Zur gleichen Zeit entstand in Bela der Wunsch zu heiraten. Sie wollte dieses Mal alles richtig machen. Sie würde einen Zeugen Jehovas heiraten,der ihr beim letzten Kreiskongress den Hof gemacht hatte. Sex vor der Ehe war tabu. Also wollten sie so schnell wie möglich heiraten, um nicht in die Gefahr der ‚Hurerei‘ zu geraten. Aber Bela war noch nicht 17. Sie
brauchte nicht nur unser Unterschrift, sondern auch die Beurteilung des Jugendrichters. Wir bekamen eine Vorladung. Bei dem Gespräch wollte der freundliche
ältere Herr einiges darüber wissen, wie Bela sich die Ehe vorstellt. Wie will sie Beruf und Haushalt, Geld und Ausbildung und so weiter bewältigen? Auf alle seine Fragen gab ich sehr plausible Antworten. Am Schluss sagte er: ‚Ich glaube, dass ihre Tochter die besten Voraussetzungen für eine glückliche Ehe hat. ‘ Er gab ihr das Ehereifezeugnis. Aber als wir wieder
draußen waren, kam mir in den Sinn, dass Bela überhaupt nicht zu Wort gekommen war. Der alte Herr und ich hatten einen so guten Draht zueinander,dass wir uns bestens verstanden haben. Seine Beurteilung stimmte ja auch: Ich hatte die besten Voraussetzungen für eine lange, glückliche Ehe. Nur handelte es sich um meine und nicht um die meines Kindes.Damals dachte ich aber, dass Bela mit meinem Kopf denken kann und mit meinem Herzen fühlen. Ihr Bräutigam würde als Zeuge Jehovas genauso liebevoll und loyal zu seiner Frau stehen, wie mein Mann zu mir gestanden hat, dass war sowohl meine Überzeugung, als auch Belas Illusion.
So naiv und blauäugig kann der Mensch sein, wenn er Scheuklappen trägt.
Unser Schwiegersohn war nicht der, für den er sich ausgegeben hatte. Wir erfuhren es zu spät: Er war hochverschuldet. Seine Mutter drängte ihn dazu, die Tochter eines selbstständigen Handwerksmeisters zu heiraten. Sie kannte unsere finanzielle Situation nicht. So hoffte sie, wir würden für die Schulden unseres Schwiegersohnes aufkommen. Es dauerte nicht lange, bis der Gerichtsvollzieher bei dem jungen Paar Dauergast war.
Leider schämte sich Belinda viel zu lange, uns mit ihren Problemen zu belasten. Aber sie war kein Herkules. Als sie das Ganze nicht mehr länger
alleine tragen konnte, ließ sie sich von dem trösten, der ihr zugehört hat.Nach nur wenigen Monaten war ein viel versprechender Anfang nur noch ein Scherbenhaufen. Wir besorgten ihr ein Zimmer in unserem Wohnhaus. An die Wand dieses Zimmers malte sie den Spruch: ‚Sie schwieg um Hilfe,die Antwort war Schweigen.‘ Wie nicht anders zu erwarten, reichte sie die Scheidung ein. Ich fuhr sie zu ihrem Termin im Amtsgericht. Ich hatte nicht den Mut, mit ihr in den
Gerichtssaal zu gehen. Sie wurde allein von ihrem Anwalt begleitet. Als alles vorbei war, kam sie auf unser Auto zugelaufen. In ihrem Gesicht stand die pure Panik. Sie tat mir so leid und ich schämte mich für meine Feigheit.
Diesmal konnten wir nicht verhindern, dass Belinda wegen Ehebruch die Gemeinschaft entzogen wurde. Als die Bekanntmachung in der Versammlung verlesen wurde, bekam ich einen Weinkrampf.Ich empfand dieses Urteil – ganz im Sinne der Wachtturm-Lehre – als Gefahr für ihre Zukunft: Ihr drohte die ewige Vernichtung. Ich verließ den Saal und setzte mich in unser Auto, um mich etwas zu beruhigen.
Jonathan begleitete mich. Er war 15, saß neben mir und konnte mich nicht trösten. Aber er sagte einen Satz, den ich nie vergessen werde.“
Hier stockt Mara. Sie konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Die anderen ließen ihr die Zeit. Keiner hinderte sie daran zu weinen. Nach einer Weile hatte sie sich wieder beruhigt und sprach weiter: „Jo sagte:
‚Mutti, ich verspreche dir, dass du meinetwegen nie so weinen wirst.‘ Das war sicher auch Belindas Wunsch gewesen. Jehova weiß es, und ich wusste es auch.“ Mara atmete tief durch. „Damals handelte ich zum ersten Mal bewusst und absichtlich gegen die geltenden Ordensregeln“, fuhr sie in ihren Schilderungen fort. „Laut Wachtturm und Königreichsdienst, war es falsch, für einen Ausgeschlossenen zu beten, mit ihm zu reden oder irgendwie mit ihm Gemeinschaft zu pflegen.
Viele Familien von Jehovas Zeugen hielten sich an diese Regeln und zerbrachen daran. Doch diese Forderung ging über meine Kraft. Ich konnte
meine Kinder nicht daran hindern, das vierte Gebot mit einer Verheißung‚‚auf das du lange lebest auf Erden‘ zu halten. Das widersprach meinen natürlichen, mütterlichen Gefühlen und meinem Verständnis der Barmherzigkeit Gottes.
In 2. Mose 20,12 heißt es: „Ehre deinen Vater und deine Mutter, (Verheißung): damit sich deine Tage als lang erweisen mögen auf dem Erdboden,den Jehova, dein Gott, dir gibt.“ (NWÜ)Es ist sehr interessant, dass an diesem Punkt viele Mütter den Gehorsam verweigern. Besonders Frauen, deren Männer keine ‚Ältesten‘ oder
‚Dienstamtgehilfen‘ sind, lassen sich nicht immer von den Ordensregeln vorschreiben, wie lange sie Mütter sein dürfen.
Christus wandte sich gerade den Sündern und schwer Beladenen liebevoll zu. Wenn das nicht auf mein Kind zutraf, auf wen denn sonst? Ich betete sehr inbrünstig und flehentlich für sie.
Ich fühlte mich auch selbst schuldig: Ich hatte nicht in allen Punkten dem ‚treuen und verständigen Sklaven‘ gehorcht. Manchen ‚Rat‘ hatte ich in den
Wind geschlagen. Ich wendete keine Prügelstrafe an. Ich verbot ihnen ihre Musik nicht. Ich zwang sie nicht, predigen zu gehen. Ich bestand nicht auf
einem regelmäßigen, wöchentlichen Familienbibelstudium an Hand der Wachtturm-Literatur. Nun war ich der Meinung, dass wir jetzt dafür bestraft
würden.
Wir hielten einen engen, familiären Kontakt zu unserem Kind. Vor allem ihr Vater kämpfte wieder mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln darum, dass sie ihre Lehre zu Ende bringen konnte. Sie sollte nicht auch noch ihre weitere Zukunft dadurch aufs Spiel setzen, dass sie ohne Berufsabschluss blieb. Es ging ihr physisch und psychisch sehr schlecht, aber sie durfte auf keinen Fall aufgeben.“
Hier schaltet sich Noah in das Gespräch ein: „Unsere ganze Familie war durch diese Situation extrem belastet. Wir standen unter enormem Druck.
Einerseits wollten wir die Anforderungen des Glaubens gewissenhaft erfüllen. Ich musste sie gegenüber der Versammlung auch vertreten und lehren. Andererseits spürten wir eine verzweifelte Abneigung gegen die
offensichtlich herzlose und lieblose Ordensregel, die Wunden schlug, statt sie zu verbinden und zu heilen.
Dieser Gewissenskonflikt äußerte sich zunehmend in körperlichen Beschwerden. Ich litt immer mehr unter nervösen Störungen, die ich aber auf beruflichen Stress schob und nicht auf den Schaden, der durch religiösen Druck entstanden ist.“
„Ja, das ist wahr“, bestätigte Mara. „Wir waren alle nervlich am Ende, konsultierten die verschiedensten Ärzte und trugen viel Geld zu den Heilpraktikern – ohne nennenswerten Erfolg.
Ich begann damals, den Sinn der Ordensregeln zu hinterfragen. Warum ist es eigentlich so schlimm, die Ehe zu brechen? Will denn Jehova von Menschen etwas Unmögliches verlangen, damit er einen Grund hat, sie zu vernichten? Das widersprach komplett meinem Verständnis von Gottes
Liebe. Mir kam ein Psalm in den Sinn, der lautete: ‚Wolltest du auf Sünden achten, Herr, wer könnte dann […] bestehen? Ja, Vergebung ist bei dir […]
.‘ Es gibt unzählige Texte, die das bestätigen.
Tag der Veröffentlichung: 28.08.2010
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