Mühsam in die Pedale tretend kämpfte sich Ludger die letzten Meter des steilen Hügels hinauf. Die intensive Mittagssonne war dabei kaum auszuhalten, orientierungslos blickte er sich um. Seit ihm schwarz vor Augen gewesen und er umgekippt war, wusste er nicht mehr, wo er sich befand. Er fühlte sich noch immer benommen. Obwohl er fast täglich mit dem Rad fuhr, schien er heute von seiner Route abgekommen zu sein. Und zu allem Überfluss war auch noch sein Handy in die Brüche gegangen.
Mit einer beiläufigen Handbewegung wischte Ludger sich die Schweißperlen von der Stirn. Es war ein schwülwarmer Tag, und seine schwarz-gelbe Kleidung mit dem Postzeichen auf dem Rücken machte die Hitze unerträglich. Nirgendwo war ein Mensch zu sehen, die Wohngegend lag ruhig vor dem jungen Briefträger. Nur die Singvögel zwitscherten in den Bäumen. Ihr Gesang kam Ludger beinahe spöttisch vor. Seine Laune war aber wirklich nicht gerade die beste. Eigentlich hatte er gedacht, die Stadt wie seine Westentasche zu kennen. Nun ja. Er hatte sich wohl geirrt.
In der Ferne hörte Ludger auf einmal leise einen Oldie, und augenblicklich lenkte er sein Fahrrad in diese Richtung. Hilfe suchend blickte er sich um. Seine Ohren hatten ihn nicht betrogen. In einer Gartenlaube sah er einen alten, Pfeife rauchenden Mann sitzen. Neben ihm stand ein aus der Mode gekommener Kassettenrekorder.
Ohne lange zu überlegen, sprach Ludger ihn an: »Verzeihung ... ich suche die Kastanienstraße.«
Der Fremde zuckte erschrocken zusammen, sah von seinem Buch auf und schaute Ludger erstaunt an. Er musste wohl sehr darin vertieft gewesen sein.
»Entschuldigung. Ich hatte nicht vor, Sie zu erschrecken.«
Nur langsam hatte sich der Mann wieder in seiner Gewalt.
»Ist schon in Ordnung«, sagte er. »Ich bin aber auch manchmal schreckhaft!« Er versuchte zu lächeln.
Ludger wiederholte seine Frage.
»Die Kastanienstraße suchen Sie?« Der Alte runzelte die Stirn. »Nie gehört, den Namen. Ich fürchte, ich muss Sie enttäuschen. Es gibt in dieser Gegend keine Straße, die so heißt.«
Das überraschte Ludger. Im Laufe seiner Dienstjahre hatte er sich viele der Straßennamen eingeprägt, und die Kastanienstraße war ihm normalerweise geläufig. Er wusste, dass es sie gab. War er wirklich so weit vom Weg abgekommen, dass er gar nicht mehr in ihrer Nähe war? Oder kannte der fremde Mann die Straße bloß nicht?
»Na schön, und was ist mit dieser ...«
Der Postbote holte mehrere Briefumschläge aus dem gelben Fahrradkorb hervor und zählte dem Mann verschiedene andere Namen auf, doch immer wieder schüttelte der Alte bedauernd den Kopf.
»Ich fürchte, Sie sind wirklich in der falschen Gegend, junger Mann. Oder es scheint sich jemand einen Scherz mit Ihnen erlaubt zu haben.«
»Das ... ist unmöglich.« Ludger konnte das nicht glauben. »Ich fahre schon so lange die Post aus und habe diese Straßen bisher immer gefunden!« Hilflos zuckte er mit den Schultern.
»Eigenartig, wirklich eigenartig.« Der Fremde dachte nach. »Darf ich Sie vielleicht auf etwas zu trinken einladen und wir reden drinnen weiter? Hier draußen ist es einfach zu heiß, um einen kühlen Kopf zu bewahren!«
Ludger lachte. »Vielen Dank, aber das geht nicht. Ich bin schließlich im Dienst!«
»Kommen Sie ...«, versuchte es der Alte erneut. »Nur ein paar Minuten! Schließlich geht es ja um etwas Dienstliches, nicht wahr?« Er zwinkerte dem Postboten zu.
Ludger zögerte noch immer.
»Also gut«, gab er dann widerwillig nach. »Zehn Minuten – dann muss ich aber wirklich weiter!«
»Fein.« Der Fremde stand auf und stützte sich schnaufend an der Laube ab.
»Ist Ihnen nicht gut?«, erkundigte sich der Postbote.
»Danke, es geht schon. Mein Kreislauf spielt mir mal wieder einen Streich.« Er machte eine einladende Geste zur Eingangstür, schaltete den Rekorder aus, nahm das Buch und begleitete Ludger langsam zum Haus.
Drinnen angekommen musterte Ludger die gemütlich eingerichtete Wohnung und ließ sich bereitwillig ins Wohnzimmer führen. Die antiken Möbel dort mussten ein Vermögen wert sein.
»Also – was möchten Sie?«, fragte sein Gastgeber, nachdem Ludger auf dem Sofa Platz genommen hatte.
»Ein Glas Wasser wäre nett.«
»Gerne. Bitte warten Sie einen Augenblick, ich bin sofort wieder bei Ihnen.«
Mit schlurfenden Schritten verschwand der Fremde in der Küche. Ludger warf in der Zwischenzeit neugierig einen Blick auf das Buch, das jetzt vor ihm auf dem Tisch lag.
Es dauerte nicht lange. Der Alte kam mit zwei kühlen Gläsern Mineralwasser zurück.
»So, da bin ich.« Es schien ihm jetzt besser zu gehen. Ludgers Blick auf das Buch war ihm keineswegs entgangen.
»Sie interessieren sich für Quantenphysik?«, fragte er beiläufig.
»Etwas«, gab der Postbote zurück, der momentan andere Dinge im Kopf hatte, jedoch nicht unhöflich erscheinen wollte.
»Es ist eine durchaus interessante Lektüre«, bemerkte der Alte. »Lesen Sie es ruhig mal, vielleicht finden Sie die Zeit dafür. Ich verstehe nicht alles, aber manche Dinge erklärt es ganz gut.« Er lächelte. »Haben Sie jemals von Wurmlöchern gehört? Oder von etwas, das sich exotische Materie nennt? Winzige Mengen davon könnten ungeahnte Möglichkeiten hinsichtlich Raum und Zeit schaffen.«
»Ach ja?«
Der Alte nickte. »Aber wahrscheinlich rede ich Unsinn.« Er nippte kurz an seinem Glas, dann wechselte er das Thema: »Erzählen Sie mir nun lieber Ihre Geschichte. Ganz von vorne und immer der Reihe nach.«
»Na schön. Ich war unterwegs, fuhr die Post aus und alles begann wie jeden Morgen. Dann, in der Stadtallee, fing es an. Ich warf gerade einen Brief ein, wollte zum nächsten Haus laufen, und auf einmal wurde mir schwarz vor den Augen. Ich bin umgekippt.
Als ich das Bewusstsein nach einer Weile wiedererlangte, war mir schwindelig. Ich fuhr trotzdem weiter, aber die Umgebung war menschenleer und gehörte nicht mehr zu meinem Zustellbezirk. Dann begegnete ich Ihnen.«
»Hm ...« Der Fremde dachte über die Worte nach.
»Haben Sie dafür eine Erklärung?«
»Ich?« Sein Gastgeber zuckte die Schultern. »Das ist wirklich eine sonderbare Geschichte, die Sie mir da erzählt haben.«
Sein Gefühl sagte Ludger, dass der Fremde sie nicht halb so sonderbar fand, wie er behauptete. Er wusste nicht, warum, doch er traute dem Alten nicht.
»Mit anderen Worten: Sie können mir auch nicht helfen.« Ludger wurde mutlos. Die vereinbarten zehn Minuten waren längst vorüber, und der Briefträger kam immer mehr zu der Ansicht, dass es Zeitverschwendung wäre, sich hier noch länger aufzuhalten.
»Ich sollte allmählich gehen.« Er machte Anstalten aufzustehen, doch sein Gastgeber hielt ihn eine Spur zu hastig zurück.
»Dass ich nicht weiß, was mit Ihnen geschehen ist, heißt nicht, dass wir keine Lösung für Ihr Problem finden.«
Widerwillig setzte sich der Postbote noch einmal. »Na schön. Und was schlagen Sie vor?«
»Ich hole einen Stadtplan. Vielleicht hilft er uns weiter.«
Ludger nickte. Wieso waren sie nicht gleich auf diesen Gedanken gekommen?
Der Fremde verschwand im Korridor und der Postbote konnte ihn an einem Schrank hantieren hören. »Wo hab ich ihn nur ...«
Ludger seufzte. Er wagte sich kaum vorzustellen, was sein Vorgesetzter zu dieser heiklen Situation, in die er hineingeraten war, sagen würde.
Trotzdem blieb er sitzen und wartete. Und wartete.
Und wartete.
Nach einiger Zeit wurde es Ludger dann doch zu bunt. Misstrauisch stand er auf, verließ das behagliche Wohnzimmer und näherte sich der Küche. Stille.
»Hallo?«
Von dem alten Mann war nichts zu sehen, und Ludger sah sich etwas eingehender in der altertümlichen Wohnung um. Neugierig spähte er in einige der abgedunkelten Zimmer.
Schließlich bemerkte er, dass die Hintertür einen Spalt offen stand, und er trat nach draußen, wo er sich vor dem Gemüsebeet des Gartens wieder fand.
»Hallo?«
Keine Antwort.
Ludger entschied, auf die weitere Gastfreundschaft des alten Mannes, von dem er nicht einmal den Namen kannte, zu verzichten und sich auf eigene Faust einen Weg aus seiner misslichen Lage zu suchen.
Der Postbote umrundete das Einfamilienhaus zur Hälfte, setzte sich auf sein Fahrrad und fuhr wieder los. Angestrengt versuchte er, sich an den Weg zu erinnern, auf dem er hergekommen war, doch es gelang ihm nicht, und so irrte er mit der Zeit immer hilfloser durch das Straßenlabyrinth. Das Wohnviertel kam ihm wieder wie ausgestorben vor. Nein, es war ausgestorben. Langsam verstand er, warum der Alte anfangs so überrascht war, ihn zu sehen. Die Vögel sangen noch immer spöttisch – sie schienen aber die einzigen zu sein, die an dieser Gegend Gefallen gefunden hatten.
Ludger konnte nicht mehr sagen, wie lange er in seiner Verzweiflung schon unterwegs war. Er fuhr gerade um eine weitere Straßenecke, dann bremste er scharf. Mitten auf dem Asphalt kauerte der alte Mann. Neben ihm lag ein verrostetes Fahrrad mit verbogenem Lenker.
Hastig stellte er sein eigenes ab und beugte sich besorgt über den Alten.
»Ist alles in Ordnung? Geht es Ihnen gut?« Die Fragen kamen ihm selbst töricht vor, denn der Mann schnaufte heftig, doch er antwortete sowieso nicht.
»Einen Krankenwagen. Wir brauchen einen Krankenwagen!«, rief Ludger, aber der Fremde hielt ihn zurück.
»Sparen Sie sich die Mühe«, sagte er und rang nach Luft. » ... werden niemanden erreichen.«
»Aber –« Verzweifelt versuchte sich Ludger an den Erste-Hilfe-Kurs zu erinnern, den er einmal besucht hatte, doch das lag Jahre zurück.
»Lassen Sie es gut sein.« Der Alte schien sich keine Hoffnung zu machen. »Sie ... müssen fort. Schnell. Falls es möglich ist.«
Verständnislos sah Ludger ihn an. Der Mann war kurz davor, das Bewusstlos zu verlieren.
»Verlassen Sie diese Gegend. Die ... Straße entlang.« Es kostete ihn viel Überwindung, die Worte auszusprechen, während er versuchte, sich ein wenig aufzurichten. »Ich wollte selbst ... tut mir Leid. Es war egoistisch.«
»Wovon reden Sie bloß?« Die Worte des Fremden kamen ihm vor, als spreche er im Fieberwahn. Und es wäre kaum verwunderlich gewesen, hätte die Hitze dessen Sinne vernebelt.
»... viel zu lange hier.« Schwer atmend redete er weiter: » ... nur eine Person kann, soweit ich weiß ... verstehen Sie?« Der Fremde deutete nach vorne. »Die Stra ... e entlang. Lassen Sie die Vergangenheit hinter sich ... ehe es sich schließt. Schnell!«
»Es? Was meinen Sie mit ›es‹?«
Ächzend sank der Mann zu Boden. Er hatte seinen letzten Worte gesprochen.
Ludger erschrak. Der Alte rührte sich nicht mehr. Bestürzt fühlte er den Puls, doch er konnte keinen Herzschlag mehr feststellen.
Einen Moment lang war er unschlüssig. Sollte er den Mann hier einfach liegen lassen?
Dann rannte Ludger in Panik geraten fort, er dachte an die Worte des Fremden, versuchte, sie annähernd zu verstehen. Er folgte dem Rat des Alten, auf der Suche nach dem Heimweg, auf der Suche nach Menschen. Er blickte nicht zurück.
Irgendwann schwanden ihm erneut die Sinne.
Tag der Veröffentlichung: 14.10.2011
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