart, dass er für Ludwig jederzeit da zu sein hatte, wann immer er es wünschte.
Auf Grund dessen, sah Ludwig sich gezwungen, Markus noch einmal darauf hinzuweisen, dass es schliesslich seine Wohnung sei und er hier nur Gast ist. Solange dies der Fall sei, habe er zu gehorchen.
Allmählich hatte Markus es satt sich täglich sagen lassen zu müssen, dass ihm nichts, aber auch Garnichts gehörte. Ludwig erwartete etwas Dankbarkeit stattdessen gab es nur Probleme.
Bei solchen Auseinandersetzungen verliess Markus wütend die Wohnung und flüchtete in seine trügerische Freiheit, wobei er nie so recht wusste, wohin es ihn treiben würde. Vor Sehnsucht nach einer festen Bezugsperson, erinnerte er sich an seine Heimzeit. Er hatte Heimweh, denn dort war sein Zuhause. Bis spät in die Nacht irrte er im Zentrum der Stadt umher und hoffte innigst auf eine neue Zukunft. Soziale Kontakte die ihn auffingen und wieder aufbauten, hatte er nicht. Markus war nervlich am Ende, wusste nicht mehr ein und aus, so trieb es ihn schutzsuchend in seine Wohnung zurück.
Er vergewisserte sich, ob Ludwigs Auto noch auf dem Parkplatz stand und das Türschloss der Wohnungstür nicht ausgewechselt wurde. Leise schlich er durch die vertraute Umgebung seiner vier Wände, die vom bunten Reklamelicht eines gegenüberliegenden Geschäftes dezent beleuchtet wurden.
Wie ein verlorenes Kind der Finsternis liess er sich auf die Liege fallen. Für ihn stand die Zeit buchstäblich still. Bewegungslos lag Markus auf dem hell bezogenen Bett. In vollendeter Schönheit zeichnete der Schatten an der Wand, ein bildhauerisches Kunstwerk, Umrisse eines Menschen, der zu Lebzeiten wohl schon versteinert war. Seine Seele schien sich darin wohlzufühlen. Die Stille und die Wärme des Zimmers bot seiner Fantasie freien Raum.
Bevor die Ruhe in der Dunkelheit starb, umwarb das sanfte Pochen seines Herzens die Sinne auf das Leben, als wollte das Schlagen in seinen Adern dem liebeshungrigen Fleisch etwas gutes tun. „Lieben um geliebt zu werden".
Sein ständiger Liebeshunger trieb ihn zur nächtlichen Stunde stupide ins Labyrinth der ewig Suchenden.
In dieser teuflischen Sucht lauerte die grosse Gefahr, sich selbst aus den Augen zu verlieren. Auf Biegen und Brechen wurden Eroberungsversuche gestartet. Manchmal schien das grosse Ziel wirklich zum Greifen nahe. Doch es lebte wie eh und je allein der Schein.
Die vernebelte Finsternis der Gosse verschluckte unangenehme Wahrheiten. Träume wurden geträumt und blieben Träume. Im nüchternen Erwachen sah Markus wie seine Blindheit ihn getäuscht hatte. Wie leicht entflammende Begierde und realitätsfremde Wunschvorstellungen ihn in den bitteren Sog des lüsternen Lebens trieb.
Seine Unzufriedenheit gab ihm zu verstehen, dass seine ewige Selbstlüge ihn im Leben scheitern liess. Doch immer gab es einen kleinen Hoffnungsschimmer für einen Ausweg. Das Anderssein erwies sich im Leben für Markus, nicht immer zum Vorteil. Das war nichts Neues, aber die Erkenntnis, dass sich nichts daran änderte, hatte es in sich. Der Irrsinn lag darin, ständig davon auszugehen, nicht normal und deshalb kein vollwertiger Mensch zu sein. In den siebziger Jahren war es die Gesellschaft die naturbedingte Andersartigkeit anfing zu dulden, jedoch das Fehlverhalten von Minderheiten in ihre Schranken verwies.
Bevor andere sich ändern, könnte er ja bei sich schon mal anfangen, dachte er. Zwar wusste er nie, was er wollte, wusste jedoch immer, was er nicht wollte.
Seine Probleme waren nun einmal nicht Massstab aller Dinge. Der Wunsch nach Freiheit und wie die auszusehen hatte, wusste er nicht sorecht und trieb ihn immer mehr in den Sumpf der schwulen Subkultur.
Der Schock war um so grösser, als er für sich erkennen musste, dass der Wert eines Menschen nach seiner Potenz eingestuft wurde und das möglichst an Ort und Stelle.
Einige Bars hatten in den Kellern spezielle Räume. Deren Stammgäste sich in den finsteren Gängen und Dunkelräume wie das Vieh in der Brunftzeit benahm. Nach dieser gemachten Erfahrung hatte Markus nur noch ein Ziel vor Augen, sich davon zu lösen und aus seiner Misere zu befreien.
Bei diesen, seinem Vorhaben würde er sich von niemanden mehr beeinflussen lassen wollen.
Schon am darauf folgenden Tag änderte sich sein Tagesablauf. Er fand Arbeit und ein kleines Zimmer. Für ihn gab es nichts Eiligeres als umzuziehen.
Markus wurde den Gedanken nicht los, dass dem "väterlichen Freund" sehr an der Abhängigkeit seiner Schützlinge gelegen war.
Ludwig sah ihm beim packen zu. Als er bemerkte, dass Markus es ernst meinte, erfolgte eine kleine Moralpredigt. Trotzdem bot er ihm den Transport seiner Klamotten in sein neues Zuhause an.
Er unterstützte ihn weil er ohnehin damit rechnete, dass er wieder angekrochen käme, da er alleine nichts auf die Reihe bekommen würde.
Der plötzliche Auszug, die Arbeitsaufnahme als Bügler, wurde für ihn zu einem sehr teuren Entschluss, den er bald bereute. Schliesslich hauste Markus nun in einer 12 qm grossen Wohnung, in der gerade mal ein schmales Bett und eine flache Regalwand stand, deren Eingang durch die Toilette führte. Der Hausbesitzer hatte seine Villa in kleine Wohnparzellen aufgeteilt. Für die gute Wohngegend kassierte der Vermieter überteuerte Mieten. Ein ständiges Ein- und Ausziehen war in diesem Haus an der Tagesordnung.
Dieses Haus am Branitzer Platz erwies sich für den Vermieter als Goldgrube. Mit seriös formulierten Anzeigen von Vermietungen kleiner Zimmer und Appartements, köderte dieser Inhaber in Schwierigkeiten geratene Menschen. Vor allem Scheidungswillige, Trennungsfreudige auf Zeit, fanden hier einen verständnisvollen Vermieter. Besonders für Frauen war es bei Auseinandersetzungen in der Familie eine hilfreiche Anlaufstelle. Wer eine absolute Veränderung der Lebenssituation herbeiwünschte, war hier richtig. Nur Geld war notwendig, denn für alles musste bezahlt werden. Aus der Not heraus, schnell unterzukommen, unterschrieben die in Bedrängnis geratenen Personen jede Forderung.
Die erwähnenswerten Vorteile zwischen Hotel oder Pension zu dieser Villa lagen darin, dass hier in der Villa aller Gerümpel mitgebracht werden durfte, einlagern und die Bewohner tun und lassen konnten was sie wollten. Wer den Wohnkomplex endgültig verließ, sei es nach Tagen oder erst Wochen oder noch später, bekam wegen der angeblich fällig gewordenen Renovierung, dass zu viel bezahlte Geld sowie die Kaution nicht zurück. Das gehörte ja auch zur Vereinbarung und deshalb konnte der Mieter selbst wann immer er es für Richtig hielt, das Mietverhältnis sofort auflösen. Der Auszug vollzog sich mit der Schlüsselabgabe und neue Nachmieter fanden sich sofort. Der Villeninhaber wirkte an seinem Schreibtisch zwischen kostbarem Kitsch, antiken Trödel und echten Teppichen aus dem Orient wie eine dicke Galionsfigur. Keiner der Zimmersuchenden konnte den Schauergeschichten des selbstgefälligen Herrn entfliehen, die er jedem Bewerber erzählte. Die uniformähnliche Kleidung unterstrich das stramme Wesen, und den mangelnden Wahrheitsgehalt der Erzählungen über verschiedene Freundschaften mit Persönlichkeiten dieser Gesellschaft. Die Ehefrau gab sich fremdartig, dass es ihr gelang mit künstlerischem Zauber eine Art „Hinterhof-Exotik" zu erzeugen.
Es war ein Paar, dass sich die Anschuldigung von Neidern „verrückte Blutsauger und Ausbeuter" zu sein, ohne Scham gefallen liess. Sie fanden es wunderbar, dass über sie gesprochen, erzählt wurde, schliesslich gehörte das Ehepaar zur Elite dieser Stadt und der politische Einfluss war in ihren Erzählungen unverkennbar. Viele gestrandete Fregatten und Fehlzünder gaben sich hier in dieser Villa ein Stelldichein.
Markus ein Kind der Nachkriegsgeneration staunte. So kaputt war die Zukunft! Auf diese Zukunft setzte er all seine Hoffnungen! Zukunft, Gegenwart, das ungespielte Spiel der verlorenen Jugend. Aber es war seine Jugend, nicht die der anderen. Seine Chancen waren gering, dachte Markus. Trotz immer stärker werdender Unzufriedenheit, den sensiblen und emotionalen Anwandlungen, wenn gar nichts mehr ginge sich aus dem Leben stehlen zu wollen, blieb wenigstens dieser kleine Hoffnungsschimmer auf eine bessere Zeit. Solange glaubte er, in diesem unübersehbaren Chaos irgendwann dem absolut vertrauten Menschen zu begegnen.
Wen auch immer er begegnete, der richtige Partner war noch nicht dabei. Markus verstand es nicht, dass ihm entgegengebrachte Wohlwollen anzunehmen. Es mangelte ihn an Selbstbewusstsein, dadurch kam er sich immer benachteiligt vor, als wäre er der Alleinertrinkende auf diesem Gottlosen Planeten. Die ihm gereichten Hände nahm er nicht wahr.
Er vertraute sich jenen an, die nicht viel stärker und charakterlich nicht stabiler waren, wie er selbst.
Seine Feststellung, mit beiden Beinen fest im Sumpf seines Seelenmülls zu stecken ohne die Aussicht auf Verbesserung zermürbte ihn. Allein diese Erkenntnis war wichtig genug, wieder geradeaus ohne rosarote Brille durch die sündigen Pfade in das beschmutzte Lager, der immer nur auf das Suchen programmierte Eintagstypen mit Wegwerfmentalität von Menschen, zu stolzieren.
Irgendwann lernte er Philip kennen, ein blonder Hüne mit schütterem Haar, dessen unverkennbarer Charme und Erscheinungsbild nicht nur Frauenherzen höher schlagen liess. Philip hatte es so erwischt, dass es seinen eigenen Elan ein wenig dämpfte. Seine Bemühungen brachten ihn trotz seines Charme auch nicht weiter. Von Markus wusste er sehr wenig. Von den reiferen Tuntenexemplaren hörte er nur abfällige Bemerkungen über ihn. Andeutungen, wie hässlicher Vogel und eingebildete dumme Pute. In diesem Milieu begann das Altern um Mitte zwanzig, obgleich nur ältere Semester anzutreffen waren. Jene waren wohl auserwählt ihr wahres Alter zu fühlen. Die Schrift des Eintrags in deren Pässe war manchmal verbleicht, oder der Pass verloren oder gar gestohlen worden.
Dem Himmel sei Dank für die Gaben der Natur, dachte Markus, als habe er ihr ein Schnäppchen geschlagen. Wahr ist, die Natur liess sich nicht lumpen. Sie liess keine Täuschung zu.
Das Tageslicht offenbarte unbarmherzig Spuren und der Rausch schwüler Nächte liess sich nicht verbergen. Erst mit der kommenden Zeit füllte er sein Mango mit schauspielerischem Talent aus. Manchmal schlich sich der Gedanke ein, dass er zu einem falschen Zeitpunkt in diese Welt geboren wurde. Gegenwärtig empfand er sich im Leben eher deplatziert und nicht dazu gehörend. Nur einer bemerkte, was sich hinter seiner coolen Fassade wirklich verbarg. Philip kannte Markus nur vom sehen. Auch er hatte niemanden. Deshalb bot er Markus an zu ihm zu ziehen. Redselig zeigte sich Markus vor allem in Notsituationen, und bestritt nie seine Ausweglosigkeit.
Das Freundschaftsangebot von Philip kam wie gerufen. Markus träumte und verliebte sich Hals über Kopf in diesen Mann. Das Zusammensein war das, wonach Markus sich sehnte. Bei jedem Problem fing er Markus auf und wies ihn den richtigen Weg. Liebe war nicht nur körperliche Aktivität. Es bedeutete mehr. Innige Zuneigung und das Empfinden für einander verantwortlich zu sein. Markus blühte regelrecht auf und begann seine Vorsätze anzugehen. Philip betrachtete die Arbeitssuche mit gemischten Gefühlen, da er fürchtete Markus durch’s selbständig werden zu verlieren. Das brachte die Beziehung bald ins Wanken. Philip hatte bereits nach Wochen den Blick für das Wesentliche, was ihn mit Markus verband längst verloren. Krankhafte Eifersucht bewog Philip aus jeder Kleinigkeit und jeder Mücke einen Elefanten zu machen. Markus war sehr traurig darüber, denn es war doch sein Lebenstraum einen Partner den er liebt für sich allein zu haben und die charakterliche Einstellung monogam zu leben war Grundstein seiner Entscheidung.
Monatelang gab es Streit und Unstimmigkeiten zwischen ihnen. Freundschaft, Liebe, Sex und ein Miteinander waren Fremdwörter geworden.
Ihr zerrüttetes Verhältnis erforderte eine Aufteilung der Räume. Philip mochte ihn noch sehr, sonst hätte er ihn der Wohnung verwiesen. Markus versuchte sich in all den Streitigkeiten zu rechtfertigen. Doch es half nichts, der Ton wurde vulgärer. Das Telefon beanspruchte ab sofort Philip als Hauptmieter. Obwohl Markus bei ihm wohnen bleiben durfte, verlangte er die Wohnungsschlüssel zurück, um weitere Streitigkeiten zu vermeiden. Doch ohne Erfolg. Philip ging weiterhin täglich in seine Firma arbeiten und nach Feierabend ging der ganze Zirkus weiter. Bei jeden Anlass konfrontierte Philip ihn mit Verdächtigungen und an den Haaren herbeigezogenen Vorwürfen. Ab jetzt wurde Markus Tagsüber in der Wohnung eingeschlossen. Dennoch unterstellte er Markus, den Hausmeister der einen Ersatzschlüssel zur Wohnung hatte, anzubaggern. Die Streitereien nahmen Ausmasse an, die oft schon krankhaft waren.
Die szenenreifen Auseinandersetzungen wurden nach und nach heftiger und von den Nachbarn nicht zu überhören. Anfangs dürfte es für Aussenstehende sehr amüsant gewesen sein, sich den Alltagsknatsch zwei zusammenlebender Männer mitanzuhören. Jedoch mit der Zeit verlor auch der beste Witz an Würze.
Für die Nachbarn bewahrheitete sich die These: "Schwule scheinen unfähig miteinander zu leben".
Markus glaubte, dass nur eine Wohngemeinschaft aus wirtschaftlichen Gründen möglich war und jeder lebte halt so sein Ding.
Nachdem Philip ihm die Wohnungsschlüssel wieder zurück gab, machte sich Markus früh am Morgen während Philips Abwesenheit auf Wohnung- und Arbeitssuche. Es gelang nichts! So rief er Reumütig Ludwig an und bat zurückkommen zu dürfen. Ludwig willigte sofort ein und holte ihn vor der Wohnung ab. Er fuhr mit Markus zu einer Wohnungsgesellschaft, deren Sachbearbeiter Ludwig bestens bekannt war. Durch seine Fürsprache gelangte Markus an seine erste Wohnung.
Philip fand seine Wohnung verlassen vor und betrank sich. Spät in der Nacht rastete er aus und steckte die Wohnung in Brand. Der Schaden war gross, aber für die Anwohner bestand zu keinem Zeitpunkt Gefahr.
An dem besagten Wochenende, nach dem Tobsuchtsanfall, sass Philip nach Beendigung des Einsatzes der Feuerwehr und Polizei, Mutterseelenallein vor dem Scherbenhaufen seiner Wohnung.
Als Markus dieses Malheur erfuhr empfand er nicht einmal Traurigkeit. Markus fühlte sich in seiner neuen Unterkunft einer Altbauwohnung, in der ein bunter Kachelofen stand sehr wohl.
Durch die grossen Wohnungsfenster sah er die gepflegte Grünanlage im Hinterhof. Was ihm nicht so gefiel, waren die stinkenden Mülltonnen in der Nähe seiner Fenster.
Jede Menge Gräser und Löwenzahn wucherten auf dem Gehweg. Zwischen ein paar stämmigen Bäumen lag ein Spielplatz. Ausserdem streunte eine Schaar zahmer und verwilderter Katzen herum. Einige Leute vom Haus und aus der Nachbarschaft verpflegten die Kätzchen und bürsteteten sie gelegentlich.
Das allerdings hing von den Launen der Streuner ab. Wenn sie das Bürsten ihres Felles zuliessen, genossen sie es schnurrend, liessen sich streicheln und wurden zu richtigen Schmusetigern.
Stunden sah Markus dem Treiben im Hinterhof zu.
Da fiel ihm ein. dass er sich sofort um eine Arbeitsstelle bemühen musste. Ludwig hatte ihm klargemacht, dass es seine letzte Chance sei, wieder auf die Beine zu kommen, ansonsten hätte er ja in München bleiben können.
Das Mobiliar der Wohnung hatte Ludwig besorgt und richtete das Wohnzimmer soweit gemütlich ein. Für Markus Wohnung fiel ihm momentan die Zeit, da er eine andere Wohnung für einen seiner neuen Fälle renovierte und diese neue Bekanntschaft hatte Vorrang.
Voller Begeisterung erzählte er Markus von seinem Schützling, der in Berlin studierte. Sein Leben sei etwas aus den Fugen geraten. Bisher fand er bei verschiedenen Kumpels Unterschlupf, wobei er sein Studium trotz seiner schwierigen Lage nicht vernachlässigte.
Markus wünschte Ludwig alles Gute mit seinem neuen Freund, zumal er annahm, Ludwig's Interesse und Vorliebe an kleinen Jungs sei vorbei.
Allein Zuhause, grübelte Markus mal wieder vor sich hin. Ihm war, als könne er es alleine in einem Raum, nicht lange aushalten. Die einzige Abwechslung in seinem langweiligen Leben, brachte momentan Ludwig, der ihn weiteres Mobiliar und eine gebrauchte Waschmaschine beschaffte, diese in der Küche aufstellte und anschloss. Zur Unterhaltung Markus brachte er aus seinem Gartenhäuschen den Fernseher. Natürlich nur auf Leihgabe! Fand Markus nächtelang keinen Schlaf, beschlich ihn wieder die Sehnsucht nach einem festen Lebenspartner. Er selbst lies nichts unversucht, jemanden kennenzulernen.
Eines Tages führten handwerkliche Raparaturen, Uwe in seine kleine Wohnung.
Ein Wasserschaden in der Dusche beschäftigte den Hauswart und einige Handwerker für ein paar Stunden. Das Wasser floss nicht im Ausguss ab, sondern auf Umwegen in die Wohnung. Beim Wasserschippen kam Markus einem der Handwerker zu Hilfe, um grösseren Schaden von Ludwigs frisch renovierter Küche abzuwenden.
Einer der Handwerker, der neckische Uwe bot Markus seine Hilfe nach Feierabend an, denn der Schaden war grösser als zuerst angenommen. Neben dem Verputzen der Wand mussten Teile des Parkettbodens ausgewechselt werden. Zum Dank seiner Hilfsbereitschaft lud Markus ihn zum Abendessen ein und bot ihn zu später Stunde eine Schlafgelegenheit an. Es störte Uwe nicht, dass Markus nur ein Bett hatte.
Es gibt wirklich schlimmeres, sagte der Handwerker, schlief bald darauf ein und schnarchte sich durch die restliche Nacht.
Markus schlummerte wie ein Engel, genoss die Schnarcherei, nur um nicht alleine zu sein. Am Morgen danach trennten sie sich so freundlich, wie sie sich einen Tag vorher begegnet waren.
Markus schaute etwas deppert aus der Wäsche, als am folgenden Abend Uwe überraschend vor seiner Tür stand. Er hatte sein silbernes Feuerzeug vergessen, dass für ihn sehr wertvoll war. Gemeinsam suchten und fanden sie das kostbare Gasfeuerzeug. In Markus unaufgeräumter Bude tranken sie einen Kaffee zusammen. Ordnung war nicht gerade seine Stärke.
Markus sah ihn an, Uwe gefiel ihn. Er fasste all seinen Mut und animierte Uwe zum Bleiben, aber nicht nur um hier zu schlafen, sondern mit ihm zu schlafen.
Uwe stutzte und traute seinen Ohren nicht. Zaghaft schmunzelnd fragte er schüchtern:" Warum gerade ich?" fragte er verdutzt. Nach kurzer Überlegung meinte er: Solch ein Angebot bekommt man ja nicht alle Tage.
Liebevoll deckte Markus den Tisch zum Abendessen, stellte eine kleine, schlanke Vase mit einer Plastikblume auf den Tisch und zündete eine Kerze an. In dieser Stille beobachteten sie sich gegenseitig ohne auch nur ein Wort zu sagen.
Markus wurde melancholisch und die vertrauten, ihn bekannten Gedanken von Verführung des noch Fremden und Ungewissen übermannten ihn wieder einmal. Irgend etwas hielt Uwe davon ab zu fliehen. Er fand seine innere Ruhe im Verständnis des anders Denkenden. Markus war ihm Sympathisch. Sie sprachen über ihre Probleme und stellten fest, dass ihre Probleme fast die gleichen waren. Nur die Einstellung zur Sexualität der Beiden unterschied sich ein wenig. Bi, Homo oder Hetero. Das war ihr Diskussionsthema.
In der Sexualität der Heterogesellschaft sah Markus eine andere und viel wichtigere Bedeutung. In den "Händen" derer lag die Verantwortung für alles Leben dieser Erde. Plump ausgedrückt, ohne Heteros gäbe es keine Homos! Was Markus allerdings nie so recht begriffen hatte war, das kranke alte Menschen mit viel Geld für lebenserhaltende Medizin und technische Apparaturen künstlich am Leben erhalten werden und im gleichen Atemzug Abtreibungen und das Töten ungeborener Leben ermöglicht wurde. Dem Allerschwächsten, dem Ungeborenen in dieser Kette wird jede Hilfe verwährt. Markus war davon überzeugt, "Abtreibung sei Mord!"
Irgendwann würde der Tag kommen, an dem die Beführworter dieser Tötung unschuldiger Wesen an den Pranger gestellt werden, daran glaubte er fest.
Für ihn persönlich ist Leben das grösste Wunder dieser Erde.
Die Sinnlosigkeit seines eigenen Lebens hatte andere Ursachen. Sie entwickelte sich aus den bisher oberflächlichen Beziehungen. Seine Aufrichtigkeit wurde nie erwidert und niemals mit Verbindlichkeit belohnt.
Markus war sich seiner Verantwortung sehr wohl bewusst und tat alles, um diesen Kontakt zu vertiefen. Für ihn gab es nichts schöneres. als die Tatsache einen Freund gefunden zu haben.
Sie vereinbarten Spielregeln, um nicht unangenehm aufzufallen. denn von dem Umfeld und der Nachbarschaft konnten sie zu diesem Zeitpunkt kaum Toleranz erwarten.
Jeder der Beiden, fühlte sich in der neuen Situation wohl. Dieses Zusammensein glaubten beide war völlig normal. Plötzlich und völlig unerwartet tauchte Tage darauf Philip auf und verstand sich auf Anhieb mit Uwe. Bei dem Thema Fussball schwammen sie auf gleicher Wellenlänge. Sehr schnell bemerkte Markus, künftig nur die zweite Geige zu spielen, was ihn veranlasste auf schnellsten Wege ein neues Tätigkeitsfeld zu finden, was seinem erlernten Beruf ähnelte. Markus wurde das Gefühl nicht los plötzlich in einer falschen Komödie mitzuwirken. Philip tat so, als hätte es nie Unstimmigkeiten zwischen ihnen gegeben.
Markus hatte das Glück, schnell einen Job gefunden zu haben in dem er am nächsten Morgen gleich anfangen zu können.
Der neue Arbeitgeber war mit ihm zufrieden und Markus fühlte sich dort wohl. Uwe hatte bereits seine Habseligkeiten in einigen Kartons und Koffer in Markus Wohnung untergebracht. Der Grundstein für eine Lebensgemeinschaft war gelegt. Philip drängte sich Tagelang aufdringlich und nervend in diese Wohngemeinschaft. Uwe hatte nichts einzuwenden, da Markus keine Stellung dazu bezog.
Philip fand immer einen Grund, vorbei zu kommen. In seiner Freizeit fand anscheinend nichts mehr ohne Uwe statt, der bereits seinen Arbeitsplatz verloren hatte, aber Markus nicht informierte. Philips Unternehmungen mit dem PKW beeindruckten vor allem Uwe. Zumal ihm ja noch die Unterstützung des plötzlichen Gönners Zuteil wurde, um selbst einen Führerschein zu erwerben.
Unterdessen erfuhr Markus von Uwes Dilemma und versuchte ihn auf seiner Arbeitsstelle vorübergehend als Lagerarbeiter unterzubringen. Als der Partner den Vorstellungstermin wieder nicht wahrnahm, begann Markus dessen Freundschaft anzweifeln.
Einige Dinge passten einfach nicht mehr zusammen. Vieles hatte sich verändert. Uwe kümmerte sich um nichts und fand kaum noch Zeit für Zweisamkeit.
Eines Tages rief Markus, mehr aus Langeweile, während seiner Pause bei Philip an und es meldete sich Uwe an seinem Apparat. Markus emotionale Mentalität schaltete spontan auf Nüchternheit und Rachegefühle um. Von einem Aufenthalt bei Philip war nie gesprochen worden und er sah keine Notwendigkeit dafür.
Damit bestätigte sich Markus langgehegter Verdacht und noch am Telefon beendete er sein Verhältnis mit Uwe, ohne ihn eine Chance zur Aussprache zu geben.
Markus fühlte sich zutiefst verletzt und hintergangen!
Da weder eine behördliche Anmeldung noch ein Mietvertrag bestand, hatte Uwe keinen Anspruch in der gemeinsamen Wohnung zu verbleiben.
Markus wechselte das Türschloss und verständigte den Nebenbuhler in seinem Geschäft. Kurz darauf übergab er Philip, der besonders glücklich darüber schien, Uwes Gepäck. Auch diese Begegnung wurde eisern überstanden. Die darauf folgenden Tage verliefen für Markus wieder in ruhigen Bahnen.
Ausser, dass ständig Herren auf dem Arbeitsplatz in der Geschäftsleitung des Kaufhaus anriefen und sich über den schwulen Verkäufer beschwerten. Von unsittlicher Anmache und Geldklau war die Rede. Der Sachbearbeiter aus dem Personalbüro zitierte Markus öfter in sein Büro und konfrontierte ihn mit den Vorwürfen und Beschwerden. Sein Vorgesetzter beruhigte ihn. Solange nichts bewiesen ist, bräuchte sich Markus keine unnötigen Sorgen zu machen. Nach einer freundlichen Aufforderung an die Anrufer, doch schriftlich ihre Anschuldigungen einzureichen, herrschte Funkstille.
Wochen später meldete sich Uwe telefonisch bei Markus. Scheinheilig fragte er ihn, wie es ihm inzwischen ergangen sei und stolz erwähnte er, dass er jetzt selbständig als Callboy arbeite. Markus hatte keine Lust sich sein Gelaber anzuhören und knallte den Hörer auf die Gabel.
Einige Tage später erfuhr er über seinen Anwalt, den er damals über Philip kennenlernte, dass Philip und Uwe sich aus niederträchtiger Habgier, eines gemeinschaftlichen Mordes an einem Gastarbeiter schuldig gemacht hatten. Uwes Traum, als Stricher seine Kohle zu verdienen und Philips Plan einen Callboy Ring zu gründen, hatte sich somit erledigt.
Wieder hatte eine Episode seines Lebens ein Ende gefunden, dachte Markus.
Sein Leben verlief im Moment in fast geordneten Verhältnissen. Doch die empfundene Einsamkeit trieb ihn hin und wieder zu den Orten, an denen man mit Sicherheit jemanden für ein kurzes Abenteuer fand. Bedürfnisanstalten und Parkanlagen boten Nachts die Treffpunkte, die genauso gut besucht waren wie Lokalitäten.
Hin und wieder fand er, wonach er auf die Schnelle suchte. Wie stets lief alles anonym und ohne sich erklären zu müssen ab. Zufriedenheit und Glück brachte ihn das danach aber auch nicht.
Vielmehr Enttäuschung und Angst vor der Leere, dem unausgefüllten Leben, was ihn immer wieder zu den Treffpunkten schneller Begegnungen zurückführte.
Die vielen flüchtigen Bekanntschaften Markus trieben ihn in die Unbeständigkeit. Die Typen, die darauf aus waren, Markus zu beklauen, baggerten ihn kräftig an. Allerdings, begriff Markus das Spiel bald und seine Vernunft half ihn, sich von dem Sumpf der kriminellen Szene fern zu halten.
Als er selbst das Opfer eines Einbruchs wurde, begriff er allmählich was für Auswirkungen, Schaden das für ihn brachte.
Der Sachschaden war das kleinere Übel. Markus wurde erstmals Aktenkundig in Berlin, mit dem Vermerk „H" und des Beischlafdiebstahls, was nicht der Wahrheit entsprach.
Auf dem Polizeirevier quasselte Markus etwas zu viel, auch über Dinge, wonach ihn eigentlich niemand befragte.
Der Einbruch, der Diebstahl und die sinnlose Sachbeschädigung passierte nämlich während seiner Arbeitszeit. Deswegen konnte er mit der Feststellung des Polizisten, betreffend des „Beischlafdiebstahls" nichts anfangen. Von seinem Rechtsanwalt erfuhr er, dass das „H" für Homo stand.
Um all die fadenscheinigen Kontakte abzubrechen, plante Markus einen erneuten Umzug.
Kurze Zeit später lernte er bei seinen Streifzügen über die besagten öffentlichen Treffpunkte jemanden kennen, der dringend einen Nachmieter für seine Bude suchte. Allerdings stellte er die Bedingung, seinen Kater Morle mit absolutem Hausrecht übernehmen zu müssen.
Markus bräuchte keinen Abstand dafür bezahlen, müsste ihm aber ab und zu das Besuchsrecht zur Überprüfung, um nach den Kater zu schauen einräumen.
Schliesslich würde er dem Tier zu Liebe das ganze Inventar in der Wohnung belassen.
Bevor er Markus seine Wohnung übergab, wollte er erst sehen, in welchen Verhältnissen er lebe und überzeugte sich von Markus Behausung.
Anschliessend fuhren sie in die Wohnung des Katzenvaters. Markus war einfach nur begeistert davon. Eine Zweizimmerwohnung, komplett möbliert und mittendrin ein grosser dunkler Wonneproppen, der einem unförmigen dicken Staubmopp ähnelte. Der Kater schleppte einige Pfunde zu viel mit sich rum. Der Katzenmensch hoffte, das die Wohnungsgesellschaft, mit Markus als Nachmieter einverstanden war.
Er sollte Morgen seinen Arbeitgeber um freie Stunden bitten.
Wie verabredet kam der Mieter als Kunde in seine Konfektionsabteilung.
Markus benachrichtigte seinen Vorgesetzten und erhielt für den Nachmittag wegen des Abschlusses des Mietvertrags frei.
Beim Unterzeichnen des Mietvertrages erwähnte der Vormieter, dass er einer Erbschaft wegen in eine kleine Stadt am Rhein ziehen würde. Sein Morle sollte in seiner gewohnten und vertrauten Umgebung in seinem Zuhause bleiben. Morle sei schliesslich hier geboren und lebe schon seit sechzehn Jahren in dieser Wohnung. Kater Morle war ja nicht mehr der jüngste und alte Bäume sollte man nicht verpflanzen.
Vor sieben Jahren kam er unter den gleichen Bedingungen zu dieser Wohnung. Morle sei ein Glücksbringer im Leben, erklärte der Katzenvater. Sein erstes Herrchen gewann im Lotto, zog fort und hatte für das Kätzchen in seinem Herzen keinen Platz mehr und überliess ihm die Katze samt Wohnung.
Alles verlief nach Wunsch. Kurz darauf übersiedelte der Katzenvater in das Städtchen am Rhein und Markus lebte in der neuen Katzenwohnung seines bisherigen Bezirks.
Aus Wedding fand kein Weg mehr raus. Dieser Bezirk wurde seine Heimat. Seit Wochen bewohnte er nun sein neues Zuhause. Der dicke Kater duldete den Neuankömmling und sie schlossen „Freundschaft". Bestand jedoch darauf, mit Kratzen und Mauzen an der Tür, seine Runden weiterhin ausführen zu können.
Schon bald stellte sich heraus, dass dieser Kater einige Anwohner gut kannte und dort überall ein gemütliches Plätzchen zum fressen fand.
Monate verstrichen und die „Katz" hatte durch ihre Eigenart die Herrschaft im Haushalt übernommen.
Deshalb verstanden sie sich gut und an Trennung war nicht mehr zu denken.
Selbst die Auswahl der Bekanntschaften, beide hatten wohl den gleichen Geschmack, beeinflusste das liebe „Vieh" zunehmend durch die Art und Weise seiner Anwesenheit.
Wenn der übergrosse „Berber" in Hauskatzenmanier auf einen fremden Schoss zu ruhen gedachte, war für Markus alles in Ordnung.
Dar Kater nahm an dem ganzen Chaos seines Herrchens teil und wurde überall mit einbezogen.
Bei den wechselnden Kontakten seines Herrchens war das Tier ständiger Ratlosigkeit ausgesetzt.
Der Gipfel all seiner Bekanntschaften war, der stets unter Alkohol stehende neue Besucher von Markus. Der arbeitslose Tino scheute grundsätzlich jede Art von Verantwortung, sah jedoch in allem ein Problem. Selbst dort wo es keines gab, wurde eines daraus gemacht.
An einem späten Abend, Tino war Stammgast der anliegenden Kneipenbar in der Straße und verbrachte dort viel Freizeit.
Auf dem Nachhauseweg nutzte er die Gelegenheit bei Markus vorbeizuschauen. Aus leisen Klopfzeichen wurde lautstarkes Poltern an der Türe, da Tino vermutete, sein neuer Kumpel hätte nächtlichen Besuch. Er grölte im hellhörigen Treppenhaus umher und beschimpfte Markus durch die verschlossene Tür wie ein eifersüchtiger Suffkopf.
Das Warten reichte aus, um Tino noch misstrauischer zu machen.
Kaum hatte er die Tür geöffnet, verschaffte er sich Zutritt um nach dem vermeintlichen Nebenbuhler zu suchen.
Aus Eifersucht überprüfte Tino die Parterrewohnung, schaute nach der Verriegelung der Fenster und warf einen Blick in den kleinen ummauerten Vorgarten.
Alles, was nicht niet und nagelfest war, wurde umgeworfen oder demoliert.
Keines der preiswerten Ölgemälde vom Trödelmarkt bliebe an der Wand hängen.
Nach dem er, den grössten Teil Markus billiger „Kunstwerke" vernichtet hatte, erzürnte Ihn eine Ablichtung auf dem Kalenderblatt. Sie zeigte einen attraktiven Wassersportler auf dem Surfbrett in den Fluten vor der Küste Floridas.
Markus Rechtfertigung darüber machten ihn noch wütender und führten bei Tino zu hemmungslosen Züchtigungen. Trotz der Prügel schwieg Markus, denn er fürchtete um sein Leben. Die Klinge eines Wurfmessers drückte in die Hauptschlagader am Hals. Todesangst hinderte ihn daran, sich zu wehren.
Tino kniete auf der in der Mitte des Raumes stehenden französischen Liege, ganz nah am Blut verschmierten Rücken Markus.
Er befahl Markus zärtlich zu werden.
Selbst Sklaverei vermochte seine Begierde nicht zu stillen. Wenn Markus es nicht brachte, griff er nach seinen Sextoys. In der Realität funktionierte fast nichts, da Tino stets angetrunken war. Seiner Überzeugung nach vermasselte nicht der Alkohol sein Spiel, sondern Markus dämliches Gequatsche.
Genervt und wütend verliess er die sündige Stätte.
Aufgebracht suchte Markus seinen alten Bekannten Ludwig auf über den er Tino kennenlernte. Was Ludwig ihn erzählte, schockierte ihn. Er wurde schon seit längerem erpresst. Markus staunte nicht schlecht, denn der Übeltäter war Tino.
Der Professor mit Lehrstuhl an einer Universität in Berlin bezahlte bereitwillig Schweigegeld. Wenn Tino dringend Geld benötigte, trank er sich Mut an und lauerte Ludwig mit einer Schusswaffe auf Parkplätzen auf. Sein Schützling, so nannte er Tino immer noch, hatte mehrere Delikte laufen.
Ludwig legte Markus nahe, seinen Fall der Polizei zu melden.
Resultat seiner Anzeige! Das Verfahren wurde eingestellt, da kein öffentliches Interesse bestand. Vom Polizeiapparat war Markus mächtig enttäuscht. Ohnehin kam es ihn während seines Verhörs so vor, als sammelte die Polizei mehr Informationen über ihn wie über den Täter.
Für Markus bahnte sich auf der Arbeitsstelle ein Berg von Problemen an.
Nachdem der bisherige Abteilungsleiter der Herrenkonfektion in ein anderes Kaufhaus versetzt wurde und ein anderer dessen Posten übernahm, begannen für Markus die Schwierigkeiten. Sein neuer Vorgesetzter hatte offensichtlich nichts anderes zu tun und nutzte jede Möglichkeit, seinen Verkäufer vor anderen zu kritisieren und blosszustellen. Der Neue Abteilungsleiter widmete seine ganze Aufmerksamkeit einer hübschen viel jüngeren Verkäuferin, die morgens mit ihm kam und nach Feierabend das Kaufhaus wieder mit ihm verliess. Kurze Zeit darauf, war Markus seinen Arbeitsplatz los und die Verkäuferin nahm seinen Platz ein.
Markus behielt trotz seiner Tiefs die Nerven und versuchte mit Hilfe von Ludwig sein Alltagsleben in Griff zu bekommen.
Ludwig richtete bald für Markus eine kleine Schneiderei ein, damit er schnellstens aus seinem Tiefgang raus fand.
Auf der Behörde stellte sich jedoch heraus, dass Markus als Staatenloser laut Gesetz kein Gewerbe ausführen durfte. Als Inhaber eines Fremdenpasses hätte er es wissen müssen. Da der Laden aber schon komplett eingerichtet war, meldete Ludwig sich kurzer Hand als Inhaber an und erledigte alle weiteren Formalitäten.
Mit diesem Laden änderte sich für Markus vieles, denn für ihn war es ein neuer Anfang. Langsam verlor er die Angst vor anderen, kam mit mehr Leuten zusammen und traute sich Abendschulen zu besuchen. Doch sein Verhältnis zu Ludwig litt darunter und wurde immer schwieriger. Ludwig kontrollierte fast jeden seiner Schritte und machte mit seinen Äusserungen auch vor Aussenstehenden nicht halt.
Der Schneider trat die Flucht nach Vorne an und versuchte sich von Ludwig wieder abzunabeln.
Hinter seinem Rücken traf sich Markus öfter mit einem Herrn, der ihn mit Rat und Tat zur Seite stand und von diesem Zeitpunkt an sein Leben beeinflusste. In dieser sich anbahnenden Freundschaft sah Markus die Chance seines Lebens. Ab jetzt zwang er sich nicht mehr zu flunkern, aufrecht und fair zu sein. Nicht nur sein Benehmen und sein Verhalten änderte sich, sondern auch der Stil seiner Bekleidung. Somit passte er sich der Allgemeinheit an. Er fühlte sich freier und öffnete sich seinem unmittelbaren Umfeld.
Er lernte, die Freundlichkeit anderer zu erwidern, ohne gleich daran zu denken, sie könnten ihn nur täuschen wollen. Neu für ihn war, dass er nicht mehr das Weite suchte, wenn sich Gleichgesinnte in seiner Nähe aufhielten.
Nicht weit von seiner Schneiderei befand sich eine Eisdiele, dessen Inhaber Markus zu seiner Kundschaft zählte. Da sie vorhatten ihr Eiscafé in ein Restaurant umzugestalten suchten sie für das Abendgeschäft einen Aushilfskellner. Selbstverständlich war Markus sofort einverstanden. Er besuchte zum Wochenende das Café und fühlte sich dort Pudelwohl. Einige Blocks weiter beobachtete Markus durch das Schaufenster einige Kohlenträger schuften. Darunter befand sich ein Typ, der sein besonderes Interesse fand. Im Sommer sass der dicke Typ des öfteren im Straßencafé der Eisdiele.
Während Markus davon überzeugt war, dass seine Freunde Heteros waren, dachte er, bei dem könnte was laufen. Denn jedes Mal wenn er ihn sah, schlug sein Puls ein wenig schneller.
Am selben Abend wurde er mit den Gewohnheiten des kleinen Betriebs vertraut gemacht. Der Koch brachte ihm bei, wie ein Tisch richtig gedeckt wird, wie man sich einen Gast nähert und gab ihn aus der Gastronomie ein paar Tricks, sich mit Gästen über Belangloses zu unterhalten. Sofort erkundigte sich Markus nach den dicken blonden Typen vom Nachmittag aus der Gruppe des Teams der Kohlenfahrer. Der Koch sah ihn an und grinste; „Ach du meinst Dirk, unseren Heizungsboy, der ist doch nicht dick, sondern gut durchtrainiert“, niedlich wa?, berlinerte er. Dirk wohnt mit seiner Mutter zusammen im Nebenhaus und ist Single, alberte er.
Um die „Nuss" zu knacken musste Dich anstrengen spöttelte er. Der Koch hatte Dirk noch nie mit einer anderen Frau, ausser seiner Mutter gesehen, aber mit einem Kerl allein auch nicht. Bei dem schweren Knochenjob könne er das ja verstehen. Der Gute schleppt Kohlen bis in die 5. Etage. Am Wochenende seien er und seine Kohlenkumpel ständig zugedröhnt, voll wie ne Haubitze.
Der Koch freute sich auf die Zusammenarbeit mit Markus und Markus begeisterte sich dafür, dass Dirk zu den Stammgästen gehörte.
Am Tage arbeitete Markus in seiner Schneiderei, änderte und flickte Klamotten und nach Ladenschluss eilte er in die Eisdiele in der Erwartung dort Dirk anzutreffen.
Der Zusatzlohn kam ihm wie gelegen und er fieberte täglich der Begegnung mit dem Mann, dem all sein Interesse galt und ihn nicht mehr klar denken liess entgegen.
Über eines war Markus zunehmend verwundert, wer sich stets zu verändern versuchte, war er und nicht die anderen.
Die Bekanntschaft mit Dirk brachte einiges in seinem Wesen durcheinander. Ausschweifungen emotional bedingter Gefühle hatten keinen Nährboden.
Fremde Männer interessierten ihn nicht mehr, dass ständige Suchen nach Dates fand ein Ende.
Dieses überzogene Getue, alle müssten für ihn Verständnis aufbringen, versuchte er endgültig abzulegen.
Markus wollte in seinem Leben einmal alles richtig angehen. Deshalb gab er seine zwielichtigen Kontakte auf. Sein Vertrauen zu Dirk war so gross, dass es schon fast in Hörigkeit ausartete. Das ging so weit, dass er auf Dirks Wunsch hin, während der Aushilfstätigkeit im Restaurant alles hinwarf um mit ihm abzuhauen. An diesem Abend plagte ihn der Gedanke wieder auf der falschen Spur zu sein. Im Restaurant dürfte er nicht mehr willkommen sein.
Der Weg nach Hause führte sie an einer Kneipe vorbei, durch deren offene Tür, lautstark orientalische Klänge drangen. Aus der Dunkelheit tauchte ein Bekannter von Markus auf. Die Wiedersehensfreude war gross. Der Umarmung folgten ein paar gefühlvolle leise Sätze auf Türkisch. Die Verständigung funktionierte gut, denn er hatte früher durch den vielen Umgang mit ausländischen Nachbarn vieles gelernt und beibehalten, obwohl Markus vermied, vor deutsche Bekannte sein gebrochenes Anfänger-Türkisch zu sprechen. Darin war er gehemmt und hatte wenig Selbstvertrauen. Er glaubte, dass die anderen eh alles besser könnten. Im anschliessenden Gespräch auf dem Weg in Markus Wohnung mit Dirk, bemühte er sich, ihm von den orientalischen Sitten zu erzählen. Dirk interessierte es kaum, welche Eigenarten andere Menschen hatten. In Markus Wohnung musste Dirk warten, da er erst sein zu dickes Morle versorgen musste. Das hatte für ihn höchste Priorität.
Dirk liess sich in den Sessel fallen, genauso schlief er ein und nahm nichts mehr wahr.
Während er die Katze versorgte, erklärte er im hin und her gehen, dass er einige ausländische Bekannte habe.
Aber Dirk schlief.
Markus betrachtete den schlafenden Mann, der ihm auf dem Heimweg gestanden hatte, auf zwei Hochzeiten zu tanzen. Dirk hatte noch eine Freundin. „Wenn's weiter Nix ist", meinte Markus und wusste dennoch, er war in seiner Art das, was er sich wünschte. Es gab Zeiten, in denen er wegen dieser Frau auf Dirk verzichten musste. Diese Partnerschaft mit dieser Frau wollte Markus unter keinen Umständen gefährden, denn sonst würde Dirk sich von ihm abwenden. Mit der Zeit lernte Markus mit diesem Wechselspiel umzugehen und blieb für ihn aus Zuneigung abrufbereit.
Das bedeutete für ihn ewiges Warten und die ungewisse Hoffnung auf ein Zusammensein. Markus litt gewaltig unter dem verdammten Alleinsein. Er wünschte sich einen Partner, der ihn im Leben begleitet und aus der sinnlosen Leere befreit. Einfach nur einen Freund und Partner, der ihn so annimmt wie er nun mal ist. Markus redete sich ein, Dirk wäre der Richtige, denn er hatte aus ihn einen Mann gemacht. Immer wenn er von seinem Wunschdenken überzeugt war, schien er für die Realität blind zu sein.
Da die Abstände, seine Anrufe, Besuche und Mitteilungen immer länger auf sich warten liessen, wurde er den Zweifel nicht los, dass auch diese Beziehung in einer Sackgasse enden könnte.
Hin und wieder besuchte Dirk seinen Freund und schenkte ihm seine Aufmerksamkeit.
Markus vertraute ihm und gab ihm bereitwillig einen Wohnungsschlüssel. Unter der Bedingung, dass sein Morle wie ein Familienmitglied zu behandeln wäre.
In Markus Abwesenheit hielt sich Dirk des öfteren in der Wohnung auf und dachte über sein Verhältnis zu einem Mann nach.
Irgendwie fand er den Träumer toll, da er seine Fantasien mit ihm ausleben konnte, die er mit einer Frau nicht wirklich erleben würde. Er genoss es, mit Markus über seine intimsten Wünsche offen sprechen zu können.
Dirk sprach auch die Beziehung zu seiner Freundin an. Er wusste es nicht recht zu erklären. Er versuchte Markus seine Sicht in wenigen Sätzen darzustellen. Mit einer Frau an der Seite sei das Gefühl zugegen, eine Zukunft aufzubauen um eine Familie zu gründen, während mit einem Mann nur der lustvolle Augenblick existiert. Stimmt, wenn man sich kaum sehen lässt, fügte Markus hinzu glaubte aber, dass Dirk recht hatte.
Dirk wohnte bei seiner Mutter, war stark mit ihr verbunden. Allerdings duldete sie keine Partnerin an seiner Seite. Gegen die Mutter kam niemand an, nicht einmal seine Freundin. Die „Mutter-Sohn" Beziehung hielt jeden Angriff von Aussen stand.
Markus liess es sich nicht nehmen und nahm die Einladung seiner Mutter, ihren Sohn zu besuchen wahr.
Irgendwie tat es Markus gut, von der Mutter als gepflegter Umgang ihres schwer arbeitenden Sohnes betrachtet zu werden. Der freundlichen Gastgeberin brachte er stets Gepäck zum Kaffee mit und wartete auf Dirk. Wie es aussieht wird es länger dauern, weil er wieder Überstunden macht, merkte seine Mutter an. Markus Vermutung war, dass er seine Überstunden bei der Freundin lustvoll abarbeitete.
Da er nicht kam verabschiedete sich Markus von seiner Mutter und trottete betröpelt nach Hause.
Nun spielte sein Morle die Hauptrolle in seinen Leben.
Dabei wurde er den Verdacht nicht los, Dirk wieder an seine Freundin verloren zu haben.
Wieder einmal versank er in sein seelisches Chaos, rief seinen platonischen Freund, quasi seinen Beichtvater an und redete sich seine Probleme von der Seele. In dem Telefongespräch beschlossen sie, sich in einem gemütlichen Café in der City zu treffen.
Vieles kam zur Sprache, unter anderem auch die Beantragung der deutschen Staatsangehörigkeit. Auf einem Spickzettel notierte er, welche Unterlagen, Zeugnisse und Urkunden für die Behörde unbedingt beschafft werden müssten und er würde inzwischen alle Formulare die um einen Antrag zu stellen notwendig wären besorgen. Stunden sassen sie zusammen. Sein Retter in der Not hatte noch einen Termin bei einer Veranstaltung zu der er geladen war. Da er keine Rede halten müsste, würde es ausreichen, wenn er sich dort kurz vor Schluss der Festrede sehen lässt. Markus sollte sich schon mal Gedanken darüber machen, eine bessere Gegend für seine Schneiderei zu finden. Es brächte doch nichts, wenn Ludwig die Konzession hätte, Markus Ideen zerrede und darüber bestimme was zu tun sei.
In den nächsten Tagen und Wochen vollzog sich für Markus unglaubliches. In Aussicht stand ein gut eingeführtes Geschäft in einer betuchten Wohngegend. Eine moderne Schneiderei mit Industriemaschienen wurde ihn dort angeboten. Der alte Laden war gekündigt. Nach Rücksprache mit Ludwig erklärte dieser sich bereit, pro forma erneut den Mietvertrag und die Konzession zu übernehmen, bis Markus auf dem Papier deutscher Staatsbürger war.
Mit der Hausverwaltung wurde vereinbart, sobald die Einbürgerung vollzogen sei, werden Verträge und Vereinbarungen sofort mit Markus als künftiger Inhaber der Schneiderei abgeschlossen.
Markus fühlte sich gut dabei und war auf dem besten Wege in seinem erlernten Beruf Fuss zu fassen und sein Leben selbst zu organisieren.
Eines Abends gegen 22.00 Uhr stand plötzlich wieder die leidige Vergangenheit vor seiner Tür.
Ludwigs Erpresser Tino, mit einem rostigen schweren Gehäuse unter dem Arm und einer qualmenden Zigarette im Mundwinkel. Lässig, mit freudigen Blick verschaffte Tino sich wortlos Zutritt, als seien erst ein paar Tage vergangen, als sie sich das letzte Mal sahen.
In Eile wurde dieser Behälter von Tino aufgebrochen.
Die Ähnlichkeit mit einem kleinen Wandsafe war unverkennbar. Tausende von Mark entnahm er diesem Behälter. Den leeren Safe deponierte er im Nebenzimmer, nahm Markus Ledermantel, drückte ihm ein paar Scheine in die Hand und verschwand. Triumphierend bemerkte Tino beim Verlassen der Wohnung, dass es für ihn ein erfolgreicher Abend war.
Markus ging nervös in seiner Wohnung hin und her. Er wusste nicht recht wie ihm geschah. Nahm sein Morle auf dem Arm und schaukelte es wie eine Baby. Der Kater liess sich das nicht lange gefallen.
Erneut läutete es an der Tür. Markus dachte, es wäre Tino und öffnete, doch er sah in den Lauf einer gezogenen „Schnellfeuerwaffe" dunkel vermummter Polizisten. Ehe Markus einen klaren Gedanken fassen konnte, stand er schon breitbeinig, das Gesicht zur Wand gedrückt, um die Leibesvisitation über sich ergehen zu lassen. Die Polizei versteht ihr Handwerk dachte er, gleichzeitig spürte er die Aufregung, das Zittern seines Körpers, das seine Knie weich werden liess. Dagegen konnte er nichts tun. Selbst das Reden fiel ihm vor Aufgeregtheit schwer. Die Hüter des Gesetzes hatten durch den Anruf eines Taxifahrers den Hinweis erhalten, einen Fahrgast mit Wandsafe, vom Flughafen nach Wedding gefahren zu haben. Sie gingen dem nach und erhielten zur selben Zeit von der Einsatzzentrale genauere Informationen. Die Benachrichtig eines Raubüberfalls.
Tino hatte einen Parkwächter überfallen, beraubt und enorme Sachschäden verursacht.
Der Hinweis zur Adresse kam vom Taxifahrer, und bei dem regnerischen Wetter führten die Fussspuren vom Eingang ins Treppenhaus genau an das gewünschte Ziel, nämlich zu Markus Wohnung.
Einsicht zeigte Markus dadurch, dass er das gestohlene Geld für seinen Ledermantel, dass er von Tino erhielt am folgenden Morgen im Beisein des Nachbarsjungen zurückgab.
Da die Einsatzzentrale des Flughafens nicht in der gleichen Nacht das zuständige Bezirks-Revier informierte, in dem Markus wohnte, waren Unstimmigkeiten aufgetreten. Das Polizeirevier aus Markus Wohnbezirk wusste nichts von einem Raubüberfall und die Geldabgabe erschien ihnen sehr merkwürdig. Markus stand wie ein Märchenerzähler da. Sie glaubten nichts von alle dem und sperrten ihn erst mal weg. Nach einigen Stunden kam die Klärung. Markus war nicht an dem Raubüberfall beteiligt.
Die Unterbringung wegen Fluchtgefahr oder Verschleierung einer Tat wurde aufgehoben und kurzer Hand in eine „Verführung Minderjähriger" umgewandelt.
Markus sah sich in einem falschen Film. Ein Beamter versuchte Markus mit Vorwürfen wie, der Junge sei doch zu sexuellen Handlungen verführt worden, weich zu kochen. Währenddessen der andere Beamte psychologisch, fast zart Besaitet auf den 14 jährigen Jungen einwirkte. Die Befragung des Jungen ergab, dass der Karl-Heinz niemals mit dem Thema der „Sexuellen Verführung" in seinem Leben konfrontiert worden war. Nun hatte der Junge erstmals von Verführung erfahren. Dieses Ereignis mit der Polizei war noch lange Zeit Gesprächsstoff in der Nachbarschaft. Für zu Hause und seinen Freunden war es eine unglaublich interessante Geschichte. Die wiederum erzählten es ihren Eltern und die Eltern von Karl-Heinz brachten dieses Thema wie ein Lauffeuer unter die Anwohner. Inzwischen hatten die Kunden ihre Garderobe abgeholt, aber keiner neue Aufträge gebracht. Eine Wäsche-Reinigungsfirma hatte ihre Zusammenarbeit mit Markus als Annahmestelle eingestellt. Einige Angestellte der daneben liegenden Seniorenheime, die wöchentlich Wäsche und Kleidung ihrer Bewohner zwecks Änderungen brachten, stellten ebenso ihre Zusammenarbeit mit der Schneiderei, ein.
Für Markus stand fest, dass sein Ende unmittelbar bevor stand. Die Kundschaft blieb aus, so war er gezwungen sein Geschäft nach ein paar tagen zu schliessen. Viele Kunden mieden den Kontakt zu ihm und kein Gruss wurde mehr erwidert.
Markus Frustration war gross und brachte sein Selbstbewusstsein enorm ins wanken. Er fühlte sich total unwohl in seiner Haut, obwohl es sich erwiesen hatte, dass er unschuldig war.
Der Aktenberg der beflissenen Polizei hatte längst Staub angesetzt, als er in seinem Weddinger Bezirk einen Neuversuch startete. Menschliche Beziehungen und Kontakte lehnte er nun völlig ab.
Das Verhältnis zu Dirk bestand nur noch oberflächlich, da er nicht sofort den Absprung von ihm schaffte.
Im Augenblick konzentrierte er sich auf seine beantragte Einbürgerung.
Es folgte die letzte Vorladung ins Ausländeramt und später ins Rathaus. Auf Amtswegen erfolgte durch einen Sachbearbeiter die persönliche Überprüfung des Antragstellers. Die behördliche Anhörung ergab, er konnte schreiben, lesen, deutsch sprechen, stand in Arbeit und hatte keine Schulden.
Schon bald wurden ihm „feierlich" im Rathaus Wedding die Einbürgerungsurkunde und Ausweis-Papiere überreicht. Jetzt war er deutscher Staatsbürger.
Die Einbürgerung wurde von Markus lediglich zur Kenntnis genommen. Einen Grund zum feiern gab es seiner Ansicht nach nicht.
Die Vorwürfe und Verdächtigungen von damals hinterliessen Spuren. Unsicherheit, Ängstlichkeit und übertriebenes Misstrauen anderen gegenüber liessen ihn entgültig zum Einzelgänger werden.
Zugleich wurde es in seinem Leben ohnehin immer stiller.
Von nun an schätzte er seine Arbeit höher ein als die Zweisamkeit. Markus war bitter enttäuscht. Es war nicht die Angst vor der Einsamkeit, sondern die panische Sorge vor alldem allein gelassen werden und eines Tages allein alt zu sein. Womit er sich ständig auseinandersetzte, war die Sorge, wie schnell die Zeit verging. Gleichgesinnte die im Leben ebenso niemanden fanden erzählten gerne, lieber Single zu sein als sich dem Stress einer Beziehung auszusetzen.
Dirk war zum Gewohnheitstrinker geworden und nicht mehr fähig, auf den „Freund" mit seinen immer wiederkehrenden Problemen von Schwermut einzugehen. Markus grübelte viel über vergangene Zeiten die er sich einfach schön redete und noch alles in Ordnung war. Das langsame lösen von Dirk geschah behutsam. Es gab keine Zweifel, dass Empfindungen füreinander noch im Spiel waren. Einer dachte an den anderen, ohne jedoch eine Aussprache herbeizuführen. Dieser Wahnsinn, keine Worte mehr für sein Gegenüber zu finden liess sich nicht erklären.
Dirk sass in der Kneipe vor seinem fünften Glas Bier und mit zunehmenden Alkoholspiegel erkannte er, dass Markus an seiner Misere Schuld sei.
Markus dagegen sass in seiner Wohnung, die er mit seinem Kater Morle teilte, der für ihn zum Inhalt des Lebens wurde.
Der Weg, die Liebelei beider Männer verlief mit der Zeit im Sande. Dirk arbeitete weiterhin als Kohlenträger und kümmerte sich um seine Mutter.
Zu dieser Zeit lief Markus Schneiderei einigermassen und er nutzte die Gelegenheit in seinem Beruf, über eine Abend- und Privatschule Kenntnisse eines Designers zu erwerben. Mit den Schulungen und erreichten Zielen, schwanden jedoch die beruflichen Interessen und die kreative Vielfalt seiner Ideen. Lustlos führte er seine Schneiderei weiter. Holte sich Aushilfen, die seine Arbeit ausführten.
Er spielte bereits mit dem Gedanken einer beruflichen Veränderung, und bot das komplette Geschäft in Inseraten zum Verkauf an. Mehrere Straßen weiter befand sich eine Fahrschule, in der er sich anmeldete. Weil er sich einbildete ein Auto zu brauchen, nur um seine morgendlichen Brötchen aus dem Bäckerladen in der Nebenstraße zu kaufen, oder seine Zigaretten aus dem einige Häuser weiter entfernten Zigarettenautomat zu holen.
Statussymbole wie ein Auto zum vorzeigen, könnte nicht schaden, meinte er.
Am Nachmittag dekorierte er sein Schmuckfenster mit Bekleidungs-Accessoires und eigenen Entwürfen von Abendkleidern. Seit es überhaupt eleganten Kram im Sinne von Mode gibt, gab es auch diese lausige Form von Eitelkeit, dachte er oft. Niemand würde sich eingestehen, welch einen Narren die Modemacher aus ihm machten. Ohne es zu bemerken, waren die meisten Menschen auf dem Konsumtrip. Deshalb probierte Markus an sich aus, was andere kleiden sollte. Seine paar Ideen wurden gebremst, denn schliesslich interessierten sich lediglich zwei Transvestiten für seine flippige Kleidung. Für sonstige Reparaturarbeiten, für Änderungen an Alltagsklamotten waren seine Preisvorstellung völlig aus dem Ufer geraten. Eines Tages kam ein Mann, mit einem ausgefallenem Wunsch. Strings und unwiderstehlichen Dessous anzufertigen. Da halfen keine Ausflüchte, Markus musste sich seinem Kunden widmen, da es sich um einen nicht alltäglichen Auftrag handelte. Dabei erkundigte sich der Mann über das abendliche Vorhaben des Schneiders. Als er den Laden verliess, meinte er noch, wie nett es gewesen war, zu plauschen. Markus staunte, denn schliesslich redete nur der Kunde. Was kann daran nett so nett gewesen sein? Vom grösseren Auftrag war nichts mehr zu vernehmen. Doch einige Tage später platzte der Kunde wieder zur Tür herein und zeigte reges Interesse an den etwas „dünn" geratenen Ladeninhabers. Abgesehen davon, fand Markus sich in jedem Spiegel nur schlank, sogar etwas füllig, aber Kleidung schmückte die Fassade und liess den Inhalt vorteilhafter wirken. Seine Gedanken schwirrten umher, denn so recht wusste er den Kunden nicht einzuschätzen. Während der Kunde ihm Komplimente machte, hatte Markus jedoch Schwierigkeiten, seinen eigenen Körper zu akzeptieren.
Stunden später kam der redselige Kunde schon wieder, diesmal läutete er an der Ladenwohnung. Unfreundlich war Markus nicht und bat ihn in das Zimmer und wollte nun wissen, was das Ganze soll. Während sie Kaffee tranken, kam das unmissverständliche Sexangebot des Besuchers, der sich auszuziehen begann. Verlegen beschäftigte sich der Schneider mit den Klettverschlüssen der Sofakissen. Ihm gefiel die ganze Sache nicht und brachte es auch zögernd zum Ausdruck. Der Besucher zog sich unverrichteter Dinge wieder an und Markus begann ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Der Gast erzählte und erzählte und erwähnte so nebenbei, dass er in der Lehrzeit seinen Meister erschlagen hatte und dafür neun Jahre in den Knast wanderte. Dort habe er auch die wahre Liebe erfahren können. Kurz darauf wurde Markus mit süssen Worten, die Musik in seinen Ohren waren auf Themen gelenkt die erkennen liessen, dass er finanzielle Hilfe benötigte. Alexander, so hiess der Anfangs aufdringliche Kandidat, war in nicht zu übersehenden Schwierigkeiten und Obdachlos. Markus sagte ihm seine Hilfe zu, machte aber klar, dass es kein Dauerzustand bleiben konnte. Alexander nannte ihn fortan seinen Freund. Markus dagegen kritisierte ihn immer häufiger und bezeichnete seine neue Bekanntschaft als ein Fass ohne Boden. Diesmal ging Markus nicht im Sog der Gefühle unter. Er blieb kühl und berechnend. Jede Seite forderte und kam auf ihre Kosten. Nur gab es für dieses Spiel auch Grenzen. Nachdem Alexander nicht erkennen liess, eine Arbeit anzunehmen, wollte Markus nicht länger seinen jüngeren Freier spielen und beendete dieses Verhältnis. Zudem bewies Markus grosse Fairness und besorgte Alexander eine preiswerte Wohnung, stattete diese auf das Notwendigste aus und verabschiedete sich mit dem Hinweis, er sollte sich schnellstens irgend eine Arbeit suchen, sonst verliere er alles wieder. Aber der Kontakt schien auf Grund der schwierigen Lage von Alexander, noch enger zu werden. Er machte Markus kleine Geschenke, angeblich ermöglichte es ihn einer seiner Nebenjobs. Darum blieb die Verbindung länger erhalten und festigte sich im Laufe der Zeit. Trotz dem Alexander nun seine kleine Wohnung hatte, verbrachte er die Nächte überwiegend bei Markus. Tagsüber war Alexander angeblich unentwegt unterwegs, um eine feste Anstellung zu suchen. Anzweifeln wollte Markus das nicht auch noch, denn Alexander musste sich ja schon genug von ihm anhören. Markus wusste ohnehin nicht genau einzuschätzen, wie belastbar Alexander bei den ständigen Vorwürfen und Vorhaltungen war. Die Attacke seines Zorns pegelte sich schnell auf das Erträgliche wieder ein. Alexanders jahrelange Erfahrung aus dem Knast war stets zugegen und warnte Markus indirekt, es nicht auf die Spitze zu treiben, denn es ginge nur miteinander und nicht gegeneinander.
Doch eines Nachts blieb eine Hälfte des Bettes leer und Alexander kam nicht. Für Markus ein Vertrauensbruch. Zumindest hätte er telefonisch Bescheid geben können.
Als er dann gutgelaunt zum Frühstück eintraf, wagte Markus ihm ohne grosses Palaver zu verkünden, dass nun die Zeit für eine Trennung gekommen wäre. Selbstverständlich würden sie auch weiterhin öfter zusammenkommen. Markus wolle nicht in sein Fahrwasser geraten um abzugleiten. Freundschaft bedeutete für ihn, dass sich zwei aufbauen und nicht gegenseitig demontieren. Alexander bräuchte sich dann nicht mehr „abzuhetzen", um Erfolg auf der Arbeitssuche vorweisen zu müssen. Könnte Tag für Tag ganz allein auf seinem Zimmer zwischen seinen Lautsprecherboxen sitzen und sich ohne dem Gemecker von Markus, mit lauter Musik die Ohren zudröhnen und seine Zeit mit Saufkumpanen im Freien verbringen. Passanten anschnorren oder aber mit seiner Clique aus der Stricherszene wieder allabendlich an Treffpunkte nach Freiern Ausschau halten. Vielleicht war es das, was Alexander so vermisste, aber Markus wollte damit nichts zu tun haben und vermied es, sich auf Gespräche darüber einzulassen. Ausserdem missfiel es ihm, in die Rolle eines Freiers gedrängt zu werden und seine einzige Chance sah er darin, sich zum kontaktfeindlichen Miesepeter einzupendeln. Markus fand immer einiges zu beklagen was ihm nicht passte. Alexanders Nichtstun kostete Geld. Im Streitgespräch gab Markus, der gerade Mal ein viertel Jahrhundert seines Lebens hinter sich hatte, ihn einen einzigen Ratschlag mit auf dem Weg. „Behalte dein beschissenes Problem für Dich". Es reicht: Wiederholend betonte Markus. Schluss und Aus! Alexander kam in der Nacht für ein paar Stunden ins gemeinsame Bett, aber verschwand wieder.
Doch Tage darauf meldete sich die Mordkommission auf einen Hinweis hin. Dabei erfuhr Markus von einer früheren Tat, die ihm Alexander bereits selbst erzählt hatte. Geschockt vernahm er den Vorwurf eines neuen Morddeliktes, für den sein Freund Alexander verdächtigt wurde. Selbstverständlich gab er, so weit es ihm möglich war Auskunft. Aber vergass zu erwähnen, dass er ihn in aller Frühe in den Bäckerladen gehen sah. Alexander war jetzt hellblond!
Die Vorstellung, dass er in der Nacht einen Menschen tötete und anschliessend zu ihm ins Bett stieg, um sich Streicheleinheiten zu holen machte ihn sprachlos. Alexander kroch in jener Nacht unter die Zudecke, als hätte es zwischen ihnen nie Unstimmigkeiten gegeben, auch nichts Aussergewöhnliches geschehen wäre.
Tage darauf, zeigte die Kriminalpolizei Markus die am Tatort zurückgelassene Lederjacke. Um nichts Nachteiliges und falsches gegen ihn auszusagen, gab Markus sich unwissend, doch er ahnte, dass sie Alexander gehörte. Im Herzen brach er den Kontakt ab und wünschte in Gedanken dem Gesuchten, dass sich der Vorwurf als Irrtum erweisen würde. Gegen Abend suchte Markus sein Stammlokal auf und erzählte dem Wirt, der Alexander inzwischen ebenso kannte, von dieser Geschichte. Der Wirt konnte sich das nicht vorstellen, denn er hatte ihm noch Verpflegung vorbei gebracht. Alexander mache sich demnächst selbständig und war dabei, seinen kürzlich gemieteten Laden zu renovieren. Markus staunte, von dem Laden wusste er nichts. Damit der Vorwurf schnell aus der Welt geschafft wurde, informierte der Wirt die Polizei über den Aufenthalt von Alexander.
Alexander kam in Untersuchungshaft und einige Monate später verurteilte das Schwurgericht ihn wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren. Nach der Feststellung des Gerichts, war aus den Zeitungen zu entnehmen, hatte Alexander in homosexuellen Kreisen verkehrt und seinen älteren Bekannten getötet. Mit durchschnittener Kehle war das Opfer in seiner Wohnung aufgefunden worden. Alexander hatte bis zuletzt die Bluttat bestritten. Lediglich aus Hilfsbereitschaft hätte er den von Blut überströmten in einer Ecke am Boden hockenden Mann auf das Bett gelegt. Die Polizei hatte er aus Angst, als Täter verdächtigt zu werden nicht verständigt, behauptete er. Er hatte laut Zeitungsausschnitt erhebliche Vorstrafen und hatte schon einmal wegen Mordes neun Jahre gesessen. Damals hatte er einen Mann, unmittelbar nachdem dieser sich sexuell annäherte und bedrängte, in dessen Küche mit einem Fleischerbeil, dass vorher dekorativ über der Sitzecke an der Wand hing, bis zum Eintritt des Todes auf ihn eingeschlagen. Wie damals, so auch in dieser Verhandlung bestritt Alexander diese Tat. Doch die Indizien sprachen gegen Alexander.
Markus lehnte jeden Kontakt trotz der vielen Briefe Alexanders aus dem Gefängnis ab und verdrängte das Geschehene.
Markus schmiedete ehrgeizige Pläne für die Zukunft. Nun würde er, wenn es sich ergebe, alles menschliche als Spass an der Sache mitnehmen, weil er den Glauben an Freundschaft und Beziehung verloren hatte. Auch büffelte er für seinen Führerschein. Die Theorie schien im Gegensatz zum praktischen Unterricht kein Problem darzustellen. Nach zweimaligen Anlauf war er stolzer Besitzer einer Fahrerlaubnis. Seinen nicht mehr so gut florierenden kleinen Laden gab er aus Gründen innerer Unzufriedenheit aus einer Laune heraus auf. Ein Käufer fand sich ohnehin nicht. Sein privates Leben war dem Tiefstand nahe. Bei ihm scheiterte vieles, weil er im Alltag auf sich allein gestellt war. Keine Bekannten, keine Freunde, keine Beziehung und nicht einmal ein Verhältnis. Wieder begann das Grübelei, denn wenn es ihn ab der nächsten Minute nicht mehr unter den Lebenden gäbe, wer würde ihn vermissen? Der eigene Gedankengang wurde abgeblockt, denn die Antwort wäre gewesen: Niemand! Sein Weg führte ihn zu dem Herrn, seinem Lebensberater und wohl einzigen Menschen den er hatte. Er ermunterte ihn einst nicht nur zum Führerschein, sondern sich ein Auto zu kaufen, um vielleicht schneller an einen neuen Job zu gelangen. In allem was er Markus riet, ergaben sich Fortschritte für ihn. Er nahm an der Schulung einer Security-Firma teil und bestand auf Anhieb die Prüfung. Da er im selbständigen Arbeiten erfahren war und den Führerschein besass, wurde ihm die Teilnahme an der Schulung der Flughafen-Security nahe gelegt. Auch diese Prüfung bestand er. Dann durchlief er noch einmal den ganzen behördlichen Sicherheitscheck für eine Anstellung im Hoheitsdienst eines Westberliner Flughafens.
Aufwind sah Markus erst recht, in seiner neuen Tätigkeit als Arbeitnehmer bei der Fluggastkontrolle. Dieser Führungsstil des Unternehmens hatte Ähnlichkeiten aus seiner Vergangenheit, mit dem absoluten Gehorsam in den staatlichen Erziehungsanstalten. Diese Anstellung erzwang alles was im Leben nötig ist, Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit und letztendlich eine Neuorientierung des persönlichen Willens. Zusätzlich wurde er Monate später dem Bereitschaftsdienst zugeordnet. Das hiess, wann auch immer, zu jeder Uhrzeit, für die Firma einsetzbar zu sein. Vergangenes war nun Vergangenheit. Er bestritt Verdächtigungen, homosexuell zu sein und war bestrebt, der Norm zu entsprechen. Besonders wütend war er darüber, dass ausgerechnet Homosexuelle es waren, die ihn durch Getuschel, Tratsch und dämliches Gequatsche ans Messer liefern wollten. Ein Gespräch herbei zu führen misslang, weil von den Schwulen dieses Angebot zur Aussprache gleich als Anmache unter der haarigen Mädels ausgelegt wurde. So sah Markus nur eine Möglichkeit um seine Tätigkeit nicht zu gefährden. Jeden, auch noch so geringsten Verstoss dieser Krawalltunten im Betriebsbereich, an die Einsatzleitung zu melden. Mit der Zeit kam bei einer Schwuchtel allerhand zusammen und sein Abschied nahte. Markus war erleichtert, denn es gab nichts schlimmeres als von Gleichgesinnten gemobbt zu werden. Er hätte nicht mit gleicher Münze zurückgezahlt, aber dieser Typ wollte nicht zur Kenntnis nehmen, dass Markus inzwischen für diese Firma lebte und beschäftigt bleiben wollte.
Markus versuchte lediglich zu verhindern, wegen des Fehlverhaltens und Unruhestifter in der Belegschaft, die Tätigkeit zu verlieren und freundete sich mit einer Fluggastkontrolleurin an. Sie unternahmen einiges zusammen, vertrauten sich gegenseitig und fanden Verständnis füreinander. Er wusste nun alles über sie und sie alles über ihn. Sie spielte das Spiel mit, um Markus auf der Arbeit, als seine Freundin den Rücken frei zu halten. Privat ging ihre Ehe ohnehin der Scheidung entgegen. Ihre Wohnung war, wenn ihr Noch-Ehemann keine Nachtschicht hatte, ein regelrechter Kriegsschauplatz. Daher kam auch ihr dieses Spiel und die Abwechslung im Alltag sehr gelegen und eine verschwiegene Freundschaft hatten wohl Beide bitter nötig.
Der Anfang in der Firma, sein Neueinstieg in das Leben war gemacht. Es schwand die Angst, als Schwuler ausgemacht zu werden. Unter sonstigen Bodenpersonal mochte das kein Problem darstellen, aber im Securitydienst passte dieses Geschwätz einfach nicht, und dieses Thema wäre absolut fehl am Platz. Im Securitybereich arbeitende Schwule hatten kein Interesse sich gegenseitig ans Messer zu liefern. Einige, so war ihm aufgefallen, hatten ebenso Freundinnen als Alibi. Andere Homos wurden für ihn darin Vorbild. Viele seiner Ängste stellten sich im Laufe der Zeit als unnötig heraus, bedeutungslos und manchmal eher lächerlich. Erst spät begriff er ein gelesenes Zitat; „Wer glaubt, dass andere sich über ihn Gedanken machen, würde sich wundern wenn er wüsste, wie selten sie es tun".
Schon nach einem Jahr hatte er festen Boden unter den Füssen, war charakterlich gefestigt, gegen jede Art von Verführung widerstandsfähig. Er verstand darin schon den wirklichen Beginn seines Lebens. Dem Junggesellen fiel die manchmal empfundene Einsamkeit nicht besonders schwer, denn er redete sich kontinuierlich ein, dass er alles habe was seine Freizeit an Bequemlichkeiten bieten konnte. An private Zweisamkeit wagte er erst gar nicht zu denken. Er hatte eine Arbeit, eine Wohnung, eine Katze die er abgöttisch verwöhnte, erspartes und ein Auto und sich persönlich im Griff. Manchmal mutmasste er sogar, seine Probleme entständen deshalb, weil er eigentlich keine hatte.
Sein Auto liebte er bis kleine Reparaturen fällig waren. Da hatte er wie im sportlichen kaum Interesse, kein Wissen, keine Erfahrung. Er musste also wegen jeder Kleinigkeit eine Kfz-Werkstatt aufsuchen.
Die Freundschaft seiner Arbeitskollegen hielt sich in kollegialen Grenzen.
Aber das Zusammengehörigkeitsgefühl war sichtlich den Forderungen des Arbeitgebers angepasst. Unter dem Druck der Einsatzleitung war selbst das Unwahrscheinlichste noch richtig, die Vernunft oft falsch. Unruhe beschränkte sich nicht nur auf die internen Angelegenheiten der hiesigen Fluggastkontrolle. Auch in der Belegschaft rumorte es hin und wieder. Gekonnt verstand Markus sich aus allem raus zu halten, um nicht selbst am Schluss als Buhmann dazustehen. Es gab zu viele Kriecher, die dazu noch ausgesprochen dummdreist waren. Es waren Besserwisser, die sich innerlich selbst beförderten. Die konnten selbst an ihren freien Tagen es kaum versäumen, ihre Nachbarn durch die Haupthalle mit Geschäften im Flughafengebäude umherzuführen. Beim Rundgang an den Pass- und Wartehallen der Passagiere vorbei, erklärten sie unter vorgehaltener Hand, wie wichtig sie seien. Die davon betroffenen Mitarbeiter schreckten nicht davor zurück und trugen ihre Uniformen während des freien Tages, hefteten noch den Erkennungsausweis für jeden sichtbar an. Sie gaben sich ausserordentlich wissend, unauffällig und eben gescheit. Sogar in den weiter entfernten Kaufhäusern konnte man hin und wieder den einen oder anderen Lebenskünstler der Aufsteigerklientel antreffen, Junge, Alte, Vergessene, Versoffene, weiblich, männlich, gepflegt oder ungepflegt, die sich in Gesprächen darüber ausliessen, wie anstrengend ihr Beruf sei. Die Passagiere rochen, stanken, waren zudem meist ungebildet, frech und unverschämt, einfach eine Zumutung für den, der was von sich hielt, lästerten diese Kollegen. Das waren die Kollegen, die heimlichen Chefs in der makellosen Fluggastkontrolle. Erkannt wurden sie an Gesprächsthemen, über Krankheiten, Klagen von Rückenschmerzen und Überarbeitung. Einen besonderen Draht schienen sie in die Chefetage zu haben. Der Personalbetreuer, auch Dompteur genannt war über alles unterrichtet, selbst über den durchdringenden Achselschweiß an dem Hemd eines Mitarbeiters, der sofort gemassregelt wurde, sich das Sakko überzuziehen. Daher wurden die Aufpasser und Berichterstatter „Bücklinge" genannt. Oft war ihnen jeder Handgriff zu viel. Warum blieben die passagiere nicht einfach zu Hause! Markus grübeln artete wieder ins Übertreiben aus: „Ohne Passagiere wäre das Arbeiten um so schöner".
Aber offen etwas dazu zu sagen, traute er sich nicht, denn vieles erfuhr er auch nur über Tratsch und Klatsch. Von Klugscheisser und Strebern hielt Markus sich fern. Aber da gab es viele Mitarbeiter, die Fairness kannten, vernünftig sind und die wahre Stütze der Firma im Flughafenbereich waren. Einige lockere Bekanntschaften schloss er mit Computerfreaks des Wachpersonals, die es auf dem gesamten Anwesen zur Genüge gab, und ihn dazu ermunterten sich ebenso einen PC anzuschaffen. Sie tauschten Programmdisketten, gaben Ratschläge und bauten Anlagen aus. Jeder wollte grösser sein als der andere. Immer mehr begannen sich einen Heimcomputer anzuschaffen. Markus dachte sich, lange genug abgewartet zu haben und legte sich einen PC zu um den Anschluss an die Zukunft nicht zu verpassen. Commodore20 hiess das Ding und hatte einen Drucker sowie ein kleines Kassettengerät dabei. Unglaublich, wie die Geräte auf seinem Tisch das Zimmer veränderten. Er war schwer beeindruckt und müsse nun nur herausbekommen wie alles funktionierte. Wer ein solches Hobby hatte, wusste auch, dass es Zeitaufreibend war und andere Interessen überlagerte. Insider wussten zu berichten, dass so manche Ehe dadurch ins wanken geriet, weil der Partner sich mehr mit seinem PC beschäftigte als mit der Familie.
Die Computer-Konnektion war eine eingeschworene Clique, die sich in der Freizeit per CB-Funk verständigte.
Da Markus die Voraussetzungen und den technischen Stand inzwischen besass, der dafür erforderlich war, gehörte er dazu. Nun lernte er aus Büchern und Zeitschriften den Umgang mit seinem C20. Markus musste lediglich noch verheimlichen, damit andere nicht bemerkten, wie wenig Ahnung er davon hatte.
Die Wohnung war mehr als seine Höhle geworden, in der er sich zurückzog um die Schwierigkeiten seines eigentlichen Naturells verdrängen zu können. Die Katze Morle war seine Familie und das allein war Grund genug geordnete Verhältnisse aufrechtzuhalten. Sein Leben bot so viel Nachdenkenswertes, dass er nur selten in sich Ruhe fand. Die Nachricht vom Tod seiner Mutter stimmte ihn doch etwas traurig. Das am selben Tag eingegangene Gerichtsschreiben wegen der Erbschaftsangelegenheit, lehnte er ab und sendete es zurück. Mit Unbehagen erfuhr er aus den Unterlagen die Vereinsamung in ihren Leben, sowie Annas anonyme Bestattung. Trauernde waren ausser ihrer beiden Töchter nicht zugegen. Tatsächlich wollte Markus keine Angehörigen kennen und er unternahm auch nie den Versuch Verwandte ausfindig zu machen. Telefonischer Kontakt ergab sich hin und wieder, mit einer seiner Halbschwester aus München, die die einzige war die sich meldete um den Rest der Familie wieder zueinander zu führen. Aber Markus blockte.

An einem Mittwoch des Monats Mai, gegen Nachmittag ging er zu seiner Arbeit am Flughafen. Wie immer hatte er seine Tätigkeit mit anderen Arbeitskollegen gemeinsam ausgeübt. Während eine Flugmaschine gerade abgefertigt wurde und die Passagiere durch die Kontrollkabinen gingen, eilte der junge Chef der Firma herbei und bat Markus für einen Moment zu den beiden Herren ausserhalb des Sicherheitsbereiches zu kommen, um etwas zu klären. Ahnungslos verliess Markus seinen Arbeitsplatz und erfuhr, dass er unter dem dringenden Verdacht stand, eine äusserst schwerwiegende Tat begangen zu haben. Er wurde auf dem Flughafen vor aller Augen wie ein Verbrecher festgenommen und abgeführt. Zwischen zwei Beamten marschierte er wie eine im Gesicht erstarrte Marionette auf das zuständige Revier der Verbrechensbekämpfung der Flughafenpolizei. Das lange Warten auf die Beamten aus dem Raubdezernat machte ihn müde, sprechfaul und desinteressiert. Nur langsam fanden sich einige Kripobeamte ein und Markus Ruhe änderte sich bald. Hellwach und doch wie gelähmt vernahm er den Vorwurf, Schmuck im Wert einer viertel Million DM einer Galeristin während der Sekunden der Personenkontrolle aus dem Handgepäck gestohlen zu haben. Er wusste in dem Moment nicht einmal, wie er es verneinen sollte. Nach und nach erfuhr er, dass dieser angebliche Raub schon eine Woche zurücklag. Keiner fragte nach Ungereimtheiten. Die Kriminalpolizei schilderte den Tatvorgang als hätten sie den Diebstahl selbst begangen. Sie wollten nur noch von Markus ein Geständnis. Während des Verhörs traten abwechselnd verschiedene Beamte in das Vernehmungszimmer, und für den Beschuldigten völlig unerwartet in der zutiefst verletzenden Vernehmungsprozedur, den Gestapomethoden wohl ähnlich, war plötzlich von einer Ausdehnung des Falles die Rede. Es gab offenbar eine Verbindung zur Unterwelt. Von Komplizen, kriminellen Machenschaften und Hintermännern, angeblich einbezogenen Hehlern war die Rede, die vermutlich sogar in der Chefetage der Firma ihr Unwesen trieben. Bei kooperativer Zusammenarbeit bekäme er bei Verurteilung, einige Jahre weniger abzusitzen. Markus erlebte, wie der Polizeiapparat mit seinen Bürgern umsprang. Wohnung, Keller und Auto wurden buchstäblich auf den Kopf gestellt. Bereits auf dem Parkplatz, für die Angestellten verschiedener Firmen vor dem Betriebseingang des Flughafens, wurde nach dem Schmuck in seinem Auto, das man völlig auseinander nahm, gesucht und gesucht, geschraubt und geschraubt. Er stand sehr betroffen daneben und dachte an sein Morle , dass hoffentlich nicht aus der Wohnung verjagt wurde. Im Beisein des verdächtigen Täters, ereiferte ein anderer Beamter sich noch den Hinweis: Solche "Schmierlappen" bekäme er auch noch weich, zu einem Geständnis. Markus glaubte, das wäre es ja dann gewesen. Aber weit gefehlt! Jetzt ging es erst richtig los. Die derzeitigen Vermögensverhältnisse und das soziale Umfeld wurden überprüft und kein Beamter bei der Polizei wusste von dem "Tun" des anderen. Dafür war jeder auf seine Art unglaublich wichtig, wichtig genug um falsche Entscheidungen zu treffen. Während die nächste Runde des Verhörs begann, stellte ein anderer Wichtigtuer in Uniform zum Erstaunen aller fest, dass weder die Wagenpapiere noch der Führerschein und Ausweis echt waren. Nun stand für einen Herren fest, dass sie es mit einer harten Nuss zu tun hätten, die es zu knacken gilt.
Aus Sicherheitsgründen wurde Markus in den polizeilichen Gewahrsam übergeben. Bei der Unterbringung in der Flottenstraße führte man ihn in eine Kammer, die einem kleinen Büro entsprach. Darin musste er vor drei jungen Beamten seine Hose und Unterhose bis zu den Knien runterlassen. Wie in einer Peepshow ohne Atmosphäre, sich breitbeinig bücken und sein Gesäss auseinander halten, als trage er seit Wochen den angeblich gestohlenen Schmuck im Darm spazieren. Bevor Markus in die Zelle geführt wurde unterschrieb er noch den Abnahmeschein persönlicher Sachen und erhielt zudem sein Bettzeug für die Nacht. Dann wurde hinter ihm, die Tür zu geschlagen und der Aufseher rief seinen Kollegen zu, ein ganz heisses Ding und verschloss die Zellentür. Da stand Markus nun in einer kleinen weissgetünchten Zelle, deren Wand zur Fensterseite befleckt, aber beim genauen Betrachten entzifferbar schien. Die Insassen vor ihm, dachte er, hatten vermutlich nichts anderes im Sinn als Geschmacklosigkeiten mit dem anderen Geschlecht zu verewigen.
Die Behörde erfuhr von einem anonymen Anrufer, der bis in das kleinste Detail genauestens Bescheid wusste und dementsprechende Hinweise auf Markus geben konnte. Der Anrufer jedoch war unauffindbar. Die Gelegenheit zum Mitschneiden des Gesprächs auf ein Tonband war nicht gegeben, da der anonyme Beschuldiger sich gleich an die richtige Stelle wandte, die keine Aufzeichnungsgeräte hatte. Der angebliche Diebstahl geschah fünf Tage vor der Festnahme, der Anruf drei Tage nach dem Raub. Auf die für jedermann einsehbaren Räumlichkeiten des Sicherheitstraktes mit durchsichtigen Glaswänden ereignete sich das spektakuläre Geschehen. In den Verhören ging es darum, ob Markus dort die Arbeit aufgenommen hatte, den Sicherheitstrakt des Flughafen auszuspionieren, um eines Tages einen Coup zu landen. Ob etwa Bandenkriminalität beweisbar wäre, überlegte die Polizei, oder sogar die Beteiligung der privaten im Hoheitsdienst tätigen Wachschutzfirma. Schliesslich war dem Dezernat angeblich bekannt, dass es wiederholt zu Geldtransaktionen gekommen war. Da konnte keiner dem erfahrenen Polizeibeamten etwas vormachen. Würde diese Firma nicht so reagieren wären Klagen unausweichlich. Überlegenswert wäre dann allerdings auch, ob nicht ein anderes Unternehmen mit dieser Aufgabe betraut werden sollte. Diese Information könne er den andern mitteilen. Markus begriff nicht, was das Ganze sollte. Ein zweiter Mitbeteiligter aus der Belegschaft wurde ausfindig gemacht und entpuppte sich ebenso als ahnungsloser Mitarbeiter, der die Tätigkeit behalten wollte. Trotz gravierender Verdachtsmomente blieben ihm Unannehmlichkeiten, nämlich stundenlange Vernehmungen und polizeilicher Gewahrsam erspart. Keine Akte würde davon Kenntnis geben, welches Spiel hier gespielt wurde, von wem auch immer. Die zuständigen Polizeibeamten hätten wissen müssen, dass bei der Fluggastkontrolle tätige Personen einer genauen Überprüfung des Verfassungsschutzes, der Alliierten Franzosen, unterzogen würden. Nur dann ist eine Aufnahme als Arbeitnehmer möglich. Auch die „nationale" geistige Voraussetzung im Sicherheitsbereich muss gewährleistet sein.
Markus politische Einstellung neigte eher zum konservativen Lager und privat schwörte er auf die monogame Lebensweise. Bisher stand er hundertprozentig loyal zu seinem Arbeitgeber. Diese Tätigkeit war Teil seines Lebens geworden. Er beteiligte sich freiwillig an jede angebotene Schulung der Firma. Abgesehen von der Leibesvisitation und Gepäckkontrolle, suchten Angestellte nach Waffen aller Art und gefährlichen Gegenständen. Markus war ebenso für den Bombenwagen eingeteilt worden. Es war schon ein seltsames Gefühl, daran zu denken, die Fracht könnte Sprengstoff beinhalten. Wenn es zu einer Explosion während der Fahrt käme, wäre er sich nicht so sicher, ob das Auto ihn vor Verletzungen schützen könnte. Ihm war nur aufgefallen, dass unverheiratete meist bei Alarm eingesetzt wurden.
Diese extra dafür ausgebildeten Kontrolleure durchsuchen Flugmaschinen nach Sprengstoff, sonstige Auffälligkeiten. Zugänge und Einfahrtstore wurden zusammen mit dem Wachpersonals kontrolliert. Ankommende Pkw’s wurden von dem Personal der gleichen Firma ausgeführt, Unterböden abgespiegelt, bei Verdacht Fahrzeugkontrollen im Beisein der Polizei vorgenommen. Ein Kündigungsgrund wäre, wenn ein Sicherheitsrisiko vorläge oder Unzuverlässigkeit. Im Kreise der "Abwehr" endete dann die Mitarbeit. Das geschah von einer Sekunde zur anderen. Um den Arbeitsplatz bei diesem Unternehmen am Flughafen zu behalten, unterlag keiner der Versuchung einer Gewerkschaft beizutreten.
Die Verbrechensbekämpfung der Polizei kam nicht weiter, hatte daher ausgiebig bei ihren Ermittlungen zu tun. Die Akten wurden immer wichtiger, der noch Verdächtigte immer kleiner, die Klägerin siegessicherer, die betroffene Firma immer sprachloser. Es gab weder eine moralische, noch juristische Unterstützung für Markus. Sie liessen ihn lediglich wissen, dass er weiterhin seiner Arbeit nach gehen könnte unter der Bedingung, keinen Anwalt und keine Presse einzuschalten. Bei dem üblichen autoritären Ton der Führung in der Zentrale wusste wieder jeder, wer der Chef war, ohne ihn gesehen zu haben. Duckmäusertum war wichtiger als Unterstützung für Mitarbeiter, denn dann könnten die Herren aus der Chefetage der Firma gefordert sein.
Aber der Chef war ja für seine Wohltätigkeit bekannt, wenn er mit Sportvereine zu tun hatte.
Wäre diese Angelegenheit nicht so ernst und lächerlich zu gleich, würde der für die Kripo immer noch Verdächtige sich zu Tode kotzen. Übel war ihm schon genug dabei. Die Verköstigung in der Zelle lehnte er strikt ab. Er war deprimiert. Da half auch nicht die plötzliche Entlassung am späten Abend aus der polizeilichen Gefangenschaft, unter der Auflage die Stadt nicht zu verlassen. In seiner Betroffenheit lief Markus die Kilometer durch die Stadt zu Fuss nach Hause. In seinen vier Wänden sass er gekrümmt auf dem Sofa, sein Morle im Arm und schien zu nichts mehr fähig. Er war von diesem Leben so enttäuscht, er wollte doch nur in geordneten Verhältnissen wie viele andere leben. Tage später begab er sich wegen akuter Magengeschwüre in ärztliche Behandlung, hielt aber trotzdem seine Tätigkeit aufrecht. Sein Arzt bemerkte die angeschlagene Psyche und verabreichte ihn ein Psychopharmaka gegen Antriebsmangel, Konzentrationsschwäche und gesteigerte Ermüdung. Trotz aufkommender Depressionen folgte er auf Wunsch des Kriminalbeamten einer baldigen Gegenüberstellung mit der bestohlenen Galeristin. Auf ausdrückliches Anraten der Beamten entledigte er sich nicht der Dienstuniform, sondern suchte nach dem Flughafendienst am Nachmittag direkt das Revier der Verbrechensbekämpfung auf. Markus hatte noch Zeit für eine Zigarette, erhielt eine Tasse Kaffee, musterte schweigend die Stube, das äusserst kahle Büro und ahnte, dass er immer noch unter Verdacht stand. Da kam das Opfer, die geschädigte Dame in einem auffälligen Designerfummel angerauscht, gab sich vornehm, lässig und liess keinen Zweifel daran, dass sie der oberen Schicht des Volkes angehörte. Ihr Verhalten zeigte, wie schwer diese Begegnung ihr fiel. Dass es ihr eigener Wunsch war, hatte die bezaubernde Dame wohl vergessen. Der überwältigende Wortschatz vernebelte Markus die Sinne, denn soviel Vornehmheit hätte er nicht erwartet. Der Beamte fragte Markus, ob alles in Ordnung sei denn er war ganz blass. Wie dumm von dem Fluggastkontrolleur alles so ernst zu nehmen, meinte die Galeristin. Verdächtigungen gehören schliesslich zur Tagesordnung. Sie habe man einmal für eine Terroristin gehalten. Damit müsse man leben! So etwas wäre völlig normal! Sie schnatterte weiter. Markus sah den Beamten an und glaubte im falschen Abteil zu sein. Auch den Ablauf der Tat schilderte das hinreissende Persönchen der oberen Zehntausend genau. Er hörte nicht mehr hin, ihm fiel die Duftnote ihres Parfums auf. Er kannte es noch nicht. Doch die Wetterhexe danach zu fragen, wäre sicherlich nicht gerade zeitgerecht. Zumal ihr anfänglicher Glanz ihrer Erscheinung nach Stunden nachliess. Dann prasselte ein Redeschwall auf ihn nieder. Wortgewandt, wie der relativ nichts sagende Kleiderständer war, nahm ihre bösartig gewordene Zunge jeden von Markus Gegenargumenten bis auf den letzten Buchstaben auseinander. Die Widersprüche ihrer Aussagen fielen selbst den Dümmsten auf. Es war ihr so was von wichtig, zu erwähnen wie elegant sie am Tage der Tat gekleidet war. Gut geschminkt, denn sie kam aus dem Kosmetiksalon und trug einen Umhang irgend eines Modemachers, im Look eines zebraähnlichen Designs. Die Tatsache, dass sich niemand der Angestellten der Fluggastkontrolle einer solchen Auffälligkeit erinnerte, verstimmte sie. Sie suchte einen guten Kunden in der Umgebung von Frankfurt auf, vermied jedoch vor dem Verdächtigen den Namen zu erwähnen. Es war zwar nur der Bundesbankpräsident, aber immerhin. Sein Interesse für Aquarelle und Schmuck mit kostbaren Edelsteinen, Diamanten und Brillianten versehen, muss gross gewesen sein. Markus spottete gedanklich über diese Frau von „Weltformat", war im Stillen aber nachdenklich geworden. Er entdeckte an ihr Bewegungen, die ihn an seine Mutter, die er hasste erinnerten. Anfangs noch so vornehm. Nach und nach kam ihre Natürlichkeit zum Vorschein. Es war die plumpe Art wie sie die Zigarette hielt, beim Auspusten des Rauches verzog sie den Mundwinkel zur linken Seite nach unten. Das dauernde Rollen der Augen machte sie keinesfalls sympathischer. Statt einer auffälligen Kette hätte Markus ihren faltigen Hals in einem zart rosaroten Schal verpackt. Der ständige Griff in das füllige, gepflegte Haar deutete auf das lässige Fingerspiel der nicht arbeitenden Klasse. Das diese Person bei einigen Befragungen anwesend war, verstanden die Wenigsten.
Die hatte nicht einmal ihren Schmuck versichert und keine Fotos ihrer luxuriösen Einzelstücke. Selbst Zeichnungen davon, wurden erst hinterher angefertigt. Irgendwo war noch ein Herr als Zeuge, der die Existenz des Schmuckes gesehen haben will und ihren Schmucktransport wohl bestätigte.
Markus beauftragte, trotz seiner Firma gegebenen Zusage, es nicht zu tun, einen Anwalt. Der beauftragte Rechtsanwalt bekam Auskunft über die Einstellung des Verfahrens, erhielt jedoch nicht umfassenden Einblick in die Akten der Staatsanwaltschaft. Grundsätzlich waren die Akten stets irgendwohin verschickt, immerzu unterwegs. An wen, weiss der Kuckuck! Der Anwalt hatte nach Aufforderung erneut Einsicht in einigen Unterlagen bekommen und war nach mehreren Versuchen die richtigen zu erhalten, ratloser denn je und gab den Fall ab. Die Presse konnte Markus nicht behelligen, da ihm sonst eine sehr hohe Schadensforderung der Firma ins Haus stand. An die Vereinbarung mit seinem Vorgesetzten hielt er sich.
Markus liess nicht locker. Er schrieb an sämtliche Stellen, die in Frage kamen. An die Alliierten der Stadt West-Berlin und an einige deutsche Politiker. Alle Büros versprachen per Telefon, sich kundig zu machen. Er wollte von diesem Vorwurf befreit sein und für seinen Anwalt Einsicht in alle Akten erreichen. Geschehen war nach geraumer Zeit nur eines. Die Angelegenheit könnte er vergessen. Markus sollte es auf sich beruhen lassen und der Vernunft Vorrang geben. Markus dachte, hoffentlich haben sie dem Kriminalcomputer diesen Bescheid mit freundlichen Grüssen übermittelt.
Demonstrativ erwarb Markus ein für ihn teures, aber bescheidenes neues Auto. Der Anwalt war darüber informiert und ein Journalist einer Zeitungsredaktion war eingeweiht und wenn diese Angelegenheit durch die Anschaffung eines Neuwagen für die Staatsanwaldschaft plötzlich wieder aktuell werden würde, nehmen sie sich der Geschichte an. Nichts tat sich! Keine Überprüfung! Der verwunderte Rechtsanwalt fand den Vorgang merkwürdig aber wolle mit diesem Fall nichts zutun haben, da ein Erfolg auszuschliessen wäre. Das war ihm in zwanzigjähriger Praxis noch nicht passiert. Der Einstellungsbescheid war angekommen. Der Einspruch darauf wurde abgelehnt, die Zivilklage ebenfalls. Inzwischen waren die Unterlagen aus Frankfurt am Main vorhanden, von dessen Kriminalkommissariat in der Stadt, An- und Verkaufsläden, Leihhäuser und Juweliere überprüft worden. Der Schmuck konnte bis zum heutigen Tage nicht sicher gestellt werden, zumindest erfuhr keiner davon. Ein damit beschäftigter Sachbearbeiter hatte Markus geraten, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Ein materieller Schaden sei ihm, ausser Anwaltskosten und Porto nicht entstanden. Das Büro der Alliierten teilte Markus mit, dass er weiterhin den Dienst versehen sollte. Juristischen Beistand stellte ihm die Firma nicht, und dementsprechende Gespräche oder Hilfen fanden zu keinem Zeitpunkt statt. Aus eigener Tasche musste Markus die teueren Anwaltskosten bezahlen. Die Firmenbehauptung, Markus Beistand und Hilfe anzubieten die er jedoch ablehnte, war schlicht und schlecht erlogen.
Markus Gemütsverfassung pegelte sich wieder auf Normalstand ein, er wurde ruhiger, wie auch sein Privatleben. Er hatte zu Dirk den Kohlenträger weiterhin Kontakt. Obwohl er ihm nie etwas von den Anschuldigungen erzählte, half es Markus ihn in seiner Nähe zu wissen. Ansonsten war es in Markus Welt still geworden, zu still. Er fand einfach keine Kontakte, keinen Zugang zu anderen. Die Schuld suchte er bei sich und wurde fündig. Die Verlagerung seiner Probleme erfasste sein Äusseres, mit dem er immer unzufriedener wurde. Das die erste Jugend vorbei war, liess sich nicht übersehen. Mit seinen Akne-Narben im Gesicht wusste er sich nie anzufreunden. Vielleicht sollte er sich äusserlich verändern. In ihm schlummerte auch ein Schuldgefühl, dass er mitschuldig sei, dass Dirk nur noch besoffen anzutreffen war. Um Dirk nicht ganz an den Alkohol zu verlieren suchte Markus einen früheren Bekannten auf, der mit einem Transvestiten befreundet schien. Sie war „Künstlerin" der seichten Muse und sah durch eine Gesichtschirurgie recht taufrisch aus. Stundenlang besprachen sie Vor- und Nachteile einer Korrektur. Der Travestiekünstler sagte zum Abschluss, er fühlte sich hinterher erleichtert und für ihn erledigten sich damit auch seelische Probleme und steckte ihm die Visitenkarte seines Chirurgen zu. Wenn Du attraktiver aussehen möchtest, ruf an, lass dir einen Termin geben, gehe hin. Anfragen und Sprechstunden kosten nichts.
Tage später besuchte er den Schönheitschirurgen, besprach mit ihm sein Anliegen und hatte zudem den Wunsch, an seinem ersten Urlaubstag für die Operation vorgesehen zu werden. Dann bliebe soviel Zeit, dass er ohne Schwellungen auf dem Arbeitsplatz seinen Job wieder aufnehmen könnte. Er erhielt seinen gewünschten Termin zur Aufnahme in die Klinik. Markus dachte nun mit dieser Entscheidung, all seine Probleme aus der Welt zu schaffen. Da er sehr sparsam war, entschied er sich für die kostengünstigste Operation.
Nach mehrstündiger OP erwachte er etwas verwirrt aus der Narkose.
Einen Moment wartete er auf kommende Schmerzen, aber es kam kein Schmerz. Hin und wieder musste er die Zunge mit Wasser befeuchten, um sie vor Trockenheit und Schwellungen zu schützen, da er den Mund nach der OP nicht schliessen konnte.
Erst am darauf folgenden Tag durfte er erstmals in den Spiegel sehen. Er empfand Sprachlosigkeit und ein wenig Entsetzen über seine Entscheidung. Körper und Geist waren wirklich zwei verschiedene Dinge geworden. Markus hatte keinen Bezug zu seiner Hülle. Das Erscheinungsbild seines Kopfes war ihm durch die Blutergüsse und Anschwellung im Gesicht fremd. Von da an war ihm so, als pflege er etwas was nicht zu ihm gehörte. Das Haupt mit dem überfetteten Haar sah für sein Empfinden aus, als hätte man den Kopf in der Mülltonne gefunden und drauf geschraubt. Bei jeder Gelegenheit sah er in den Spiegel und hoffte, bei der Operation nicht mit einem anderen Patienten verwechselt worden zu sein. Er wäre nicht er, wenn er in seinen Grübeleien nicht alles so masslos übertreiben würde.
Das Schlafen aber, war einige Tage wirklich sehr unangenehm, da das Atmen durch den Verband unmöglich war, und ausschliesslich durch den Mund geschah. Seine Urlaubszeit verbrachte er deswegen in der vertrauten Leere häuslicher Gefilde. Er nutzte die Tage, seine Wohnung auf Vordermann zu bringen. Allen Kram auszusortieren und legte all seine Katzenbilder zur Seite und gedachte seinem Kater Morle, der vor einigen Wochen über die Regenbogenbrücke im Katzenhimmel seinen Platz fand. Er versuchte es zu vermeiden, sich zu sehr in das Trauern um seine Katze reinzusteigern. Morle wird ihn als seine Familie und tierischer Begleiter eines Lebensabschnitt in guter Erinnerung bleiben.
Kaum hatte er sich an den Gipsverband, die Unförmigkeit der Gesichtsmaske gewöhnt, ging nach Tagen die Schwellung zurück. Der Augenblick und die Ungewissheit war gekommen. Sein Gewissen schwankte zweifelnd hin und her, entweder oder, wenn und aber, für und wider, Vor und Nachteil. Der Verband wurde entfernt, obwohl nur die Nase korrigiert wurde, schien seiner Meinung nach das ganze Gesicht freundlicher. Für Aussenstehende eigentlich kaum verändert. Markus war mehr als nur zufrieden. Kein Wort mehr über Strapazen, die damit verbunden waren. Kein Wort der Klage über die endgültige Trennung von Dirk. Was von dieser lockeren Verbindung blieb, war ein knautschiger Hund aus feinster Keramik, der auch bald zu Bruch ging.
Dirk hatte einen Typen gefunden, der aus dem selben harten Holz geschnitzt war wie er, nicht so empfindlich, so tiefsinnig und nicht alles dramatisierte. Dirk konnte Markus Veränderung durch operativen Eingriff nicht verstehen. Diese Spinnerei war Markus Privatsache, nicht die anderer. Markus dagegen hatte noch Ideen, seine Wunschfassade zu verwirklichen. Nachdem Komplikationen mit seiner Nase auftraten, wurde erneut ein kurzfristiger Termin für die Klinik vereinbart. Die Operationswunden wollten nicht verheilen. Ein Akneschub war die Ursache. Deswegen entschloss Markus sich im nächsten Urlaub die Gesichtshaut abschleifen zu lassen. In den Monaten bis zur Aufnahme, stand für ihn fest, sich auch die Ohren anlegen zu lassen. Der Chirurg war mit der OP einverstanden.
Markus Leben verlief weiterhin in Höhen und Tiefen.
Manchmal holten Depressionen ihn in seine Welt der Melancholie zurück. Er wurde den Gedanken nicht los, dass sich in seinem Leben endlich alles zum Positiven wenden würde, weil er es selbst wollte. Das Gefühl einer Aufbruchstimmung machte sich breit. Zu seinem nächsten OP-Termin fuhr er früh morgens übermüdet in Begleitung seines Friseurs in die Klinik. Beim einparken wünschte er sich lautsprechend "Hals und Beinbruch". Seine Begleitung "Victor" nahm auf der Polsterecke im Wartezimmer zwischen Zeitungen und Glanzmagazinen Platz. Markus dagegen war im Patientenzimmer, tauschte seine Kleidung gegen ein Nachthemd und einer Plastikhaube aus. Die Operation ohne Narkose dauerte mehrere Stunden. Lediglich die zu behandelten Stellen wurden betäubt, da es bei Markus Sparsucht darum ging, die Kosten möglichst niedrig zu halten. Zu diesem Zeitpunkt noch auf dem Operationstisch kamen ihm Zweifel und bereute sogar ein wenig seinen Entschluss. Denn das Abzwicken, Schneiden von Knorbelstücken und Hautteilchen, sowie das Vernähen der Schnittstellen, das Durchziehen des Fadens spürte er zwar schmerzlos an den Ohren, doch die Geräusche klangen unangenehm. Nun folgte der zweite Teil. An die dreissig Spritzen, die auf Gesicht und Nasenrücken verteilt wurden, waren bei dem Gedanken, dass es gleich vorbei wäre, einigermassen erträglich. Doch das Abtragen von bis zu drei Schichten der Haut begann vom emotionalen Empfinden her zum Inferno zu werden. Je tiefer das Schleifgerät sich vorarbeitete, desto unerträglicher wurde es für Markus, da ihm die Zeit auf dem OP-Tisch ewig lang vor kam. Seine Ängste lagen in der Befürchtung, dass die Betäubung nachlassen könnte. Dann steckte der behandelnde Chirurg die Finger in die Nasenlöcher und riss oder zog förmlich die Nasenform und schleifte darauf weiter. Als die OP dem Ende zuging, konnte Markus das abwechselnde einschalten, des laut aufheulenden Motors des Schleifgerätes kaum noch ertragen.
Selbst eine Bohrmaschine hörte sich freundlicher an. Für diese vollendete Kunst, die ihn ja auch optisch verjüngte, war bei Vorkasse einiges auf den „Tisch" geblättert worden. Ein knappes Stündchen lag er im Patientenzimmer, damit sein Kreislauf sich stabilisierte. Der Arzt sah nach der Begleitperson, die im Sessel eingenickt war und gestattete ihn, den Patienten aufzusuchen. Victor entschuldigte sein Benehmen, rannte die lange Treppe hinauf, öffnete die Tür und war keiner Regung fähig. Kreidebleich vernahm er Markus Worte: „Reiss Dich zusammen! Es geschah doch auf eigenen Wunsch! So hat eben jeder seine Macke"! Victors Gesichtsausdruck war immer noch wie versteinert. Markus lag da, als habe er eine Hirnoperation hinter sich. Sein Kopf war völlig bandagiert und wirkte grösser. Das Gesicht mit Pflasterstreifen um die Mundpartie verklebt, Sehschlitze blieben für die Orientierung. Die sichtbare gesunde Haut um den Augen quoll hervor. Victor hatte plötzlich so seine Probleme, Markus Entscheidung zu einem solchen Eingriff zu verstehen. Er war zwar nur Markus Friseur, aber sie kannten sich seit Jahren. Das Wort „Freunde" hatte Markus aus seinem Wortschatz längst zu entfernen versucht. Für seinen extravaganten Haarkünstler, war dies eine übereilte Fehlentscheidung. Erstmals sah Victor, wie ein Mensch nach einer plastischen Schönheitsoperation aussah. Es gab vieles, so dachte er, worauf sich Markus konzentrieren hätte können, um mit sich klar zu kommen.
Markus kümmerte sich nicht mehr um Freundschaften und Bekannte, pflegte keine Kontakte und hatte sich völlig in sein Schneckenhäuschen zurückgezogen und wartete wohl auf ein Wunder in seiner Zurückgezogenheit und Selbstzweifeln.
Nicht nur Victor verstand ihn nicht mehr. „Adieu alte Zeit"!
Bald darauf sammelte sich Markus wieder und war über Kontaktanzeigen auf der Suche nach neuen Bekanntschaften. Zu seiner Lebensangst gehörte die Panik vor dem Alleinsein. Da half auch nicht die Tatsache, dass andere Menschen, Arbeitskollegen und Kolleginnen, ihm freundlich gesonnen waren. Er dachte da mehr an Herzensangelegenheiten.
Eines Nachmittags, der Gesichtsverband war entfernt, wollte er gleich testen, wie andere auf sein neues Erscheinungsbild reagieren. Markus traf sich mit einem Künstler in einem Café, gegenüber dem Theater am Lehniner Platz. Das Inserat, das er aufgegeben hatte umschrieb in Kurzform, Einsamkeit mit Angaben seiner Interessen. Die Tatsache, dass ein Treffen stattfand war wohl, die berufliche Erfolgslosigkeit des Künstlers, während Markus auf ein Schulungsangebot zum Oberfluggastkontrolleur hoffte, wartete der Schauspieler Mathias auf öffentliche Anerkennung und Popularität. Im Moment war für Mathias, trotz nachweislicher Höhepunkte seiner künstlerischen Laufbahn sein Privatleben vorrangig. Beide glaubten aus Erfahrung daran, wenn ihr Privatleben geordnet ist, würde sich alles weitere ergeben.
Der Angegraute stämmige Mann, dessen Erscheinungsbild einen lebenserfahrenen Herrn vermuten liess, hatte offensichtlich viele eigene Probleme. Nach langem hin und her erwies er sich als Mitglied der anonymen Alkoholiker. Markus verstand nichts von der Problematik dieser Leute und wollte es auch nicht. Es schien ihm unverständlich, ja absurd. Die innere Abwehr vor Menschen die Alkohol konsumieren, von Dosen oder Flaschen abhängig sind, waren nicht sein Fall. So unbekannt war ihm das alles nicht, deshalb wollte er damit nicht in Verbindung gebracht werden. Er kannte den vernebelten Rausch, in dem nur die böse Vergangenheit lebte und mitunter durchbrach das Bewusstsein den unrealistischen Schein, vom Gefühl der Ohnmacht geleitet zu werden. Das alles kannte Markus von früher, hatte es längst vergessen, verdrängt, beiseite geschoben und nicht wahrhaben wollen, dass es dieses erdrückende Gefühl der Schwäche gab, auf allen Gebieten im Leben versagt zu haben. Markus hatte aus seiner Erfahrung in der Vergangenheit gelernt, allein zu leben. In seinen jungen Jahren ist es eine schmerzliche Erkenntnis zu wissen, im bisherigen Leben nicht wirklich jemanden angetroffen zu haben, für den seine Seele in Glück und Leid leben und da sein durfte. Er konnte es nicht begreifen, warum es in seinem Milieu der Szene zu keiner dauerhaften Partnerschaft kam. Da war diese Empfindung, dass sein Homoleben für sich selbst tanzte und er fühlte sich auf seine Weise von allen im Stich gelassen. Innerhalb der Szene gab es keine Solidarität. In der Einsamkeit begann langsam jede Seele für sich zu sterben, doch Sex war das Zeichen, dass Schwule leben und die kollektiv ein anderes Bild von sich zur Schau stellten. Was früher in dieser Gesellschaft abgelehnt wurde, nahmen sie nach und nach für sich in Anspruch und mischten es zu einem Gay-Cocktail, gewürzt mit neuer Lebensphilosophie.
Markus fand sich unter ihnen nicht zurecht. Vielleicht war es sein Mangel an Interesse, Gleichgültigkeit, mangelnde Anteilnahme am Mitmenschen aus Selbstschutz und Selbsterhaltung.
Mit keiner Silbe, keinem Wort verriet er sich und versuchte seine eigene seelische Frustration vor anderen zu verbergen.
Andersartigkeit liess sich zwar unterdrücken, Bedürfnisse ersticken, Gefühlsausbrüche zurückhalten, aufgestauter Unmut mit ein wenig Vernunft bekämpfen, menschliches Absacken korrigieren, sich selbst zum Narren halten und den Zufriedenen überzeugend spielen. Die Menschlichkeit blieb dabei oft auf der Strecke. Die Ansicht, sich im Leben völlig verrannt zu haben, offenbarte ihm seine Ohnmacht. Es half doch nichts, wenn er im Leben ständig den Versuch startete sich zu ändern und die anderen so blieben wie sie sind. Er sich in irgend eine Ecke verkroch um mit sich ins Gericht zugehen. Deshalb befand sich sein Herz immer auf der Suche.
Über diesen zufällig arbeitslosen Schauspieler lernte Markus vom Erfolg verwöhnte Kollegen kennen. Es dauerte nicht lange, bis einer davon den Mut fand, sich und seine Gedankenwelt ausgerechnet Markus zu offenbaren. Diskretion zeichnete ihn seit jeher aus.
Ein Bekannter wusste oft nichts vom anderen. Ging aber einer mit seiner Andersartigkeit hausieren, um mit seiner Promiskuität zu punkten, fand er kein freundliches Wort. Markus hatte dabei nichts zu verlieren. Blenden liess er sich schon lange nicht mehr. Doch wenn er einmal Feuer fing, fand sein Herz keine Ruhe. Irritierend für seine Zeitfreunde war das zwiespältige an Markus. Einerseits Feinfühligkeit, die emotional geladene Sprache der Gefühle. Doch nach aussen hin kam Kälte und Härte zum Vorschein. Für ihn war alles einfach geworden. Der ihm nahestehende Freund, die Freundin, da gab es keine Ausnahme, waren stets die Quelle seines Lebens, alles andere zählte nicht mehr, hatte keine Bedeutung. Künstler, Geld und Ruhm lockten ihn nicht hinter den Ofen vor. Tage und Wochen vergingen und was schon fast ausgeschlossen schien, übermannte ihn ihm wahrsten Sinne des Wortes.
Spät Nachts fuhr er auf dem Heimweg an die Tankstelle und reihte sich in die Warteschlange ein. Nie sonst war ein so reger Betrieb zu später Stunde. Das Anreihen fiel nicht schwer, denn er hatte gute Sicht auf den, einem jungen Mädchen zur Hilfe kommenden, sich lässig gebenden Tankwart seines Alters. Je kürzer die Autoschlange vor ihm wurde, desto stärker begann sein Herz zu pochen. Der Tankwart stand untätig vor mehreren Kunden da es Schwierigkeiten gab. Irgend etwas an der Zapfsäule funktionierte nicht. Vielleicht war falsches Bedienen der Anlass. Auf jeden Fall waren alle im Umgang, weiblich oder männlich mit dem Tankwart locker drauf. Dann kam der Augenblick und Markus fuhr vor. Auch er wollte in Lässigkeit nicht zurückstehen und stieg aus seinem kleinen Wagen. Es schien wirklich das kleinste Auto auf dem Platz zu sein. Dafür war es aber neu und schnuckelig im Design. Was nie vorgekommen war passierte jetzt, sich bis auf die Knochen zu blamieren. Der Schlüssel steckte im Türschloss fest, somit konnte er auch die Tankverschlussklappe nicht öffnen. Vor Wut schlug er die Tür zu. Ungeschickt lässt grüssen, gab der Monteur der zur Hilfe kam grinsend zu verstehen. Das käme davon, wenn man auf Japaner steht. Er hatte Mühe die Tür des kleinen Autos zu öffnen. Wie peinlich das für Markus war, konnten nur jene verstehen, die ihrem Traummann an der Tankstelle begegneten. Nun hatte Markus zwar wieder die Autoschlüssel, brachte aber den Tankverschluss nicht auf. Wieder musste der nette Tankwart seine Fähigkeiten unter Beweis stellen. Markus füllte den Tank, zur Sicherheit bot sich der Tankwart an, den Tank seiner Ölsardinenbüchse abzuschliessen. Markus tat verwundert und meinte scherzhaft, mit Messer und Gabel könnte er bestimmt umgehen und fragte wann ist denn Feierabend?
Er, eigentlich ein Geizkragen in Person, lud trotz des hohen Spritpreises, zuzüglich des Nachtzuschlags den Tankwart zum Essen ein. Ohne zu zögern sagte der zu und sie verabredeten einen Treffpunkt in einem nahe liegendes Restaurant. Das vom Kunde angebotene Trinkgeld für seine fachmännische Hilfe lehnte der Automechaniker und Tankwart dankend ab. Von diesem Augenblick an war Markus wieder einmal bis über beide Ohren verknallt. Dabei vergass er alles was er sich vorgenommen hatte. Es galt jetzt überhaupt nichts mehr. Dennoch verfolgte er mit ehrlichen Mitteln seine gesteckten Ziele. Er wusste, dass er nicht frei von Emotionen war und nicht immer liessen sie sich bändigen. Als Mensch war Markus sicherlich nicht einfach und bequem, da er trotz allem feste Prinzipien, eigene Vorstellungen hatte. Rütteln durfte niemand daran. Geschmeidigkeit war nicht seine Stärke. Flexibilität passte sich den Gegebenheiten an. Inzwischen wurde ihm Willenskraft und Durchsetzungsvermögen bestätigt, dem er natürlich auch nicht widersprach. Kein Mensch, stand er ihm noch so nahe, konnte ihn umstimmen. Zwar war er wählerisch im Aussuchen seines Umgangs, blieb jedoch meist beständig in seiner falsch getroffenen Wahl. Gerade in anbahnenden Kontakte für eine eventuelle Beziehung war er sehr empfindlich geworden. Denn eine feste Bezugsperson war für ihn wichtiger denn je. Überhaupt wurden menschliche Erlebnisse, auch die von kurzer Dauer, der Antrieb seines Lebens und er war inzwischen nicht mehr abgeneigt, eine lockere Partnerschaft mit einem zuverlässigen Mann einzugehen. Selbst eine Wohngemeinschaft würde er nicht mehr ablehnen. Seinen Wünschen nach, würde er einen soliden Freund bevorzugen. Von ausgelassenen Kapriolen hielt er nichts. Unterordnung war für Markus keine Selbstverständlichkeit mehr. Jemanden den Hof zu machen geschah nur noch, wenn damit ernste Absichten verbunden waren, doch tat er das meist auf ungeschickte Weise. Seine Kunst, alles zu zerreden hielten nur wenige Menschen durch. Verrückt ist das schon, wo er doch genau das Gegenteil erreichen wollte.
So geschah es beim Zusammensein im Restaurant mit dem Tankwart. Doch der geladene bewies Ausdauer, da er durch die Redseeligkeit des Gastgebers gut unterhalten wurde. Der smarte Tankwart Martin merkte worum es ging. Es fiel ihm nicht besonders schwer darauf einzugehen, gehörten sie doch der gleichen Liga an. Martin vertraute Markus, nahm kein Blatt vor den Mund, denn er fühlte sich von Markus Wunsch nach einer Freundschaft angezogen. Noch liess der Tankwart den Werbenden vorerst im Unklaren und lenkte die Gespräche wieder auf gesellschaftliche kulturelle Themen. Das nach Stunden beendete Rendezvous hatte mehrere Wiedersehen zur Folge. Für Markus war klar, obwohl die Tankstelle mit Waschanlage auf der entgegengesetzten Stadtseite lag, dass es es die beste war. Es verging kaum ein Abend, an dem Martin und er nicht bis spät in die Nacht miteinander telefonierten. Behutsam nahm das gegenseitige Erobern, das Ertasten körperlicher Bedürfnisse, Wünsche des anderen in Erfahrung zu bringen Gestalt an. Markus Leben schien auf dem Kopf zu stehen. Es kamen keine Selbstzweifel mehr auf, es schien als sei er ein neuer Mensch. Martin war bisher Stammgast in den Darkräumen der Szene. Dort verkonsumierten sie Menschen je nach sexueller Gier ohne Rücksicht auf Verluste. Martin ist all dem müde geworden. Nun sehnte er sich nach Ruhe und Verlässlichkeit eines Partners. Um jedes Risiko auszuschliessen unterzogen sich beide einem HIV-Test. Keiner der beiden hatte vor, andere Sexkontakte in Zukunft zu suchen. Martin sah den Zeitpunkt gekommen, sein Leben in Sachen Promiskuität gänzlich zu ändern. In Markus sah er etwas bleibendes, der mit dem Alltag umzugehen wusste, selbst der Langeweile noch einen Sinn abrang und in der Partnerschaft keine Zweifel aufkommen liess. Er bot Martin die verbindliche Freundschaft an, was unzählige Bekanntschaften, an deren Namen er sich nicht mehr erinnerte ihn nicht gaben. Oft hatte es für ihn in besinnlichen Minuten den Anschein, als würde seines Gleichen nur auf das Suchen und auskosten programmiert sein. Weil fast alle das Gleiche suchten, war der Erfolg mässig jemanden zu finden. Jeder bastelte in stillen Stunden für sich an den Zukunftsplänen. Es könnte funktionieren. Markus mit weniger Erfahrung und Martin mit dem guten Vorsatz künftig alles anders anzugehen. Die tagelange Ruhe nutzten sie, um über sich selbst klar zu werden.
Beide hatten abwechselnd in ihren Firmen Schichtdienst, so kam es vor, dass sie sich mehrere Tage nicht sahen. Als auch die Telefonate ausblieben, fuhr Markus voller Sorge in die Wohnung von Martin weil er sich nicht meldete und nicht wie ausgemacht am Wochenende erschien, um ihm das Ergebnis seines Aidstestes mitzuteilen.
Markus war sich sicher: Martin oder keiner! Der sonst so lebensfrohe Martin sah beim öffnen der Tür bedrückt aus. Wortlos ging er wieder in sein Zimmer zurück. Markus folgte ihm, stand wie bestellt und nicht abgeholt im Raum, sah ihn an und ahnte was es sein könnte. In Martins Augen lag Traurigkeit, ein Blick in die Leere. Nur zögernd, aber gefasst, teilte er mit leiser Stimme mit, dass das Ergebnis seines Tests nicht seinen Erwartungen entsprach. Gestern noch hatte er sich nicht krank, sondern stark und gesund gefühlt. Hätte er nur auf den Szenearzt gehört, der ihn geraten hatte sich keinem Test zu unterziehen. Denn das für Martin unglaubliche Ergebnis lautete positiv.
Es war Vorsicht, die das Geschehnis zwischen beiden überwachte, doch sprachen sie kaum darüber. Ausser in Momenten der Verzweiflung, wenn die Angst vor dem kommenden Ende aufstieg.
Der Krankheitsausbruch schien noch in weiter Ferne. Martin war noch kein sichtbar Befallener den die Krankheit zeichnete. Doch allein der Gedanke daran, dass der Tag nahte zermürbte, stürzte ihn in Depressionen, Schmerz, Fassungslosigkeit und Entmutigung. Die Ohnmacht gegenüber der Infizierung drückten schwer. Dazu kam die Sorge vor dem Verfall, der gerade angefangenen Beziehung. Martin, der nur sorglos das Leben hingenommen und es in leichtfertiger Art ohne Respekt davor zu leben versucht hatte, weinte. Es war, so meinte Markus, sein attraktives Äusseres, das ihm letztendlich zum Verhängnis wurde. Zu viele Menschen aus der Szene warben um seine Gunst, wenn auch nur für den Augenblick. Geblieben davon war nichts, was sein Leben bereicherte, ausser die Gewissheit täglich Sex gehabt zu haben. Markus hörte aufmerksam zu und in Gedanken prüfte er sich selbst und behauptete monogam orientiert zu sein, und da ginge es nicht um Äusserlichkeiten und schöne Fassaden. Nein, innere Werte sind ausschlaggebend. In seiner Fantasie war er am rumalbern, geile Niere, erotische Leber, klitschige Galle und die orgasmusfreudige Prostata. In einem war er sich jedoch inzwischen ganz sicher und lehnte es ab, andere nur zum eigenen Spass zu verwenden, dass lag ihm wirklich nicht. Sein Respekt vor anderen Menschen war enorm, denn für ihn war das Leben ein Wunder, statt sie zu benützen vermied er möglichst jeden Kontakt, um nicht selbst benutzt zu werden. Er achtete das Leben, aber vielleicht fand Mutter Natur an dieser Lebensweise kein Gefallen und quittierte es mit der Gefahr der Ansteckung einer todbringenden Krankheit. Da es eine Zeit war, wo es jeder mit jedem trieb, zeigte sich bald die schnelle Ausbreitung dieser Krankheit. Inzwischen sind auch zahlreiche Ahnungslose Opfer dieses HIV-Virus geworden. Laut damaliger Presse waren in diesem Zeitabschnitt ausschliesslich Homosexuelle betroffen und es verging nie viel Zeit, bis wieder irgend ein Künstler daran verstarb.
Martins Einsicht, was er im Leben falsch gemacht haben könnte, bedrückte den Gesunden. Markus hatte keine Erklärung dafür, dass seine Seele sich von ihm ungewollt distanzierte.
Um sich abzulenken, nahm Markus Kontakte im Hetero-Bekanntenkreis wieder wahr und gedachte in jeder freien Minute an seinem vom Schicksal getroffenen, mal geliebten Freund. Eigentlich wusste er im Vornherein, dass es nur eine Verbindung auf unbegrenzte Zeit bleiben würde. Er schämte sich dieser platonischen Zuneigung nicht, auch wenn diese Liebelei von Zusammentreffen, nur noch ausschliesslich telefonisch stattfand.
Markus Tagesgeschehen nahm seinen Lauf und er versuchte dennoch seiner freien Zeit einen Sinn abzugewinnen. Er wollte sich aus dem Sog, unbedingt einen Partner zu finden, künftig entziehen. Darum nahm er an kleine Betriebstreffen, wenn auch nur zum Kaffeeklatsch oder in Restaurants, von Arbeitskolleginnen und Kollegen wieder teil. Seine weibliches Alibi, seine Kollegin Maria wohnte in einem Neubau zwischen Hauptstraße und einem Weiher, dessen hoher Graswuchs ihrer Hündin Dixi gefiel. Das Tier lief beim spielen und rumtollen nicht etwa nach dem geworfenen Stock, sondern wartete treu und brav bis sein Frauchen im Gestrüpp den Stock selber fand. Die Wildwuchs-Anlage um den Weiher herum war der Tummel- und Hundespielplatz von einigen Tierhaltern. Selbst an winterlichen Tagen war der Wildwuchs in voller Pracht ein wenig ausgetrocknet aber genauso hoch. Markus war zwar Tierliebhaber, doch mit Hunden hatte er ein Problem. Das ständige Gassi gehen müssen, egal welches Wetter gerade angesagt war hielt ihn davon ab, sich einen Hund anzuschaffen.
Mit Maria unternahm er verschiedene Ausflüge, soweit es ihre kranke Mutter zuliess, die sie bisher Tag für Tag pflegte. Der Kontakt zwischen Maria und Markus tat beiden gut.
Der Auszug ihres bisherigen Lebensgefährten stand kurz bevor. Abwechslung kam ihr genauso gelegen wie Markus. Er dachte „alle lassen sich scheiden und er sucht auf Teufel komm raus nach einer festen Beziehung“. So verstanden sich beide gut und an Gesprächsstoff mangelte es ihnen nicht.
Aber Markus war wieder mit sich und der Welt unzufrieden und dachte wieder einmal daran, sich beruflich durch eine Weiterbildung zu verändern.
Er erzählte vieles über sich, nur sein Liebesleben hielt er geheim. Darum konnte ihn keiner so richtig einstufen. In der Arbeitsqlique taute er ein wenig auf.
Kollegen und Kolleginnen konnten sich seiner Fairness und Hilfsbereitschaft sicher sein. Noch nie zuvor hatte er das starke Bedürfnis zu dieser Gemeinschaft zu gehören.
Er befand sich in einer schwierigen Phase des persönlichen Umdenkens. Für Aussenstehende mag das Alles unverständlich und oft widersprüchlich sein, aber für ihn war es letztendlich überlebenswichtig, um vor sich und anderen bestehen zu können.
Er glaubte fest daran, sich ein Leben lang nur eingebildet zu haben, anders zu sein als er wirklich war.
Der Kontakt zu Martin machte ihm klar, dass er keine sexuellen Bedürfnisse hatte, sondern er wünschte sich einen Freund mit dem er sich über alles im Leben austauschen konnte.
Jetzt wollte er gut machen, was gut zu machen war, denn Markus redete sich immer stärker ein, dass er gar nicht schwul sei. Den Männern sah er nur aus Gewohnheit hinterher oder weil er den einen oder anderen wegen seines vorteilhaften Aussehens beneidete.
Er dachte sich, in der Kindeserziehung, vor allem in der Heimzeit war ihm von anderen Zöglingen durch Spott und Hohn beigebracht worden anders zu sein, bis er selbst daran glaubte. Humoriges beschlich mehr und mehr sein Denken. So ernst sah Markus das alles nicht. Die Umstände zwangen ihn einfach, sich so zu entwickeln.
„Mein Gott", dachte er manchmal. Wie könnte einer nur denken, dass er schwul sei, nur weil er sich beim pinkeln hinsetzte. Markus befreite sich nach und nach aus den Zwängen seiner Vergangenheit und nahm sich so an wie er tatsächlich war, nämlich schwul. Nur das Wörtchen „schwul" behagte ihm noch nicht. Irgend wann würde er dazu stehen!
Jeden Morgen munterte die Vorgesetzte, eine Oberfluggastkontrolleurin, die auf Grund ihrer Grösse keinesfalls zu übersehen war den müden Haufen auf.
An diesem Tag wurde über die vorverlegte Weihnachtsfeier gesprochen. Eine Gruppe der Fluggastkontrolle nahm nicht an der offiziellen Betriebsfeier am Flughafen teil, da die Mitarbeiter an der internen Weihnachtsveranstaltung kein Interesse zeigten. Eine Kollegin die sich im Sportverein der Ringer engagierte, ermöglichte ihnen die Teilnahme an deren Feier. Am 6.Dezember trafen sich sämtliche Mitarbeiter der Sicherheitsgruppe, an ihrem freien Arbeitstag gegen Abend im Sportvereinshaus der Berliner Ringer. Es herrschte eine weihnachtliche Atmosphäre. Die Gäste waren guter Laune und die manchmal nicht ganz sauber spielende Kapelle unterhaltsam. Die Securitys sassen an der Seite des hell beleuchteten Bierausschanks. Die Fluggastkontrolle und die Ringerelite am Nebentisch.
Alle Damen kamen mit ihren angetrauten Ehemänner. Die Mannschaft vom Flughafen hatte eiserne Junggesellen in ihren Reihen und einen durch Scheidung gewordenen Single. Die Pärchen tanzten und amüsierten sich und sorgten für gute Stimmung.
Alleinstehende dagegen überwachten mit geschulten Auge das Buffet, in der Hoffnung, dass keines der Tanzpaare das geschmückte, appetitlich aufgebaute Buffet versehentlich anrempelte. Markus trank nur Kaffee, denn er war mit dem Auto, und nicht wie die meisten mit dem Taxi gekommen. Deshalb frass er sich im Laufe des Abends regelrecht durch die lecker zubereiteten Platten. Die Preisvergabe an die Sportler stand noch aus. Nach dem dritten Tusch der Band im Saal wurde es ruhig und die Preisverleihung der Pokale begann. Unter den ausgezeichneten Sportlern befanden sich auch Deutsche.
Markus war nicht ausländerfeindlich gesonnen, lediglich die Stärke vaterländischen Sportsgeistes vermisste er ein wenig. Eine gute Figur machten allesamt.
Während der Feierlichkeiten wurde er unruhig und wollte nach Hause aufbrechen. Das Tischgespräch über neue Arbeitsthemen fesselt Markus und er blieb doch noch eine Weile. Als familiäre Themen angesprochen wurden schwieg Markus, da er ja keine Familie hatte. Interessiert lauschte er dem Gespräch seiner Kollegen und Kolleginnen und bemerkte, dass ihm in seinem Leben etwas fehlt.
Unter seinen Kolleginnen befand sich eine rothaarige ältere Dame, für die bisher ihre Katze ihr ein und alles war. Doch neuerdings machte der neue Freund, dem Tier die Vorherrschaft streitig.
Ihre mitgebrachten Pfannkuchen schmeckten Markus besonders gut.
Da war noch die lebhaft gestresste aber immer gut gelaunte Kollegin. Die nebst anstrengender täglicher Pflege ihrer erkrankten Mutter, nicht nur deren Haushalt führte, sondern zu dem auch noch ihren bequemen Ehemann und Sohn betreute. Ein Hund füllte auch noch ihren abwechslungreichen Tag.
Der geschiedene junge Vater in der Runde, dessen wacher Verstand verletzend sein konnte, war trotz seiner Leibesfülle ein äusserst gemütlicher Mensch.
Ein anderer Kollege begeisterte sich für gesunde Ernährung. Er wurde stets erst am Feierabend munter. Tagsüber war er hauptsächlich damit beschäftigt Rätselhefte zu lesen, zu dösen und überspitzt gesagt auf Dienstschluss zu warten.
Die Dame, die im Sportverein engagiert mithalf war allgemein beliebt, freundlich und besass einen Hang zur Ironie. Abgesehen davon, dass sie Mitarbeiter nicht besonders ernst nahm, war sie dennoch ein echter Kumpel für alle. Ausserdem waren ihre Söhne sportlich sehr erfolgreich. Ihr Ehemann gewann früher bereits die Berliner Meisterschaft der Ringer.
Die Chefin war nicht nur die grösste sondern auch das jüngste Küken der Arbeitskollegen. Ihr Sohn wusste ebenso wie sie, wo es im Leben lang geht und was er wollte. Interessierte ihn ein Telefongespräch seiner Mutter nicht, legte der siebenjährige den Hörer auf die Gabel. Kompromisse schliessen gab es für beide nicht.
Trotz einheitlicher Dienstbekleidung waren die Damen für die meisten Männer eine Augenweide. Der Kontakt unter den Frauen war kameradschaftlich.
In Gedanken beschäftigte Markus immer wieder die Tatsache, dass er alleine lebte.
Trotz der guten Stimmung auf der Weihnachtsfeier schweiften Markus Gedanken zu Martin.
Doch konnte er einfach nicht begreifen, weshalb er den Kontakt zu Martin aus dem Wege ging, da Martin ihn immer noch im Kopf schwirrte.
Markus hatte sich dieses Leben nicht freiwillig ausgesucht und wurde ja auch nicht gefragt, ob er es überhaupt leben wollte.
Durch die weihnachtliche Stimmung in diesem milden Wintermonat wurde Markus wieder unruhig und wollte nach Hause. In diesem Moment kam ihm ein Arbeitskollege wie gerufen. Dieser wollte ebenfalls die Feier verlassen, damit der Zusatzdienst am darauf folgenden Tag pünktlich von ihm begonnen werden konnte.
Seinen Pkw hatte er wegen der Weihnachtsfeier in der Garage stehen lassen und kam mit dem Taxi. Markus nahm ihn mit, setzte ihn an der gewünschten Straßenecke vor seinem Haus ab und fuhr weiter.
Markus glaubte auf seiner Heimfahrt, dass ihm durch seine Art zu leben vieles entgangen war. Im Alter von sechsunddreissig Jahren spielte er mit dem Gedanken, noch einmal einen Neuanfang zu wagen.
Er suchte vor seinem Haus einen Parkplatz. Vor irgend einer Gaststätte, gegenüber seines Wohnblocks, die um Mitternacht noch lebhaften Betrieb hatte, wurde hin und wieder ein Platz frei. Da auf seiner Straßenseite alles besetzt war, fuhr er um das Karree der Häuserinsel in der Hoffnung dort einen Stellplatz zu finden, kam jedoch nie an sein Ziel an.
Zwei Tage nach der Weihnachtsfeier, Markus Schicht hatte frei, nahm die Gruppenleiterin das Fehlen von Markus wahr und entschuldigte es mit vermutlichen verschlafen in der Einsatzleitung die die Tagespläne erstellte. Dort erfuhr sie, dass ihr Kollege bereits einen Tag zuvor seinen Dienst nicht angetreten hatte. Sämtliche Kollegen und Kolleginnen hatten ebenso keine Schicht und wussten über seinen nicht angetretenen Zusatzdienst nichts. Die Dame der Sportlerfamilie rief sofort Markus Freundin an. Maria die an diesem Tag nicht ihren Dienst antreten brauchte, informierte im Laufe des Tages telefonisch die Bekannten des Vermissten.
Als sie am nächsten Tag wieder anwesend war, bemerkte sie die gedrückte Stimmung in der Belegschaft. Die Gespräche bezogen sich auf den seltsamen Umgang den Markus anscheinend hatte.
Was Markus Bekanntenkreis betraf, konnte Maria sich des Eindruckes nicht erwehren, dass sie es trotz aller Teilnahme und Besorgnis mit lauter Klatschweibern zu tun hatte, für die nur Mord und Raub vorstellbar war.
Einige seiner Freunde boten Maria ihre Hilfe an. Am selben Nachmittag lud sie seinen Freundeskreis zum Kaffee ein. Stunden später läutete es an der Tür. Sie öffnete und erblickte ein Geschwader schriller Tunten vor sich.
Einige haarige Mädels darunter machten sich die Mühe nach Markus in der Szene zu suchen, obwohl sie nicht annahmen ihn dort anzutreffen. Es könnte ja auch die Möglichkeit bestehen, dass er jemand kennengelernt hatte und an den Falschen geraten ist.
Von seinem kleinen Auto gab es jedoch keine Spur.
Eine Kollegin mühte sich Polizeistellen im Weddinger Bezirk nach Markus abzufragen.
Einige seiner wenigen Bekannten kamen auf die tolle Idee, das Ufer der Panke abzusuchen, die an manchen Stellen immerhin an die fünfzig Zentimeter tief war. Aber ihre Suche blieb erfolglos. Taucheranzüge hatten die Herrendamen nicht in ihrer Kollektion. Daher vertrauten sie dem Zufall.
Sie hofften, dass er Klarheit bringen würde.
Wer weiss schon, was ihn jetzt wieder geritten hatte, kam es kreischend aus der Runde. Vielleicht wirkte Markus ja auch auf echte Frauen und ist ausgebüxt, brav sah er ja aus und ein Mädchentyp ist er auch. Ungebildet war er auch nicht gerade, war unkonventionell und lieben Menschen freundlich, ja oft zu freundlich gesonnen.
Die Kollegin, die die Feier in dem Sportsverein organisierte eilte nach dem Frühdienst nach Hause und befragte telefonisch alle Krankenhäuser in der Stadt nach Markus, doch in keiner Klinik hatte sie Erfolg mit ihrer Anfrage. Niemand schien etwas zu wissen.
Sie brühte sich einen Kaffee auf und trank ihn schluckweise, öffnete nebenbei das Fenster, rauchte eine Filterzigarette, blätterte in der auf den Tisch liegenden Zeitung ihrer Söhne um abschalten zu können. Dann blieb ihr nach all der Aufregung fast der Atem stehen. Ihr Blick blieb auf dem Zeitungsbild eines Unfallautos haften, dessen Nummernschild an der Stossstange gut leserlich war.


Der Zeitungsartikel lautete:
"Glatteis auf BerlinerStraßen"
4 Tote und ......


________________________
Renegat Hurensohn © by Marcel Hermann
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Impressum

Tag der Veröffentlichung: 13.06.2008

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Widmung:
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