Ein wolkenloser Himmel, dessen Blautöne zum Horizont hin verblassten, spannte sich über den Ozean. Möwen kreischten. Eine Fähre, deren Kielwasser wie eine Furche zurückblieb, tuckerte auf die Landzunge zu. Schäumende Gischt schlug gegen die Klippen.
»Wohin bringst du mich?«, fragte Johanna mit kindlicher Stimme. Aber der bärtige Fährmann, der ihre Worte trotz des dröhnenden Motors deutlich gehört haben musste, antwortete nicht.
Auf dem Weg zum Festland folgte das kleine Schiff schon seit Stunden dem Seeweg, und nun legte es im Hafenbecken an.
Zu Johannas Erstaunen war keine Menschenseele zu sehen. »Hier endet deine Reise.«
Johanna, einziger Passagier an Bord, warf dem Fährmann einen verunsicherten Blick zu. Ein beklemmendes Gefühl überkam sie. »Du kannst mich doch hier nicht alleine zurücklassen! Wo bin ich denn überhaupt?«
Wieder ignorierte der Fährmann ihre Frage. Stattdessen schenkte er dem Mädchen ein aufmunterndes Lächeln. »Keine Bange. Du bist nicht alleine«, sagte er.
Schließlich betrat Johanna den Pier. Sie war verwirrt, ihr Gedächtnis wies Lücken auf. Ehe sie jedoch ihre Gedanken ordnen konnte, stach das Fährschiff hinter ihr wieder in See.
»Hey!«, rief sie. »Warte doch!«
Aber ihre Bitte war vergebens. Die Fähre tuckerte weiter auf das offene Meer hinaus, so lange, bis der Horizont sie verschluckt hatte. Johanna blieb nichts anderes übrig, als sich damit abzufinden, erst einmal hier festzusitzen.
Nach einem letzten Zögern näherte sie sich widerwillig dem Festland.
Johanna verließ den Pier am anderen Ende, und eine Zeit lang durchstreifte sie das Hafengelände. Schwimmkräne, Werftschuppen und Fischhallen kamen in ihr Sichtfeld, aber noch immer keine Menschenseele. Langsam steigerte sich ihr Unwohlsein zur Furcht.
Hatte der Fährmann die Wahrheit gesprochen?
»Hallo?«
Ihre Stimme hallte in einer der Lagerhallen wider, aber niemand antwortete Johanna. Nur der Wind blähte die Segel einiger Boote auf.
Erst dann trug eine Windbrise auf einmal die Klänge fröhlicher Musik an sie heran. Mit Neugierde verließ Johanna den Hafen.
Durch ein Labyrinth aus winkeligen Gassen folgte sie der Melodie. Sie kam zunächst an Gastwirtschaften und Fischerhäusern vorbei – und schließlich fand sie sich so im Herzen der Hafenstadt inmitten einer gigantischen Kirmes wieder.
Mit offenem Mund bestaunte sie die Attraktionen. Es war der größte Rummel, den ihre Augen je erblickt hatten. Sie war davon fasziniert.
Kettenkarussells, deren Sitze von der Zentrifugalkraft nach außen gedrückt wurden, drehten sich im Kreis, ratternd stürzten sich die Waggons einer Achterbahn in die Tiefe, schwungvoll pendelte eine Schiffschaukel hin und her. Melodien verschiedener Musikstücke überlagerten sich und verschmolzen so zu einem chaotischen Musikbrei. Es duftete nach Zuckerwatte, Würsten und Mandeln. Softeis, Zuckerstangen und Lebkuchenherzen erfreuten die Gaumen. Dosen polterten. Und überall jauchzte und kreischte eine große Kinderschar.
»Hi, ich bin David. Und du?«
Eines der Kinder hatte sich Johanna unbemerkt genähert. Überrascht drehte sie den Kopf und blickte in das sommersprossige Gesicht eines Jungen.
»Johanna«, stellte sich das Mädchen vor.
»Willkommen, Johanna. Schön, dich kennen zu lernen.« David strahlte.
Ehe Johanna etwas erwidern konnte, nahm der Junge sie an die Hand und führte sie herum. »Komm, ich zeig dir alles!«
Er steckte Johanna an mit seinem Enthusiasmus, integrierte das Mädchen in die Gemeinschaft, und alle dunklen Gedanken waren fortgespült.
Bald fühlte Johanna sich heimisch.
Und so vergingen Jahre.
Durch das Fensterglas drang der Lärm der anderen Kinder nur gedämpft herein. Warmes Sonnenlicht durchflutete das Spielzimmer des Kinderhorts. Johanna, die in einer der Ecken des von Bausteinen und Teddybären bevölkerten Zimmers kauerte, bemerkte weder das Licht noch David, der soeben ins Zimmer getreten war.
»Ach, hier bist du!«, sagte der Junge. »Hab dich schon überall gesucht! Ist alles in Ordnung?«
Johanna drehte den Kopf. »David.« Sie lächelte traurig. »Darf ich dich was fragen?«
»Klar.«
»Bist du glücklich?«
»Was?« David sah sie überrascht an. Er zögerte. »Klar bin ich glücklich! Schließlich haben wir doch alles, was wir uns erträumt haben!«
»Ja, das haben wir«, bestätigte Johanna. Doch ihre Worte klangen betrübt.
Die Manege ruhte. Erst zu später Stunde, wenn am Himmel die Sterne funkelten und die zunehmende Sichel des Mondes sichtbar war, fand das nächste Programm statt. Akrobaten würden ihre Körperbeherrschung zur Schau stellen, Seiltänzerinnen ihren Balanceakt auf dem Hochseil vorführen. Ein tollpatschiger Clown würde die Kinder im Rampenlicht der Scheinwerfer zum Lachen bringen, ein Zauberer zum Staunen, und ein geübter Tierdresseur zum Fürchten. Doch jetzt war in dem Zirkuszelt alles still. Das Tribünenorchester musste noch warten, ehe es das Getöse des benachbarten Rummelplatzes, das gedämpft durch die dünne Plane des Viermastzelts drang, übertönen durfte.
Jonathan kehrte gerade den Tribünenboden, als er die Schritte eines Kindes wahrnahm, das atemlos durch den Zuschauereingang in das Zelt trat.
»Tim.« Ein Lächeln erschien in den Gesichtszügen des gutmütigen, alternden Hausmeisters. Schon seit Jahrzehnten verrichtete er hier in der Hafenstadt seine Arbeit. »Was ist denn los?«
»Johanna«, sprudelte Tim vollkommen außer Puste hervor. »Sie ist verschwunden. Hab sie schon überall gesucht, aber ich kann sie nirgends finden!«
Jonathan hielt mit dem Kehren inne. Die Nachricht kam nicht überraschend. Das außergewöhnliche, tiefsinnige Mädchen hinterfragte seit längerem ihr Schicksal. Dennoch hatte er gehofft, Johanna würde sich im Laufe der Zeit damit abfinden. Stattdessen zog sie nun auch die anderen Kinder hinein in einen Strudel aus Zweifeln. Die Illusion drohte zu zerbersten.
»Wo kann sie nur stecken?« Tim war ernsthaft um Johanna besorgt.
Eine üble Ahnung beschlich den Hausmeister. Wenn sie sich seinem strikten Verbot widersetzt hatte, war Eile geboten.
Ohne Umschweife legte Jonathan den Kehrbesen beiseite, ließ den ratlosen Jungen stehen und begab sich auf die Suche nach dem Mädchen.
Mit pochendem Herzen stand Johanna in der Hausmeisterwohnung vor Zimmer Nummer 13, den gestohlenen Schlüssel in ihrer zitternden, kleinen Hand
»Du darfst dich überall in der Stadt frei bewegen«, hatte Jonathan ihr erklärt. »Nur dieses Zimmer ist verboten. Hast du das verstanden?«
Johanna hatte genickt.
Schon lange erzählten sich die Kinder untereinander zahlreiche Schaudergeschichten darüber, was sich wohl hinter der Tür verbergen mochte. Doch soweit das Mädchen wusste, hatten sich bislang alle an die Anordnung Jonathans gehalten und das Zimmer Nummer 13 gemieden wie einen Bienenschwarm.
Auch Johanna widersetzte sich ihr nur ungern. Sie hatte Angst, das Vertrauen zu dem Hausmeister aufs Spiel zu setzen. Aber ihre Neugierde siegte über ihre Furcht.
»Erwischt!«
Wie von der Tarantel gestochen fuhr das Mädchen herum.
»David!«, zischte Johanna gleichermaßen erleichtert und verärgert. »Was tust du denn hier? Verschwinde gefälligst!«
»Die Frage müsste ich dir stellen«, meinte David. »Was tust du hier?«
»Ich ...« Johanna ließ den Rest des Satzes unbeendet.
»Tu’s nicht«, bat David. »Ich weiß, wohin du willst. Aber bitte, tu’s nicht. Es könnte gefährlich sein!«
»Und wenn schon.« Johanna blieb stur. »Meine Entscheidung steht fest. Du wirst mich schon fesseln und knebeln müssen, um mich aufzuhalten!«
David seufzte. Genau diese Antwort hatte er befürchtet.
»Dann lass mich dich wenigstens begleiten«, bat er. »Oder ich petze!«
Johanna warf ihm einen säuerlichen Blick zu und überlegte.
»Na schön, einverstanden«, willigte sie schließlich ein. »Du lässt mir ja keine Wahl!«
Obwohl Johanna es nie zugegeben hätte, war sie ihrem Freund dankbar. Mit David an der Seite fühlte sie sich sofort mutiger.
Wortlos drehte sie den Schlüssel um und betätigte die Klinke.
Zunächst war die Enttäuschung groß. Kein Geheimnis wurde gelüftet, keine Antworten taten sich ihnen auf. Vielmehr glich der Raum einer Rumpelkammer.
Mutlos ließen sie ihre Augen über die antiken, mit Schutzfolie überzogenen Möbelstücke schweifen, die hier ihre Ruhestätte gefunden hatten, bis ihre Blicke an einem verhüllten Spiegel haften blieben. Neugierig nahm Johanna das darüber hängende, staubige Tuch beiseite.
Was die Kinder sahen, überraschte sie.
Die Tasten klapperten, der Computer gab ein monotones Summen von sich. Dann riss ein Klopfen die arbeitsame Geschäftsfrau aus ihrer Gedankenwelt. Johanna hielt mit dem Schreiben inne, wandte ihren Blick vom Bildschirm ab und starrte zur Tür. Überrascht hob sie die Augenbrauen.
Sie hatte mit jedem gerechnet, nur nicht mit ihm. Als er vor dem Mahagoni-Schreibtisch des großen Chefzimmers stand, erschien er ihr beinahe wie ein Geist aus einer lange zurückliegenden Vergangenheit.
»Vater! Was ... was tust du denn hier?« Johanna kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus.
»Deine Mutter lässt fragen, ob du vielleicht nicht lieber mit uns Weihnachten verbringen möchtest«, sagte ihr Vater. »So wie in alten Zeiten.«
»Nun ...« Johanna zögerte. Ihr Gesicht war bleich und schmal, deutlich traten die Wangenknochen hervor. »Du siehst ja, ich habe viel zu tun.«
»Sogar heute? An Heiligabend?«
»Sogar heute«, bestätigte sie.
Obwohl er es nie direkt ausgesprochen hätte, erkannte Johanna, wie sehr die Worte ihren Vater enttäuschten.
»Schade. Zu gern hätte ich gewusst, was aus meiner kleinen, verträumten Tochter geworden ist«, erwiderte er. »Ich erinnere mich noch so gut an deine Kindheit, als ob es erst gestern gewesen wäre.«
Johannas Gesichtszüge verhärteten sich. »Ich bin erwachsen geworden, Vater. Das ist aus mir geworden.«
Ein trauriges Lächeln glitt über die Lippen ihres Vaters. Sein Gesicht zeigte tiefe Furchen.
»Ich weiß.«
Er wartete geduldig, aber Johanna blieb stumm. Ein betretenes Schweigen machte sich zwischen ihnen breit.
Schließlich wünschte ihr Vater Johanna fröhliche Weihnachten, und ohne ein weiteres Wort verließ er den Büroraum ebenso plötzlich wie er gekommen war.
»Dir auch fröhliche Weihnachten«, sagte Johanna. Doch da hörte er ihre Worte schon nicht mehr.
Als ihr Vater das Büro verlassen hatte, bemerkte Johanna auf einmal, wie still und dunkel es inzwischen war. Längst hatte sich die Nacht über die Metropole gesenkt, Schneeflocken rieselten zu Boden. Beinahe hatte das leere Gebäude etwas Bedrohliches an sich.
Johanna versuchte, die Aufmerksamkeit wieder ihrem Computer zu widmen, aber in Gedanken war sie bei ihrem Vater. Er sah alt aus, fand sie. Nun, sie hatte ihn auch lange nicht mehr gesehen.
Irgendwie hatte er ja recht. Ihr Leben war nicht so verlaufen, wie sie es sich einst gewünscht hatte. Sie fragte sich, was schief gelaufen war.
»Das ... das ist unmöglich!«, entfuhr es Johanna. »Nein, das bin ich nicht! Nie und nimmer!
»Ich fürchte, doch«, antwortete Jonathan aufrichtig. Der Hausmeister war hinter ihnen in das Zimmer Nummer 13 getreten, ohne dass die beiden Kinder es zunächst bemerkt hatten. »Ich weiß nicht, was ihr gesehen habt. Der Spiegel offenbart jedem seine eigene Geschichte. Aber so viel kann ich euch verraten: Es war euer gegenwärtiges Ich, das ihr erblickt habt.«
»Aber ... was ist nur aus mir geworden«, wisperte Johanna. Ihre Augen schimmerten feucht. »Ich wollte Krankenschwester werden! Und später einmal Kinder haben! Und einen Hund! Doch stattdessen ...«
Auch David war schockiert. Obwohl er keinen Ton hervorbrachte, war seine Enttäuschung deutlich in seinen Augen zu sehen.
»Jetzt wisst ihr, warum ich euch Zimmer Nummer 13 untersagt habe. Ich hätte euch gerne die Wahrheit erspart.«
Johannas Gedanken überschlugen sich.
»Ich musste es wissen«, rechtfertigte sie sich.
»Natürlich.« Der Hausmeister nickte und reichte Johanna ein Taschentuch, damit sie ihre Tränen fortwischen konnte. »Ich kann es dir nicht einmal verübeln.«
Daraufhin verhüllte er den Spiegel wieder.
»Was geschehen ist, lässt sich nicht mehr ändern. Und doch ist es nicht zu spät. Denn manchmal erinnern sich die Erwachsenen wieder an die Träume, die sie einst hatten. Dann kommt der Fährmann zurück, um das Kind in ihnen nach Hause zu bringen«, erklärte Jonathan. »Manchmal.«
Tag der Veröffentlichung: 14.10.2011
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