Ich werde sein Gesicht nie vergessen, als er vor ihrer Bahre stand und sich wie geistesabwesend mit der Hand über die Stirn fuhr. Seine Züge schienen kalt und hart und sein Blick war steinern auf die Tote gerichtet. So harrte er eine Weile, dann hob er den Kopf und seine Augen wanderten an der kurzen Reihe der Anwesenden entlang.
Es lag etwas Stumpfes in diesen Augen, das Unabänderliche des Geschehens und er selbst nahm es kaum wahr, dass sich die Häupter vor ihm duckten und keiner seinen Blick erwiderte.
Später, ich erinnere mich noch, sprachen sie über ihn in dem Ton des Verächtlichen und Gemeinen, sodass ich mich abwenden musste, um schweigen zu können. Er sei Schuld an dem Tod seiner Frau, hieß es immer, er sei eigentlich ihr Mörder. Ich kannte sein und der Toten Geheimnis und kein Wort der Wahrheit hätte bei den Verständnislosen, das Üble und Schlechte, das ihm nachgesagt wurde, getilgt.
Es war Abend, nachdem wir sie beerdigt hatten, als ich ihn plötzlich in der Dämmerung an einem einsamen Waldweg traf. Die Kleinstadt hatte an dem Totengang regen Anteil genommen, trug dieser doch ein Geheimnis in sich, von dessen Erklärung alle Münder beim Nachhauseweg voll waren. Er hatte ihr nicht die letzte Ehre erwiesen, er war nicht da, als der Erdbrocken hohl auf dem dünnen Holz des Sarges aufschlug. Er musste also schuldig sein und sein Gewissen musste ihn so gequält haben, dass er ihrem letzten Gang nicht folgen konnte.
Wir gingen schweigend eine Weile nebeneinander her. Ich fühlte, wie ihn alles bewegte und hatte Angst ihn anzusehen. Endlich begann er und der Klang seiner Stimme war so zerrissen und gequält, dass ich ahnen konnte, mit welchem Schmerz er kämpte. "Wie war es, nein, erzähl es nicht, sie ist für mich nicht tot, sie lebt weiter. Sieh, sie muss weiterleben, sonst geht es nicht mehr. Wenn ich denke, dann steht sie vor mir, ist sie neben mir, überall ist sie. Ich kann nicht zuhause sein, denn alles atmet ihr Leben! Es wäre feige, wenn ich mich verteidigen würde, wenn ich sagte, es ist geschehen, es ging nicht anders, sie wollte es, weil sie sah, dass wir nicht leben konnten, sie tat es für mich! Ob sie ahnte, was sie damit getan hat? Schon als wir heirateten, sprachen wir über unsere Lage und es war uns klar, dass wir kein Kind haben durften. Du kanntest ja unsere Verhältnisse in den ganzen Jahren, sie waren hoffnungslos. Sie verdiente, damit wir leben konnten, ich hatte keinen Erfolg. Ihre Arbeit gab mir die Möglichkeit zu schreiben und zu hoffen, die Hoffnung weiter zu kommen. Wir konnten uns kein Kind leisten, ein Kind, das wir beide so heiß ersehnten. Es hätte uns die Existenz vernichtet! Was sollten wir tun? Sie hätte in ein paar Wochen nicht mehr arbeiten können und ich konnte keine finden.
Als sie es mir sagte, Du, ich lächelte damals. Ich meinte es gäbe Ärzte, die bereit wären zu helfen. Ich ging zu dem ersten, erklärte ihm unsere Situation, er verwies mich lächelnd auf die Gesetze, der nächste fertigte mich mit einer kurzen Erklärung ab. Endlich glaubte ich einen gefunden zu haben, aber er verlangte Geld, einen für unsere Verhältnisse schamlos hohen Betrag, ich konnte die Summe nicht aufbringen. Zuerst glaubten wir beide noch, dass irgendein Wunder geschähe, es geschah nichts!
So blieb uns die Wahl, ihr Tod, oder das Elend und damit das Elend des Kindes. Du weisst, dass ich krank bin, wochenlang liege und kaum zu einem Handgriff bereit bin. Ich gab nicht auf, ich versuchte sie zu zwingen an mich zu denken, was mit mir werden solle.
Die Wochen, bevor sie sich das Leben nahm, waren schwer. Ich kämpfte mit ihrem Tod, ich wollte es nicht, glaub es mir. Ich sprach von Erfolgen, die ich doch haben müsste, träumte von Glück.
Sie hat es heimlich getan, in einer Stunde, da ich es nicht ahnte. Als ich kam, war es zu spät. Sie wollte uns und unserem Kind das Elend ersparen, die Vorwürfe unserer armen Familie, sie wollte mir die Last ersparen, wenn sie nur wüsste, dass die Last ihres Todes viel größer, viel gewaltiger, dass sie vernichtend ist!
Ich kam nicht zur Beerdigung, weil ich all diese Menschen nicht sehen konnte, diese satten zufriedenen Bürger. Sie kennen nicht Not und Elend, deshalb schweigen sie zu den Gesetzen, die andere in den Tod treiben. Sag mir, was hätten wir tun sollen, was, was ?!"
Er schrie die letzten Worte heraus. Es war dunkel geworden, ich konnte den Weg kaum noch erkennen. Ich bat ihn, mit mir zurück zu gehen, ich wollte ihn zwingen, er riss sich von mir los. Für ihn war das Leben zu Ende, ich glaubte es fast zu spüren und ich konnte mir kein Recht anmaßen, ihm zu befehlen zu leben, da ich wusste, dass er sich schuldig fühlte.
Erst nach einer Woche fand man seine Leiche. Sie war am Flussufer angetrieben worden. Ich stand als einziger vor seinem offenen Grab.
Tag der Veröffentlichung: 14.12.2009
Alle Rechte vorbehalten