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Für Vanessa



Es gibt Samstage, da reißt einen der lärmende Staubsauger der Nachbarn aus dem wohlverdienten Schlaf. Es gibt Samstage, da holen einen zu unchristlicher Stunde die Zeugen Jehovas aus den Federn. Und es gibt Samstage, an denen Kathrin so lange bettelt, bis ich klein beigebe und mit ihr am frühen Morgen zu IKEA fahre. Dabei gibt es so viele Dinge, die man an einem Samstag tun könnte. Das Auto waschen. Den Rasen mähen. Fußball schauen. Die Welt retten. Aber nein. Wir müssen zu IKEA. Wir und fünf Trillionen andere Menschen, die das schwedische Einrichtungshaus magisch anzieht.
Schon im Stau auf der Autobahn bereute ich meine Entscheidung. Stundenlang fuhren wir den kompletten Parkplatz ab, bis ich nach zig Wendemanövern und Beinah-Unfällen eine freie Lücke am Ende der Welt entdeckte.
Mit einer Wetten, dass..?-reifen Leistung drängte ich mich an einem weißen Peugeot vorbei und lenkte den Wagen in die allerhinterste Parkbucht. Die Frau am Steuer warf mir einen bösen Blick zu, dass man meinen konnte, ich hätte ihr das letzte Billy-Bücherregal vor der Nase weggeschnappt, fuhr aber weiter. In die enge Lücke wäre sie mit der klapprigen Rostlaube sowieso nicht hineingekommen, ohne den Spiegel des benachbarten Autos abzusäbeln. Dessen Eigentümer wäre mir sicher dankbar gewesen, hätte er meine Heldentat beobachtet.
Wir stiegen aus und pilgerten mit der Masse zum blau-gelben Konsumtempel. Dass die Strecke dabei die Länge des Jakobswegs überschritt, schien außer mir niemanden zu kümmern. Anderenorts gab es für solche Entfernungen Bus-Shuttles.
Nach zirka dreitausend verbrannten Kalorien erreichten wir endlich die Drehtür.
Millionen Kinder wuselten mit lautem Getöse im Eingangsbereich herum. Vorsichtig schob ich mich zwischen zwei Frauen hindurch, die hochschwanger waren. Als ob hier noch nicht genügend Racker herumlungern würden! War ich denn der einzige im ganzen Einrichtungshaus, dem Empfängnisverhütung kein Fremdwort war? Du bist auch der Meinung, deutschen Ehepaaren mangelt es an Nachwuchs? Riskiere einen Blick ins Småland!
Im Obergeschoss verkündete ich Kathrin meine rettende Idee: »Geh du ruhig schon vor. Ich frühstücke erst mal.«
»Aber wir haben bereits gegessen!«, wandte sie ein. »Wir wollen doch Möbel anschauen!«
Kathrin schaute keine Möbel an. Sie studierte sie. Von Wir war ohnehin nie die Rede gewesen. Und von Wollen gleich gar nicht. Nur das behielt ich vorsichtshalber für mich.
»Hab trotzdem Hunger. Außerdem falle ich dir sonst nur unnötig auf die Nerven. Lass uns lieber getrennte Wege gehen, dann kannst du in aller Ruhe bummeln, und ich bin mit vollem Magen auch erträglicher«, argumentierte ich.
»Hm. Ich weiß nicht recht.« Kathrin blieb skeptisch.
»Du kannst mir ja hinterher erzählen, was du so alles entdeckt hast.«
»Na schön«, gab sie enttäuscht nach. »Meinetwegen.«
Ich atmete auf, verabschiedete mich von Kathrin und schnappte mir ein paar Bleistifte aus der Box an dem Einkaufszettel-Haltegestell. Über die Abkürzung gelangte ich in das Restaurant. Dort war ich vor Schreck zu keiner Bewegung mehr fähig.
Heerscharen schoben sich durch das überfüllte Restaurant und rangen um Schwedenfrühstück, Frukost und Daim-Torte. Einen Moment lang zögerte ich. Dann bewaffnete ich mich ebenfalls mit Besteck und Tablett und stürzte mich in die epische Gourmetschlacht.
An der Getränkeausgabe überging ich die schlangestehenden Kunden und schenkte mir frisch gebrühten Kaffee aus der zweiten Maschine ein, die die Reihe partout ignorierte. Sofort hagelte es Proteste. Ein aggressiver Koffeinjunkie meinte empört, ich sollte mich doch gefälligst hinten anstellen, so, wie es sich nun mal gehörte und warf mir Schimpfwörter an den Kopf. Ich spießte ihn daraufhin mit feindseligen Blicken auf und zog triumphierend weiter.
Leider waren im Speiseraum nicht nur alle Fensterplätze und die strategisch günstigen Sitze direkt an der Getränkeausgabe belegt, sondern auch die Stühle an den Mitteltischen. Mehrmals lief ich das komplette Restaurant ab, ohne Erfolg. Inzwischen war der Kaffee so oft übergeschwappt, dass die Brötchen eine leicht matschige Konsistenz angenommen hatten. Isst du schon, oder suchst du noch?
Ein verzogenes Gör schnappte mir schließlich die Sitzbank an einem eben frei gewordenen Zweiertisch weg und streckte mir frech die Zunge heraus. Nur der Muskelprotz, der ihr Vater war und der mich sonst in dem Möbelhaus vermöbelt hätte, hielt mich davon ab, dem Mädchen die restliche heiße Brühe mitten ins Gesicht zu kippen.
Nachdem ich mindestens fünf Kinder zertreten hatte, die nicht rechtzeitig den Weg ins Småland gefunden hatten, ergatterte ich einen Hocker an einer der Bartheken, an denen man nebeneinander sitzt wie die Hühner in einer grausigen Legebatterie. Ich ließ mich trotzdem dort nieder und suchte die Serviette, um die Kaffeepfütze auf dem Tablett aufzuwischen. Bis mir auffiel, ich hatte gar keine Serviette mitgenommen. Ich aß die kaffeematschigen Brötchen, die kaffeematschige Wurst, den kaffeematschigen Lachs und die Marmelade (die war abgepackt, da kam kein Kaffee ran) und ließ das Gegacker der Hühner über mich ergehen.
»Wir müssen nachher noch Socken kaufen, Schatz. Und neue Unterwäsche brauchst du auch!« – »Heute Abend darf aber ich das Fernsehprogramm bestimmen!« – »Was gibt’s denn an meiner Unterwäsche auszusetzen?« – »Mama, Boris bohrt schon wieder in der Nase!« – »Könnten etwas wärmer sein, diese Köttbullar.« – »Schöttbullar! Das spricht man Schöttbullar aus!« – »Iieeeh! Jetzt isst er den Popel!«
Als fünfzehn Minuten später ein anderer Tisch frei wurde, ergriff ich panisch die Flucht.
Ich ließ mir reichlich Zeit mit dem Frühstück, denn mit Kathrin brauchte ich in der nächsten Stunde ohnehin nicht zu rechnen, und auch nicht in der übernächsten, wie sich herausstellte. Wo blieb die Frau nur? Kein normaler Mensch konnte so lange Möbel inspizieren. Kathrin schon.
Am Ende fehlte mir ein halbes Brötchen für den übrig gebliebenen Käse. Na toll!
Ich trank reichlich Kaffee, denn den gab es gratis, und ich schüttete so viel davon in mich hinein, dass er nicht nur den Harndrang förderte, sondern mir irgendwann speiübel wurde. Mit den hölzernen Bleistiften spielte ich gelangweilt Mikado, dann erspähte ich die Wandtafel mit der Aufschrift DU KANNST HELFEN, IKEA ZU VERBESSERN! und meine Stimmung hellte sich auf. Grinsend schnappte ich mir einen Notizzettel. Bald war ich ganz in meinem Element. Doch welche meiner Ideen sollte ich aufschreiben?
Rettet den Tropenwald, verzichtet auf neue Kataloge!
Begrenzt die Parkdauer auf eine Stunde!
Verwehrt genervten Männern den Zutritt! Gegenüber gibt es einen Baumarkt.
Verteilt Kondome!
Am Ende füllte ich die elf Zeilen mit folgendem Text:

Liebes IKEA-Team,
ich freute mich sehr auf das Frühstück in eurem Restaurant, während meine Freundin in aller Seelenruhe durch die Möbel-Ausstellungsräume schlendert. Aber nie geht der Brötchenbelag mit der Brötchenanzahl auf, weil mengenmäßig immer ein halbes Brötchen zu wenig vorhanden ist. Doch halbe Brötchen verkauft ihr ja nicht. Darüber könnte ich mich aufregen. Und der Tag, der ist gelaufen!

Ich ergänzte meine Kontaktdaten und warf den Zettel in den dafür vorgesehenen Briefkasten.
In dem Moment kam Kathrin. Euphorisch, als wäre sie auf einem Drogentrip, zeigte sie mir stolz ihren Stapel Einkaufszettel, der dicker war als der letzte IKEA-Katalog, und mir klappte beim Lesen ihrer Notizen die Kinnlade herunter. Wir hatten weder das Geld, um die Möbel zu bezahlen, noch den Platz, um sie in der engen Zwei-Zimmer-Wohnung zu verstauen. Das Haus sah ohnehin schon aus wie ein IKEA-Außenlager.
»Eines sag ich dir, Schatz«, drohte ich, »wenn neben Billy, Gustav, Mikael, Markus, Karsten, Frederik und Benno nun auch noch Fabian, Jonas, Antonius und Alexander bei uns einziehen – dann zieh ich aber aus!« Denn wer durfte die schweren Teile schleppen, zu Hause aufbauen und am nächsten Werktag die fehlenden Schrauben im Baumarkt besorgen? Natürlich ich! Vorausgesetzt, ich bekam keinen Bandscheibenschaden.
»Jetzt sei doch nicht so, Mannie«, beschwichtigte mich Kathrin. »So viel ist das nun auch nicht!«
Eine Viertelstunde debattierten wir darüber, was davon in unsere Wohnung kam und was nicht. Nachdem wir einen Kompromiss gefunden und ich ihr das Mittagessen ausgeredet hatte, meinte ich: »Na schön, holen wir das Zeug, und dann nichts wie raus hier!«
»Und was ist mit der Markthalle im Erdgeschoss?«, wandte Kathrin ein.
Ich war schon vorausgeeilt und hielt mit der Bewegung inne. Das hatte ich befürchtet! Gequält zog ich eine Fratze.
Wie ein Hund an der Leine folgte ich meiner Freundin die Treppe hinunter in das Kleinteile-Labyrinth. Das Plakat an der Wand, WIR HABEN SECHZEHNTAUSEND ARTIKEL IM SORTIMENT, schien mich zu verhöhnen.
»Schau doch nicht so miesepetrig, Schatz!« Kathrin war mein Blick nicht entgangen. »Will nur kucken. Dauert bestimmt nicht lange!«
Frauen. Nur kucken. Nicht lange. Spätestens nach diesen Schlüsselwörtern hätte ich den nächsten Notausgang suchen und das Gebäude fluchtartig verlassen sollen. Keine Frau kuckte nur. Sie würde vielmehr das ganze Einrichtungshaus leer kaufen und riesige Löcher im Hochregallager hinterlassen. Aber all mein Protest nutzte nichts.
Ein Liegestuhl für Handys, Stofftiere, Buchstützen, Schreibtischunterlagen und Kerzen erweckten Kathrins Interesse; Apfelentkerner, Sojakanne mit Schale, Briefablage, Gewürzmühle und ein Dosen-Set mit Deckel fasste sie sogar an; und verschiedene Messer, Blumenvasen, Läufer, Stiftebecher, CD-Halter, Potpourri, Pflanzen, et cetera landeten im Einkaufswagen.
Als wir durch den Bereich VERSTAUEN UND ORDNEN schritten, nuschelte eine Lautsprecherstimme: »Rüdiger sucht seine Frau. Er hat sie seit dem Duftkerzchenregal nicht mehr gesehen.« Im Bereich KÜCHE meinte Kathrin: »Wir brauchen unbedingt einen großen Nudelkochtopf!«
Ich sah sie an. »Wir haben doch schon ein paar Kochtöpfe!«
»Aber keinen Nudelkochtopf!«
»Und worin hast du die Nudeln sonst gekocht? Im Entenbrater?«
Meine Freundin ignorierte den Kommentar. Obwohl sie den Wagen so voll geschichtet hatte, schien der Konsumberg der Schwerkraft zu trotzen. Erst als wirklich nichts mehr hineinpasste, schnappte sie sich eine dieser gelben Umhängetaschen, mit der man aussieht wie ein geistig zurückgebliebener Marsmensch und gab sie mir zum Tragen. Auch die Frau neben uns war keine Leuchte, obwohl es selbiger Gegenstand war, den sie anhimmelte: »Uiiisstdiiiieeschööön«, schrillte es mit zwanzigtausend Hertz durch das Einrichtungshaus. Was dem laut scheppernden Boden ihres Einkaufswagens nicht ganz gelungen war, das vollendete ihre dem Ultraschall verdächtig nahe kommende Stimme: Ich bekam einen Hörschaden. Sechzehntausend Artikel. Aber nicht eine Schachtel Ohropax.
Ich glaube, Kulla, die Leuchte, hätte am liebsten das Weite gesucht. Doch Kulla konnte nicht. Kulla war eine Stehlampe. Wie gut, dass zumindest der Ehemann ein Einsehen mit dem armen Ding hatte und es seiner Frau wieder ausredete.
Irgendwann erreichten wir das Ende der Markthalle. Land in Sicht. So musste Christopher Columbus sich 1492 nach zahlreichen Wochen Seefahrt gefühlt haben. Aber es war nicht Indien, auf das er gestoßen war, sondern Amerika, und es war nicht der Ausgang, der uns unmittelbar bevorstand, sondern die SB-Halle. Vielleicht hätte ich uns am Service-Point doch ein Doppelbett für die Nacht buchen sollen.
Wir folgten der fortlaufenden Nummerierung entlang der Hochregale, suchten Antonius und Alexander, und als wir die beiden endlich gefunden und ich mir einen Bruch gehoben hatte, stellten wir uns an der Menschenschlange an der Kasse an. Nur – das war keine Schlange, das war eine Völkerwanderung! Hier standen mehr Kunden an als Schweden Einwohner hatte!
Wir warteten und warteten.
Eine Stunde später warteten wir immer noch.
Schließlich waren wir zumindest in die fußballfeldgroße Schnäppchenzone vor den Kassen vorgedrungen, eine Erfindung kluger schwedischer Scheidungsanwälte, und ab da gab es für meine Freundin kein Halten mehr. Brav schob ich den Wagen weiter, während sie hemmungslos in den Regalen und Kisten wütete. Als Kathrin kurz vor dem Bezahlen zurückkam, hätte ich sie kaum wiedererkannt, so viele Schnäppchen trug sie bei sich. Ich legte Staubfänger, Stolperfallen und den sonstigen Kram auf das Förderband. Der Mann vor uns holte AOK-Karte, Kalender und Führerschein hervor – nur seine EC-Karte, die fand er nicht. Es hatte ja niemand ahnen können, dass man am Ende des Einkaufs bezahlen musste! Nach einem verwunderten Kopfschütteln gab er die Suche auf und zählte gemächlich Euro- und Cent-Stücke ab. Ich hätte ihn würgen können!
Im Schwedenshop kaufte Kathrin Gravad, Elchnudeln und Kekse, dann verließen wir IKEA und ich genoss auf dem Kundenparkplatz das wiedererlangte Gefühl der Freiheit. Beim Herausfahren beobachtete ich schadenfroh zwei Freundinnen, die sich vergeblich abmühten, ein Billy-Regal in einem Smart unterzubringen.
Vierzehn Tage später erhielt ich einen Brief vom IKEA-Kundenservice.

Lieber Manfred,
die Sache mit der Brötchenmenge bedauern wir sehr. Leider können wir dir keine halben Brötchen anbieten. Aber du kannst ein ganzes zusätzliches Brötchen bei uns kaufen! Geh doch beim nächsten Mal gemeinsam mit deiner Freundin durch die Ausstellungsräume und teile dir hinterher mit ihr das Brötchen. So geht es mengenmäßig genau mit dem Belag auf!

Mit vielen lieben Grüßen, dein IKEA-Kundenservice.



»Ein tolle Idee«, lobte Kathrin. »Genauso machen wir es nächsten Samstag!«

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Tag der Veröffentlichung: 14.10.2011

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