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Es war in der Nacht, in seiner Nacht, die kein Ende fand. Er hastete die dunkle Strasse entlang dem Walde zu, der in Finsternis verborgen lag. Es war ihm, als würde er nicht vorwärts kommen, als würden die Sekunden zu Minuten und die Minuten zu Stunden.

Jetzt, da er sich überwunden hatte und der Geist Herr des Körpers war, sehnte er sich nach dem Augenblick der Vollendung, kannte er nur ein Sehnen, das Sehnen nach seinem Ende.

Ein eisiger Wind trieb ihm Schneeschauer ins Gesicht, die er nicht spürte. Seine Füße glitten aus. Er bemerkte es nicht, die zur Faust geballten nackten Hände waren blaurot gefroren, aber er fühlte keinen Schmerz. Sein Wille machte ihn körperlos, hatte die Schwäche, die Erschöpfung von ihm genommen und ihn stark gemacht für den Gang, der ohne Rückkehr war. Sein Gesicht hatte nicht mehr das Verzweifelte und Mutlose der vergangenen Tage. Die Züge waren entspannt, fast friedlich und nichts an ihm verriet die Entschlossenheit, die ihn beseelte. Er selbst ahnte nicht und wollte es auch nicht wissen, dass er lebendig tot war, dass sein Geist nicht mehr lebte, da der Tod ihn beherrschte. Nichts kümmerte ihn, nichts bewegte ihn, er sah nur das Ziel.

Er hatte den Waldrand erreicht und verließ die Strasse. Der Schnee lag hoch zwischen den Bäumen und nur mühsam kam er vorwärts. Endlich blieb er, von Finsternis umfangen, an den Stamm eines Baumes gelehnt stehen. Er sah hinauf und als er in der Dunkelheit nichts erblickte, tasteten seine Hände nach oben und fühlten einen starken Ast. Aus seiner Tasche holte er ein Seil und knüpfte es fest. Seine vom Frost erstarrten Hände versagten, als er es verknoten wollte. Er musste sie warm reiben. Endlich nach langen Mühen gelang es ihm, die Schlinge zu ziehen. Er kletterte zu dem Ast empor, legte sich das Seil um den Hals. Jetzt, jetzt gleich würde er springen, würde der Hanf mit unbarmherzigen Ruck seine Kehle zusammenpressen, würde sein Genick gesprengt, würde alles vorbei sein, alles. Sein Atem würde stocken und er würde dahin gehen, wo es keinen Schmerz und keine Not gab, sein Leben würde ausgelöscht sein und damit das, was er haßte, verachtete, verabscheute.

Die Anstrengung liess ihn tief atmen und während in seinen Lungen die Luft drang und seine Glieder sich zur letzten Kraft spannten, erreichte plötzlich ein Laut sein Ohr. Er fuhr hoch, als hätte ein Schlag ihn getroffen. Er lauschte in die Nacht hinaus, er war nicht allein. Die Starre seiner Gedanken, der Tod, der ihn in seiner Hand hielt, wich von ihm. Instiktiv spürte er die Nähe eines Wesens, das in der Dunkelheit verborgen war. Da - wieder! Es war ein fast tierischer, ersterbender Laut. Er erkannte es, es war das kurze stoßweise Weinen eines Kindes. Er saß zusammengeduckt, erschreckt auf dem Ast, hörte hinaus in die Finsternis, lauschte nach dem Ruf aus jener anderen Welt, der er nicht mehr angehören wollte. Und wieder drang das Weinen, das verzweifelte Schluchzen zu ihm herüber.

Für einen Augenblick überkam ihm Ratlosigkeit. Der Schmerz jenen kleinen Wesens, das seinem Auge in der Dunkelheit verborgen, irgendwo lag, erschütterte ihn mehr, als der eigene und zu gleicher Zeit haßte er sein eigenes Mitleid, das ihn nicht vollenden ließ, sondern zögern, zaudern. Das Schluchzen erstarb und so sehr er auch hinaushorchte, er hörte nur den Wind, der an Wipfeln und Ästen rüttelte und den Schnee, der von ihnen herabfiel. Das Kind war still. Lag es im Sterben, war es schon tot, was mochte es für ein Kind sein, wie war es hierher gekommen?

Er löste die Schlinge und sprang hinab. Er tastete sich in die Richtung, aus der das Weinen zu ihm gedrungen war. Nichts fand er. Im Schnee kniete er nieder und versuchte zu fühlen, aber seine Hände griffen nicht nach dem was er suchte. Er wühlte, auf den Knieen rutschend, im Schnee, er musste es finden, das Kind durfte nicht sterben, es sollte leben. Sein Schicksal fiel von ihm ab und im Eifer war sein Leben nichts mehr, sein Tod nichts mehr, gegen jenes Leben, gegen jenen Tod. Er keuchte vor Anstrengung. Der Schnee drang durch seinen Mantel, durch Jacke und Hose und schmolz an der Wärme des Körpers.

Endlich fand er es. Er hob das kleine Bündel auf und drückte es an sich. Dann legte er sein Ohr auf die kleine Brust und es machte ihn glücklich, als er das Herz schlagen hörte. Er öffnete seinen Mantel und schlung das Kind darin ein. Er drehte sich um und suchte den Weg zur Strasse. Er war ruhig, es war Friede in ihm und fast widerstrebend, ungläubig zögernd, fühlte er Glück, fühlte er das Glück des Lebens.

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Tag der Veröffentlichung: 14.12.2009

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